23. Kapitel

»Kannst du rudern?« fragte das Schaf und reichte Alice ein Paar Stricknadeln.

»Ja, ein bißchen — aber nicht auf dem Land — und nicht mit Stricknadeln…« begann Alice, als sich die Nadeln in ihren Händen plötzlich in Ruder verwandelten und sie und das Schaf mit einemmal in einem kleinen Boot saßen, das langsam zwischen den Ufern dahinglitt; und so blieb ihr nichts anderes übrig, als aus Leibeskräften zu rudern.

Lewis Carroll


Ankunft • Im Labor • Ich versuche herauszufinden, wo ich eigentlich bin • Zuleika Dobson • Lauschen • Schätze verschiedener Kathedralen • In einem Buchladen • Die Zeitlosigkeit von Herrenbekleidung • Die Zeitlosigkeit von Büchern • Mehr Lauschen • Wie man jemandem den Spaß an einem Detektivroman verdirbt • In einem Verlies • Fledermäuse • Ich versuche, die kleinen grauen Zellen zu benutzen • Ich schlafe ein • Noch ein Gespräch mit einem Handwerker • Wie die Legende vom Gespenst der Kathedrale von Coventry entstanden ist • Ankunft


Wo immer ich mich befand, das Labor war es keinesfalls. Der Raum glich mehr einem von Balliols alten Unterrichtsräumen. Eine Tafel hing an der Wand und darüber die Aufhängung für eine altmodische Landkarte. Die Tür war mit Notizzetteln bepflastert.

Offensichtlich wurde der Raum aber als Labor benutzt. Auf einem langen metallenen Tisch standen eine Reihe vorsintflutlicher Digitalprozessoren mit Monitoren, alle untereinander mit grauen, gelben und orangefarbenen Kabeln und zig Adaptern verbunden.

Ich schaute zum Netz zurück, durch das ich gerade gekommen war. Es war nichts als ein mit Kreide gezogener Kreis, dessen Mitte ein großes X aus Klebeband zierte. Dahinter und mit einem noch wüsteren Durcheinander von Kabeln und Messingdrähten damit verbunden sah man ein grausliches Sortiment von Akkumulatoren, Metallkästen voller Skalen und Knöpfen, meterlangen PVC-Röhren, dicken Kabeln, Hebelvorrichtungen und Widerständen, offenbar der Mechanismus des Netzes, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, daß jemand mit einer solch irrwitzigen Konstruktion versuchen würde, die Straße zu überqueren, geschweige denn zurück in die Vergangenheit zu reisen.

Ein schrecklicher Gedanke durchfuhr mich. Und wenn es doch das Labor war? Wenn die Inkonsequenz mehr verändert hatte als nur Terences und Mauds Heirat und die Bombardierung von Berlin zu verhindern?

Rasch ging ich zur Tür hinüber, inbrünstig hoffend, daß die gedruckten Anschläge nicht die Jahreszahl 2057 trugen. Und nicht in deutsch verfaßt waren.

Sie waren in englisch. Auf dem obersten stand: »Auf der Broad Street, Parks Road und im Naffield College Park Parken verboten. Zuwiderhandelnde werden abgeschleppt!«, was sich faschistisch anhörte, aber so klang die Parkaufsicht immer. Und auf den Zetteln waren keine Hakenkreuze, ebensowenig wie auf dem Eisenbahnfahrplan darunter. »Einschreibfrist für das Frühjahrsemester abgelaufen. Sollten Sie Ihre Einschreibgebühr noch nicht bezahlt haben, wenden Sie sich umgehend an den Quästor.«

Und unvermeidlich darunter: »Wohltätigkeitsbasar für die Seuchenwaisen, 5. April, 10-16 Uhr, St. Michaeli, Nordtor. Schnäppchen. Kunst und Kitsch, Liebhaberstücke. Alles zu Spottpreisen!«

Nein, das war das gute alte England. Und die Große Seuche hatte uns auch heimgesucht.

Ich studierte die Zettel. Nirgendwo stand eine Jahreszahl oder ein Datum, außer beim Flohmarkt von St. Michael’s, und da fehlte das Jahr. Am Schwarzen Brett im Balliol hatte ich schon Notizen gesehen, die weit über ein Jahr dort hingen.

Ich ging zu den Fenstern, löste an einer Ecke das Klebeband und hob das Papier ab. Ich schaute auf Balliols viereckigen Innenhof an einem herrlichen Frühlingsmorgen. Die Fliederbüsche neben der Kapelle standen in voller Blüte, und der mächtige Baum in der Mitte des Hofes trieb gerade aus.

Heutzutage stand ein Walnußbaum im Hof, der mindestens dreißig Jahre alt war. Also mußte es vor 2020 sein, aber nach der Großen Seuche, und, wie der Eisenbahnfahrplan bewies, bevor die Untergrundbahn Oxford erreicht hatte. Und nach der Entdeckung der Zeitreisen. Irgendwann zwischen 2013 und 2020.

Ich ging zu den Computern zurück. Der mittlere Monitor blinkte. »Drücken Sie die Reset-Taste.«

Ich tat es, und die Schleier über dem Netz senkten sich mit einem dumpfen Laut. Sie waren nicht transparent, sondern von einem dunklen Samtrot, das sie aussehen ließ als gehörten sie einem Amateurtheater.

»Ziel?« blinkte der Bildschirm jetzt. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, welches Koordinatensystem sie in den Zwanzigern benutzt hatten. Dunworthy hatte mir erzählt, wie sie, ohne Pulhaskis Koordinaten, aufs Geratewohl losgesprungen waren, ohne Parameterüberprüfungen und Sicherheitsvorrichtungen im Netz und ohne Ahnung, wo sie ankommen und ob sie wieder zurückkehren würden. Die gute alte Zeit!

Wenigstens aber verwendete der Computer Englisch und nicht irgendeinen primitiven Code. Ich tippte: »Jetziger Standort?«

Der Schirm wurde schwarz, dann begann er wieder zu blinken. »Fehler.«

Ich dachte eine Minute lang nach, bevor ich tippte: »Hilfe anzeigen.«

Der Schirm wurde wieder schwarz und blieb es auch. Na, prima.

Ich begann wahllos auf Funktionstasten zu hämmern. Der Monitor blinkte erneut: »Ziel?«

Ein Geräusch kam von der Tür her. Entsetzt schaute ich mich nach einem Versteck um. Es gab keines. Außer dem Netz, wenn man es so bezeichnen wollte. Ich tauchte zwischen die samtroten Vorhänge und schloß sie hinter mir.

Wer immer an der Tür war, hatte Schwierigkeiten, sie aufzubekommen und rüttelte und drückte eine Zeitlang, bis sie aufging.

Ich zog mich in die Mitte des Netzes zurück und blieb bewegungslos stehen. Die Tür schloß sich, dann trat Stille ein.

Ich hörte mit angehaltenem Atem. Nichts. Hatte der Jemand es sich anders überlegt und den Raum wieder verlassen? Ich trat vorsichtig einen Schritt an den Rand und zog die Vorhänge einen Millimeter auseinander. Eine wunderschöne junge Frau stand an der Tür, biß sich auf die Lippe und schaute mich direkt an.

Ich unterdrückte den Impuls, sofort zurückzuweichen. Sie hatte mich nicht gesehen. Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt das Netz sah, so geistesabwesend, wie sie schien.

Sie trug ein wadenlanges weißes Kleid, das aus jeder Zeit ab 1930 stammen konnte, und hatte ihr langes rotes Haar zu einem Pferdeschwanz hochgeschlungen, wie es zur Jahrtausendwende üblich gewesen war, aber das bedeutete nicht notwendigerweise etwas. Historikerinnen in den Fünfzigern trugen diese Frisur auch, zusammen mit Zöpfen und Haarreifen und Spangen, allem möglichen, um die langen Haare hochzustecken, damit sie während des Sprungs aus dem Weg waren.

Die junge Frau wirkte jünger als Tossie, war es aber wahrscheinlich nicht. Sie trug einen Ehering, und erinnerte mich entfernt an jemanden. Nicht an Verity, obwohl sie eine ebenso entschlossene Miene hatte. Auch nicht an Lady Schrapnell oder eine ihrer Ahninnen. Jemandem, den ich auf einem meiner Wohltätigkeitsbasare getroffen hatte?

Ich kniff die Augen zusammen, um sie besser fixieren zu können. Mit dem Haar stimmte was nicht. Sollte es heller sein? Vielleicht rötlichblond?

Sie stand dort eine ganze Weile, mit dem Blick, den auch Verity gehabt hatte — ängstlich, ärgerlich, entschlossen —, ging dann rasch zu den Computern hinüber und verschwand aus meinem Blickfeld.

Stille. Ich wartete auf ein leises Klicken der Tastatur. Hoffentlich gab sie keinen Sprung ein. Oder ließ die Vorhänge hochgehen.

Von meinem Blickwinkel aus konnte ich nichts erkennen. Ich begab mich vorsichtig zur nächsten Öffnung im Vorhang und lugte hindurch. Die Frau stand vor den Computern und starrte sie an oder vielmehr durch sie hindurch, immer noch mit demselben entschlossenen Blick.

Und noch etwas, was ich noch nie bei Verity gesehen hatte, selbst nicht bei Terence, als er uns von seiner Verlobung mit Tossie erzählte. Ein Blick, als wolle sie sagen: Jetzt oder nie.

An der Tür war abermals ein Geräusch. Die Frau drehte sich um, ging hin und verließ damit wieder mein Blickfeld. Und der Mann an der Tür hatte offenbar einen Schlüssel, denn als ich wieder zu meinem ursprünglichen Standort zurückgekehrt war, stand er bereits im Türrahmen und schaute die Frau an.

Er trug Jeans, einen zerknitterten Pullover und eine runde Brille. Sein Haar war hellbraun, länger und von jener unentschlossenen Facon, die es Historikern ermöglicht, es in nahezu jeder Mode zu frisieren, und irgendwie wirkte er vertraut, obwohl das wahrscheinlich nur von dem Ausdruck auf seinem Gesicht herrührte, den ich überall wiedererkannt hätte. Und mußte. Es war der Ausdruck, den ich selbst jedes Mal hatte, wenn ich Verity anblickte.

In der Hand hielt er einen dicken Stapel Papier und Hefter und immer noch den Schlüssel zum Labor.

»Hallo, Jim«, sagte sie, mit dem Rücken zu mir, und ich wünschte mir, auch ihr Gesicht sehen zu können.

»Was machst du denn hier?« fragte er mit einer Stimme, die ich ebenso gut kannte wie meine eigene. Gütiger Himmel! Ich schaute auf Dunworthy.

Dunworthy! Er hatte mir all die Geschichten aus den Kindertagen der Zeitreise erzählt, aber ich hatte ihn dabei immer als — na ja, eben Dunworthy vorgestellt. Nicht schlaksig oder mager. Oder jung. Oder verliebt in jemanden, der unerreichbar war.

»Ich wollte mit dir sprechen«, sagte sie. »Und mit Shoij. Wo steckt er?«

»Konferenz mit dem Boss«, sagte Dunworthy — nein, Jim. »Mal wieder.« Er ging zum Tisch hinüber und warf die Ladung Papiere und Ordner darauf.

Ich wechselte das Guckloch. Hoffentlich blieben sie diesmal an derselben Stelle.

»Es steht wohl schlecht?« fragte sie.

»Schlecht ist gar kein Ausdruck«, erwiderte er, den Stapel durchwühlend. »Es hat sich einiges verändert, seitdem du weggegangen bist, um Bitty zu heiraten. Die Historische Fakultät hat jetzt einen neuen Leiter. Arnold P. Lassiter. Das P steht für Prudence. Er ist so prudent, so vorsichtig, daß er in drei Monaten höchstens einen Sprung erlaubt. ›Zeitreise ist ein Unterfangen, das ohne genaueste Kenntnis, wie es funktioniert, nicht unternommen werden sollte‹. Was bedeutet, Papierkram noch und noch. Er will von jedem Sprung komplette Analysen — das heißt, von denen, die er bewilligt, und die werden immer weniger. Parameterüberprüfungen, Diagramme der Schlupfverluste, Statistiken wahrscheinlicher Zusammenstöße, Sicherheitshecks…« Er hörte auf zu wühlen. »Wie kamst du herein?«

»Die Tür war offen«, sagte sie, eine offenkundige Lüge. Ich verdrehte mir den Hals in dem Versuch, ihr Gesicht zu sehen.

»Na, toll«, sagte Jim. »Wenn Prudence das herausfindet, kriegt er einen Tobsuchtsanfall.« Endlich hatte er den Ordner, den er gesucht hatte, gefunden und zog ihn aus dem Stapel. »Warum ist Bitty, der Bischof, nicht mit dir gekommen?« fragte er beinahe herausfordernd.

»Er ist in London. Versucht, die Verfügung der Kirche von England anzufechten.«

Jims Gesicht veränderte sich schlagartig. »Ich habe davon gehört, daß sie Coventry als überflüssig einstufen wollen«, sagte er. »Tut mir leid, Lizzie.«

Coventry. Lizzie. Er unterhielt sich mit Elizabeth Bittner, der Ehefrau des letzten Bischofs von Coventry! Der zerbrechlichen, weißhaarigen Dame, die ich in Coventry interviewt hatte! Kein Wunder, daß ich gedacht hatte, ihr Haar müsse heller sein.

»Überflüssig?« sagte sie. »Eine Kathedrale — überflüssig? Als nächsten Schritt erklären sie die Religion auch für überflüssig, dann Kunst und Wahrheit. Ganz zu schweigen von Geschichtswissenschaft.« Sie ging zu dem schwarzverklebten Fenster und aus meinem Gesichtsfeld.

Könnt ihr nicht mal stillstehen? dachte ich.

»Es ist so ungerecht«, sagte sie. »Bristol wollen sie nämlich behalten. Bristol!«

»Warum hat’s Coventry nicht geschafft?« fragte Jim und bewegte sich, so daß ich ihn auch nicht mehr sehen konnte.

»Die Kirche von England hat verfügt, daß alle Kirchen und Kathedralen sich zu mindestens fünfundsiebzig Prozent selbst finanzieren müssen, und das bedeutet Touristen. Und die Touristen kommen nur, um Gräber und Schätze zu sehen. Canterbury hat seinen Beckett, Winchester Cathedral Jane Austen und einen marmornen schwarzen Tournaialtar. St. Martin’s-in-the-Field liegt in London zwischen Tower und Madame Tussaud. Wir hatten auch Schätze in Coventry. Leider wurden sie 1940 durch die Luftwaffe alle zerstört.«

»In der neuen Kathedrale gibt es das Tauffenster«, wandte Jim ein.

»Ja. Leider aber auch Buntglasfenster mit völlig falschem Lichteinfall und den häßlichsten Wandteppich, der jemals geschaffen wurde. Die Kirche sieht aus wie die Lagerhalle einer Fabrik. Das mittlere zwanzigste Jahrhundert war keine gute Periode für Kunst. Und auch nicht für Architektur.«

»Aber sie kommen doch, um die Ruine der alten Kathedrale zu sehen, oder?«

»Einige von ihnen. Aber nicht genügend. Bitty versuchte, den Bewilligungsausschuß davon zu überzeugen, daß es sich bei Coventry um einen besonderen Fall handelt, daß er von historischer Wichtigkeit ist, aber ohne Erfolg. Der Zweite Weltkrieg liegt lange zurück. Kaum einer erinnert sich mehr daran.« Sie seufzte. »Die Berufung wird ebensowenig nützen.«

»Was passiert dann? Wird die Kirche geschlossen?«

Anscheinend schüttelte sie den Kopf. »Das können wir uns nicht leisten. Die Diözese steckt zu tief in den roten Zahlen. Wir werden sie wohl verkaufen müssen.« Abrupt erschien sie wieder in meinem Blickfeld, das Gesicht starr. »Die Kirche des Jenseits, eine New-Age-Sekte, hat uns ein Angebot gemacht. Ouijabretter, Manifestationen, Gespräche mit Verstorbenen. Es wird ihn umbringen.«

»Ist er dann vollkommen arbeitslos?«

»Nein«, sagte sie trocken. »Religion ist überflüssig geworden, also gibt es kaum noch Geistliche. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Man hat ihm eine Stelle als Hauptkantor in Salisbury angeboten.«

»Na, ist doch gut«, meinte Jim aufmunternd. »Salisbury steht nicht auf Liste der Unwichtigen, oder?«

»Nein. Dort haben sie jede Menge Schätze. Und ihren Turner. Zu schade, daß er nicht auch in Coventry gemalt hat. Aber du verstehst mich nicht richtig. Bitty wird es nicht verkraften, die Kirche zu verkaufen. Er stammt direkt von Thomas Botoner ab, der die Originalkathedrale einst miterbaute. Er liebt sie. Er wird alles tun, um sie zu retten.«

»Und du kannst überhaupt nichts tun, um ihm zu helfen?«

»Doch«, sagte sie und schaute ihn fest an. »Das kann ich.« Sie holte tief Atem. »Deshalb bin ich hier. Ich will dich um einen Gefallen bitten.« Sie trat entschlossen auf ihn zu, worauf beide aus meinem Gesichtskreis verschwanden.

»Ich dachte, wenn wir Leute durchs Netz zurückbringen könnten, um die Kathedrale zu sehen«, sagte sie, »wie sie niederbrannte, dann würden sie begreifen, was es bedeutet, wie wichtig es ist.«

»Leute zurückbringen?« wiederholte Jim. »Wir haben schon Probleme damit, Prudence von der Wichtigkeit unserer Forschungssprünge zu überzeugen. Von Touristenausflügen brauchen wir gar nicht erst zu reden.«

»Ich meine keine Touristenausflüge.« Ihre Stimme klang verletzt. »Nur ein paar ausgewählte Personen.«

»Das Bewilligungskomitee?«

»Und ein paar Videojournalisten. Wenn wir die Öffentlichkeit auf unserer Seite hätten, wenn sie es mit eigenen Augen sähen, begriffen sie vielleicht…«

Jim mußte den Kopf geschüttelt haben, denn sie hielt inne und veränderte die Taktik. »Es muß ja nicht unbedingt direkt zum Luftangriff sein«, fügte sie rasch hinzu. »Wir könnten zu den Ruinen gehen, kurz danach — oder in die alte Kathedrale. Vielleicht mitten in der Nacht, wo sich niemand in der Kirche aufhält. Wenn sie die Orgel sehen könnten, die geschnitzten Misericordien mit dem Totentanz darauf, das Kinderkreuz aus dem fünfzehnten Jahrhundert… Wenn sie es selbst sähen, würden sie begreifen, was es hieß, die Kathedrale von Coventry schon einmal verloren zu haben, und sie würden es nicht noch einmal zulassen.«

»Lizzie«, sagte Jim, und der Ton war unmißverständlich. Und sie hatte gewußt, daß es unmöglich war. Oxford hatte niemals Touristenführungen zugelassen, nicht einmal in der guten alten Zeit, und das Netz ebensowenig.

Sie wußte das. »Versteh doch«, sagte sie verzweifelt. »Es wird ihn umbringen.«

Die Tür öffnete sich, und ein magerer, kleingewachsener junger Mann mit asiatischen Gesichtszügen kam herein. »Jim — hast du die Parameter für…«

Er hielt inne und starrte Lizzie an. Offenbar hatte sie in Oxford einen richtigen Verehrerschwarm gehabt. Wie Zuleika Dobson.[77]

»Hallo, Shoji«, sagte Lizzie.

»Hallo, Liz«, sagte er. »Was machst du hier?«

»Wie ist das Gespräch mit Prudence verlaufen?« wollte Jim wissen.

»Wie nicht anders zu erwarten. Nun macht ihm der Schlupfverlust Sorgen. Wie entsteht er? Warum variiert er so oft?« Seine Stimme wurde affektiert, eine Imitation von Lassiter. »›Wir müssen alle möglichen Konsequenzen in Erwägung ziehen, bevor wir zu handeln beginnen.‹« Dann klang er wieder wie er selbst. »Er will eine komplette Analyse aller jemals durchgeführten Sprünge und ihrer Schlupfverluste, bevor er überhaupt einen neuen Sprung in Betracht zieht.« Er begab sich aus meinem Blickfeld zu den Computern hinüber.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, sagte Jim und folgte ihm. »Dazu brauchen wir mindestens sechs Monate. Wir kommen nirgendwo mehr hin.«

»Was wohl auch so beabsichtigt ist«, meinte Shoji, setzte sich vor den mittleren Monitor und begann zu tippen. »Wenn wir nirgendwohin springen, gibt’s auch kein Risiko. Warum sind die Schleier unten?«

Es existierte keine Aufzeichnung über einen Zeitreisenden aus der Zukunft oder der Vergangenheit, der sich plötzlich im Labor von Balliol materialisiert hätte. Was hieß, daß ich entweder nicht entdeckt werden würde oder mit einer absolut überzeugenden Geschichte aufwarten konnte. Fieberhaft versuchte ich, mir eine auszudenken.

»Wenn wir nirgends hinspringen«, sagte Jim, »wie können wir dann überhaupt etwas über Zeitreisen herausfinden? Hast du ihm gesagt, daß Wissenschaft Experimente erfordert?«

Shoji hämmerte auf die Tasten. »›Wir reden nicht von einem Chemielabor, Mr. Fujisaki‹«, sagte er mit wieder gezierter Stimme, während er tippte. »›Wir reden vom Raumzeitgefüge.‹«

Die Vorhänge begannen sich ruckelnd zu heben.

»Das weiß ich«, erwiderte Jim. »Aber…«

»Jim«, sagte Lizzie, immer noch außer Sicht, aber nicht lange, und beide drehten sich nach ihr um. »Fragst du ihn wenigstens? Es bedeutet…«

Und ich fand mich in einer Ecke von Blackwell’s Buchhandlung wieder. Das dunkle Holz und die bis zur Decke reichenden Bücherregale waren nicht nur sofort erkennbar, sondern zeitlos, und für einen Moment dachte ich, ich hätte es ins Jahr 2057 geschafft und könnte einfach über die Broad Street zum Balliol sprinten, aber als ich um die Ecke des Regals blickte, begriff ich, daß es so einfach nicht sein würde. Durch die Rundbogenfenster sah ich Schnee. Und vor dem Sheldonia-Theater parkte ein Daimler.

Weder einundzwanzigstes Jahrhundert noch, wenn ich mich so umschaute, das Ende des zwanzigsten. Keine Monitore, keine Taschenbücher, keine Heftchen. Leinengebundene Bücher, die meisten ohne Schutzumschläge, in Blau, Grün und Braun.

Und eine Verkäuferin, die sich, einen Notizblock in der Hand und einen gelben Bleistift hinterm Ohr, zu mir niederbeugte.

Es war zu spät, um sich in eine Ecke zu ducken. Sie hatte mich bereits gesehen. Glücklicherweise unterliegt Herrenkleidung über die Jahre im Gegensatz zur Damenmode nicht so vielen Veränderungen, und Bootsblazer und Flanellhosen sind auch heute im Straßenbild von Oxford zu sehen, wenn auch nicht unbedingt im tiefsten Winter. Mit Glück konnte ich als Erstsemester durchgehen.

Die Verkäuferin trug ein locker fallendes Matrosenkleid, das Verity bestimmt auf den Monat genau hätte bestimmen können, aber für mich sah im mittleren zwanzigsten Jahrhundert alles gleich aus. 1950? Nein, ihr Bleistift geschmücktes Haar war zu einem straffen Knoten geschlungen und ihre Schuhe geschnürt. Frühe 1940er?

Nein, die Fensterscheiben waren intakt, es gab keine Verdunklungsrollos, keinen Stapel Sandsäcke vor der Tür, und die Verkäuferin sah entschieden zu blühend für die Nachkriegszeit aus. Also die Dreißiger.

Die Dreißiger waren Veritys reguläres Arbeitsgebiet. Vielleicht hatte mich das Netz versehentlich zu einem der Koordinaten ihrer alten Sprünge geschickt. Oder sie war hier.

Nein, das konnte nicht sein. Meine Kleidung mochte noch durchgehen, aber nicht ihr langes, hochgeschlossenes Kleid und aufgestecktes Haar.

Die Orte und die Zeit, wo sie allein durch ihr Aussehen eine Inkonsequenz hervorrufen würde, waren äußerst begrenzt, doch glücklicherweise alle zivilisiert.

»Kann ich Ihnen helfen, Sir?« fragte die Verkäuferin und schaute mißbilligend auf meinen Schnurrbart. Den hatte ich ganz vergessen. Ging man in den Dreißigern glattrasiert? Hercule Poirot trug doch auch einen Schnurrbart, oder?

»Ja, bitte«, sagte ich. Und welche Bücher mochten sie bei Blackwell’s in den Dreißigern haben? Den Herrn der Ringe? Nein, der kam später.Goodbye, Mr. Chips? Das wurde zwar 1934 veröffentlicht, aber war das schon vorbei? Ich konnte auf dem Block der Verkäuferin kein Datum erkennen, und das letzte, was wir noch brauchten, wo uns sowieso schon das Kontinuum in Stücken um die Ohren fiel, war eine weitere Inkonsequenz.

»Verfall und Untergang des Römischen Reiches.« Damit ging ich auf Nummer Sicher. »Von Gibbon.«

»Das haben wir im ersten Stock«, sagte sie. »Bei Geschichte.«

Ich wollte aber nicht in den ersten Stock gehen, sondern dicht beim Netz bleiben. Was gab es unten? Achtzig Jahre später Metafiktion, doch ich bezweifelte, daß sie das schon hatten. Alice hinter den Spiegeln? Doch vielleicht war die Kinderliteratur bereits in einem separaten Laden.

»Die Treppe zum Obergeschoß ist dort drüben.« Die Verkäuferin zog den Bleistift hinterm Ohr hervor und deutete damit.

»Haben Sie Drei Mann in einem Boot von Jerome?« fragte ich.

»Da muß ich nachsehen«, erwiderte sie und ging ins Hinterzimmer.

»Ganz zu schweigen von dem Hunde«, rief ich hinter ihr her und hechtete, kaum daß sie ums Buchregal verschwunden war, wieder zurück in meine Ecke.

Ich hatte halb gehofft, daß das Netz sich öffnen oder wenigstens wie im Vorstadium leicht schimmern würde, aber nichts an der von oben bis unten mit Büchern bestückten Wand deutete darauf hin, daß es überhaupt jemals dort gewesen war. Oder darauf, in welchem Jahr ich mich befand.

Wahllos zog ich Bücher heraus und schlug sie auf. Titelseite. 1904. 1930. 1931. 1756. Das ist das Problem bei Büchern. Sie sind zeitlos. 1892. 1914. Kein Datum. Ich schlug die Seite um. Immer noch kein Datum. Ich blätterte zurück und las den Titel. Kein Wunder. Herodotus’Geschichte, grad das Buch, das der Colonel und Professor Peddick gestern abend gelesen hatten.

Die Türklingel bimmelte. Vorsichtig spähte ich um die Ecke, in der Hoffnung, es wäre Verity. Es waren drei Damen mittleren Alters mit Pelzstolen und tiefkrempigen Hüten. Sie blieben im Türrahmen stehen, um den Schnee von ihren Stolen zu klopfen, als seien es Haustiere, und unterhielten sich in’ näselndem Tonfall.

»…und brannte mit ihm durch!« sagte die Dame rechts. Ihre Stola glich einer flachen Version von Prinzessin Arjumand. »Wie romantisch!«

»Aber mit einem Bauern!« sagte die in der Mitte. Ihre Stola erinnerte mehr an Cyril und war beinahe ebenso breit.

»Es ist mir egal, ob er ein Bauer ist«, meinte die dritte. »Ich bin froh, daß sie ihn geheiratet hat.« Sie trug den wertvollsten Pelz, ein ganzes Bündel Füchse mit Köpfen und blanken kleinen Glasäuglein. »Wenn nicht, wäre sie immer noch in Oxford und würde sich bei Kirchenausschüssen langweilen und Wohltätigkeitsbasare ausrichten. Mein Gott, was wollte ich eigentlich kaufen? Heute morgen sagte ich noch zu Harold, wenn ich bei Blackwell’s bin, muß ich unbedingt… Was war das bloß?«

»Ich brauche etwas für mein Patenkind zum Geburtstag«, sagte diejenige, die Cyril auf der Schulter trug. »Was nehm’ ich denn da? Alicewahrscheinlich, obwohl ich nie ganz begriffen habe, was Kinder daran finden. Das ganze Gerenne von einem Platz zu anderen, ohne Reim und Sinn. Auftauchen und Verschwinden.«

»Oh, seht mal!« sagte das Bündel Füchse. Sie hatte ein Buch mit einem grünen Schutzumschlag von einem Verkaufstisch genommen. Ihre Hand, die in einem fuchsbraunen Handschuh steckte, verdeckte den Titel, aber ich konnte den Autorennamen erkennen: Agatha Christie.

»Habt ihr ihr letztes Buch gelesen?« fragte sie die anderen beiden.

»Nein«, entgegnete die mit Cyril auf den Schultern.

»Ja«, sagte Prinzessin Arjumand. »Und es…«

»Pscht!« Das Bündel Füchse hob warnend die Hand. »Sag mir nicht, wie’s ausgeht!« Sie wandte sich Cyril zu. »Cora verdirbt mir immer das Ende. Erinnerst du dich an Der Mordfall Roger Ackroyd?«

»Das war ja was anderes, Miriam. Du wolltest unbedingt wissen, warum sie in den Zeitungen so ein Trara darum machten«, verteidigte sich Prinzessin Arjumand. »Ich konnte es nicht erklären, ohne auch gleichzeitig zu sagen, wer der Mörder ist. Jedenfalls, dieses Buch ist ganz anders als Der Mordfall Roger Ackroyd. Dieses Mädchen soll nämlich von jemanden dazu verleitet werden, den Mord zu begehen, oder zumindest denkt der Leser das. In Wahrheit aber…«

»Sag mir nicht, wie’s ausgeht«, unterbrachen sie die kleinen Füchse.

»Hab ich gar nicht vor«, entgegnete Prinzessin Arjumand hoheitsvoll. »Ich wollte bloß sagen, daß das, was du für das Verbrechen hältst, keines ist, und die Dinge nicht immer das sind, was sie scheinen.«

»Wie in Das Geheimnis des Füllfederhalters«, warf die mit Cyril drapierte ein. »Was man für das erste Verbrechen hält, erweist sich als das zweite. Das erste ist schon Jahre vorher passiert. Niemand weiß, daß das erste Verbrechen überhaupt begangen wurde, und der Mörder…«

»Sag’s nicht!« Die kleinen Füchse hielten sich die Ohren zu.

»Der Butler war’s«, sagte Cyril.

»Ich dachte, du hättest das Buch nicht gelesen.« Die kleinen Füchse nahmen die Hände von den Ohren.

»Habe ich auch nicht«, sagte die andere. »Aber es ist immer der Butler.« Und das Licht erlosch.

Dabei war es doch Tag, und selbst wenn es einen Kurzschluß gegeben hätte, wäre immer noch genügend Licht durch Blackwell’s Rundbogenfenster gefallen.

Ich streckte die Hand nach dem Bücherregal vor mir aus und betastete es vorsichtig. Es fühlte sich klamm und hart an, wie Stein. Ich machte einen vorsichtigen Schritt — und wäre beinahe ins Nichts gestürzt.

Mein Fuß hing halb über einem Abgrund. Ich wich zurück, taumelte und plumpste hart auf noch mehr Stein. Eine Treppe. Ich tastete herum, berührte eine rauhe Steinmauer, fühlte nach unten. Eine Wendeltreppe mit schmalen, keilförmigen Stufen. Ich war in einem Turm. Oder einem Verlies.

Die Luft roch kalt und etwas modrig. Also war es kein Verlies. Sonst hätte es entschieden schlimmer gerochen. Aber falls es ein Turm war, hätte Licht durch einen Fensterschlitz oben fallen müssen, und das tat es nicht. Also doch ein Verlies.

Oder, dachte ich hoffnungsvoll, die Zeitkrankheit hatte mich durch das ziellose Herumgespringe derartig erwischt, daß ich jetzt vollkommen blind war.

Ich suchte in meiner Tasche nach Streichhölzern und strich eins an der Mauer an. Von wegen. Steinmauern, Steinstufen um mich und über mir. Doch ein Verlies. Was hieß, Oxford 2018 konnte es nicht sein. Und auch nicht 1933.

Das siebzehnte Jahrhundert war eine Blütezeit der Verliese. Ebenso das sechzehnte. Eigentlich alle bis runter zum zwölften. Und davor war in England die Zeit der Pfahlbauten und Schweinekoben. Na, wunderbar… also Mittelalter. Gefangen in einem normannischen Verlies.

Oder in einer Ecke des Londoner Towers, wobei dann in Kürze jede Menge Touristen die Stufen hochkeuchen würden. Aber irgendwie glaubte ich das nicht. Im kurzen Aufflackern des Streichholzes hatten die Stufen nicht abgetreten gewirkt, und als ich die Wand abtastete, fühlte ich keinen Handlauf.

»Verity!« rief ich in die Finsternis. Das Echo meiner Stimme hallte von den Steinwänden wider und erstarb.

Ich erhob mich, drückte mich eng an die Mauer und begann ganz langsam die Treppe zu erklimmen, wobei ich mit dem Fuß nach der Kante der schmalen Stufen fühlte. Eine Stufe. Zwei. »Verity! Sind Sie hier irgendwo?«

Nichts. Ich fühlte nach der nächsten Stufe. »Verity!«

Ich trat auf die Stufe und sie gab unter meinem Gewicht nach. Ich verlor das Gleichgewicht, versuchte mich zu fangen, wobei ich mir die Hand aufschabte, und prallte zwei Stufen weiter unten hart mit dem Knie auf.

Falls Verity hier irgendwie gewesen wäre, hätte sie das gehört. Trotzdem rief ich wieder: »Verity!«

Ein explosionsartiger Lärm antwortete mir, ein wildes Flattern schwirrender Flügel, das klang, als käme es direkt auf mich zu. Fledermäuse. Auch das noch. Ich riß den Arm, den ich gar nicht sehen konnte, vors Gesicht.

Das Flattern verdreifachte sich, doch als ich angestrengt in die Dunkelheit blinzelte, konnte ich nichts erkennen.

Das Flattern kam direkt auf mich zu. Ein Flügel streifte meinen Arm. O je, die Fledermäuse konnten ja auch nichts sehen. Ich schlug in der Dunkelheit um mich, und das Flattern wurde noch heftiger, dann aber allmählich weniger, entfernte sich von mir. Ich setzte mich ganz vorsichtig und lautlos hin.

Na gut. Das war sicher das Intelligenteste von allem, hier einfach sitzenzubleiben und zu warten, bis sich das Netz öffnete. Und zu hoffen, daß ich nicht wie Carruthers ewige Zeiten feststeckte.

»Und inzwischen irrt Verity irgendwo herum!« rief ich und bereute es sofort. Die Fledermäuse flatterten erneut auf, und diesmal dauerte es gut fünf Minuten, bis sie sich wieder beruhigten.

Ich saß still da und horchte. Entweder war dieses Verlies absolut schalldicht, oder ich befand mich nicht in einem der vergangenen drei Jahrhunderte. Seit Beginn der industriellen Revolution war die Welt nicht mehr wirklich still gewesen. Sogar das victorianische Zeitalter hatte sich mit Eisenbahnen und Dampflokomotiven herumschlagen müssen und in den Städten mit dem Rattern und Getöse des Verkehrs, das sich binnen kurzem zum dröhnenden Lärm steigern würde. Und im einundzwanzigsten und zweiundzwanzigsten Jahrhundert gab es ein stets präsentes elektronisches Hintergrundgeräusch. Hier aber, nachdem die Fledermäuse sich wieder schlafen gehängt hatten, hörte man überhaupt nichts mehr.

Also, was nun? Wenn ich weitere Ausflüge unternahm, würde ich mich wahrscheinlich umbringen und dadurch verpassen, wie sich das Netz öffnete. Vorausgesetzt, es öffnete sich überhaupt.

Ich suchte in meiner Tasche nach einem weiteren Streichholz und meiner Uhr. Halb nach X. Miss Warder hatte ein halbstündiges Intermittent für den Sprung nach Muchings End gesetzt, und ich war höchstens zwanzig Minuten im Labor gewesen, bei Blackwell’s vielleicht fünfzehn. Was hieß, das Netz mußte sich jeden Moment öffnen. Oder überhaupt nicht, wenn ich an Carruthers dachte.

Und was sollte ich in der Zwischenzeit tun? Hier sitzen, in die Dunkelheit starren und mir um Verity Sorgen machen? Mir überlegen, was mit des Bischofs Vogeltränke passiert sein mochte?

Wenn man Verity Glauben schenken wollte, brauchten sich Detektive bei ihrer Arbeit überhaupt nicht vom Fleck zu rühren oder etwas zu tun. Es reichte, wenn sie im Sessel saßen (oder einem Verlies) und das Rätsel lösten, indem sie ihre kleinen grauen Zellen benutzten. Und ich hatte mehr als ein Rätsel, falls ich mich langweilte: Wer um alles in der Welt würde des Bischofs Vogeltränke stehlen wollen? Wer war Mr. C und warum, verdammt noch mal, war er noch nicht aufgekreuzt? Worauf war Finch aus? Und was machte ich hier im tiefsten Mittelalter?

Die Antwort auf diese Frage lag auf der Hand. Verity und ich hatten versagt, und das Kontinuum war am Zusammenbrechen. Carruthers, der in Coventry feststecke, dazu der Schlupfverlust bei den Rückkehrsprüngen, und dann Verity — ich hätte niemals zulassen dürfen, daß sie sprang. Ich hätte kapieren müssen, was im Gange war, als sich das Netz nicht öffnete. Ich hätte kapieren müssen, was im Gange war, als Tossie nicht Mr. C traf.

Es war eine von T. J. übelsten Waterloo-Szenarios, eine Inkonsequenz, die so weitreichend war, daß das Kontinuum sie nicht mehr korrigieren konnte. »Sehen Sie«, hatte er gesagt und auf das verschwommene graue Bild gedeutet, »hier und hier sieht man rapide ansteigenden Schlupfverlust, aber das dämmt die Inkonsequenz nicht ein, und hier sehen Sie, wo das Backup versagt und das Netz zusammenzubrechen beginnt, während sich der Lauf der Geschichte verändert.«

Der Lauf der Geschichte. Terence heiratet Tossie statt Maud, und ein anderer Pilot fliegt nach Berlin. Vielleicht kalkuliert er das Ziel falsch oder wird von der Flak getroffen oder meint, er höre den Motor stottern und fliegt darauf zurück, worauf die anderen Piloten des Geschwaders, in der Annahme, er gehorche einem Befehl, ihm folgen und wegen ihm in die Irre fliegen, genau wie die beiden deutschen Flugzeuge zwei Nächte davor. Oder das Fehlen des Enkelsohnes beeinflußt die Entwicklung der Flugzeuge oder das Aufkommen an Treibstoff in England. Oder das Wetter. Und der Luftangriff findet nie statt.

Und die Luftwaffe rächt sich nicht, indem sie London angreift. Sie bombardiert auch nicht Coventry. Also gibt es auch kein Restaurierungsprojekt. Und keine Lady Schrapnell, die Verity zurück ins Jahr 1888 schickt. Und die Paradoxa vervielfältigen sich, bis sie eine kritische Masse erreicht haben, und das Netz bricht zusammen, setzt Carruthers in Coventry fest und schickt mich immer weiter weg vom Schuß. Und damit haben wir die Katze Kiss, die die Bombe schmiß, genau aufs Haus gebaut von Klaus.

Es wurde kälter. Ich zog meinen Blazer enger um mich und wünschte, es wäre das Tweedjackett.

Aber wenn es das übelste Szenario war, warum hatte es dann bei Veritys Sprung keinen erhöhten Schlupfverlust gegeben? »Sehen Sie«, hatte T. J. gesagt und eine Simulation nach der anderen ablaufen lassen, »bei jeder einzelnen Inkonsequenz zeigt sich dieses Gebiet radikal erhöhter Schlupfverluste direkt in ihrem Zentrum.« Nur bei unserer nicht.

Neun Minuten Verlust beim ersten Sprung, zwischen zwei und dreißig bei allen anderen, und ein Durchschnitt von vierzehn bei allen Sprüngen Veritys ins victorianische Zeitalter. Nur zwei Gebiete mit sich erhöhenden Verlusten und eines davon wegen Ultra.

Ich zog meinen Blazer aus und wickelte mich in ihn wie in eine Decke, während ich zitternd über Ultra nachdachte.

Ultra hatte auch ein System von Backups. Das erste war Stillschweigen. Wenn aber doch etwas durchsickerte, trat ihr zweites Abwehrsystem in Aktion, wie in Nordafrika.

Sie hatten Ultra benutzt, um Schiffe, die Rommel Nachschub an Öl lieferten, zu lokalisieren und zu versenken, was den Verdacht hätte erregen können, der deutsche Code sei geknackt worden. Deshalb hatte man jedesmal ein Aufklärungsflugzeug losgeschickt und es absichtlich von dem Nazikonvoi sichten lassen, damit diese das Versenken des Schiffes damit in Zusammenhang brachten.

Bloß einmal, als dichter Nebel verhinderte, daß das Flugzeug den Konvoi fand, waren die englische Luftwaffe und die Flotte in Panik geraten, daß das Öl Rommel erreichen könnte, und hatten sich dazu hinreißen lassen, das Schiff trotzdem zu versenken. Und damit beinahe das Geheimnis gelüftet.

Also gingen die führenden Köpfe bei Ultra daran, ein Backup aufzubauen, indem sie Gerüchte im Hafen von Malta ausstreuten und eine leicht zu entschlüsselnde Nachricht an einen nichtexistenten Agenten schickten, die zum Abfangen gedacht war. In der Nachricht dankten sie dem Agenten für seine Information über den Konvoi und beförderten ihn. Und die Nazis brachten die nächsten sechs Monate damit zu, den Gerüchten nachzugehen und den Agenten zu enttarnen. Was sie davon ablenkte, daß wir so etwas wie Ultra haben könnten.

Und falls dieser Plan gescheitert wäre, hätten sie etwas anderes probiert. Und selbst wenn alle Pläne gescheitert wären, hätten sie nach dem Versagen reagiert und nicht während des Versagens.

Egal, wie gravierend die Inkonsequenz war, das Kontinuum mußte versucht haben, sie zu beseitigen. Statt dessen hatte es einen Schlupfverlust von neun Minuten geschaffen, neun Minuten, durch die es Verity zu just dem Moment schickte, an dem sie die Katze rettete, während fünf Minuten gereicht hätten, um sie davon abzuhalten. Es war, als hätte das Kontinuum einen Blick auf die Inkonsequenz geworfen und wäre ohnmächtig geworden, wie Mrs. Mering.

Verity hatte gesagt, ich solle nach der winzigen Tatsache Ausschau halten, die nicht paßte, aber nichts paßte zusammen: Warum hatte das Kontinuum, wenn es sich selbst korrigieren wollte, mich nicht nach Muchings End befördert, damit ich die Katze zurückbringen konnte, bevor Mrs. Mering aufbrach, um Madame Iritosky zu konsultieren? Warum hatte es mich drei Tage zu spät durchkommen lassen, genau richtig, um Terence von der Begegnung mit Maud abzuhalten? Und die wichtigste kleine Tatsache war — warum hatte das Netz überhaupt zugelassen, daß die Inkonsequenz passierte, wenn es sich eigentlich dabei automatisch hätte schließen müssen?

»Sehen Sie, das sind alles nur Simulationen«, hatte T. J. gesagt. »In Wirklichkeit würde sich das Netz überhaupt nicht öffnen.«

Niemand konnte Waterloo erreichen. Oder Fords Theater. Oder die Franz-Josef-Straße. Wenn die Katze für den Lauf der Geschichte wirklich ein Dreh- und Angelpunkt war, warum konnte man dann Muchings End so einfach erreichen? Warum war bei Veritys Sprung der Schlupfverlust, obwohl angebracht, nicht erhöht gewesen, dafür aber in Oxford im April 2018? Und wie, wo doch der Schlupfverlust mich hätte abhalten sollen, war ich durchgekommen?

Es wäre schön gewesen, wenn die Antwort dort gelegen hätte, 2018 im Labor, aber es war offenkundig, daß, was immer den Verlust hervorgerufen haben mochte, nichts damit zu tun haben konnte, was Jim Dunworthy oder Shoij Fujisaki getan hatten. Sie hatten keine Sprünge durchgeführt.

Wäre Hercule Poirot an meiner Stelle gewesen, hätte er bestimmt eine saubere Lösung präsentieren können, eine, die nicht nur das Rätsel derVerblüffenden Inkonsequenz löste, sondern auch das der kleinen Prinzen im Tower sowie von Jack, dem Ripper und wer die St. Paul’s Kathedrale in die Luft jagte. Aber er war nicht hier und ebensowenig der behende Lord Peter Wimsey, und wenn sie hier gewesen wären, hätte ich ihnen die Jacken abgenommen und meine Knie damit zugedeckt.

Irgendwann inmitten dieser Tagträumerei bemerkte ich, daß ich auf eine Veränderung in der pechschwarzen Finsternis mir gegenüber starrte, eine Unebenheit im Mörtel, was bedeutete, daß irgendwoher Licht kam.

Ich drückte mich eng an die Mauer, aber das Licht oder vielmehr, die ganz winzige Verringerung von Finsternis vergrößerte sich weder noch flackerte sie, wie es eine Fackel getan hätte, die von unten hoch getragen wurde.

Es war auch nicht das rotgelbe Licht einer Laterne. Es war nur ein nicht ganz so tiefes Schwarz. Und ich mußte wirklich immer noch an der Zeitkrankheit leiden, denn ich brauchte fünf Minuten, bis mir eine weitere Möglichkeit einfiel: Der Grund für die pechschwarze Finsternis konnte auch sein, daß es Nacht war, und ich mich doch in einem Turm befand. Und daß der Ausgang unten war.

Nachdem ich mir zum zweiten Mal fast das Genick gebrochen hätte und meine Hand noch übler aussah, kapierte ich endlich, daß ich bloß eine halbe Stunde länger warten mußte, bevor ich genug sehen konnte, wo ich hintrat, und den Ausgang erreichte, ohne mich dabei umzubringen.

Ich setzte mich auf die Stufen, lehnte den Kopf gegen die Mauer und beobachtete, wie das Grau um mich herum wuchs.

Ich hatte den Schluß gezogen, daß Dunkelheit Verlies bedeutete, und als Konsequenz daraus hatte ich lauter falsche Folgerungen abgeleitet. War das auch eine Folge der Inkonsequenz? Stimmte eine unserer Annahmen nicht?

Die Geschichte strotzte vor solch falschen Schlüssen — Napoleon, der annahm, Ney hätte Quatre Bas eingenommen, Hitler, der annahm, die Alliierten würden in Calais landen, König Harolds Sachsen, die annahmen, die Truppen von Wilhelm dem Eroberer zögen sich zurück, und in die Falle tappten.

Hatten wir uns über die Inkonsequenz auch getäuscht? Gab es eine andere Sichtweise, die alles erklären konnte — vom Fehlen eines Schlupfverlustes bei Veritys Sprung angefangen bis zu seinem sprunghaften Anstieg im Jahr 2018? Eine Sichtweise, in die alles hineinpaßte — Prinzessin Arjumand, Carruthers und des Bischofs Vogeltränke, die ganzen idiotischen Wohltätigkeitsbasare und Geistlichen, von dem Hund ganz zu schweigen — eine, die alles erklärte?

Ich mußte eingeschlafen sein, denn als ich die Augen öffnete, war es heller Tag, und Stimmen näherten sich die Treppe hoch.

Erschrocken blickte ich mich in dem engen Turm um, als ob es dort ein Versteck gäbe, dann rannte ich die Treppe hinauf.

Ich hatte schon mindestens fünf Stufen hinter mich gebracht, als mir einfiel, daß ich sie ja zählen mußte, damit ich das Netz wiederfand. Sechs, sieben, acht, zählte ich lautlos und bog um die nächste Kurve. Neun, zehn, elf. Lauschend blieb ich stehen.

»Habetir deket dazdac?«fragte die Frau.

Es klang wie Mittelenglisch, was hieß, ich war wirklich im Mittelalter.

»Guotefrouwe Boethenneher, diu schifer nihtsin komen«, erwiderte der Mann.

»Dazdac muoz komen diuz wohe anein end«, sagte die Frau. Der Mann darauf: »Daz wirtniht gan.«

Zwar konnte ich die Worte nicht verstehen, aber eine solche Unterhaltung hatte ich unzählige Male zuvor gehört, unter anderem erst vor ein paar Tagen vor dem Südportal von St. Michael’s. Die Frau wollte wissen, wann etwas fertig wurde. Der Mann suchte sich rauszureden. Die Frau, offenbar eine frühe Ahnin von Lady Schrapnell, sagte, es sei ihr gleichgültig, es müsse bis zum Fest fertig sein.

»Daz wirtniht dan, guotefrouwe Boethenneher«, sagte der Mann. »Mir habetniht man so vil.«

»Ez mouz sin, Gruwens«, sagte die Frau.

Man hörte, wie Stein auf Stein schlug, dann schnappte sie: »Sicht, Gruwens! Diusze steppe is komen dohin.«

Sie schnauzte ihn wegen der losen Stufe an. Ausgezeichnet. Ich hoffte, sie machte ihm richtig die Hölle heiß.

»Macetdaz noch hiut«, sagte sie.

Sie stiegen immer noch höher. Ich schaute hoch zur Turmspitze und überlegte, ob weiter oben eine Plattform oder ein Türmzimmer war.

»Wirttan noch hiut, guotefrouwe Boethenneher.«

Botoner. War das hier vielleicht Ann Botoner oder Mary, die den Spitzturm der Kathedrale von Coventry erbaut hatte? Und dieses hier der Turm?

Ich stieg weiter nach oben, wobei ich versuchte, keinen Lärm zu machen und lose Stufen zu vermeiden. Neunzehn, zwanzig.

Oben war eine Plattform, von der aus man ins Innere des Turms sehen konnte. Ich schaute hinunter. Ein offener Bereich. Der Glockenturm. Oder vielmehr, wo die Glocken gewesen wären, wenn man sie bereits aufgehängt hätte. Jetzt dämmerte es mir. Ich war im Turm der Kathedrale von Coventry, im Jahr, als er erbaut wurde. 1395.

Ich hörte die beiden nicht mehr. Also ging ich wieder zur Treppe und versuchsweise zwei Stufen hinunter. Und prallte fast mit ihnen zusammen.

Sie standen direkt unter mir. Ich konnte das Oberteil einer weißen Haube sehen. Ich sprang schnell auf die Brüstung zurück, rannte dann weiter die Treppe hoch und trat fast auf eine Taube.

Sie flatterte auf, wie eine Fledermaus nach mir schlagend, dann an mir vorbei und auf die Brüstung.

»Huosz!« rief die Dame Botoner. »Huosz! Tiufelsbruot!«

Ich wartete, zur Flucht bereit, bemüht, nicht laut zu atmen, aber sie kamen nicht näher. Ihre Stimmen hallten eigenartig, als gingen sie zur anderen Seite der Brüstung, und nach einer Minute kroch ich wieder hinunter, damit ich sie sehen konnte.

Der Mann trug einen braunen Kittel sowie Lederhosen und hatte einen gequälten Ausdruck im Gesicht. Gerade schüttelte er den Kopf. »Nee, guotefrouwe Marree« sagte er. »Niht vor zwi wohen«

Mary Botoner. Neugierig betrachtete ich Bischof Bittners Urahnin, die ein rotbraunes Gewand trug, dessen Schlitze in den aufgebauschten Ärmeln ein gelbes Unterkleid zeigten und das mit einem breiten Gürtel geschlossen war, der ziemlich weit unten hing. Ihre Leinenhaube schloß sich eng um ihr rundes, nicht mehr ganz junges Gesicht, und sie erinnerte mich an jemanden. Lady Schrapnell? Mrs. Mering? Nein, jemand älteres. Mit weißem Haar?

»Muouz sin diuz wohe!« Sie deutete über die Brüstung.

Der Handwerker schüttelte vehement den Kopf. »Daz wirtniht gan, guotefrouwe Boethenneher.«

Die Frau stampfte mit dem Fuß auf. »Ez muoz sin, Gruwens.« Damit wandte sie sich von der Brüstung weg zur Treppe.

Ich duckte mich schnell, um nicht gesehen zu werden, bereit, gleich wieder aufzutauchen, aber die Unterhaltung war offenbar beendet.

»Aber, guotefrouwe Boethenneher…« Der Handwerker folgte ihr.

Ich kroch den beiden hinterher, immer eine Kurve über ihnen.

»Gotimhimel kann nit…« jammerte der Handwerker.

Ich war beinahe beim Netz.

»Waz is diuz?« fragte die Frau.

Vorsichtig schlich ich eine Stufe tiefer, dann noch eine, bis ich die beiden sehen konnte. Mary Botoner wies auf etwas an der Wand.

»Auch diuz«, sagte sie, und ich sah genau über ihrem Kopf einen leichten Schimmer, gleich einem Heiligenschein.

Nicht jetzt, dachte ich. Nicht nachdem ich eine ganze Nacht gewartet habe.

»Aber, guotefrouwe Boethenneher…«

»Muoz sin.« Mary Botoner stieß ihren knochigen Zeigefinger an die Wand.

Der Schimmer verstärkte sich. Jeden Moment konnte einer der beiden hochschauen und ihn sehen.

»Werdet sperret in!« sagte Mary Botoner.

Komm schon, dachte ich. Sag ihr, daß du es reparierst.

»Muoz sin hiut«, sagte sie, dann ging sie endlich weiter. Der Handwerker rollte die Augen, zog seinen Gürtel enger um seine Leibesfülle und eilte ihr nach.

Zwei Stufen. Drei. Mary Botoners behaubter Kopf verschwand um die Kurve und tauchte dann wieder auf. »Irniht kriget lon, bis al is komen anein end.«

Ich konnte nicht länger warten, selbst wenn das bedeutete, daß sie mich sahen. Hatten die Menschen im Mittelalter nicht an Engel geglaubt? Mit Glück hielten sie mich für einen.

Der Schimmer wurde zum Glühen. Ich schoß die Treppe hinab, sprang über die Taube, die erschrocken aufflatterte.

»Guotgotimhimel«, rief der Handwerker. Die beiden drehten sich zu mir um. Mary Botoner bekreuzigte sich. »Heilgemarre muoter…«

Ich sprang mitten in das sich bereits schließende Netz und landete bäuchlings auf dem gesegneten, gefliesten Boden des Labors.

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