Es war Nacht über dem Kasernengelände, die Fenster der Gebäude waren dunkel, die Übung war vorbei. Die Mannschaft und die Unteroffiziere waren zur Ruhe gegangen; nur der Wachtposten schritt seine einsame Runde. Vielleicht wachte auch noch der Major – das wußte niemand.
Abel lag in seinem Bett, den Kopf in die hinter dem Nacken verschränkten Arme gestützt. Er konnte durch die Fenster auf einen leeren verschwommenen Fleck Betonstraße sehen. Es war soweit. Heute war seine Nacht. Es war das Ende und der Beginn, wenn er auch nicht wußte, was beginnen sollte.
Er wartete noch eine Weile. Dann ließ er sich langsam am Bettpfosten hinab. Im zweiten Bett merkte er eine Bewegung, Austin setzte sich auf.
»Wohin gehst du?«
»Sei still«, sagte Abel. Er zog Hose, Jacke und Stiefel an und trat vor die Tür. Hinter ihm ein Geräusch – Austin.
»Was hast du vor?« fragte Austin.
»Warum fragst du – es interessiert dich doch nicht!« antwortete Abel.
Austin hielt ihn am Ärmel fest. »Deine verrückten Ideen sind mir gleichgültig, aber du darfst mir meine Pläne nicht verderben!«
»Darf ich nicht?«
Abel trat ans Gangfenster und hielt nach dem Posten Ausschau.
»Sei doch nicht so stur«, bat Austin. »Ich weiß jetzt, wie ich entkommen kann. Hör zu: Ich sprenge den Ausgang auf.«
»Womit?« fragte Abel.
»Es muß doch hier irgendwo Sprengstoff geben. Dynamit. Granaten. Bomben.«
Dynamit, Granaten, Bomben. Abel mußte diese Ausdrücke schon einmal gehört haben. Er wußte, was sie bedeuteten. Natürlich. Sie waren beim Militär, und beim Militär mußte es Sprengstoff geben. Sprengstoffe. Geschütze. Raketen. Raketenbasen. U-Boote, Raumstationen. Bomben, Bomber, Atombomben. Sie waren beim Militär, und beim Militär gibt es das alles. Aber wo war es?
»Meinst du?« fragte er. »Und wo?«
»In den Vorratsräumen, in den Magazinen. Irgendwo.«
»Wie willst du daran kommen?«
»Es liegt doch alles unversperrt da. Wo haben wir schon Sicherungen gefunden...«
»Ja«, sagte Abel. »Die Kleidungsstücke, die Zelte und die Taschenlampen. Und das andere Gelumpe. Die Pistolen sind unter Verschluß. Wo sind wir schon auf Waffen gestoßen?«
Der Posten erschien weit links am Rande des Magazins. Langsam wanderte er über die Betonstraße.
»Ich werde etwas auftreiben.«
Der Posten erschien vor dem Fenster; man hörte seine Schritte. Abel und Austin zogen die Köpfe ein. Die Schritte wurden leiser ... unhörbar.
»Wie kannst du so gleichgültig sein«, sagte Austin. Es war etwas wie Schluchzen in seiner Stimme. »Denk doch an draußen. An die Freiheit. Es besteht die Möglichkeit, daß wir hinauskommen, fort von hier aus diesem Zuchthaus. Hier sind wir gefangen. Wir sind Gefangene! Irgendwo unter der Erde vergraben.«
Unter der Erde, dachte Abel. Unterstände, Bunker. Entseuchte Luft. Künstliches Klima. Gefangene. Dann gäbe es draußen... Aber er wußte, daß es nicht wahr war. Es war nicht so einfach. Austin verstand das nicht.
»Das kann dir doch nicht alles gleichgültig sein!« flehte Austin. »Das kannst du doch nicht aufs Spiel setzen! Laß mir Zeit, wenigstens noch ein paar Stunden!«
Abel ging an die Tür und zog sie leise auf.
»Das kann dir doch nicht gleichgültig sein – die ewig lange Zeit, die wir hier verbracht haben. Der Major, der daran schuld ist. Du irrst dich, Austin. Du jagst einem Phantom nach. Draußen kann nichts sein als die Leere. Ich habe mir das einzig Reale ausgesucht, was sich tun läßt: Ich werde den Major töten. In dieser Nacht werde ich ihn töten.« Er ging hinaus. Er kümmerte sich nicht mehr um Austin.
Er schlug den Weg zu den Schützengräben ein, wobei er sich möglichst an die Wände der Bauten hielt. Das freie Feld zwischen der letzten Baracke und dem ersten Graben übersprang er mit ein paar Sätzen, nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand in der Nähe war.
Er schlich durch die Gräben vorwärts. Er kannte ihr System genau und wußte, wo er um Ecken biegen und wo er geradeaus gehen mußte. Er folgte dem Labyrinth in scheinbar sinnlosem Hin und Her und Vor und Zurück, und dann war er dort, wo er hin wollte – an seinem Lehmversteck. Er hatte keine Taschenlampe, er brauchte kein Licht, er hätte die vergrabenen Teile auch gefunden, wenn die Fäden, die er bald ertastet hatte, nicht aus der Wand hervorgestanden hätten.
Er grub die Pistolenteile aus. Sie waren dreckig und verschmiert, aber das waren sie oft gewesen. Sie ließen sich reinigen. Er hatte das Putzzeug mitgenommen, sogar die Molybdändisulfidpaste zum Schmieren. Und noch einmal, das letzte Mal, machte er sich daran, die Pistolenteile zu reinigen und zusammenzusetzen, wie er es so oft geübt hatte. Den Lauf holte er aus der Rocktasche und setzte ihn ein. Nach fünf Minuten hielt er eine echte, geladene Pistole in der Hand. Drei Projektile steckten im Magazin, und diese drei Projektile sollten genügen.
Gebückt ging er durch die Gräben zurück. Hier war er gedeckt. Nur gelegentlich steckte er den Kopf hinaus und sah sich um. In dieser Nacht war mehr als eine Wache unterwegs. Einmal sah er drei Posten auf einmal. Zwei standen auf dem freien Feld zwischen den Baracken beisammen, während der dritte langsam hinter einer Ecke verschwand.
Er hätte nicht länger zögern dürfen. Sie fühlten sich nicht mehr sicher. Oder besser gesagt: Der Major fühlte sich nicht mehr sicher. Würden die Türen versperrt sein? Sie waren nicht zum Versperren eingerichtet, und so rasch ließen sich ganze Serien von Türen nicht versperren. Abel war davon überzeugt, daß noch viele weitere Türen in den umgrenzenden Gang führten; sie konnten nicht alle bewacht sein. Bisher hatte die bloße Tatsache genügt, daß die Soldaten nichts im Inneren des Maschinenhauses und der meisten anderen Baulichkeiten zu tun hatten. Folglich durften sie sie nicht betreten, das stand fest.
Je klarer Abels Gedanken wurden, um so unglaublicher erschien es ihm, wie leicht im Grunde genommen hier jede Meuterei war. Um so deutlicher wurde ihm aber dabei auch die Stärke dieser Organisation, in die er irgendwie hineingeraten war – die Beherrschung durch die schwarze Kugel. Solange man sie einnahm, brachte man es psychisch nicht fertig, einen Befehl zu ignorieren. Und solange man die Befehle befolgte, nahm man Pillen ein. Ein Teufelskreis für den, der hineingeriet. Doppelt gesichert dadurch, daß niemand von der Wirkung der Droge wußte.
Er war an den Rand des Irrgartens der Gräben gekommen, an einer anderen Stelle als jener, an der er ihn betreten hatte – möglichst nahe dem Maschinenhaus. Nachdem er sich umgesehen hatte, sprang er hinaus und rannte hinüber zur Tür. Jetzt kam ein entscheidender Augenblick – war die Tür bewacht? Er zog die Pistole aus der Tasche und atmete einige Male tief. Dann riß er die Tür auf, stürmte hinein und warf sich an die linke Wand neben einen Aufbau aus Isolatoren und Drähten. Er wartete wieder eine Weile und lauschte in die Dämmerung.
Das Singen des Schwungrades füllte den Raum. Ganz leise Knistergeräusche kamen von den Leitungen über ihm. Er vermeinte, bläuliche Strahlen darüber tanzen zu sehen, aber sobald er die Augen darauf richtete, waren sie verschwunden.
Er erhob sich und musterte seine Umgebung durch das Fenster. Dort drüben beim Magazin bewegte sich etwas im Schatten. Er versuchte das Dunkel zu durchdringen. Geduckt lief jemand vor einer hellen Stelle der Mauer vorbei. Austin. Austin geisterte herum, auf der Suche nach einer Sprengladung. Wenn sie ihn erwischten, gab es Alarm. Abel wußte nicht, ob das gut oder schlecht für ihn war. Wahrscheinlich war es gleichgültig; denn wenn alles nach Wunsch ging, war er bald am Ziel.
Er schlich nach hinten zur Wand, tastete nach der Tür, nach dem Hebel. Auch diese Tür war noch unverschlossen. Rasch öffnete er sie, schlüpfte hindurch und schloß sie wieder, um zu verhindern, daß der Schein der Glimmlampen nach außen drang. Auch den Hebel schwenkte er hinab.
Der Korridor erstreckte sich verlassen nach links und rechts. Abel packte die Pistole fester und ging in dieselbe Richtung wie bei seinem ersten Eindringen. Würde er jemand treffen? Den Major – dann war es gut. Die Frau? Einen Sergeanten? Wer hatte hier Zutritt?
Er wußte zuwenig. Immer mehr Fragen tauchten auf. Welchen Zweck hatte die Kaserne? Wie kam er, Abel, hierher? Was war vorher gewesen?
Er hielt dort, wo er gestern die Frau getroffen hatte. Die Tür war geschlossen. Lange hielt er das Ohr daran, dann drückte er den Hebel in kleinen Rucken nach rechts. Er zog die Tür über die Rollen auf. Das Licht, das ihm entgegenfiel, wirkte unangenehm hell. Es blendete.
Kein Mensch befand sich hier. Abel trat ein. Er spannte seine Sinne an – nichts Verdächtiges zu bemerken. Die große Maschine stand still. Auf den ersten Blick erschien sie als ein Gewirr von mattblinkenden, an den Ecken grünlich schimmernden Glasröhren mit kolbenförmigen Erweiterungen, durch die Drahtspiralen liefen, in die Goldspitzen ragten, die von Ringen und Reifen umgeben waren. Kabel verbanden die Metallteile in abschnittsweise geraden, stets nur in rechten Winkeln geknickten Linienzügen. Vor der Anordnung standen einige Kästen übereinandergebaut, stets der kleinere auf den größeren aufgesetzt. Sie hatten graue Plastikwände, in die Reihen von kleinen kreisrunden Löchern gestanzt waren. Die Rahmen bestanden aus schwarzgrauem Metall, in denen silberne Nieten saßen. Der unterste Kasten war groß wie ein Tisch und durch ein dickes Rohr mit der rechten Wand verbunden, die von einem schwarzen Rahmenwerk durchkreuzt und mit dem grauen Kunststoff verkleidet war. Eine Platte war abgehoben und stand am Boden, an die Verkleidung gelehnt. Dort war der Einblick ins Innere – waagrecht, senkrecht und unter fünfundvierzig Grad gegen die Horizontale geneigte dünne Drahtstäbe bildeten ein Gitter, dessen Kreuzungspunkte von Ringen umfaßt waren.
Abel trat näher. Kurz sah er sich um. Er hatte die Tür offengelassen, der Spalt wirkte von hier aus dunkel, wie ein Fenster in der Nacht. Das war also die Erklärung dafür, daß ihn der Major gestern nicht gesehen hatte – die Blendwirkung. Es war eine ganz einfache Erklärung, und in der Tat hatte Abel das Rätsel auf diese Art zu lösen versucht. Aber er war nicht sicher gewesen, in ihm hatte sich ein seltsames Mißtrauen geregt, eine Angst, auf irgendeine außerhalb seines Begreifens stehende Weise hintergangen zu werden.
Es kehrte wieder um und trat an die Maschine heran. Neben dem Turm aus Kästen stand ein Dreibein mit einem Mikrofon; die Zuleitung kam aus dem Seitenteil des untersten Kastens, dessen Deckplatte eine Art Schaltpult bildete. Neben einem großen Kippschalter war eine Anzahl mit chemischen Formelzeichen versehene Druckknöpfe eingelassen; eine Röhre, die von der Glaskonstruktion auslief, endete rechts neben dem Pult in einer Schüssel.
In Abels Nase stieg ein leicht brenzliger Geruch. Er zog die Luft prüfend ein – es roch nach Feuer und kam von unten. Er bückte sich – ein Faden Rauch wand sich empor ... neben einem Fuß des Mikrofonständers glimmte etwas rot. Ein Zigarettenstummel. Er schloß für einen Moment die Augen. Zigaretten, Coca-Cola, Radiomusik, Fernsehen. Gebäck und Nüsse... Das alles gab es irgendwo. Oder hatte es gegeben. Oder: würde es geben. Aber er hatte keinen Zugang dazu.
Der rauchende Zigarettenstummel. Er bedeutete etwas. Ein Strudel zog ihn in die Gegenwart zurück. Vor kurzem mußte jemand hier gewesen sein. Zigaretten – das ist Luxus. Also: der Major. Oder eine Frau? Er hob das glimmende weiße Ding auf... Es hatte keine Lippenstiftspuren. Also der Major.
Abel stand in halb geduckter Haltung da. Die Pistole lag in seiner Tasche. Er streckte die Hand hinein und umschloß den Griff der Waffe. Dann ging er an die linke Wand, an der eine Tür war – eine offene Tür.
Wieder betrat er einen Gang. Fassungslos blieb er stehen. Er blickte auf eine Garnitur Stahlrohrsessel, die um ein niedriges Tischchen mit schwarzer Kunststoffplatte montiert waren. Einem massigen Blumentopf entwuchs ein Gummibaum, der mit seinen Blätterkaskaden bis unter die Decke reichte. An der Wand standen zwei Büroschränke, die Rollen waren emporgezogen, darunter reihten sich mehrere Batterien von Ordnern. Ein Aktenbock war mit Lochkartenstößen vollgestopft. Auf einem Tischchen stand eine automatische Schreibmaschine mit Mikrofon, in einem Fach darunter ein Tonbandgerät.
Ein Geräusch riß Abel aus seinen Betrachtungen. Sofort zog er sich hinter die Tür zurück. Er legte sich auf den Boden und blickte um die Ecke. Im Blickfeld erschien nun eine Person und dann noch eine. Sie kamen aus jenem Teil des Raumes hinter den Sesseln, den er noch nicht betreten hatte und den er von seinem Platz aus nicht einsehen konnte. Die erste Person war ein Soldat in der guten Uniform. Er hatte eine schwarze Binde vor den Augen und stapfte unsicher vorwärts. Der hinter ihm schritt und ihn vor sich herschob und lenkte, war ein Sergeant. Beide verschwanden in der jenseitigen Gangfortsetzung. Die Schritte verstummten, und dann erscholl ein Klopfen. Eine Tür ging, und Abel hörte die Stimme einer Frau.
»Na, komm rein, Kleiner.«
Unbestimmte Geräusche. Eine Tür fiel zu. Schritte. Der Sergeant kam wieder in Sicht. Er trat an den Aktenschrank, holte einen Ordner heraus, schlug ihn auf, blätterte darin.
Abel lag unschlüssig auf seinem Beobachtungsplatz. Er schätzte die Entfernung von sich bis zu dem Mann – es waren nur zwanzig Schritte. Wenn dieser bei der Maschine etwas zu tun hatte, konnte er in Sekundenschnelle da sein.
Abel wollte nicht mehr riskieren, als unvermeidlich war. Er hielt nach einer Stelle Ausschau, an die er sich zurückziehen konnte und an der er von der Tür aus nicht gleich sichtbar war. An der Wand hinter dem gläsernen Gebilde standen mehrere Dinge, die elektrische Schaltaggregate sein mochten, auf Tischchen; zwischen ihnen waren Ecken und Nischen frei.
Abel zog sich in eine dieser Nischen zurück, um abzuwarten. Die Wand hier war kanzelartig ausgebuchtet, ein Drehschemel stand vor einem Pult. Wer daran saß, konnte durch ein kleines Fenster sehen, das den Blick hinaus freigab.
Abel horchte auf die Geräusche aus dem Nebenraum ... er vernahm nichts Beunruhigendes. Er setzte sich auf den Schemel und schaute durch die Glasscheibe. Jetzt erkannte er, wo er war: neben dem großen Hof vor dem Unterkunftsgebäude des Majors.
Ein Geräusch veranlaßte ihn, sich auf den Boden zu legen, in die Deckung der Schaltanordnungen und Tische. Er hörte Stimmen, durch das Hallen klangen sie vermischt, aber einige Wortfetzen konnte er verstehen.
»... Zeit für dich, Kamerad?«
»... schon in fünf Minuten ein, oder nicht?«
»Was hältst du von den verstärkten Wachen?«
»Eine Übungsmaßnahme, was sonst?«
»Und die verschwundene Taschenlampe, Kamerad?«
»... als eine Übungsmaßnahme...«
»Die Sache kommt mir doch recht ernst vor ... ist genaugenommen Sabotage ... kann eigentlich nicht begreifen...«
»Na, eben, Kamerad. Drum hab ich da meine eigene Meinung.« Er dämpfte seine Stimme, aber die Worte waren jetzt besser zu verstehen als vorher. »... bin überzeugt, der Major hat sie selbst im Abfluß versteckt.«
»... weshalb?«
»Ist doch klar, Kamerad. Die Korporale werden zu bequem. Müssen etwas auf Trab gebracht werden. Sollen sich ein wenig anstrengen. Besser auf die Mannschaft aufpassen. Sonderdienst machen. Wache schieben.« Seine Stimme wurde allmählich lauter. »Der Vorgesetzte ist das Vorbild der Mannschaft. Er darf niemals lockerlassen... Nur die unablässige Arbeit an sich selbst ... dazu ist der Dienst da, die Übungen, der Unterricht. Er muß stets ... und mehr als seine Pflicht ... Treue des Soldaten ... Ehre...«
»Gewiß, Kamerad. Du hast recht, Kamerad.«
Sie sind überzeugt von dem, was ihnen der Major vorschwätzt, dachte Abel. Es sind arme Hunde wie wir. Ob der Major...? Ein schrecklicher Gedanke schoß ihm durch den Kopf: Vielleicht war auch der Geist des Majors nicht frei, und er war gar nicht der Schuldige, sondern Werkzeug. Aber wessen Werkzeug? Er verwarf diesen Einfall. Sie befanden sich in einem geschlossenen System ohne Verbindungsmöglichkeit zu anderen Räumen. Der Major war die treibende Kraft, der Motor dieser Welt – der Schuldige dafür, daß sie so war, wie sie war. Jetzt war er dessen wieder gewiß.
»... pünktlich sein. Wenn er zur Wachablösung kommt?«
»Heute nicht. Er hat das Schild vorgezogen.«
»Trotzdem. Ordnung muß sein. Kopf hoch, Kamerad!«
»Kopf hoch!«
Schritte, Türenschlagen...
Ein Mann hatte den Raum verlassen. Abel hörte leises Rascheln von Papier.
Er richtete sich auf und spähte durch das Fenster. Der Kasernenhof war nicht mehr leer. Zehn Männer mit Stahlhelmen standen draußen angetreten. Sie standen völlig unbewegt, man hätte sie für leblos halten können. Jetzt trat ein elfter Mann ins Blickfeld, es mußte der Sergeant sein, der die Wachablösung vornahm. In ungefähr zehn Meter Entfernung von der angetretenen Wachmannschaft blieb er stehen.
Von der anderen Seite kam jetzt eine zweite Reihe von Soldaten. Sie marschierte geradeaus, bis sie sich der wartenden Einheit genau gegenüber befand. Mit einem Ruck hielt sie an.
Durchs Fenster drang kein Laut, und um so marionettenhafter wirkte das nächtliche Schauspiel. Die abgemessenen Bewegungen, die abgehackten Schritte, die zackigen Kehrtwendungen, die steife Haltung der Körper. Holzpuppen an Fäden. Eine Bühne, Kulissen. Eine Zeremonie. Das Spiel der Willenlosigkeit.
Die zwei Reihen marschierten ab. Der Sergeant blieb stehen, bis sie verschwunden waren. Dann drehte er sich um und kam auf das Gebäude zu.
Eine Tür ging. Abel duckte sich.
»Alles in Ordnung?«
»Natürlich. Alles funktioniert.«
»Man darf sich nie zufriedengeben, sagt der Major.«
Die Stimmen blieben eine Weile still. Dann klangen sie wieder auf.
»Hast du noch lange hier zu tun, Kamerad?«
»... fertig.«
Die Rouleaus des Aktenschrankes rasselten.
»Ich gehe in die Wachstube.«
»Ich gehe schlafen.«
»Gute Nacht, Kamerad. Und Kopf hoch!«
»Kopf hoch!«
Die Stiefelabsätze klopften. Die Tür ging. Stille.
Abel wagte sich wieder aus seiner Deckung heraus. Er ging zur Tür. Die Luft schien rein. Vorsichtig um sich spähend und immer wieder lauschend, schlich er vor. Jetzt stand er an der Sesselgarnitur. Hinter dem Mauervorsprung, der ihm die Sicht abgeschnitten hatte, war die Tür, durch die die Sergeanten aus und ein gegangen waren. Vor ihm erstreckte sich der Gang. An der rechten Wand hingen Bilder – Stahlstiche, Drucke und Farbfotos von Männern. Männer in Uniformen: General Wellington, Friedrich der Große, General Rommel, Oberst Yo Fan, Kommodore Melisander. An zwei gekreuzten, mit Ringen befestigten Stangen hingen Fahnen. Eine rot-gelb-blau gestreifte und eine gelbe mit einem schwarzen Kreuz. Auf einem Stück aufgezogenem Pergament standen in Prägeschrift die Worte: Das höchste Gut ist die Ehre. Unsere Ehre heißt: Soldatentum.
In der linken Wand sah er vier schmale Türen; in ihnen waren Fensteröffnungen ausgespart, in denen Vorhänge zu sehen waren. Der Vorhang der ersten Tür war dicht zugezogen, jener der zweiten stand offen. Das Licht einer Nachttischlampe malte einen gelben Fleck auf eine Couch und beleuchtete die schmale Kammer schwach. Sie hatte kaum Platz für die wenigen Möbelstücke, einen Metallschrank, ein Nachtkästchen, einen Korbsessel. Eine mit Scharnieren an der Wand befestigte Tischplatte war aufgeklappt. Darauf stand eine Schale aus blauem Glas.
Abel hielt sich nicht auf. Aus dem nächsten Zimmer klangen Worte. Der Vorhang gab nichts frei, Abel legte das Ohr an die Kunststoffverkleidung. Frauenstimmen.
»... aber ich bin nicht ganz sicher.«
»Würdest du es tun? Ich meine, wenn es nicht verboten wäre?«
»Ich würde es tun.«
»Aber es ist keine Lösung.«
»Gewiß nicht.«
»Nimm noch ein Stück Kuchen. Ja, ich würde es tun.«
»Du würdest erwischt werden. Auch sie wird er erwischen.«
»Und was dann?«
»Der Kuchen ist gut. Du mußt mir das Rezept geben.«
»Ich schreib’ es dir auf. Hast du einen Kugelschreiber bei dir?«
»Ich müßte immer an das denken, was dann geschehen könnte.«
»Das ist es eben. Es gibt ein Dann.«
Abel schlich zur nächsten Tür. Der Vorhang war geschlossen. Daran mit Stecknadeln befestigt hing ein Zettel: Besetzt. Abel hörte Flüstern und unbestimmte Geräusche, aber er konnte kein Wort verstehen.
Nach den vier Türen machte der Gang einen Knick und führte geradewegs auf eine große Tür zu. Daran hing ein Schild: Zutritt verboten. Das mußte es sein – das Allerheiligste, der Wohnraum des Majors. Abel zog die Pistole aus der Tasche. Er fühlte die Erwartung in sich stärker werden. Er tat einen Schritt auf die Tür zu. ›Zutritt verboten‹. Sollte diese Tür versperrt sein? Wohl kaum.
Sein Blick fiel auf seine Hand. Sie war ruhig. Er war ein guter Schütze. Die Pistole war bereit. Er hatte sie selbst zusammengesetzt und geladen. Mit einemmal stieg ein Zweifel in ihm hoch: Lag das Magazin richtig? So, daß eine gefüllte Kugeltasche an der Zündung lag, und nicht eine leere? Er ließ das Magazin herausgleiten – dazu brauchte er nicht einmal den Griff herabzuklappen; denn seine Pistole hatte keinen Griff. Sie lag zwar nicht gut in der Hand, aber gut genug, um damit zielen und treffen zu können.
Das Magazin war richtig gefüllt; die drei Kugeln saßen in den drei oberen Taschen, die beiden anderen waren leer. Drei Schuß – genug für einen Mann. Abel tat ein übriges: Er ließ eine Kugel herausgleiten und sah sie an – als könnte etwas an ihr nicht in Ordnung sein. Aber alles war in Ordnung – es war eine Kugel wie alle vielen tausend Kugeln, die er schon verschossen hatte – silbriggrau, lanzettförmig, die Achse von einem feinen Kanal durchbohrt.
Plötzlich zuckte er herum – ein Geräusch? Stille. Vielleicht war es aus dem Zimmer gekommen, in dem sich die beiden Frauen unterhielten. Abel mußte jetzt über sich selbst lachen. Da stand er mit entladener Pistole, direkt vor der Höhle des Löwen! Aber was machte es aus? Die Kugel ins Magazin, das Magazin in die Pistole ... eine Sekunde, nicht einmal eine Sekunde.
Er zögerte nicht mehr. Er trat ganz nahe an die Tür. Da war wieder der Laut von vorhin ... ein Schrei, gedämpft, unterdrückt? Er kam von der Tür des Majors. War der Major nicht allein?
Gleichgültig. Niemand kann so schnell schießen wie ein Mann, der die Pistole schon in der Hand hält und seit Tagen darauf brennt zu schießen.
Abel legte die Hand auf die Klinke und drückte sie herunter, langsam wie einen Minutenzeiger. Er fühlte den leichten Widerstand der Federung und dann den starken des Anschlags. Er verlagerte die Richtung seines Drucks nach vorn. Der Türflügel gab nach. Wieder bremste er seine Ungeduld und bewegte ihn millimeterweise vorwärts.
Die Geräusche wurden lauter. Pochen unterbrach die Worte. Abel verstand jetzt:
»Zweite Batterie – Feuer. Dritte Batterie – Feuer. Bombenklappen auf! Achtung – Raketen im Anflug von Nord. Fertigmachen zum Sturmangriff. Ulanen auf die Pferde!«
Abel hatte die Tür jetzt um einen handbreiten Spalt geöffnet. Er sah noch wenig: einige Stühle, eine Landkarte an der Wand.
»Torpedos fertigmachen. Feuert! Flammenwerfer vor! Achtung – feindliche Panzer von links! Einnebeln! Stürmt die Barrikaden! Giftgas einsetzen!«
Abel stieß die Tür vollends auf. Ein kahles Zimmer. Wenig Möbel. Ein Feldbett. Darauf der Major. Er hielt die Augen geschlossen und brüllte seine Schreie hinaus.
»Die Panzerkreuzer vor! Atombomben auf die Festung! Brecht die Mauer ein – Sturm! Sturm!«
Sein Gesicht war rot, Schweiß überzog seine Stirn mit einzelnen Tröpfchen, das Haar stand wirr von seinem Kopf ab.
Abel hob die Pistole und rief:
»Herr Major!«
»Übernehmen Sie das zehnte Regiment! Dringen Sie von der Seite in die Festung ein!«
»Herr Major!« schrie Abel.
Der Major öffnete die Augen. Sie starrten Abel leer an.
»Ein prächtiges Gefecht, Kamerad. Was meinten Sie?«
»Herr Major!« schrie Abel. Er trat mit erhobener Pistole an den liegenden Mann heran. Kleine Speichelbläschen saßen an dessen Mundwinkeln. Das Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Mühsam setzte er sich auf seinem Bett auf.
»Wir müssen durchhalten«, lallte er. »Unsere Ehre steht auf dem Spiel. Das ist der große Krieg. Der Soldat hat immer seine Pflicht getan. Wir sind klar zum letzten Gefecht.«
Abel war verzweifelt. Der Major sollte verstehen! Er hielt ihm die Pistole vor die Augen, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn.
»Major«, brüllte er. »Wir sind nicht im Krieg. Wir sind in der Kaserne. Wachen Sie auf! Wir sind nicht im Krieg!«
Das rotaufgedunsene Gesicht vor Abel schwankte. Die Augen blickten verständnislos. Abel schwieg und ließ los. Der Kopf des Majors fiel nach vorn und schlug dröhnend auf die Platte des Tisches, der vor seiner Liegestatt stand.
»Es ist immer Krieg«, murmelte er. Seine zu Fäusten geballten Hände entspannten sich, die Finger bebten. Es sah aus, als krümmten sich kleine Tiere im Todeskrampf. Neben ihnen lag ein leeres aufgerissenes Plastiktütchen.
Die Hände, der Kopf und die Tischplatte verschwammen plötzlich – in Abels Augen standen Tränen. Die gesenkte Pistole in der Hand taumelte er zur Wand und stützte sich daran. Der Major begann laut und schnarrend zu atmen. Die Hand Abels umkrampfte noch immer die Pistole, doch jetzt versuchte er nicht mehr, sich zum Schießen zu zwingen. Er gestand sich ein, daß er es nicht konnte. Nicht, solange der Major ohne Besinnung war.
Eine Welt war in ihm zerbrochen. Eine Welt, die er sich ganz allein aufgebaut hatte, die Welt seines großen Plans, der viel mehr war als Vergeltung oder Rache, eher sein Glaube, seine Religion, etwas Unbegreifliches, etwas, das ihm von außerhalb oder von früher erhalten geblieben war. Er blieb zurück, leergebrannt und ratlos.
Was sollte er tun? Zurückkehren? Warum nicht. Niemand hatte ihn bemerkt, der Weg zurück war frei. Er konnte in seine Stube schleichen, ins Bett kriechen, die Decke über die Ohren ziehen und so tun, als wäre nichts geschehen. Aber es war nichts mehr da, was ihn aufrecht halten würde. Sein Haß war zerschmolzen, und die Gleichgültigkeit ist keine stützende Kraft. Ohne Haß und ohne schwarze Pille – das ging nicht.
Oder sollte er warten, bis der Major erwachte? Würde er dann wieder den Mut haben zu schießen? Hatte es noch Sinn zu schießen? Bisher hatte er nicht nach dem Sinn gefragt. Wahrscheinlich hatte es keinen Sinn. Wahrscheinlich hatte nichts Sinn.
Er schrak zusammen. Ein heller Klingellaut durchbrach die Stille. Er kam vom Nachttisch am Kopfende des Bettes; dort stand ein Telefon. Das Klingeln wiederholte sich. Der Major machte eine schwache Bewegung. Abel ging rasch hinüber und nahm den Hörer ab. Er kannte die Stimme des Majors.
»Was gibt es?« fragte er scharf.
»Hier Korporal vom Dienst, Wachstube. Herr Major, ich bitte melden zu dürfen: Die für heute befohlene Stubeninspektion ist beendet. Wir haben ... in Stube 56 ... Herr Major – es fehlen zwei Mann. Abel 56/7 und Austin 56/8. Soll ich Alarm geben? Eine Suchaktion vornehmen?«
Abel überlegte kurz.
»Nein«, bellte er ins Mikrofon. »Jetzt nicht. Erst nach dem Wecken.«
»Herr Major ... es scheint sich um Fahnenflucht zu handeln. Man sollte jetzt sofort etwas...«
»Haben Sie nicht gehört«, fiel ihm Abel schneidend ins Wort. »Konzentrieren Sie die Wachen auf die Unterkünfte, damit sich nicht noch mehr Leute davonmachen. Bis zum Wecken keine weitere Aktion! Ende.«
Er legte auf.
Nun war es entschieden. Er hatte Zeit bis sechs Uhr. Diese paar Stunden enthielten alles, was für ihn noch zu tun übrigblieb. Er konnte hier warten oder fliehen – den Major erschießen, sich selbst erschießen oder drei andere. Er konnte ... was konnte er noch?
Er verließ das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Das Schild ›Zutritt verboten‹ hing noch daran. Eilig durchquerte er den Gang und schlug den Weg ein, auf dem er vor einer Stunde, bebend vor Mordlust, gekommen war.