19. Kapitel

»Das Herz ist sein eigenes Verhängnis.«

Philip James Bailey


Ein schicksalhafter Tag • Noch ein Gespräch mit einem Handwerker • Ich schäme mich nicht, Wohltätigkeitsbasare anzupreisen • Der Geist der Kathedrale • Eine Besichtigung… • Ich versuche, die Namen zweier Handwerker herauszufinden • Des Bischofs Vogeltränke • Tossies Reaktion • Die Hinrichtung Maria Stuarts • Baine läßt sich über ästhetisches Empfinden aus • Tossies Reaktion • Die Schönheiten des Albert Memorial • Die Verbreitung von Blumennamen als Vornamen im victorianischen Zeitalter • Ich versuche, den Namen des Kurators herauszufinden • Ein Streit • Ein plötzlicher Aufbruch


»Geschlossen?« rief Tossie.

»Geschlossen?« Ich schaute zu Verity, aus deren Gesicht alle Farbe gewichen war.

»Geschlossen«, sagte Mrs. Mering. »Madame Iritosky hatte uns gewarnt.«

Wie zur Bestätigung ihrer Worte begann es stärker zu nieseln.

»Es kann unmöglich geschlossen sein«, murmelte Verity mit ungläubigem Blick auf das Schild. »Wie kann das sein?«

»Baine«, sagte Mrs. Mering. »Wann geht der nächste Zug?«

Herrgott, laß es Baine nicht wissen, dachte ich. Wenn er es nicht weiß, gewinnen wir wenigstens noch eine Viertelstunde, während er zum Bahnhof zurück muß, um die Abfahrtszeit herauszufinden, eine Viertelstunde, in der wir uns etwas ausdenken können.

Aber wir hatten es hier mit Baine zu tun, dem offenkundigen Vorläufer von Jeeves, und Jeeves hatte immer alles gewußt.

»Um zwei Uhr acht, Madam«, sagte er. »Nach Reading. Und um zwei Uhr sechsundvierzig fährt ein Eilzug nach Goring.«

»Wir nehmen den um zwei Uhr acht«, entschied Mrs. Mering. »Goring ist so gewöhnlich.«

»Und was ist mit Lady Godiva?« fragte Verity verzweifelt. »Sie muß doch einen Grund gehabt haben, Sie nach Coventry kommen zu lassen, Tante Malvinia.«

»Unter den gegebenen Umständen bin ich keineswegs überzeugt, daß es wirklich ihr Geist gewesen ist«, sagte Mrs. Mering. »Ich glaube, Madame Iritosky hatte recht damit, daß da böswillige Geister am Werk waren. Baine, sagen Sie dem Kutscher, er soll uns zum Bahnhof fahren.«

»Moment!« rief ich und sprang aus der Kutsche, direkt in eine Pfütze hinein. »Ich bin gleich wieder da! Warten Sie hier!« und lief fort, die Kirchenmauer entlang.

»Wo, um alles in der Welt, rennt er hin?« hörte ich Mrs. Mering sagen. »Baine, gehen Sie und sagen Sie Mr. Henry, er soll unverzüglich zurückkommen.«

Ich sprintete um die Ecke der Kirche, den Mantelkragen gegen den Regen hochgestellt. Von meiner Suche in den Trümmern und von der Rekonstruktion der Kathedrale her wußte ich, daß es sowohl an der Südseite wie an der Nordseite der Kathedrale eine Tür gab, und falls nötig, würde ich solange an die Tür der Sakristei klopfen, bis jemand öffnete.

Doch das war nicht nötig. Die südliche Tür stand offen und in ihr, durch das Überdach vom Regen geschützt, ein Handwerker, der mit einem jungen Mann, der einen geistlichen Kragen trug, diskutierte.

»Sie haben versprochen, daß die Lichtgaden am zweiundzwanzigsten fertig seien, und heute ist der fünfzehnte, und Sie haben nicht einmal damit begonnen, die Bänke zu lackieren«, sagte der Kurator gerade, der blaß und ziemlich glotzäugig war, was aber auch von dem Gespräch mit dem Handwerker kommen konnte. Dieser zog ein Gesicht, als hätte er das alles schon mal gehört und würde es auch noch öfter zu hören bekommen. »Mer kunnit eher mit’m Lackiern anfang’n, Meister, als bis die Lichtgade fertig sin. Weng dem Staub.«

»Na gut, dann sehen Sie zu, daß Sie mit den Lichtgaden fertig werden.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Geht nit. Bill, der wo die Stahlpfeiler in die Holzposte setzt, is krank wor’n.«

»Und wann kommt er wieder? Es muß alles bis nächsten Samstag fertig sein, zu unserem Kirchfest.«

Der Handwerker hob die Schultern, genau wie der Elektriker, den ich drei Wochen zuvor mit Lady Schrapnell hatte sprechen hören, und ich bedauerte es, daß sie nicht hier war. Sie hätte ihn fest am Ohr gepackt, und die Arbeit wäre Freitag fertig gewesen. Oder Donnerstag.

»Morje oder aach nächst’ Woch. Wozu brauche mir überhaupt die neue Bänk’? Die aale ham mir gut gefalle.«

»Sie sind kein Mitglied der Geistlichkeit«, sagte der Kurator, noch ein paar Grade glotzäugiger werdend. »Und auch kein Experte in moderner Kirchenarchitektur. Nächste Woche reicht nicht. Die Renovierungsarbeiten müssen am zweiundzwanzigsten beendet sein.«

Der Handwerker spie auf die feuchte Stufe. Dann schlenderte er in die Kirche hinein.

»Entschuldigung«, sagte ich und hielt den Kurator auf, bevor er ebenfalls verschwinden konnte. »Ist es wohl möglich, die Kirche zu besichtigen?«

»Oh, nein!« Er blickte aufgescheucht wie eine Hausfrau, die von unangemeldeten Gästen überrascht wird, um sich. »Die Renovierungsarbeiten an den Lichtgaden und dem Glockenturm sind in vollstem Gange! Die Kirche ist offiziell bis zum einunddreißigsten Juli geschlossen. Dann wird unser Vikar sicher gern eine Führung für Sie veranstalten.«

»Das ist zu spät«, sagte ich. »Wo wir doch gerade die Renovierungsarbeiten sehen wollen! Die Kirche von Muchings End muß nämlich auch dringend renoviert werden. Der Altar ist absolut mittelalterlich.«

»Äh… aber…« Er zögerte. »Wir stecken außerdem gerade mitten in den Vorbereitungen für ein Fest und wir…«

»Ein Fest!« rief ich. »Was für ein wunderbarer Zufall! Mrs. Mering richtete gerade auch ein Kirchfest in Muchings End aus!«

»Mrs. Mering?« Der Kurator schaute zur Tür zurück, als wolle er durch sie entfliehen. »Ich fürchte, in dem Zustand, in dem sich die Kirche gerade befindet, sollte sie von Damen nicht betreten werden. Man kann ja nicht einmal den Altar oder den Chorraum erkennen. Überall nur Sägemehl und Werkzeuge!«

»Das wird die Damen nicht stören«, versicherte ich und schob mich entschlossen zwischen ihn und die Tür. »Sägemehl ist genau das, was sie zu sehen wünschen.«

Baine kam mit einem Schirm herbeigeeilt, den er mir aushändigte. Ich gab ihn ihm zurück. »Holen Sie die Kutsche herbei«, sagte ich. »Und sagen Sie Mrs. Mering, daß wir die Kirche besichtigen können.«

Was nur zeigte, daß das Zusammensein mit Lady Schrapnell und ihren Vorfahren einem einiges darüber lehrte, wie man die Dinge ins Laufen brachte.

»Rasch! Beeilen Sie sich!« setzte ich hinzu, und Baine jagte durch das Nieseln, das unaufhaltsam in Regen umschlug.

»Meines Erachtens ist momentan eine Besichtigung keinesfalls ratsam«, sagte der Kurator. »Die Handwerker installieren eine neue Chorbalustrade, und ich habe eine Besprechung mit unserer Miss Sharpe wegen des Standes mit den Galanteriewaren.«

»Sie werden doch auch einen Basar haben, oder?«

»Basar?« fragte er unschlüssig.

»Das ist der allerletzte Schrei auf Kirchfesten. Ah, da sind sie ja.« Ich sprang die Stufen hinunter, als die Kutsche vorfuhr, packte Verity und zog sie an der Hand heraus. »Welch ein Glück! St. Michael ist doch geöffnet, und der Kurator hat sich freundlicherweise angeboten, uns zu führen. Rasch«, setzte ich flüsternd hinzu. »Bevor er es sich anders überlegt.«

Verity trippelte leichtfüßig zu dem Kurator, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und lugte durch die Tür. »Oh, Tossie, komm und schau dir das an!« rief sie und schwupps, war sie im Innern der Kirche. Terence half Tossie aus der Kutsche und in die Kirche und ich Mrs. Mering, über ihren Kopf den Schirm haltend, den Baine mir gegeben hatte.

»O je«, sagte sie mit besorgtem Blick zum Himmel. »Das sieht ja fürchterlich aus. Vielleicht sollten wir nach Hause fahren, ehe das Unwetter losbricht.«

»Einige der Handwerker sagten, sie hätten einen Geist gesehen«, unterbrach ich rasch. »Einer von ihnen wurde daraufhin sogar krank und mußte nach Hause.«

»Wie wundervoll!« sagte sie, gerade als wir den Kurator erreichten, der händeringend in der Türöffnung stand. »Ich fürchte, St. Michael wird eine Riesenenttäuschung für Sie werden, Mrs. Mering«, sagte er. »Wir sind gerade dabei…«

»…das jährliche Kirchfest vorzubereiten. Mrs. Mering, Sie müssen ihm unbedingt von Ihren Federhalterwischern erzählen«, sagte ich schamlos und manövrierte sie um ihn herum ins Innere der Kirche. »Die in Dahlienform. So zweckmäßig und außerdem noch hübsch.«

Ein krachender Donnerschlag folgte meinen Worten, so laut, daß ich überzeugt war, wegen meiner Lügerei vom Blitz getroffen worden zu sein.

»Meine Güte!« rief Mrs. Mering.

»Ich fürchte, das ist wirklich eine ungünstige Zeit für eine Besichtung«, sagte der Kurator im selben Moment. »Unser Vikar ist abwesend, und Miss Sharpe…«

Ich wollte gerade sagen: »Nur eine kurze Besichtigung, wo wir doch schon hier sind«, aber ich konnte es mir sparen. Ein weiterer krachender Donnerschlag erfolgte, und der Himmel öffnete seine Schleusen.

Mrs. Mering und der Kurator traten einen Schritt zurück, in die Kirche hinein, fort von den niederprasselnden Regentropfen, und Baine, der stets Geistesgegenwärtige, trat vor und schloß die Tür hinter uns. »Es sieht so aus, als blieben wir eine kleine Weile hier, Madam«, sagte er, und ich konnte hören, wie Verity vor Erleichterung aufseufzte.

»Na ja«, sagte der Kurator, »wenn Sie nun schon hier sind… Also, dies hier ist das Kirchenschiff. Wie Sie sehen, wird es gerade renoviert.« Er hatte mit dem Sägemehl und dem Durcheinander nicht übertrieben. Es sah beinahe so schlimm aus wie nach dem Luftangriff. Der Zugang zum Chor war mit hölzernen Zäunen versperrt. Die Kirchenbänke waren mit staubigen Planen abgedeckt. Bauholz stapelte sich vor dem Chorgewölbe, aus dem lautes Klopfen ertönte.

»Wir modernisieren die Kirche«, erklärte der Kurator. »Die Verzierungen waren hoffnungslos altmodisch. Ich hatte gehofft, den Glockenturm durch ein modernes Glockenspiel ersetzen zu können, aber der Renovierungsausschuß wollte das nicht einmal in Erwägung ziehen. Völlig engstirnig. Wenigstens konnte ich sie überzeugen, die Emporen und viele der alten Gräber und Grabmäler entfernen zu lassen, welche die Seitenschiffe verstopften. Einige stammten noch aus dem fünfzehnten Jahrhundert.« Er verdrehte die Augen. »Verunstalteten die ganze Kirche.«

Er lächelte Tossie glubschäugig an. »Würden Sie gern das Kirchenschiff besichtigen, Miss Mering? Dort haben wir jetzt überall elektrisches Licht anbringen lassen.«

Verity trat neben mich. »Versuchen Sie seinen Namen herauszufinden«, flüsterte sie.

»Wenn die geplanten Renovierungen alle beendet sind«, sagte der Kurator, »werden wir eine völlig modernisierte Kirche haben, die Hunderte von Jahren überdauert.«

»Zweiundfünfzig«, murmelte ich.

»Wie bitte?«

»Nichts«, sagte ich. »Modernisieren Sie auch den Turm?«

»Ja. Er und der Spitzturm werden völlig neu gedeckt. Vorsicht, meine Damen! Hier ist es uneben.« Er bot Tossie seinen Arm.

Mrs. Mering nahm ihn. »Wo ist Ihre Krypta?« fragte sie.

»Die Krypta? Dort drüben.« Er zeigte in Richtung des Zauns. »Aber sie ist noch nicht renoviert.«

»Glauben Sie ans Jenseits?«

»Ich… natürlich«, erwiderte er verdutzt. »Ich gehöre dem geistlichen Stand an.« Wieder ein glubschäugiges Lächeln zu Tossie. »Augenblicklich bin ich natürlich erst Hilfsgeistlicher, aber ich hoffe, nächstes Jahr eine eigene Pfarrei in Sussex zu bekommen.«

»Kennen Sie Arthur Conan Doyle?« wollte Mrs. Mering wissen.

»Ich… ja.« Sein Gesicht wurde noch verdutzter. »Das heißt, ich habe Studie in Scharlachrot gelesen. Eine spannende Geschichte.«

»Haben Sie seine Schriften über Spiritismus nicht gelesen? Baine!« rief sie dem Butler zu, der gerade die Schirme ordentlich neben die Tür stellte. »Holen Sie die Ausgabe des Lichts, in der Arthur Conan Doyles Brief abgedruckt ist.«

Baine nickte, öffnete die schwere Tür und verschwand, im Davoneilen den Kragen hochstellend, in der Sintflut.

Mrs. Mering wandte sich erneut dem Kurator zu. »Sie haben doch sicher schon von Madame Iritosky gehört?« fragte sie, wobei sie ihn unaufhaltsam in Richtung Krypta lenkte.

Der Kurator blickte verwirrt. »Hat sie etwas mit Basaren zu tun?«

»Sie hatte recht. Ich fühle die Anwesenheit der Geister hier«, sagte Mrs. Mering. »Wissen Sie von Geistern hier in St. Michael?«

»Nun, es gibt eine Legende, daß ein Geist im Kirchturm gesehen worden sei. Sie geht ins fünfzehnte Jahrhundert zurück, soweit ich weiß«, erwiderte er, und dann verschwanden sie beide hinter dem hölzernen Zaun auf die andere Seite.

Tossie schaute ihnen unschlüssig nach, überlegend, ob sie folgen sollte.

»Sieh dir das mal an, Tossie«, sagte Terence, der vor einer Grabplatte aus Messing stand. »Das Grabmal eines gewissen Gervase Scrope. Sieh mal, was da steht: ›Wurd’ hin und her geschmettert Jahr um Jahr, ein abgedroschner Tennisball, mehr war ich nicht, ich armer Wicht.‹«

Gehorsam ging Tossie hin und las es, dann schaute sie auf die kleine Messingplatte der Botoners, die die Kirche erbaut hatten.

»Wie putzig!« sagte sie. »Und schau mal hier: ›Den Turm bauten William und Adam, die Spitze drauf Mary und Ann; William und Adam das Gewölbe, Mary und Ann den Chor in demselben.‹«

Sie wandte sich einem großen marmornen Grabmal zu, das Dame Mary Bridgeman und Mrs. Eliza Samwell gehörte, und dann einem Ölgemälde des Gleichnisses vom verlorengegangenen Schaf, und so bewegten wir uns durch das Kirchenschiff, stiegen über Säcke voll Sand und über Bohlen und hielten an jedem Seitenschiff.

»Oh, hätten wir doch einen Reiseführer dabei«, sagte Tossie stirnrunzelnd. Ihr Blick hing an dem Purbeckschen marmornen Taufstein. »Woher soll man sonst wissen, was man grade ansieht?«

Sie ging mit Terence zusammen weiter zur Capperschen Kapelle. Verity blieb stehen und zupfte leicht an meinen Rockschößen, um mich zurückzuhalten. »Lassen Sie sie vorgehen«, murmelte sie.

Folgsam blieb ich vor einem Messingrelief aus dem Jahre 1609 stehen, das eine Frau in jakobinischer Kleidung zeigte und in das eingraviert stand: »Zur Erinnerung an Ann Sewell. Sie widmete ihr Leben der Aufgabe, in anderen sämtliche heiligen Tugenden zu erwecken.«

»Wahrscheinlich eine Vorfahrin von Lady Schrapnell«, sagte Verity. »Haben Sie herausgefunden, wie der Kurator heißt?«

Wann hätte ich die Gelegenheit dazu haben sollen? dachte ich. »Meinen Sie, er ist Mr. C?« fragte ich. »Er ist völlig hingerissen von ihr.«

»Jeder Mann ist von ihr hingerissen«, erwiderte Verity mit einem Blick auf Tossie, die kichernd an Terences Arm hing. »Man fragt sich nur, ist sie auch von ihm hingerissen? Haben Sie des Bischofs Vogeltränke gesehen?«

»Noch nicht.« Ich blickte mich im Kirchenschiff um. Die Blumen vor dem Zaun, hinter dem sich der Chor verbarg, steckten in schmucklosen Messingvasen und die mit Sägemehl bedeckten Rosen in der Capperschen Kapelle in einer Silberschale.

»Wo steht sie normalerweise?«

»Im Herbst 1940 vor der Chorschranke der Smithschen Kapelle«, erwiderte ich. »Im Sommer 1888 was weiß ich wo. Sie kann überall sein.« Auch unter einer der grünen Planen oder irgendwo hinter den Holzbarrikaden.

»Vielleicht sollten wir den Kurator fragen, wenn er zurückkommt«, meinte Verity besorgt.

»Das können wir nicht.«

»Wieso?«

»Erstens handelt es sich hier nicht um etwas, das in einem Baedeker aufgeführt ist. Der durchschnittliche Tourist, für den er uns hält, kann unmöglich etwas davon wissen. Zweitens ist es noch gar nicht des Bischofs Vogeltränke. Dazu wurde sie erst im Jahre 1926.«

»Und davor?«

»Eine gußeiserne Reliefurne mit Säulenfuß. Vielleicht auch eine Obstschale.«

Plötzlich verstummte das Hämmern hinterm Zaun, und man hörte geisterhaft hallendes Fluchen.

Verity schaute zu Tossie und Terence, die auf ein Buntglasfenster deuteten, und fragte: »Und was geschah 1926?«

»Da gab es ein Treffen des Blumenausschusses, bei dem es besonders erbittert zuging«, sagte ich, »und bei dem eine der Damen vorschlug, für die Blumen im Kirchenschiff eine hohe Vase aus Keramik anzuschaffen, eine von denen, die zu jener Zeit besonders beliebt waren und die man Vogeltränken nannte. Allerdings hatte der Bischof aber kurz zuvor erst gravierende finanzielle Kürzungen im Unterhalt der Kathedrale eingeführt, und deshalb wurde der Vorschlag mit der Begründung abgeschmettert, daß das eine unnötige Ausgabe sei und daß irgendwo doch noch etwas herumstehen müsse, was man statt dessen verwenden könne — zum Beispiel diese Reliefurne, die seit zwanzig Jahren hinten in der Krypta verstaubte. Danach wurde diese immer etwas bitter als ›das, was der Bischof für eine Vögeltränke hält‹ bezeichnet, eine Bemerkung, die sich schließlich verkürzte zu…«

»… des Bischofs Vogeltränke.«

»Aber wenn sie nicht so hieß, als Tossie sie sah, woher weiß Lady Schrapnell dann, was Tossie sah?«

»Sie hat sie über zwanzig Jahre lang in ihren Tagebücher ausführlich beschrieben«, sagte ich. »Und als Lady Schrapnell ihr Projekt plante, wurde ein Historiker ins Frühjahr 1940 geschickt, um sie nach diesen Beschreibungen zu identifizieren.«

»Könnte dieser sie gestohlen haben?«

»Nein.«

»Woher wollen Sie das so genau wissen?«

»Weil ich es war.«

»Cousine«, rief Tossie. »Komm doch mal rüber und schau, was wir gefunden haben.«

»Vielleicht hat sie das Ding ohne uns gefunden«, sagte ich, aber es handelte sich nur um ein weiteres Grabmal, in das Bildnisse von Kleinkindern in Wickelkissen eingraviert war.

»Ist das nicht süß?« fragte Tossie. »Sieh doch mal die goldigen Babies.«

Die Südtür öffnete sich, und Baine kam herein, tropfnaß, eine Ausgabe des »Licht« in der Jacke verborgen.

»Baine!« rief Tossie.

Er kam herbei, eine Wasserspur hinter sich. »Ja, Miss?«

»Es ist kühl hier drinnen. Holen Sie mir meinen rosa Perserschal. Den mit den Fransen. Und Miss Browns auch.«

»Oh, das ist nicht nötig«, sagte Verity und schaute mitleidig auf Baines mitgenommenes Äußeres. »Mir ist überhaupt nicht kalt.«

»Unsinn«, meinte Tossie. »Holen Sie beide. Und passen Sie auf, daß sie nicht naß werden!«

»Sehr wohl, Miss«, sagte Baine. »Ich hole sie, sobald ich Ihrer Mutter dieses Heft gebracht habe.«

Tossie verzog die Lippen zu einer Schnute.

»Oh, schau mal, Cousine«, sagte Verity, bevor Tossie von Baine verlangen konnte, auf der Stelle die Schals zu holen. »Diese Misericordien zeigen die sieben Werke der Barmherzigkeit«, und Tossie ging folgsam zur Girdlerschen Kapelle, um sie und außerdem ein Fächergewölbe, einen schwarzen marmornen Altarstein und eine Grabplatte, die eine ausgesprochen lange und unverständliche Inschrift trug, zu bewundern.

Verity nutzte diese Gelegenheit, mich weiter zu ziehen. »Was, wenn sie nicht hier ist?« flüsterte sie.

»Sie ist hier«, sagte ich. »Sie verschwand nicht vor 1940.«

»Ich meine wegen der Inkonsequenz. Was, wenn sich die Ereignisse verändert haben und sie bereits in die Krypta gebracht wurde oder auf einem Basar verkauft?«

»Das Fest ist erst nächste Woche.«

»In welchem Gang, sagten Sie, stand sie 1940?« Verity marschierte entschlossenen Schrittes ins hintere Kirchenschiff zurück.

»Diesen Gang hier.« Ich versuchte, Schritt zu halten. »Vor der Smithschen Kapelle, aber das bedeutet nicht, daß sie jetzt auch…« Ich blieb stehen, denn genau dort war sie.

Es war offenkundig, warum man sich entschlossen hatte, sie in diesen bestimmten Gang zu stellen. 1888 war das Licht in diesem Teil der Kirche sehr dämmrig, und eine der Säulen verbarg des Bischofs Vogeltränke vor dem Rest der Kirche.

Und eine der Damen des Blumenausschusses hatte ihr Bestes gegeben und den oberen Bereich unter großen Hängepeonien und Efeuranken verborgen, die sich über die Zentauren und eine der Sphinxe legten. Sie war auch neuer und glänzte entsprechend, wodurch man gnädigerweise etwas weniger Einzelheiten wahrnahm. Sie sah bloß noch halb so schlimm aus.

»Großer Gott«, sagte Verity. »Ist sie das?« Ihre Stimme hallte in dem Fächergewölbe. »Das ist ja absolut scheußlich.«

»Nun ja, darüber sind wir uns alle einig. Behalten Sie’s für sich.« Ich wies auf ein paar Handwerker, die hinten im Kirchenschiff beschäftigt waren. Einer von ihnen, der ein blaues Hemd und ein schwärzliches Halstuch trug, legte gerade Bohlen von einem Stapel auf den anderen. Der zweite hatte sich jede Menge Nägel zwischen die Lippen geklemmt und hämmerte laut auf eine Planke ein, die quer über zwei Sägeböcken lag.

»Entschuldigung«, flüsterte Verity zerknirscht. »Es war bloß der Schock. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen.« Sie deutete vorsichtig auf eine der Verzierungen. »Was ist das — ein Kamel?«

»Ein Einhorn«, erklärte ich. »Die Kamele sind auf dieser Seite hier, neben der Schilderung, wie Joseph von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wurde.«

»Und das da?« Sie wies auf ein großes Relief über einer schmiedeeisernen Girlande von Rosen und Disteln.

»Die Hinrichtung Maria Stuarts«, sagte ich. »Die Victorianer liebten es, wenn Kunst gegenständlich war.«

»Und überladen«, sagte Verity. »Kein Wunder, daß Lady Schrapnell keinen Kunsthandwerker fand, der davon eine Reproduktion machen konnte.«

»Ich hatte Skizzen angefertigt«, erklärte ich. »Wahrscheinlich haben die Kunsthandwerker es aus moralischen Erwägungen abgelehnt.«

Verity betrachtete des Bischofs Vogeltränke intensiv, den Kopf zur Seite geneigt. »Das kann unmöglich ein Seepferd sein.«

»Das ist Neptuns Kutsche«, sagte ich. »Und dies hier drüben ist das Teilen des Roten Meeres. Daneben Leda und der Schwan.«

Sie streckte die Hand aus und berührte einen der ausgestreckten Schwanenflügel. »Sie hatten recht. Sie ist unzerstörbar.«

Ich nickte, den Blick auf diese gußeiserne Beständigkeit geheftet. Selbst wenn das Dach darauf gefallen wäre, würde sie kaum eine Delle davongetragen haben.

»Und scheußlich aussehende Dinge werden niemals zerstört«, fuhr Verity fort. »Das ist ein Naturgesetz. Die St. Pancras Station wurde im Blitzkrieg nicht getroffen. Und das Albert Memorial auch nicht. Und das hier ist scheußlich.«

Der Meinung war ich auch. Selbst die Hängepeonien und der Efeu konnte diese Tatsache nicht verbergen.

»Oh!« rief Tossie hinter uns, hingerissen vor Entzücken. »So was Hübsches habe ich ja noch nie gesehen!«

Sie flatterte herbei, Terence im Gefolge, und blieb bewundernd vor des Bischofs Vogeltränke stehen, die behandschuhten Finger unterm Kinn gefaltet. »Oh, Terence, ist das nicht niedlich?«

»Äh, tja…« setzte Terence an.

»Schau nur, die süßen Engelchen! Und die Opferung von Isaak! Oh! Oh!« Sie stieß eine Serie Schreichen aus, die den hämmernden Handwerker dazu brachten, irritiert aufzuschauen. Er sah Tossie, spie die Nägel auf den Boden und stieß seinen Kollegen an. Dieser schaute vom Sägen hoch. Der Hämmerer sagte etwas zu ihm, worauf er das Gesicht zu einem breiten, zahnlosen Grinsen verzog und sich, Tossie grüßend, an das Arbeiterkäppchen tippte.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte ich leise zu Verity. »Ich geh’ ja schon und frag’ nach ihren Namen.«

Was, da die Handwerker den Eindruck hatten, ich wollte sie wegen lüsternen Glotzens beim Kurator melden, einige Zeit dauerte, aber als ich zurückkam, hatte sich Tossie immer noch nicht beruhigt.

»Sieh doch mal!« quietschte sie. »Salome!«

»Widge und Barrett«, flüsterte ich Verity zu. »Sie wissen nicht, wie der Geistliche heißt. Unter sich nennen sie ihn Froschauge.«

»Schau!« rief Tossie aus. »Hier ist das Tablett, und hier ist der Kopf von Johannes dem Täufer!«

Und das war ja alles schön und gut, sah aber nicht nach einer lebensumwälzenden Erfahrung aus. Tossie hatte beim Basar genauso über den Holzschuh aus Porzellan gequietscht. Und über Miss Stiggings kreuzstichene Nadelkissen. Und selbst wenn sie eine Erscheinung hatte (bei Neptun und seiner Kutsche auf der Seite, die zur Säule gewandt war), wo steckte Mr. C?

»Oh, ich wollte, ich hätte auch so etwas«, begeisterte sie sich. »Für unser schönes Zuhause, Terence, nach unserer Hochzeit. Genau so etwas wie das hier!«

»Ist das nicht ein bißchen zu groß?« fragte Terence.

Die Südtür schwang auf, und Baine trat herein, ein in Öltuch gewickeltes Päckchen unterm Arm und einem Äußeren, als käme er geradewegs vom Wrack der »Hesperus«.

»Baine!« rief Tossie, und er platschte zu uns.

»Ich habe Ihren Schal gebracht, Miss«, sagte er, schob die Plane etwas von einer Ecke der Kirchenbank zurück und legte das Bündel darauf, damit er es auspacken konnte.

»Baine, was halten Sie hiervon?« fragte Tossie und zeigte auf des Bischofs Vogeltränke. »Meinen Sie nicht auch, daß das hier das schönste Kunstwerk ist, das Sie je gesehen haben?«

Baine erhob sich aus seiner gebückten Haltung, schaute darauf und versuchte, das Wasser aus seinen Augen zu blinzeln. Eine beträchtliche Pause entstand, während der er seinen Ärmel auswrang. »Nein«, sagte er dann.

»Nein?« Bei Tossie wurde dieses Wort zu einem Schreichen.

»Nein.« Baine beugte sich wieder über die Bank und faltete das Öltuch auseinander, um die sorgfältig zusammengelegten und völlig trockenen Schals herauszuholen. Er erhob sich wieder, holte aus seiner Jacke ein feuchtes Taschentuch, wischte seine Hände daran ab und nahm dann den rosafarbenen Schal an beiden Seiten. »Ihr Schal, Miss«, sagte er und hielt ihn ihr hin.

»Den will ich jetzt nicht«, sagte Tossie. »Was meinen Sie mit Nein?«

»Ich meine damit, daß die Skulpturen scheußlich und geschmacklos sind, das Design miserabel, die Ideen vulgär und die Ausführung schlampig«, sagte er, faltete den Schal wieder und legte ihn in das Wachstuch zurück.

»Wie können Sie so etwas sagen?« Tossies Wangen röteten sich.

Baine streckte sich wieder. »Entschuldigen Sie, Miss. Ich dachte, Sie hätten mich nach meiner Meinung gefragt.«

»Habe ich auch, aber ich wollte hören, daß Sie es auch für schön halten.«

Baine verbeugte sich leicht. »Wie Sie wünschen, Miss.« Er schaute mit unbeteiligter Miene auf des Bischofs Vogeltränke. »Es ist sehr schön.«

»Ich wünsche nicht«, sagte Tossie und stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf. »Wie können Sie bloß denken, es sei nicht schön? Sehen Sie doch einmal die niedlichen kleinen drei Kinder im Wald![65] Und den süßen Spatzen mit dem Erdbeerblatt im Schnabel!«

»Wie Sie wünschen, Miss.«

»Hören Sie auf damit!« Tossies Rüschen zitterten vor Wut. »Warum haben Sie gesagt, es sei eine Scheußlichkeit?«

»Dies hier«, er streckte die Hand zu des Bischofs Vogeltränke aus, »ist überladen, künstlich und außerdem« — er schaute intensiv auf die drei kleinen Kinder im Wald — »rührselig und kitschig, genau an den Geschmack der künstlerisch ungebildetesten Mittelschicht appellierend.«

Tossie wandte sich zu Terence. »Wie kannst du zulassen, daß er solche Dinge sagt?« fragte sie.

»Es ist ja auch ein bißchen viel drauf«, sagte Terence und fügte hinzu: »Was soll das hier darstellen?« Sein Finger wies auf den Minotaurus. »Einen Gaul oder ein Flußpferd?«

»Einen Löwen«, sagte Tossie wutschnaubend. »Und das hier ist Androkles, der ihm einen Dorn aus der Pfote zieht.«

Ich schaute zu Verity, die sich in die Lippe biß.

»Und es ist nicht rührselig und kitschig!«

»Wie Sie wünschen, Miss.«

Baines Leben wurde gerettet, weil just in diesem Moment Mrs. Mering mit dem Kurator wieder hinter den Holzbarrikaden auftauchte.

»Die römische Kavallerie«, flüsterte Verity.

»Und direkt daneben Bacchus mit einem Pergel Weintrauben«, gab ich leise zurück.

»Ich hoffe sehr, daß Sie auch einen Basar bei Ihrem Kirchfest in Erwägung ziehen«, sagte Mrs. Mering gerade und lenkte den Kurator zu uns. »Die Leute haben so viele Schätze auf ihren Dachböden, die sich ausgezeichnet für Basare eignen.«

Sie hielt inne, als sie des Bischofs Vogeltränke ansichtig wurde. »So was wie das hier zum Beispiel. Oder einen Schirmständer. Vasen sind so nützlich. Wir hatten auf unserem Kirchfest eine aus Porzellan mit einen gemalten Wasserfall, die verkauft wurde für…«

Tossie unterbrach sie. »Sie halten das hier doch für schön, oder?« fragte sie den Kurator.

»Aber natürlich«, erwiderte er. »Ich halte das für eines der besten Beispiele moderner Kunst. Erstklassige Darstellungen und ein hoher moralischer Anspruch. Besonders die Darstellung der Sieben Ägyptischen Plagen. Die Vase wurde vor einigen Jahren von den Trubshaws gespendet beim Tod von Emily Jane Trubshaw. Sie hatte sie auf der Weltausstellung erstanden, und es war ihr wertvollster Besitz. Der Vikar versuchte, die Familie von der Spende abzuhalten. Seiner Meinung nach sollte die Vase besser im Familienbesitz bleiben, aber sie ließen sich nicht abhalten.«

»Ich glaube, es ist das Schönste, was ich je gesehen habe«, sagte sie.

»Ganz meine Meinung«, stimmte der Kurator zu. »Es erinnert mich immer an das Albert Memorial.«

»Oh, ich liebe das Albert Memorial«, sagte Tossie. »Ich konnte einen Blick darauf werfen, als wir nach Kensington fuhren, um Mrs. Guppies Vortrag über Ektoplasma zu hören, und ich fand keine Ruhe, bevor Papa mich nicht zum Memorial mitgenommen hatte. Ich liebe die Mosaiken und den vergoldeten Turm!« Sie klatschte in die Hände. »Und die Statue des Prinzen, wie er den Katalog der Ausstellung liest!«

»Es ist ein außergewöhnliches Denkmal«, sagte Terence.

»Und unzerstörbar«, murmelte Verity.

»Ich finde die Skulpturen, welche die vier Kontinente darstellen, sehr gut ausgeführt«, sagte der Kurator. »Obwohl meiner Meinung nach Asien und Afrika weniger geeignet für junge Damen sind.«

Tossie errötete ganz reizend. »Ich fand die Elefanten so niedlich! Und das Fries der großen Wissenschaftler und Architekten.«

»Haben Sie schon einmal den Bahnhof St. Pancras gesehen?« fragte der Kurator. »Den halte ich ebenfalls für ein außergewöhnlich gelungenes Stück Architektur. Vielleicht möchten Sie unsere Neuerungen an der Kirche sehen?« setzte er hinzu. »Obwohl diese natürlich mit dem Albert Memorial nicht mithalten können, hat doch J. O. Scott eine ausgezeichnete Arbeit geleistet.« Er nahm Tossies Arm und führte sie zum Chor hoch. »Die Emporen wurden entfernt und alle geschlossenen Kirchenbänke ebenso.«

Immer noch Tossie Arm haltend, wies er zu den Lichtgaden hoch. »Scott hat in die Eichenpfosten Eisenpfähle eingesetzt, um die Wände der Lichtgaden zusammenzuhalten und sie stabiler zu machen. Ein klassisches Beispiel, wie überlegen moderne Baumaterialien sind, verglichen mit altmodischem Stein und Holz.«

»Das glaube ich auch«, sagte Tossie eifrig.

Obwohl es eigentlich mehr ein klassisches Beispiel für das unglückselige Wenden der Titanic war. Als die Kathedrale in jener Nacht des fünfzehnten November Feuer fing, krümmten sich die Eisenpfähle und brachen zusammen und mit ihnen die Bögen der Lichtgaden und die inneren Säulengänge. Ohne die Pfähle wäre die Kathedrale vielleicht stehengeblieben. Die äußeren Mauern und der Turm, der nicht renoviert worden war, taten es jedenfalls.

»Nachdem wir die Renovierungsarbeiten beendet haben«, sagte der Geistliche gerade zu Tossie, »werden wir eine Kirche haben, die in ein modernes Zeitalter paßt, eine Kirche, die noch in Hunderten von Jahren bewundert werden wird. Würden Sie gern die Arbeiten sehen, die wir am Turm durchführen?«

»Oh, gern«, sagte Tossie und ließ ihre Locken wippen.

Von der Südtür her kam ein Geräusch. Ich schaute auf. Eine junge Frau in grauem Kleid kam herein. Sie hatte einen großen Korb und eine lange Nase, und sie marschierte mit hartem, stakkatohaftem Schritt, der wie Gewehrfeuer klang, durch das Kirchenschiff.

»Miss Sharpe«, sagte der Kurator, der irgendwie ertappt wirkte. »Darf ich Sie mit…?«

»Ich wollte nur etwas für das Fest vorbeibringen«, sagte Miss Sharpe. Sie hielt ihm den Korb hin, zog ihn aber zurück, als sie sah, daß der Kurator Tossies Arm hielt. »Federhalterwischer. Zwei Dutzend.« Sie drehte sich um. »Ich stelle sie in die Sakristei.«

»Aber können Sie denn nicht bleiben, Miss Sharpe?« fragte der Kurator und wand seinen Arm aus Tossies. »Miss Mering, darf ich Ihnen Miss Delphinium[66] Sharpe vorstellen?«

Ich fragte mich, ob sie vielleicht mit den Chattisbournes verwandt war.

»Ich hatte so gehofft, wir könnten die Arrangements der Stände beim Fest besprechen«, sagte der Kurator.

»Ich werde am Fest nicht teilnehmen können. Ich stelle dies hier in die Sakristei«, sagte Miss Sharpe erneut.

Sie drehte sich auf dem Absatz um und machte sich gewehrfeuernden Schrittes auf den Weg durch das Kirchenschiff.

»Wir würden den Bahnhof St. Pancras so gern sehen, nicht wahr, Mama?« sagte Tossie. Eine Tür schlug laut zu.

»Es ist ein vollkommenes Beispiel neugotischer Architektur«, sagte der Kurator, leicht zusammenzuckend. »Meiner Meinung nach sollte Architektur die Gesellschaft widerspiegeln, besonders in Kirchen und Bahnhöfen.«

»Das denke ich auch«, sagte Tossie.

»Ich…« begann Mrs. Mering, und Tossie und der Kurator wandten sich zu ihr um. Sie blickte gerade mit einem seltsam nachdenklichen Gesichtsausdruck auf des Bischofs Vogeltränke.

»Mama, was ist?« fragte Tossie.

Mrs. Mering legte ihre Hand zögernd auf ihren Busen und runzelte etwas die Stirn, wie Menschen es tun, wenn sie überlegen, ob sie sich gerade ein Stück Zahn abgebrochen haben.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte Terence und nahm ihren Arm.

»Doch«, sagte sie. »Ich habe nur… so ein ganz komisches Gefühl, als ob…« Sie runzelte wieder die Stirn. »Ich schaute gerade da drauf…« — sie wies mit der Hand, die auf ihrem Busen gelegen hatte, auf des Bischofs Vogeltränke —, »und auf einmal hatte ich…«

»Hast du eine Botschaft erhalten?« fragte Tossie.

»Nein, keine Botschaft«, sagte Mrs. Mering, zögernd, als forsche sie immer noch an dem Zahn. »Es war… Ich hatte so ein eigenartiges Gefühl…«

»Eine Vorahnung?« fragte Tossie rasch.

»Ja«, erwiderte Mrs. Mering nachdenklich. »Du…« Sie runzelte erneut die Stirn, als versuche sie sich an einen Traum zu erinnern, wandte sich dann um und starrte auf des Bischofs Vogeltränke. »Es war… Wir müssen sofort nach Hause.«

»Aber wir können doch jetzt noch nicht gehen«, protestierte Verity.

»Ich wollte unbedingt noch die Schatzsuche mit Ihnen besprechen«, sagte der Kurator und schaute Tossie enttäuscht an. »Und die Aufstellung für die Tische mit den Galanteriewaren. Können Sie nicht wenigstens zum Tee bleiben?«

»Baine!« rief Mrs. Mering, die beiden gar nicht beachtend.

»Ja, Madam?« fragte Baine, der wieder zur Südtür gegangen war.

»Baine, wir müssen sofort nach Hause«, sagte Mrs. Mering und setzte sich in seine Richtung in Bewegung. Baine beeilte sich, ihr auf halbem Weg entgegenzukommen, einen Schirm in der Hand. »Ist etwas passiert?« fragte er.

»Ich habe eine Warnung erhalten«, sagte Mrs. Mering, die allmählich wieder wie sie selbst aussah. »Wann geht der nächste Zug?«

»In elf Minuten«, erwiderte er prompt. »Aber es ist ein lokaler Zug. Der nächste Eilzug nach Reading geht erst um vier Uhr achtzehn.«

»Holen Sie die Kutsche«, sagte sie. »Eilen Sie dann zum Bahnhof vor und sagen Sie dort, man soll den Zug für uns anhalten. Und nehmen Sie den Schirm fort. Es bringt Unglück, Schirme in Räumen aufzuspannen. Großes Unglück!« Sie griff sich ans Herz. »Oh! Was, wenn wir zu spät kommen?«

Baine kämpfte damit, den Schirm zusammenzufalten. Ich nahm ihn ihm ab, und er nickte dankbar und eilte fort, um den Bahnhof zu erreichen.

»Möchten Sie sich nicht hinsetzen, Tante Malvinia?« fragte Verity.

»Nein, nein!« Mrs. Mering schüttelte Veritys Hand ab. »Geh und sieh nach, ob die Kutsche schon da ist. Regnet es noch?«

Es regnete noch, und die Kutsche war da. Terence und der Fahrer halfen Mrs. Mering die Stufen hinab und stopften sie und die Röcke ihres Reisekleides in die Kutsche. Ich nutzte die Gunst des Augenblicks, um dem Kurator die Hand zu schütteln. »Vielen Dank, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, uns die Kirche zu zeigen, Mr…, äh?« sagte ich.

»Mr. Henry!« rief Mrs. Mering aus der Kutsche. »Wir werden den Zug verpassen.«

Die Südtür öffnete sich, und Miss Sharpe erschien. Sie ging schnurstracks die Stufen hinunter, an uns vorbei und zur Bayley Street hoch. Der Kurator schaute ihr nach.

»Auf Wiedersehen«, rief Tossie aus dem Kutschfenster. »Ich würde so gern den Bahnhof St. Pancras sehen!«

Ich versuchte noch einmal mein Glück, meinen Fuß bereits auf dem Trittbrett. »Viel Glück bei Ihrem Kirchfest, Mr…?«

»Danke«, sagte er geistesabwesend. »Auf Wiedersehen, Mrs. Mering. Auf Wiedersehen, Miss Mering. Wenn Sie mich entschuldigen wollen…« Er rannte hinter Miss Sharpe her. »Miss Sharpe!« rief er. »Warten Sie! Delphinium! Dellie!«

»Ich glaube, ich habe Ihren Namen nicht ganz…« Ich lehnte mich aus dem Fenster.

»Mr. Henry!« schnauzte Mrs. Mering. »Los, Kutscher!« Und wir ratterten davon.

Загрузка...