Gewiß war der Bericht des Mädchens ein Schock für Phil gewesen, aber er beobachtete an sich selbst, daß er deshalb den Lebensmut nicht verlor. Es hinderte ihn auch nicht daran, seine Übungen fortzusetzen.
Nach wie vor interessierte ihn das Kästchen mit den Druckknöpfen. Chris hatte dem Oberarzt offenbar nichts von Phils Erlebnis verraten, und das war gewiß schon gegen ihre Order; Phil wollte sie nicht in noch größere Konflikte bringen und fragte sie nicht nach der Bestimmung der einzelnen Knöpfe. Bei nächster Gelegenheit probierte er sie einen nach dem andern aus – sie dienten dazu, um vom Krankenbett aus einige Dinge zu verändern: das Fenster zu öffnen und zu schließen, die Temperatur zu erhöhen oder zu erniedrigen, einen Ventilator an- oder auszuschalten, die Zimmerbeleuchtung zu verstärken oder zu dämpfen. Dabei befand sich nichts von tieferer Bedeutung.
Phil fand dann heraus, daß sein Bett auf Rädern stand und daß er ihre Blockierung lösen konnte. Wenn er hinuntergriff und sie drehte, dann konnte er wie mit einem Wägelchen vor- und zurückfahren, wenn auch nur innerhalb der Grenzen, die die Leitungen zu den danebenstehenden Apparaturen freiließen.
Sein besonderes Ziel war der Videoapparat. Er versuchte oft, das Bettgestell näher heranzurollen, und schließlich gelang es ihm auch – als er das Pult mit den Skalen und Bildschirmen ein wenig vorgezogen hatte. Zuerst holte er sich eine Tafel, die neben der Aufnahmeröhre an einem Haken hing. Darauf waren einige Nummern vermerkt: Zentrale 006, Chef 011, Büro 283, Nachtschwester 268 und einige andere, die ihn nur soweit interessierten, als er sie nicht wählen wollte. Nun drückte er den Einschaltknopf und horchte. Ein leises Tuten zeigte, daß der Apparat in Betrieb war. Phil suchte auf gut Glück die Nummer 631 aus und drehte mit mühsamen Verrenkungen die Wahlscheibe: 6 – 3 – 1. Er bemühte sich, auf den Bildschirm zu sehen, aber dieser blieb dunkel. Vielleicht gab es nicht so viele Anschlüsse?
Er wählte 531 und dann 431, aber er hatte keinen Erfolg. Schließlich ging er von 431 aufwärts: 432, 433, 434 und so weiter. Fast hätte er schon seine Bedenken zerstreut und es mit noch niedrigeren Nummern versucht, da wurde der Bildschirm plötzlich hell.
»Ja?« sagte eine Männerstimme.
»Wer spricht?« fragte Phil.
»GUS Morley«, antwortete der Mann bereitwillig. Aber er erschien nicht auf dem Bildschirm.
»Ich bin Phil Abelsen, ein Patient«, erklärte Phil.
»Mensch, ich werd’ verrückt!« erklang es aus dem Lautsprecher. »Ein Patient – ist das die Möglichkeit! Ich habe es längst aufgegeben, einen zu erreichen!«
»Sind Sie auch verwundet?« fragte Phil.
»Kann man wohl sagen. Beide Beine ab. Jetzt haben sie mir neue eingepflanzt. Was fehlt Ihnen?«
»Mich hat’s am Brustkasten erwischt; ich bin noch ans Bett gefesselt. Darum kann ich mich nicht zeigen.«
»Ich komme auch noch nicht hoch. Na, Hauptsache, es existiert noch jemand.«
»Was meinen Sie damit?« erkundigte sich Phil. Er hatte die Lautstärke richtig reguliert und konnte sich liegend bequem unterhalten.
»Nun, die anderen sind offenbar gesund. Ich habe nichts mehr von ihnen gehört. Wer denkt auch noch an einen Lädierten, wenn er selbst gesund ist.«
Phil fragte sich, ob der andere von den Geschehnissen wußte. Vorsichtig erkundigte er sich: »Wissen Sie, wo wir sind?«
»Auf einem Raumschiff – wußten Sie’s nicht?«
»Doch«, sagte Phil.
»Die Misere haben wir hinter uns. Wir sind in Sicherheit. Wir bauen uns irgendwo ein neues Leben auf.«
»Und die Erde?«
»Die Erde kann uns gestohlen bleiben. Gut, daß sie kaputt ist. Mir ist es mein ganzes Leben dreckig gegangen. Zum erstenmal geht es mir gut.«
»Aber wo sind die anderen – die jetzt gesund sind?«
»Ich weiß es nicht. Der Chef hat es mir nicht gesagt. Manchmal ist er recht gesprächig. Feiner Kerl. Aber meine Krankenschwester – eine Zitrone ist süß gegen diese miese Giftnudel.«
»Meine ist nett«, sagte Phil.
»Da haben Sie aber Glück gehabt. Meine hat einen richtigen Klaps. Wenn man sich mit ihr unterhalten will, heult sie einem gleich etwas von der Erde vor.«
»Ich muß jetzt aufhören«, sagte Phil. »Ich weiß nicht, ob das Telefonieren erlaubt ist, und will mich nicht gleich beim erstenmal erwischen lassen. Ich habe keine Uhr, um herauszukriegen, wann Nacht ist und mich niemand stört.«
»Es ist vier Uhr nachmittags«, sagte GUS. »Sie brauchen nur die Nummer 222 anzurufen, da läuft ein Magnetband mit der Zeitansage. Wie ist Ihre Nummer?«
Phil hatte noch nicht an seine Nummer gedacht, nun sah er sich um, um sie irgendwo zu entdecken. Schließlich fiel ihm die Tafel ein, und er hob sie vom Bettrand auf, wo er sie niedergelegt hatte. Auf der Rückseite fand er die Zahl 412.
»Ich glaube, es ist 412«, antwortete er.
»Meine ist 447. Auf Wiederhören. Ich rufe Sie mal an.«
»Fein«, sagte Phil. »Gute Besserung! Auf Wiederhören!«
Kurze Zeit darauf betrat Chris den Raum. Sie hatte eine Plastikflasche mitgebracht, aus der Phil ein wenig lauwarme Zuckerlösung trinken durfte. Das war das erstemal nach seiner Verwundung, daß er etwas zu sich nahm. Er wußte selbst nicht, wie er die notwendige Flüssigkeit bekommen hatte, wahrscheinlich durch die Zuleitungen, die in seine Magengrube führten.
Das Zuckerwasser schmeckte wie das feinste Getränk, aber nachher fühlte er sich ein wenig übel. Chris reinigte ihn und bereitete dann die Bestrahlung vor.
»Was geschieht mit den Männern, die gesund sind?« fragte er.
»Ich weiß es nicht, Phil«, antwortete sie.
»Ist es etwas so Schlimmes«, fragte er.
»Ich weiß es wirklich nicht«, versicherte sie. »Der Chef spricht nicht viel mit uns. Er nimmt Frauen nicht für ganz voll. Vielleicht sagt er es dir, wenn du ihn fragst.«
»Wie soll ich wissen, ob er mir die Wahrheit sagt.«
Phil lag unter dem Ultraviolett, seine Augen waren hinter der Schutzbrille verborgen.
»Wie viele Menschen sind auf dem Raumschiff?« fragte er.
»Es dürften etwas über tausend sein.«
»Lauter Verwundete?«
»Die meisten waren verwundet. Dr. Myer und einige Assistenzärzte haben sie behandelt, wir vier Schwestern haben sie gepflegt, und einige Gesunde, vor allem die Männer der Besatzung, mußten uns dabei helfen.«
Phil kam wieder auf seine Frage zurück. »Was ist mit diesen Leuten jetzt?«
»Sie sind in einem anderen Teil des Schiffes. Wir Schwestern dürfen ihn nicht betreten.«
»Hast du dir nie Gedanken darüber gemacht? Hast du nie nachgesehen?«
Chris seufzte.
»Warum sollte ich mir Gedanken darüber machen? Hier ist der Lazaretteil des Schiffes, und hierher gehöre ich; ich bin Krankenschwester und weder Soldat noch Spionin – um die Gesunden habe ich mich nicht zu kümmern.«
»Und wenn ich gesund sein werde?«
Chris stand hinten am Bett zu seinen Füßen und antwortete nicht.
»Was wird, wenn ich gesund sein werde?« fragte Phil hartnäckig.
»Was erwartest du dir?« fragte das Mädchen leise.
Jetzt war Phil um eine Antwort verlegen. Ja, was durfte er wirklich erwarten? Was sollte geschehen? Was war geplant? Was hatte das alles für einen Zweck?
»Es sind über tausend Männer an Bord«, fuhr Chris fort. »Und vier Mädchen. Glaubst du, ich könnte einfach bei dir bleiben?«
Chris hatte recht. An diese Konsequenz hatte er nicht gedacht. Das war eine ganz außergewöhnliche Situation, und er wußte nicht, wie sie zu lösen war. Ob es Dr. Myer wußte?
»Wer ist noch an Bord – außer den früheren und jetzigen Patienten, den vier Schwestern und dem Oberarzt? Ich meine, gibt es einen Kommandeur des Schiffes, Offiziere, Besatzung?«
»Dr. Myer ist der Kommandeur des Schiffes. Es ist eines der modernsten, die je gebaut wurden. Fast alles funktioniert automatisch. Dr. Myer ist der höchste Chef. Außer ihm hat niemand etwas zu sagen.«
Langsam wurde ihm die Bedeutung dieser Tatsache klar. Jemand war der höchste Vorgesetzte von tausend Menschen; das war nichts Besonderes. Aber diese Menschen waren abgeschnitten von allen anderen, vielleicht waren sie die einzigen Menschen überhaupt; da sah die Sache völlig anders aus: Er war der uneingeschränkte Gebieter über die ganze Menschheit, ihr Kaiser, ihr Gott. Und die Mädchen? Phil wagte nicht weiterzudenken. Er hob den Kopf. Chris saß in ihrem Sessel an der Wand und hielt den Kopf gesenkt. Er konnte sie durch das dicke Glas nicht deutlich sehen, aber es war ihm, als ob sie lautlos weinte. Er ließ den Kopf wieder sinken. Alles in ihm lehnte sich gegen das auf, was er dachte. Er fragte nichts mehr, weil er das Mädchen nicht unnütz aufregen wollte. Er hätte gern etwas Beruhigendes gesagt, aber es fiel ihm nichts ein.
Am späten Abend wählte er die Nummer des anderen Patienten GUS Morley... Aber es meldete sich niemand, obwohl er lange wartete. Da drückte er auf den Knopf, der, an der Leitungsschnur befestigt, noch immer an seiner rechten Hand lag.
Bald schnarrte die Tür, und Chris trat ein.
»Fühlst du dich nicht wohl?«
Er wartete, bis sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, dann fragte er:
»Wo ist GUS Morley?«
Verständnislos sah sie ihn an.
»Was meinst du? Wer ist das?«
»Ich will wissen, wo GUS Morley ist«, sagte Phil. »Es ist ein anderer Patient, ich habe heute mit ihm telefoniert. Jetzt ist er nicht mehr da; es meldet sich niemand – auf Nummer 447. Wo ist er?«
»Ich kenne ihn nicht«, sagte Chris, »ich weiß es nicht!«
Phil machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Du weißt es nicht. Schön – ich glaube dir. Aber warum nimmst du denn alles hin?« Er war lauter geworden und zwang sich nun mühsam zur Ruhe, aber schon in den nächsten Worten klang wieder die Erregung durch: »So tu doch etwas! Sieh nach! Erkundige dich bei deinen Kolleginnen! Geh – und sag mir dann, was du herausgefunden hast! Hörst du, du mußt gleich wiederkommen!«
Chris brachte kein Wort der Entgegnung heraus. Ein Teil von Phils Unruhe hatte sich auf sie übertragen. Sie wandte sich zur Tür und trat hinaus.
Obwohl es nur fünf Minuten dauerte, bis sie wiederkam, hielt es Phil vor Ungeduld kaum aus.
»Hast du es herausgebracht? Was ist mit ihm?«
Der Atem des Mädchens flog, sie war gerannt. Sie beruhigte sich erst, bevor sie antwortete.
»Gar nichts Geheimnisvolles. Schwester Mägde hat ihn betreut. Er ist als gesund entlassen worden.«
»Er ist nicht gesund«, sagte Phil. »Heute nachmittag konnte er sich noch nicht aufrichten. Was ist also mit ihm geschehen?«
»Muß es denn etwas Schlimmes sein?« fragte Chris. »Niemand von uns hat bisher an etwas Schlimmes gedacht.«
Phil sprach jetzt beherrscht und überlegen:
»Es muß nichts Schlimmes sein, Chris. Aber man muß wissen, was los ist. Wenn man sich nicht mehr darum kümmert, was um einen herum vorgeht, dann hat man sich selbst schon aufgegeben. Dann kann man nichts mehr tun als den Kopf hängen lassen. Deshalb will ich wissen, was mit GUS und den andern passiert ist. Nicht, weil ich etwas Böses vermute, sondern weil ich mir ein Bild von der Lage machen will.«
Chris nickte, doch Phil hatte nicht den Eindruck, daß sie ihn ganz verstand.
»Komm her«, sagte er und streckte ihr die rechte Hand entgegen. Sie ergriff sie, und er zog sie näher an das Bett. Dort setzte sie sich auf den Hocker.
»Ich habe über unsere Situation nachgedacht«, fuhr er fort. »Es ist keine angenehme Situation, aber es spricht nichts dagegen, daß man sie verbessern könnte.«
»Aber wie?« fragte Chris.
»Ich weiß noch nicht, wie«, antwortete Phil. »Weil ich es aber wissen will, darum müssen wir etwas unternehmen. Oder bist du mit allem einverstanden – so wie es ist?«
Chris schüttelte den Kopf.
»Ein Mann, der die ganze Macht besitzt, dessen Wille allein regiert – das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Ich weiß nicht, was der Oberarzt anstrebt – er ist viel zu undurchsichtig. Er ist kein Patriarch, der Rücksicht auf die Wünsche seiner Leute nimmt. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, wird er es durchsetzen, auf Biegen und Brechen.«
Das lange Reden strengte Phil an, aber er ließ es sich nicht anmerken. Unbeirrt fuhr er fort:
»Wer solche Dinge reifen läßt und nichts dagegen tut, macht sich mitschuldig. Du tust so, als wäre alles schon vorbei, alles schon entschieden – aber gar nichts ist entschieden, solange noch jemand da ist, der sich dagegen wehrt. Und ich bin noch da, Chris. Vielleicht klingt es überheblich; denn ich bin verwundet, krank, schwach, ans Bett gefesselt. Aber ich glaube an mich selbst, und ich bin bereit. Willst du mir helfen?«
»Wenn ich es kann – ja. Wenn es nichts nützt, so schadet es nicht.«
»Gut. Weißt du, wann Dr. Myer schlafen geht?«
Chris antwortete nicht gleich. Dann sagte sie:
»Gegen Mitternacht. Manchmal auch etwas später.«
»Dann gib acht! Du wartest bis drei Uhr nachts. Dann gehst du in jenen Teil, wo sich die anderen Männer aufhalten. Du siehst nach, was sie tun, wie sie sich befinden.«
Chris stand abrupt auf.
»Aber Phil, das kann ich doch nicht!«
»Warum nicht?« fragte er scharf. »Handelt es sich um Räume, die verschlossen oder sonst irgendwie gesichert sind?«
»Ich weiß es nicht, aber...«
»Hast du es schon einmal versucht?«
»Nein, aber...«
Für ein paar Sekunden verlor Phil die Fassung. Er bäumte sich so wütend auf, daß das Bettgestell ächzte und einige Flaschen im Wandschrank klirrend zusammenstießen.
»Verdammt, dann laß mich selbst gehen ... es ist doch egal, was mit mir geschieht ... wenn niemand etwas unternimmt...«
Er hatte den rechten Arm aus dem Riemen befreit und war daran, den Gurt, der um seine Brust lag, zu lösen. Chris packte seinen Arm und drängte ihn zurück. Seine Muskeln waren schon überraschend leistungsfähig, und sie brauchte ihre ganze Kraft, um ihn zu bändigen. Die Kräfte hielten jedoch nicht lange an. Nach diesem Energieverbrauch war er matt und zitterte, aber noch immer wehrte er sich, als sie die Riemen festschnallte. Dann lag er schwer atmend da, den Kopf abgewandt.
Chris ordnete ihr Haar. Dann sagte sie:
»Ich werde es tun.«
Sie wartete. Langsam drehte er ihr sein Gesicht zu.
»Ich werde es tun, Phil«, sagte sie.
»Gut«, sagte er. »Dann geh jetzt. Es wäre nicht gut, wenn dich jemand hier fände.«
Sie blieb noch einen Augenblick stehen, dann ging sie.
Phil konnte nicht schlafen, obwohl er versuchte, sich ganz zu entspannen. Er bekam jetzt keine schmerzstillenden Mittel mehr, und so spürte er ein eigenartiges Sichregen in seinem Körper. Sein Herz schlug tief und ruhig – es tat wohl, diesem festen stetigen Schlag zu lauschen. Auch die Atemtätigkeit erfolgte regelmäßig; nur manchmal zog ein stechender Schmerz die Rippen aufwärts. An allen möglichen anderen Stellen aber zuckte und zerrte es unvermittelt, um dann ebenso scheinbar grundlos aufzuhören. In seinen Gedärmen saß ein unbestimmter Druck, der sich von Zeit zu Zeit an eine andere Stelle verlagerte. Manchmal verkrampften sich seine Muskeln, und dann stemmte er sich gegen die Gurte, die in seine Haut einschnitten, und drehte sich ein wenig nach der anderen Seite hin. Am schlimmsten war der Juckreiz; irgendwo, fast stets an Stellen, die er mit den Händen nicht erreichen konnte, begann es zu kitzeln und zu beißen und hörte meist erst auf, sobald es an einer anderen Stelle von neuem begann.
Natürlich dachte er über seine Lage nach, aber er kam zu keinem Schluß; seine Gedanken liefen im Kreis. Als er endlich in einen unruhigen Schlaf verfiel, schnarrte die Tür – vor ihm stand Chris.
»Hast du nachgesehen? Wie ist es dir ergangen? Erzähle!«
»Ich habe sie gefunden«, sagte Chris. Sie setzte sich, wie schon oft, auf den Schemel an Phils Lager.
»Das Raumschiff besteht aus einem zylindrischen Mittelstück. Im einen Ende ist eine Art Navigationsraum – mit Sendern und Empfängern, Radargeräten, Thermodetektoren und so weiter. Im mittleren Teil liegt der Reaktor, dahinter das Rubidiumlager, dann kommen der Verdampfungsofen und die Ionisierungseinrichtung, und am anderen Ende sitzen die Ionendüsen.«
In eine Atempause hinein fragte Phil verblüfft: »Wieso kennst du das auf einmal so gut – diese technischen Details?«
»Ganz einfach – ich konnte nicht einschlafen, und die Zeit verfloß unerträglich langsam. Da ging ich in den Leseraum und suchte einen Mikrofilm mit Informationen über das Schiff.«
Phil nickte. Die von ihm ausgestreute Saat ging auf.
»Konzentrisch um die Mittelachse herum sind Ringe angeordnet – insgesamt drei. Sie sind durch Streben miteinander verbunden. Sie bilden die Rahmenkonstruktion eines Trichters, der sich nach vorn verengt. Kannst du es dir vorstellen? Mit der Mittelachse zusammen sieht es aus wie ein Kreisel.«
Phil erinnerte sich an das, was er durch das Fenster gesehen hatte.
»Die Ringe enthalten die Räume?« fragte er.
»Ja. Wir sind jetzt im mittleren – es ist der Lazaretteil. Im äußeren liegt der Wohntrakt, in dem auch die Schwestern und der Chef untergebracht sind. In der Zeit, zu der wir die vielen Verwundeten zu betreuen hatten, benützten wir alle entbehrlichen Räume als provisorische Krankenzimmer. Jetzt sind sie leer. In diesem Ring, wir nennen ihn die dritte Etage, gibt es einen Aufenthalts- und Gesellschaftsraum mit einer Bar und einer kleinen Tanzdiele, einem Kino- und einem Fernsehsaal, ein Lesezimmer, ein Bad und einen Speisesaal. Dazu gehören eine Küche und eine Vorratskammer. Alle nicht unmittelbar benötigten Dinge sind in der ersten Etage – im innersten Ring – untergebracht.«
»Das Ganze rotiert«, sagte Phil, weniger als Frage denn als Feststellung.
»Ja, es rotiert«, bestätigte Chris. »Dadurch wird im äußersten Ring normale Schwerkraft erzeugt, in den inneren Ringen ist sie dementsprechend geringer.«
»Ich habe es erst spät bemerkt«, sagte Phil, »als ich mich das erste Mal richtig aufsetzen konnte – ich meine: daß wir hier verringerte Schwerkraft haben. Aber als ich damals aus dem Fenster sah, da fiel mir auf, daß sich die Sterne bewegten.«
»Die Verbindungsstreben zwischen den Ringen sind hohl. Darin sind Aufzugsschächte. Ich war früher nie in der ersten Etage; was sollte ich in den Vorratsräumen?«
Phil schwieg, und Chris machte eine kleine nachdenkliche Pause. Phil hatte den Eindruck, als zöge sie die Vorgeschichte absichtlich so lange hinaus – als hielte sie etwas davor zurück, den Kern der Sache zu berühren.
»Nun warst du also in der ersten Etage«, sagte er, um sie zum Weitersprechen aufzumuntern.
»Ja. Ich war oben.«
In Gedanken versunken strich Chris einige Falten aus dem Bettlaken, das über die Luftmatratze gespannt war. Dann erzählte sie weiter:
»Ich fuhr mit dem Aufzug aufwärts. Es ist ein ganz eigenartiges Gefühl, mit diesem Aufzug zu fahren. Wenn er sich zu heben beginnt, ist es wie bei jedem Lift – er drückt einen sanft in die Höhe. Dann aber folgt bald der Eindruck, daß man stehenbleibt, obwohl man noch fährt, und wenn er schließlich wirklich hält, hat man das Gefühl, zu fallen, tiefer und tiefer. Dieses Gefühl hält noch lange an, auch wenn man schon längst ausgestiegen ist.
Als ich aus der Kabine stieg, kam ich in einen Gang. Alles sah genauso aus wie im zweiten und im dritten Stock. Viele Türen führten seitwärts – nach rechts. Links ist eine Reihe von Fenstern. Durch sie sieht man zum Heck, in die Richtung zur Erde, zur Sonne. Man kann sie noch deutlich erkennen – sie ist der hellste Stern am Himmel.«
Chris sah auf ihre Armbanduhr.
»Ich muß mich beeilen. Ich ging also in den Gang hinein und machte einige Türen auf – es waren Vorräte drinnen, Behälter aller möglichen Formen, aus Karton, Kunststoff und Glas, und auch größere Dinge, eingepackte Maschinenteile, ein paar Traktoren und Luftkissenboote als Ganzes festgeschnürt, und einige größere Gegenstände in einzelne Stücke zerlegt. Es müssen Kräne, Laufbänder, Ballonfahrzeuge und ähnliches sein.«
»Weiter«, drängte Phil, als Chris wieder eine Pause machte. »Hast du sie gefunden, dort unten bei den Vorräten?«
»Ja«, sagte Chris. »Es ist aber ... etwas Gespenstisches... Ich bin ungeheuer erschrocken ... aber es muß nichts Schlechtes zu bedeuten haben. Ich bin mir noch nicht klar darüber.«
»Was war es?« drängte Phil ungeduldig.
»Ich kam an eine Tür. Als ich sie öffnete, wußte ich schon, daß es kein gewöhnlicher Vorratsraum war. Zuerst erblickte ich einige Rollwagen, wie man sie zum Transport der Kranken verwendet. Es war dämmrig, ich mußte mich erst daran gewöhnen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, nicht allein zu sein. In dieser unbestimmten Dunkelheit vor mir regte sich etwas ... ich fühlte diese Bewegungen. Vielleicht war es aber auch nur deshalb, weil ich etwas hörte – ganz leise gurgelte es... Dann sah ich ... der Raum war langgestreckt wie alle größeren Räume in einem Schiff; an beiden Wänden standen Gestelle, und darin befanden sich Glasbehälter, von der Form und Größe von Särgen. In diesen lagen sie, einer neben dem anderen, jeder fein säuberlich eingepackt.
Sie waren nicht deutlich zu erkennen, denn um sie herum hing etwas Dunstähnliches. Einzelne Tröpfchen klebten hingehaucht wie Schimmel innen am Glas. Ihre Köpfe steckten in Masken – es sah aus, als hätten sie Gasmasken auf, vielleicht waren es wirklich Gasmasken, aber sie hatten keine Augenöffnungen. Es war grauenhaft – als wären es lauter Blinde. Das Furchtbarste aber war etwas anderes – sie schliefen nicht. Nein, das kann kein Schlaf sein...«
Sie brach plötzlich ab, als ginge es über ihre Kraft. Phil legte seine Hand auf die ihre und ließ ihr ein paar Sekunden Zeit zum Erholen. Dann sagte er:
»Sie können doch nicht ... tot sein?«
»Nein, du kannst es dir nicht vorstellen«, flüsterte Chris. Ihre Augen sahen durch Phil hindurch auf etwas Unheimliches. »Sie sind nicht tot. Sie bewegen sich. Aber sie sind auch nicht wach... Ihre Bewegungen sind steif – als wären sie aus Holz ... und völlig mechanisch – als säße ein Motor darin, der sie tanzen läßt wie Schaufensterpuppen. Ja, sie bewegen sich, wie wenn sie sich verzweifelt bemühten, aus der gläsernen Falle zu entkommen, die sie gefangenhielt. Nicht alle zugleich, aber viele. Dann werden ein paar still, als ob sie erlahmten, und andere, die sich bisher nicht rührten, beginnen zu zucken, zu zappeln ... nicht stark, nur andeutungsweise ... als wollten sie losgehen, etwas Bestimmtes tun. Es treibt sie unerbittlich an, und zugleich bindet sie etwas...« Sie beugte sich vor und legte ihren Kopf auf Phils Schulter. Das mühsam bewahrte Gebäude ihrer Beherrschung brach zusammen.
»Phil«, schluchzte sie, »ich kann nicht daran denken, ich halte es nicht aus ... den Gedanken an sie ... den Gedanken, daß du...«
»Sei ruhig«, sagte er. Es hatte wenig Sinn, etwas anderes zu sagen, es war gleichgültig, was er sagte, wenn es nur beruhigend war. »Sei still! Weine doch nicht! Es wird alles gut!« Er sprach weiter die alten Worte des Mitfühlens und Verstehens, mit denen man Kinder beruhigt, wenn sie verzweifelt sind. Er sprach weiter und streichelte dabei ihr Haar, das ihn an der Wange kitzelte. Obwohl er der Kranke war und sie seine Pflegerin, fühlte er sich jetzt stärker als sie, er fühlte, wie sie bei ihm Schutz suchte, und er war bereit, diesen Schutz zu geben. Er roch den Duft ihrer blonden Haare und nahm ihn in sich auf wie etwas Kostbares. Der Wunsch wurde übermächtig, für das Mädchen zu kämpfen, das sich ihm anvertraute und bereit war, sich seinem Willen zu unterwerfen. Es war ein Geschenk, das Wertvollste, das man sich vorstellen konnte, in einer ungeheuren toten Welt – es war die Überwindung der grenzenlosen Einsamkeit.
Einige Minuten blieb es still. Als er merkte, daß ihre Atemzüge langsamer und tiefer wurden, hob er ihr Kinn ein wenig auf und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
»Wir müssen uns jetzt zusammennehmen«, sagte er. »Zusammen werden wir einen Weg finden, der uns hier herausführt. Wenn es noch so schlimm aussieht – solange man den Willen hat, es besser zu machen, besteht Hoffnung. Glaubst du es mir?«
»Ja«, hauchte Chris.
»Dann denk daran. Denk immer daran. Es wird dann alles leichter. Geh jetzt in dein Zimmer. Und vergiß es nicht.«
Chris versuchte zu lächeln. Mit einem Taschentuch fuhr sie über ihr Gesicht. Dann beugte sie sich nieder und küßte ihn, seinen Mund, seine Wange. Er spürte, wie sie sich von neuem erregte. Nahe an seinem Ohr flüsterte sie:
»Da ist noch etwas...«
Sie konnte nicht weitersprechen. Sie küßte ihn noch einmal, dann lief sie hinaus.
Der Oberarzt hatte Phil eingehend untersucht.
»Sie haben gute Fortschritte gemacht, Phil Abelsen«, sagte er. »Ich bin zufrieden mit Ihnen. Heute werden Sie sich zum erstenmal als freier Mensch fühlen dürfen! Für ein paar Minuten hänge ich Sie von den Maschinen ab.« Er drehte den Kopf zu Chris, die wie ein Schatten hinter ihm stand. »Sie halten sich am Sauerstoffbehälter bereit – für alle Fälle. Wenn ich es Ihnen sage, geben Sie reinen Sauerstoff!«
Seine Hand bewegte sich über das Schaltpult. Bevor Phil etwas spürte, sah er, daß sich der rote Ball plötzlich nicht mehr aufblähte – er flatterte ein bißchen und blieb dann zusammengeschrumpft, wie eingetrocknet, hängen. Es würgte Phil kurz, ein innerer Zwang ließ ihn ächzend nach Luft schnappen, er hustete und keuchte, er holte tief Atem und merkte die Erleichterung, die ihm das brachte. Als sich der nächste Erstickungsanfall anbahnte, atmete er sofort wieder kräftig, und wieder und wieder...
Er hatte das Gefühl, zwischen Tod und Leben zu schweben, und elende Angst schnürte ihm die Kehle ein. Sein Blick irrte herum und blieb am Gesicht des Mädchens hängen, dessen braune Augen ihn unbewegt anschauten, als wollten sie ihm Mut einflößen. Dieser Blick linderte sein Angstgefühl, er vermochte sich zu beherrschen und die Luft gleichmäßig tief in seine Lungen zu saugen, sie wieder auszustoßen, sie anzusaugen...
»Ging das nicht gut, Schwester?« fragte Dr. Myer. »Wollen wir es gleich mit dem Herzen versuchen?«
Chris sah ihm einen Augenblick ausdruckslos ins Gesicht. Dann sagte sie geschäftsmäßig:
»Wie Sie meinen, Herr Doktor.«
»Na, tu doch nicht so, Mädel«, sagte der Arzt. Wieder griff er nach einem Schalter; er drehte ihn langsam herum. Phil beobachtete, wie sich der Kolben langsamer und langsamer bewegte. Dann bewegte sich nichts mehr an der Maschine. Zugleich hatte Phil das Gefühl, als steckte in seinem Brustkorb eine schwere Last. Sein Herz pochte ungestüm gegen eine Hand, die es eisern zusammendrückte. Er fühlte sich aus diesem Prozeß ausgeschaltet, obwohl dieser lebensentscheidend in seinem Inneren ablief; er konnte es nicht begreifen – nichts reagierte auf seine unsichtbaren Anstrengungen. Seine Hände öffneten und schlossen sich, als wollten sie etwas Unsichtbares fassen, eine Schraube preßte seine Kaumuskeln so heftig zusammen, daß seine Zähne knirschten.
Dann spürte er, daß dieser innere Kampf entschieden war – zu seinen Gunsten entschieden. Die Erleichterung war so immens, daß er an nichts anderes denken konnte – nur, daß sein Körper wieder funktionierte. Er fühlte eine zittrige Schwäche in sich, aber er war glücklich; alles andere war hinter einem Paravent verschwunden.
Der Arzt beobachtete die Instrumente auf dem Schaltpult.
»Das Herz hält sich gut«, sagte er, »und auch an den Lungen ist nichts auszusetzen. In ein paar Tagen brauchen Sie die Apparate nicht mehr. In ein paar Tagen sind Sie kerngesund.«
Gesund! Gehen, laufen... Aber da war doch etwas... Phil fand langsam zu den Tatsachen zurück.
»Was geschieht mit mir, wenn ich gesund bin?« fragte er.
»Sie werden schlafen«, sagte der Arzt. »Alle früheren Patienten schlafen – bis wir das Ziel erreicht haben.«
Bis wir das Ziel erreicht haben, dachte Phil.
»Was ist das für ein Schlaf, Herr Oberarzt?« fragte er. »Ein künstlicher Dauerschlaf? Eine Art Winterschlaf?«
»Genau das, mein Junge«, sagte der Arzt. Er zog mit dem Bein den Hocker näher und setzte sich ans Bett. »Dieses Schiff faßt eigentlich nur 200 Passagiere. Ich habe über tausendeinhundert Personen darin untergebracht. Dabei geht die Fahrt ins Unbekannte hinaus – niemand weiß, wie lange sie dauert. Wir müssen die Vorräte einteilen, Energie sparen. Die beste Lösung ist der künstliche Schlaf.«
Als er sah, wie Abelsen die Stirn runzelte, sagte er:
»Sie brauchen keine Angst zu haben. Die alten Nachteile dieser Methode sind überwunden – alle wachen wieder auf. Es gibt keinen Muskelschwund und keine epileptischen Anfälle. Das Problem war gar nicht schwer zu lösen: Man muß nur dafür sorgen, daß die Organe funktionsfähig bleiben, die Gliedmaßen genauso wie das Gehirn. Mit anderen Worten, man darf sie nicht ganz in Erstarrung verfallen lassen – man muß ihnen Aufgaben stellen. Haben Sie sich schon mal ein Fußballspiel angesehen, Abelsen? Haben Sie gemerkt, wie man als Zuschauer unwillkürlich mittut, wenn man sich in die Lage des Stürmers versetzt, wenn er vor dem Tor steht? Man setzt an, als stünde man selbst vor dem Ball, den man ins Tor jagen sollte. Jede kleinste Bewegung stimmt mit der des wirklichen Spielers überein, aber nicht nur die Bewegung: Man beobachtet die Mitspieler und die Gegenspieler, man bemerkt, wer von der eigenen Partei frei steht, und überlegt, ob man den Ball abspielen oder behalten soll. Haben Sie’s schon einmal erlebt?«
»Ja, Herr Oberarzt«, antwortete Phil.
»Darauf beruht das System«, fuhr Dr. Myer fort. »Keiner darf für dauernd zur Ruhe kommen. Direkt ins Gehirn leite ich die Eindrücke, die die Aktionen auslösen. Sie sind keine ausgeführten Bewegungen, sondern nur die Ansätze dazu: aber sie genügen, um die Apparatur in Gang zu halten. Einige einfache Impulse, in die richtigen Gehirnzentren geleitet, dienen zur Auslösung der Assoziationen. Alles andere fügt die Phantasie von selbst hinzu. Ich habe mir ein Programm zurechtgelegt, das alle Muskelpartien beschäftigt und alle Denkprozesse wachhält. Ich habe ein übriges getan: Das Programm ist so ausgearbeitet, daß es die wichtigsten Muskeln besonders gut in Gang hält und vor allem auch jene geistigen Leistungen, die die Tüchtigkeit des einzelnen, die guten Seiten seines Charakters mobilisieren. Verstehen Sie, Abelsen: Das Ganze ist eine Übung! Nach dem Schlaf ist jeder geistig und körperlich funktionsfähiger als je zuvor.«
Phil dachte an die zuckenden Körper, die Chris beschrieben hatte. Hatte sie zu schwarz gesehen? Er suchte ihren Blick, aber sie hielt den Kopf gesenkt. Reglos stand sie im Hintergrund. Es sah aus, als wäre sie durchsichtig.
»Darf ich fragen, was Sie vorhaben?«
Dr. Myer war in freundlicher Stimmung. Er lächelte Phil zu.
»Gewiß«, sagte er. »Es ist kein Geheimnis. Es liegt ja auch nahe. Es wird mein Lebenswerk sein – die Menschheit zu erhalten.« Er schwieg einen Atemzug lang. »Wir haben es ja erlebt«, sagte er, »das Inferno. Und es war vorauszusehen. Es war auch nicht das erste Mal – denken Sie an die Sintflut. Es gab auch immer schon eine Arche Noah – wie unser Schiff. Aber jedesmal hat man den Ungeist mit ins neue Zeitalter hinübergerettet. Denken Sie an die letzten Tage der Erde und wie es dazu gekommen ist. Denken Sie an das, was die Menschen waren: eine zuchtlose, unordentliche, haltlos hin- und her treibende Masse. Jeder wollte etwas anderes, es gab einen Wirrwarr von Meinungen und Wünschen, ein Durcheinander sinnloser Handlungen, ein Sichgehenlassen, ein Indentaghineinleben – ein Chaos von Nachlässigkeit, Pflichtvergessenheit, Ehrlosigkeit. Was war daran noch menschlich?«
Er schaute nachdenklich auf den hüpfenden Punkt des Kardiogramms. Dann hob er erneut an:
»Ich habe es vorausgesehen. Die Waffen waren zu gewaltig. Es war sinnlos geworden, zu kämpfen. Die Streuung des Todes war zu breit; es erfaßte die Tapferen genauso wie die Feigen, die Tüchtigen wie die Unfähigen. Wahrscheinlich war es richtig, daß es so gekommen ist. Jetzt gibt es einen neuen Anfang.«
»Was werden Sie anfangen?« fragte Phil. Der Oberarzt hörte ihn nicht. Er sprach jetzt zu sich selbst:
»Ich habe das Schiff als Lazarett eingerichtet. Ich hatte darauf bestanden, daß man dieses Schiff beschlagnahmt, das für keinen militärischen Einsatz bestimmt war. Wissenschaftler hatten es für eine Raumexpedition vorgesehen. Vom ersten Einsatz an war es für eine größere Aufgabe bestimmt, als es das Aufsammeln von Verwundeten ist. Während sich das Deuterium entzündete, befand ich mich auf einer Bahn zwischen Erde und Mond. Ein Treffer hatte unsere Raumstation zerfetzt, das Schiff war voll von Verwundeten. Es waren weit mehr als gewöhnlich – meist leichtere Fälle, die noch rechtzeitig in den Raumanzug gekommen waren. Wir hatten sie in einem gespannten Netz gefangen wie die Fische.
Ich gab sofort den Startbefehl. Das erste Ziel ist RZ 11, unser nächster Nachbar im intergalaktischen Raum, weit näher als Centauri. Die Astronomen haben ihn erst kürzlich mit dem Laser angepeilt. Die Sonnenplaneten sind mir zu unsicher – ich weiß nicht, was für Folgen der Erdbrand noch haben kann. Vielleicht setzt er sich bis zu ihnen fort. Vielleicht gerät das Sonnensystem aus den Fugen.«
»Und die Stationen auf dem Mond, dem Mars und auf der Venus?« fragte Phil. Der Arzt blickte ihn stirnrunzelnd an.
»Waren längst aufgelassen – zurückgenommen zum Dienst auf der Erde. Die Mondstation war schon vorher so gut wie vernichtet.«
»Was werden Sie tun, wenn wir das Ziel erreichen?« fragte Phil wieder.
»Ich habe alles im Raumschiff, um eine kleine Station aufbauen zu können – ganz gleichgültig, wie der Brocken aussieht, auf dem wir landen. Ich habe Schmelzbomben und kann, wenn es nötig ist, Seen verdampfen und Berge versetzen. Alle Fahrzeuge und Maschinen sind von einer Zentrale im Raumschiff lenkbar. Die Vorratsräume enthalten genug Bestandteile von Fertighäusern, um alle unterbringen zu können. Um etwas Komfort zu erreichen, stehen uns die Möbel des Schiffs zur Verfügung. Der Antriebsreaktor läßt sich ausbauen und für jeden anderen Zweck verwenden. Außerdem besitze ich genug Ausgangsmaterial für Kombiplast, um, wenn es nötig ist, ein Tal damit auszugießen. Sie wissen, das Zeug quillt auf wie Kuchenteig, wenn man die Grundstoffe mischt. Auch eine vollständige medizinische Diagnose- und Therapieeinrichtung mit allen Apparaten ist vorhanden – was wünscht man sich mehr!«
»Sie wollen den Planeten besiedeln?« fragte Phil.
»Ich werde ein System einrichten, in dem Zucht und Ordnung herrscht«, sagte der Arzt. »Ich werde dafür sorgen, daß die kleine Kolonie mustergültig funktioniert. Ich brauche keinen Fortschritt und keine Veränderung. Mein System wird statisch sein. Ich werde dafür sorgen, daß es anläuft und daß es weiterläuft, wenn ich nicht mehr sein werde. Eine kleine Gruppe von Menschen, die alles haben wird, was sie braucht.«
Jetzt sah er Phil an, den mageren Kopf, der tief im Luftkissen eingegraben lag.
»Hast du darüber nachgedacht, was der Mensch braucht?« fragte er, aber er sprach gleich weiter. »Das ist ein schweres Problem, vielleicht das schwerste. Zunächst müssen die physikalischen Voraussetzungen gegeben sein. Der Mensch verträgt keine großen Abweichungen vom Gewohnten. Temperatur, Druck, Schwerkraft, das Strahlenspektrum, die Helligkeit und noch vieles andere, an das man nicht denkt, müssen stimmen. Aber diese Dinge sind genau untersucht – im wesentlichen sind es Fragen der Energie und ihrer Verwandlung; wir beherrschen sie. Chemismus, Stoffwechsel, Atmung, Nahrung – auch dieses Problem ist zu lösen. Die verbrauchte Luft wird regeneriert. Mit dem Wasser machen wir es ähnlich. Bei der Ernährung müssen wir den Körper ein wenig den Umständen anpassen. Er bekommt alles, was er benötigt – Aufbaustoffe, Kohlehydrate, Eiweiß, Vitamine, Spurenelemente. Nur in der Art der Darbietung müssen wir uns vom Gewohnten trennen. Alles wird in Form von Konzentraten verabreicht – einige Pillen, Reinstoffe ohne Schlacke. Wir haben eine Synthetisiermaschine an Bord, die jeden Nährstoff aus beliebigen Grundsubstanzen aufbauen kann, wenn sie nur die richtigen Elemente enthalten. Das bringt natürlich eine gewisse Umstellung mit sich. Manches wird überflüssig – die Kauwerkzeuge, ein Teil der Verdauung, der Magen- und Darmfunktion. Aber das kriegen wir schon hin. Diese Einschränkung wird zur allgemeinen Gesundung beitragen.
Das wäre aber erst der eine Teil; der andere ist schwieriger, und man hat ihn viel zu spät erkannt. Der Mensch ist nämlich kein Dieselmotor, der läuft, solange er Öl und Sauerstoff bekommt. Er braucht einen Inhalt, er braucht Autorität, er braucht ein Ziel.
Was ist der Inhalt seines Lebens? Früher war er gezwungen zu arbeiten, und das füllte ihn aus. Als ihm Maschinen die Arbeit abnahmen, begann sein geistiger Zusammenbruch. Niemand beachtete damals, daß Beschäftigung notwendig ist und daß der Mensch vom Sinn seiner Beschäftigung überzeugt sein muß. Heute weiß man, daß er nicht unbedingt der Arbeit bedarf – was er tut, ist gleichgültig, wenn es ihn nur ausfüllt, wenn es seine körperlichen und geistigen Kräfte anspannt. Ich werde also dem Leben, das wir leben werden, einen Inhalt geben.
Nun zur Autorität. Es gab einst ein Zeitalter, da sprach man viel von Freiheit. Heute ist jedem klar: Freiheit ist eine Illusion, selbst der Gedanke daran ist schädlich. Der Mensch braucht jemand, der ihm befiehlt, der jede Neigung zu Ungehorsam niederzwingt. Das gibt ihm den Halt, an den er sich klammern kann. Die Rolle des Befehlshabers werde ich spielen; glauben Sie nicht, daß ich es gern tue – es ist die schwerste. Mir hilft keine Erziehung, die die Leute von Jugend an auf ihre Gehorsamspflicht in bestimmten Situationen vorbereitet – denn diese Situation ist neu. Ich werde chemische Mittel brauchen, um den nötigen Gehorsam zu erreichen. Es gibt solche Mittel, und ich verfüge darüber. Im Grunde genommen ist es gleichgültig, auf welche Weise man die Ordnung aufrechterhält.
Und nun zum dritten, dem Ziel. Der Mensch ist so eingerichtet, daß er nach jeder Ursache eine Wirkung sehen will. Die Wirkung ist dann der Sinn der Ursache. In kleinen Dingen funktioniert das tadellos, aber es krankt in den großen. Da gilt es nämlich nicht mehr. Der Sinn eines Lebens, der Sinn des Menschengeschlechts! Man muß den Sinn künstlich schaffen. Und da das die wenigsten können, werde ich es für sie tun. Ich werde unserem künftigen Leben einen Sinn geben, von dem aus jeder seine Existenz begreift.«
Der Oberarzt hatte gesprochen wie vor einem großen Auditorium. Jetzt, als er geendet hatte, sah er um sich. Im Hintergrund stand ein Mädchen mit gesenktem Kopf. Vor ihm lag ein Kranker mit halb geschlossenen Augen. Der Oberarzt seufzte und winkte die Schwester heran.
»Wir schalten die Maschine wieder ein. Helfen Sie mir!«
Er beobachtete die Leuchtschirme und Zeiger und verstellte einige Knöpfe.
»Wie soll das Leben weitergehen?« fragte Phil. »Ich meine – es sind doch nur vier Frauen da...«
»Das habe ich nicht vergessen«, sagte der Arzt. »Vier Frauen, das ist nicht viel. Aber sie sind alle jung. Sie werden mindestens noch fünfundzwanzig Jahre fruchtbar bleiben. Das genügt. Natürlich können wir ihnen nicht zumuten, die Frucht auszutragen. Aber das Problem der ektogenetischen Reifung ist ja glücklicherweise gelöst. Wir haben einen Brutofen im Schiff.« Der Arzt sah zuerst Phil und dann die Schwester an. Beide schauten an ihm vorbei.
»Seien Sie nicht zimperlich«, sagte er scharf. »Das ist in unserer Situation fehl am Platz. Denken Sie lieber an die Vorteile! Man erspart den Frauen die anstrengende Schwangerschaft. Außerdem werde ich das Erbgut kontrollieren. Die nächste Generation wird tüchtiger sein als die heutige, verlassen Sie sich drauf!«
Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und blätterte darin.
»Morgen schalten wir zwei Stunden ab, übermorgen vier und so weiter. In fünf Tagen sind Sie gesund, Abelsen. Kommen Sie, Schwester.«
Er schob die Tür auf und wartete, bis Chris hinausgegangen war. Dann folgte er ihr.