Bemerkungen des Herausgebers
›Unsere Heimat ist eine radioaktive Wildnis. Eine trübe Sonne erhebt sich alle zehn Tage über die Schroffenlinie des schwarzen Ringgebirges und streut ihr schwaches rotes Licht in den großen Krater, in dem wir unsere Siedlungen angelegt haben. Ohne Wärme zu hinterlassen, senkt sie sich nach drei Tagen unter den Horizont, und wir bleiben in der Finsternis zurück.
Es war nicht leicht, den Boden von den radioaktiven Glaskrusten zu befreien, deren Ursprung wir nicht kennen. Die Wissenschaftler halten es für möglich, daß hier einst eine Katastrophe stattgefunden hat, ähnlich jener auf unserem Stammplaneten, den man Erde nannte. Zwar hat man hier bislang keine Lebensspuren gefunden, aber das ist wohl auch nicht zu erwarten. Die physikalischen Vorgänge atomarer Kettenreaktionen sind in den hinterlassenen Schriften beschrieben und geben uns keine prinzipiellen Rätsel mehr auf. Viel weniger verständlich sind dagegen für uns die Beweggründe jener Menschen, die sie ausgelöst haben. Es ist möglich, daß das Dokument 7/12. (siehe Kap. 18), eine auf Magnetband aufgenommene Rede, der Schlüssel dazu ist, aber es ist bis heute noch nicht endgültig gedeutet worden.
Bis jetzt haben wir fünf annähernd kreisförmige Flächen freigelegt und dadurch Platz für unsere Häuser gewonnen. Seit neuestem sind alle fünf durch Seilbahnen verbunden, die sich weit genug über das ungesäuberte Gebiet erheben, um Sicherheit vor der Strahlung zu bieten. Das bedeutet einen gewaltigen Fortschritt gegenüber früher, als wir uns nur mit Schutzanzügen und Geigerzählern durch das Strahlungsfeld tasten konnten – auf engen, gewundenen, schlecht markierten Pfaden, die die Zonen der geringsten Radioaktivität miteinander verbanden. Wehe dem, der sich in der Dunkelheit verirrte! An einzelnen Stellen ist die Strahlung so stark, daß sie in Sekundenschnelle die Haut verbrennt. Jetzt dürfen sogar unsere Frauen die Nachbarsiedlungen besuchen – man braucht nur noch die Sauerstoffmaske aufzusetzen.
Diese Fortschritte dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, wie schwer wir noch daran zu arbeiten haben, um auf jene Zeit vorbereitet zu sein, zu der unsere Vorräte aufgebraucht sein werden. Das gilt weniger für die Energie: Spaltbares Material für den Reaktor bietet unsere Umgebung in genügendem Maß. Es gilt auch nicht für die Nahrungsmittel, denn die Kapazität unserer Synthetisiereinrichtung würde auch für 50000 Menschen, also das Zehnfache unserer Bevölkerung, Konzentrate in genügender Menge schaffen. Dagegen haben wir nur noch zehn Tonnen Kombiplast, und nach Ansichten unserer Chemotechniker besteht keine Aussicht, daß wir die Ausgangsstoffe dafür in absehbarer Zeit herstellen können. Gewisse Hoffnung verspricht dagegen die kühne Idee eines Baumeisters, mit der er vor kurzem hervorgetreten ist: Er schlägt vor, inaktives Gestein, wie wir es am Boden unserer Siedlungsflächen freigelegt haben, zerstückelt und zusammengekittet, als Baumaterial zu verwenden. Hoffen wir, daß sich diese Idee verwirklichen läßt! Noch schwieriger ist die Situation unserer Wasservorräte. Trotz der Regeneration, mit der wir auch die geringste verlorene Menge zu erfassen suchen, nehmen sie ständig ab – vor allem liegt es an der Verdunstung an der Oberfläche des menschlichen Körpers. Wir werden versuchen, Wasser aus Mineralien zu erzeugen, aber auch das ist bisher bloß im Labor möglich. Schlimm steht es schließlich mit der Luft; die Atmosphäre enthält nur wenig Sauerstoff. Wir besitzen zwar noch große Vorräte, aber trotzdem müssen wir auch hier danach streben, eine Synthesemethode zu entwickeln, denn unsere Bevölkerung steigt ständig, wir kommen schon jetzt mit der Säuberung und dem Bunkerbau kaum nach; jeder Bunker hat aber ein Fassungsvermögen von 300 Kubikmeter Luft, und trotz der laufenden Verbesserung der Schleusen geht immer wieder ein gewisser Prozentsatz davon verloren.
In Anbetracht dieser unserer Lage habe ich es für notwendig gehalten, eine Begründung für diese Veröffentlichung zu geben, die nicht nur Zeit, sondern auch Magnetband gekostet hat.
Neben meiner Arbeit als Traktorführer habe ich es übernommen, die Geschichte unserer Gemeinschaft aufzuzeichnen, eine Aufgabe, die, seit sie Gilbert gestellt hat, von meinen fünf Vorgängern und mir stets gewissenhaft erfüllt wurde. So besitzen wir heute einen Überblick von unserer Entwicklung seit der Befreiung. Ganz von selbst hat es sich dabei ergeben, daß wir uns gelegentlich auch der Vorzeit zuwandten – immer wieder traten Beziehungen zu jenen seltsamen Ereignissen auf, von denen wir wenig wissen und deren Sinn uns verschlossen blieb.
Am weitesten zurück führt uns die exakte Geschichtsschreibung sicher in der Publikation meines Vorgängers Ernest über die Befreiungstat Gilberts, die er aus den Überlieferungen zusammengestellt hat. Ich möchte betonen, daß meine Arbeit keineswegs eine Herabsetzung von Gilberts Taten zur Absicht hat; sie bleiben nach wie vor der Ursprung unserer Gemeinschaft. Er war es, der sich eines Tages den Anordnungen der Sendestation widersetzte, der in die Zentrale eindrang und die Magnettrommel, von der die Befehle ausgegeben wurden, zerstörte, der die Gewalt übernahm und die Vorräte an schwarzem Gift vernichtete, das die Männer zum Gehorsam gezwungen hatte. Wir wissen, wie es dann zur Spaltung kam, zum Aufruhr und zu den Kämpfen, bei denen die Decke des unterirdischen Gewölbes einstürzte und nur das übrigblieb, was sich in den festen Gebäuden befunden hatte. Welches Glück, daß sie den darauffallenden Massen Widerstand geboten haben und noch bieten – sie sind noch heute unsere Energie- und Vorratszentrale! Wir wissen, mit welch seherischer Voraussicht Gilbert die Frauen geschützt und damit den Fortbestand der Menschheit gesichert hat. Wir kennen die segensreichen Folgen aller seiner Anordnungen – ihm verdanken wir das, was unser höchstes Glück ist: unser friedvolles Familienleben.
Alles das bleibt bestehen, ja, es wird noch unterstrichen – durch einige Informationen, die uns die Wissenschaft unlängst neu zugänglich gemacht hat. Sie betreffen Episoden aus dem Leben eines Mannes, der Abel oder Phil Abelsen hieß und eine Generation vor Gilbert lebte. Unter den Akten, die in einer der Bücherkisten gefunden wurden, befand sich ein Heft mit der unerklärlichen Aufschrift STENOBLOCK, das fremdartige Schriftzeichen enthielt. Sie waren selbst für die alten Männer der ersten von der Erde stammenden Generation unleserlich. Erst im Laufe der letzten Monate ist es gelungen, die Schrift zu entziffern und den Text zu lesen. Es ist jener Text, den ich mit meiner Publikation nun der Öffentlichkeit zugänglich mache.
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, handelt es sich um Aufzeichnungen jenes sagenhaften Majors, der einst im Kasernengelände den Befehl führte. Somit scheint es sich um eine Persönlichkeit zu handeln, der tatsächlich jene Schlüsselrolle zukommt, die ihr zugesprochen wurde. Wenn auch noch nicht feststeht, ob die Zeichen in allen Fällen exakt übertragen wurden, so kommt dem Dokument doch ganz entscheidende historische Bedeutung zu. Vor allem berichtet es authentisch von jenen Ereignissen, die vor unserer Zeitrechnung liegen und von denen uns nur wenige Berichte der Überlebenden der ersten Generation vorliegen, die sich überdies vielfach widersprechen. In gewissem Sinn rückt es die Frage nur um ein paar Stationen zurück. Es erklärt, unter welchen Umständen unsere Vorfahren auf diesen Planeten kamen und wie sie hier ihr Dasein begannen, es geht aber so gut wie gar nicht auf die unmittelbare Vorgeschichte ein. Wenn wir uns heute also aus den Überlieferungen und aus Büchern auch eine gewisse Vorstellung von der Lebensweise auf der Erde machen können, so bleiben die Hintergründe jener für uns schicksalhaften Flucht in den Raum verborgen.
Im Mittelpunkt des Manuskripts steht aber vor allem eine Person, jener schon erwähnte Abel; es scheint, als hätte sich der Major über die menschlichen Hintergründe des Geschehens, das er aufgezeichnet hat, klarzuwerden versucht. Aus Überschriften und Randbemerkungen, die noch nicht ganz verständlich sind und die deshalb nicht in meiner Veröffentlichung enthalten sind, entnahm ich, daß das Wissen des Majors lückenhaft war. Genaue Ausführungen finden sich nur über Ereignisse, deren Zeuge er selbst war, das meiste von dem, was sich ohne sein Beisein abspielte, ist dagegen nur als Vermutung festgehalten.
In diesem Zusammenhang erschien es mir besonders wichtig, nach ergänzenden Informationen zu suchen. Meine Studien brachten mich zur Überzeugung, daß Abel mit einer nicht namentlich genannten Person identisch ist, die in einigen Aufzeichnungen persönlicher Erinnerungen der ersten Jahre nach der Befreiung auftaucht. Leider handelt es sich um Informationen aus dritter Hand, die dadurch an Klarheit eingebüßt haben; deshalb haben wir ihnen bisher keine besondere Beachtung geschenkt. Erst die neuesten Forschungsergebnisse lassen sie in anderem Licht erscheinen. Sie betreffen eine der vier von der Erde stammenden Frauen und ihre Beziehungen zu einem Mann – ebenjenem, der meiner Meinung nach Abel gewesen sein muß. Erst kurz vor ihrem Tod scheint sie sich einer anderen Frau anvertraut zu haben. Sie starb ein Jahr nach dem Major – sechs Jahre vor der Befreiung.
Die vorliegende Bearbeitung richtet sich streng nach den Vorlagen, die mitgeteilten Tatsachen wurden in keiner Weise verändert. Grundlage ist der STENOBLOCK, die darin fehlenden Intervalle habe ich nach dem erwähnten Bericht der Frau ergänzt, soweit sie sich einpassen ließen. Nur an wenigen Stellen war ich auf die Vermutung des Majors angewiesen.
Auch in der Reihenfolge folgte ich dem Manuskript des Majors, der das Geschehen nicht chronologisch verfolgt hat. Seine Ordnung schien vielmehr der Klärung gewisser Zusammenhänge zu dienen. Offenbar waren sie für den Major sogar noch dann wichtig, als Abel ihm nicht gefährlich sein konnte.
Das, was an den neu aufgedeckten Ereignissen für uns so aufregend ist, sind die Verbindungen, die sich zum sechsundzwanzig Jahre später ausgebrochenen Befreiungskampf, vielleicht sogar zur Person Gilberts ergeben. Im Hinblick darauf wird noch ein eingehendes Studium erforderlich sein. Jedenfalls glaube ich verlangen zu dürfen, daß wir Abel zumindest als einen Vorläufer Gilberts betrachten und ehren müssen, obwohl seine Mühe keinen Erfolg gebracht hat und er wieder in der anonymen Masse der Soldaten untergetaucht und verschollen ist. Die Aufzeichnungen des Majors brechen unvermittelt ab. Wir wissen nicht, wann Abel gestorben ist. Trotz intensivster Suche fand sich keine Spur mehr von ihm.
Die Weisung Gilberts, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, hat schon bei manchem Widerspruch ausgelöst, da sie Arbeitsstunden wegnimmt, die zur Aufbauarbeit dringend gebraucht werden. Ich glaube aber, daß gerade Forschungsergebnisse wie das vorliegende beweisen, wie recht er auch damit gehabt hat. Dieser Planet, den wir kultivieren, schenkt uns Menschen nichts. Die Luft ist nicht atembar, es fehlt an Wärme und Licht, Rohstoffen und Nahrungsmitteln, der Boden sendet seine tödlichen Strahlen aus.
Aber wir nehmen diese Unannehmlichkeiten gern in Kauf – sie bedeuten nichts gegenüber dem großen Übel des Zwanges, unter dessen unseligem Zeichen unsere Geschichte begann. Ohne Freiheit gibt es keine Menschenwürde. Nur wer weiß, was Unterdrückung ist und was Freiheit bedeutet, darf sich unserer Gegenwart freuen und auf die Zukunft hoffen!‹