7

Nun besaß Abel auch das Magazin. Wie die anderen Teile war es im Schützengraben versteckt, eingebacken in den Lehm, sicher vor jeder Suchaktion. Hatte sie schon begonnen? An sechs Pistolen fehlten Teile – es mußte aufgefallen sein, doch Abel hatte kein Anzeichen dafür bemerkt. Ob sie einen Zusammenhang ahnten? Wahrscheinlich. Natürlich konnte einmal ein Pistolenteil verlorengehen, aber eine solche Häufung von Verlusten konnte niemand als Zufall ansehen. Das Gute daran war, daß sich keine Verbindung zu ihm herstellen ließ. Er hatte gut beobachtet: So wie die Waffenausgabe und -einnahme organisiert war, kamen die Pistolen jeden Tag in andere Züge und an andere Soldaten. Auf ihn fiel soviel Verdacht wie auf jeden anderen.

Abel lag wachend in seinem Bett und durchdachte seinen Plan wie schon so oft. Die Szenen liefen ab, als wären sie Wirklichkeit. In seinen Gedanken war der Major schon tot; ein Anflug von Befriedigung darüber hatte sich über sein Bewußtsein gelegt. Abel lag auf seinem harten Lager, die Querstangen, die die Matratze hielten, drückten sich bis zu seinem Rücken durch, aber er spürte sie nicht. Sein Körper badete in der wohligen Ruhe, er war noch von der Nachtübung erhitzt, die ihm das letzte abverlangt hatte, und schwebte in einem Bett aus Müdigkeit und Wärme. Nur sein Denken, vom Dienst kaum beansprucht und von keinem Betäubungsgift eingelullt, war hellwach und arbeitete.

Um ihn herum war das Atmen und Röcheln der Schlafenden wie in jeder Nacht, doch jetzt drang etwas durch diesen Mantel aus verwischten Geräuschen. Ein Laut, eine Erschütterung? Ein leises Beben lief durch die Streben seiner Bettstatt. Abel horchte angespannt, doch er bewegte sich nicht. Er hatte sich nicht getäuscht: Unter ihm rührte sich etwas. Er hörte einen dumpfen Laut ... schleichende Schritte ... das Knarren des Schranks. Vorsichtig wandte er den Kopf ... blickte über den Rand seines Kissens. Es war das, was er erwartet hatte – Austin kleidete sich an. Immer wieder vergewisserte er sich, daß niemand erwacht war. Dann schlich er zur Tür ... zog sie auf ... schlüpfte hindurch. Der Türspalt schloß sich.

Abel fuhr aus dem Bett ... lief zum Fenster. Zuerst sah er nichts. Dann bemerkte er Austin, der unschlüssig an der Tür stand. Abel lief zu seinem Schrank, streifte den Mantel über, packte die Schuhe und ging mit eiligen kleinen Schritten auf bloßen Füßen zur Tür.

Nun stand er im Gang mit den zehn Türen zu den Stuben dieser Baracke. Ein Blick durchs Fenster zeigte ihm Austin, der die Wand entlang in Richtung auf die Vorratsräume ging. Abel schlüpfte in die Schuhe, schnürte sie notdürftig zusammen und verließ das Gebäude. Eilig, aber leise folgte er Austin.

Er wunderte sich selbst über seinen und Austins Mut. Es mußte am Nachlassen der Giftwirkung liegen – noch am Tag zuvor hätte er es nicht gewagt, während der Ruhezeit das Bett oder gar die Unterkunft zu verlassen.

Austin überquerte laufend einen freien Platz und tauchte im Schatten des Nachbargebäudes unter. Abel wartete, bis er ihn weiterschleichen sah, dann hastete auch er über den Platz, gebückt, wie er es bei den Übungen gelernt hatte, und schlug dann dieselbe Richtung ein wie Austin. Abel dachte an die unzähligen Stunden der Ertüchtigung und des Sports – nun kam ihm das zugute, was er gelernt hatte. Sein Körper reagierte blitzschnell, weder Kälte noch Müdigkeit beeinträchtigten das Spiel der Muskeln. Der Wind drang unter den Mantel, aber das war nur Aufmunterung – er empfand ihn als angenehm.

Austin war bei einem Vorratsgebäude angekommen und machte sich an der Tür zu schaffen. Abel beobachtete seine Aktion von der nächsten Ecke aus mit Spannung. Dann glitt die Tür auf, Austin war eingetreten. Wieder lief Abel ihm schnell nach. Bevor er in die nur wenig aufgezogene Tür trat, blickte er umher und erschrak. Quer über das freie Feld vor dem Haus ging jemand in Mantel und Helm, aufrecht, mit ruhigen, sicheren Schritten. Er war noch weit, aber er kam geradewegs auf ihn zu.

Abel schob sich ins Innere, ohne ihn aus den Augen zu lassen: eine Wache! Hatte er nicht damit gerechnet? Er hatte nicht daran gedacht.

Aus dem Innern des Raumes kam ein Geräusch. Abel fuhr herum, aber er sah nichts – seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Ein Arm legte sich von hinten um seine Brust, eine Hand packte seinen Hals, ein Knie bohrte sich in seinen Rücken ... er verlor den Halt und kippte hintüber. Verzweifelt rang er nach Luft, ein Stöhnen quälte sich aus seiner Kehle.

»Warum spionierst du mir nach?« fragte Austin. »Hast du geglaubt, ich bemerke dich nicht?«

Abel wollte antworten, aber er brachte nur ein Ächzen heraus, das er sofort unterdrückte. Er wollte mit der Hand nach draußen weisen, aber es wurde ein hilfloses Rudern daraus, das Austin nicht verstehen konnte.

Der erste Schreck war vorbei. Abels Verstand arbeitete wieder.

Vor Austin hatte er keine Angst, Austin war nicht stärker als er; nur die Überraschung hatte ihm den ersten Vorteil geschenkt. Abel drehte den Kopf zur Seite, um seine Kehle zu schützen, und der Druck ließ etwas nach. Er brachte zwei Worte heraus. »Loslassen! Aufhören!«, aber Austin faßte nach und erstickte die Laute.

»Das möchtest du wohl, was?« spottete er.

Abel griff nach seiner Hand und rückte sie Zentimeter um Zentimeter von seinem Hals weg. Der Griff um seine Brust lockerte sich, aber der Druck des Knies schob ihn weiter hintüber. Ein starker Schmerz stach in seiner Wirbelsäule. Das alles regte ihn nicht weiter auf, aber das Bewußtsein, daß sich die Wache in jeder Sekunde um einen Meter näherte, brachte ihn der Verzweiflung nahe. Seine Beine waren frei, und er versuchte, mit dem rechten Fuß die Tür zu erreichen, aber beim Ringen hatten sie sich um etwa einen Meter von ihr entfernt. So tauchte er sich und den andern, der an ihm hing, zur Tür, und endlich konnte er sie mit der Fußspitze berühren. Er nahm alle Kraft zusammen, um zu verhindern, daß sich die Bewegungen Austins auf sein Bein übertrugen. Dann drückte er die Tür langsam und ohne Lärm, aber fest zu. Das Schloß schnappte.

Jetzt erst richtete sich seine Wut gegen den andern. Er hob das Bein hoch über den Körper und traf den Kopf Austins schwer. Sofort öffnete sich dessen Griff, Abel schlüpfte heraus und drehte sich um, bereit, noch einmal zuzuschlagen. Draußen knirschten Schritte...

Austin machte eben eine schwache Bewegung auf Abel zu, da traf ihn ein rechter Haken. Austin kippte aus seiner sitzenden Stellung zu Boden.

Die Schritte waren vor der Tür...

Abel packte den Kameraden am Kragen ... geduckt lief er ein paar Schritte in den Raum hinein und schleifte ihn hinter sich her, in den Schatten eines Regals. Er selbst warf sich daneben, keine Sekunde zu früh...

Die Tür ging auf, ein Stück schwärzlichgrauen Himmels wurde sichtbar ... eine Silhouette erschien ... der Strahl eines Scheinwerfers tastete durch den Raum, erfaßte einen Packen aufgeschichteter, zusammengelegter Hemden, eine Kiste Helme, aneinandergereihte Dosen, Tornister, Gürtel, Stiefel. Er streifte das Regal, hinter dem sich die Männer verborgen hielten, klebte an den mit Tarnbemalung versehenen Leinwanddreiecken der Zweimannzelte, die wie Häute zum Trocknen an Schnüren hingen, traf die Scheibe eines an der Seitenwand lehnenden Fensterrahmens, von dem ein reflektierter Strahl auf den Fußboden sprang... Das Licht erlosch. Die Silhouette verschwand. Mit einem dumpfen Laut schloß sich die Tür. Abel und Austin blieben noch eine Minute liegen. Dann ging Abel zum Fenster und sah hinaus. Der Mann entfernte sich mit abgezirkelten, festen Schritten...

Abel drehte sich um. Austin hatte sich aufgerichtet. Er massierte sein Kinn.

»Du Narr«, sagte Abel. »Du verdammter Narr.«

»Warum spionierst du mir nach?« fragte Austin.

»Willst du mir vorschreiben, was ich zu tun habe?« fragte Abel zurück.

Austin machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand.

»Mach, was du willst«, sagte er, »aber laß mich in Ruhe.«

Er wandte sich ab und trat an die Wand. Langsam wanderte er an ihr vorbei.

»Du suchst wohl die Tür!« sagte Abel.

Austin ließ sich nicht stören. Er suchte weiter. Um die Vorräte kümmerte er sich nicht. Ihn interessierte nur die Wand – die Rückwand, die Schranke zur Außenwelt. Es war finster im Raum, und er mußte die Finger zu Hilfe nehmen, um jede Ritze abzutasten.

Abel beobachtete ihn nebenher. Seine Aufmerksamkeit galt den Vorräten. Es war nichts da, was er hätte brauchen können – keine Waffen, keine Munition. Nun, er war nicht darauf angewiesen. Es hätte ihm Mühe erspart, seinen Weg verkürzt, aber er war fast froh, daß es nicht zu einfach war. Hier gab es keine Waffen. Und das Waffenmagazin brauchte er nicht zu untersuchen. Es stand frei, mitten auf einem Exerzierplatz – und es hatte keine Tür. Die Waffenausgabe erfolgte automatisch, ausgelöst durch die Siegelringe der Korporale.

Abel stieß auf ein Wandbrett mit Taschenlampen. Er nahm zwei davon; eine steckte er ein, und eine reichte er Austin, der sie nach kurzem Zögern annahm.

Die Rückwand wies keine Tür auf. Da es auch keine Verbindung zum Nebengebäude gab, traten sie vor die Baracke und versuchten, die Tür zum Maschinenhaus zu öffnen. Auch sie bot keinen Widerstand.

Ein leises Surren zitterte in der Luft; sie roch schwach nach Ozon. Das Licht ihrer Taschenlampen, gedämpft durch die vorgehaltenen Finger, blieb am einzigen hängen, das auf den ersten Blick als bewegt zu erkennen war – schwere Kolben, die wie geschmeidige Gliedmaßen vor und zurück stießen. Das große Schwungrad, von dem das Surren ausging, schien dagegen still zu stehen – ein spiegelnder glatter Metallklotz. Nur eine Schraube lief daran rundum.

Austin trat sofort an die Rückwand. Abel sah sich aufmerksam um.

»Hier könntest du Glück haben«, sagte er. »Dieses Gebäude hat dieselbe Vorderfront wie das Vorratshaus, aber sein Innenraum ist schmaler. Hinten muß noch ein Raum sein.«

Austin sah ihn von der Seite an.

»Wozu interessiert dich das?«

»Nur so«, antwortete Abel. Er trat an eine große Schaltwand und versuchte sich zurechtzufinden. Mit Leuchtfarbe bestrichene Zeiger standen unter Glas über den Skalen. Darunter lag eine lange Reihe von Hebeln, durch Schaltzeichen untereinander und mit den Skalen verbunden.

Stirnrunzelnd stand Abel vor den Schaltern, wie vor einem Instrument, das man früher einmal flüchtig gekannt hat und dessen Beherrschung man sich jetzt nicht mehr recht zutraut. Das hier war ein Instrument der Macht. Richtig benützt, müßte es ihm die Herrschaft über das ganze Gelände und die Menschen darin schenken. Rauschhaft stieg dieser Gedanke in ihm auf. Er fühlte sich versucht, die Schalter zu drehen, die Hebel herumzureißen, und dann ... aber er unterdrückte diese wahnwitzige Idee. Bevor er sich über die Bedeutung nicht klar war...

Er konzentrierte sich auf die Zeichnung. Hier – das konnte das Schema der Lichtleitungen sein: der Kreis mit der Wellenlinie die Spannungsquelle, die Striche die Leitungen... Ja, nun konnte er den Schaltplan des Lichtes durchschauen. Es war gewissermaßen ein Abbild der Kasernenanlage selbst. Mit einem bitteren Lächeln stellte er fest, daß nirgends eine Linie nach außen führte. Es gab kein ›außen‹, das war wieder ein Beweis dafür, aber er teilte es Austin nicht mit.

Das Licht konnte Abel wenig nützen. Vielleicht ließ sich der Sender lahmlegen? Er suchte nach den Schaltzeichen, und er fand sie. Es juckte ihm in den Fingern, mit einem Griff das ganze Nachrichtenwesen der kleinen Gemeinschaft lahmzulegen – er wußte, wie wichtig das System der Fernsprechanlagen und Sender für das Funktionieren einer organisierten Gruppe ist –, aber er unterdrückte auch diesen Wunsch. Statt dessen wandte er sich einer Serie von Hebeln zu, die neben jenen der Sendeschaltung aus der Kunststoffwand ragten. Lange studierte er den Schaltplan, aber der Zusammenhang erschloß sich ihm nicht. Nur einzelne Zeichen waren ihm klar: die Ziffern 1 bis 12, Stromverzweigungen, Potentiale, und dazwischen eine Windrose. Endlich legte er die Hand an einen Knopfschalter und drehte ein wenig daran. Er sah sich um, er wußte nicht, was geschehen würde, aber er mußte es bemerken, bevor es schaden konnte... Und wirklich: irgend etwas hatte sich verändert, aber er erkannte nicht, was. Er spürte, wie aufgeregt er war. Etwas Bedrohliches war erwacht. Gehetzt blickte er um sich, dann richtete er seine Augen auf eine Anzeige-Nadel, deren sich eine leichte Unruhe bemächtigt hatte; sie pendelte in einem Anschlagbereich von wenigen Graden über eine Skala – das war alles. Er zwang sich, über sich selbst zu lachen. Behutsam drehte er den Kopf noch ein wenig, und noch um ein Stück. Wieder rührte sich nichts ... dann klirrte plötzlich das Fenster, und jetzt wußte er auch, was sich ereignet hatte, ohne daß es bis in sein Bewußtsein gedrungen war: Der Wind hatte sich verstärkt. Wieder lachte er über seine Nervosität, aber das Lachen lag plötzlich wie ein Klumpen in seinem Hals. Er starrte auf seine Hand, die noch immer auf dem Regelknopf lag. Der Verdacht eines ungeheuren Zusammenhangs war in ihm aufgestiegen. Er drehte den Knopf wieder in die Ausgangsposition zurück ... lauschte. Das Fenster klirrte noch, aber nicht mehr so stark, und bald wurde es wieder ganz still; es war keine Täuschung.

Abels Hand zitterte. Wind und Sturm, dachte er. Die Windrose. Regen, Schnee. Hitze, Kälte. Licht und Dunkel. Wieder peitschte ihn ein Gedanke: Wußten die Korporale, die Wache schoben...?

Er hastete zum Fenster, sah hindurch. Nein, der Wachtposten hätte längst hier sein müssen. Sie wußten nichts. Für sie war Wind Wind und Regen Regen. Auch sie fraßen die Tabletten. Gut so. Wahrscheinlich wußte es nur einer: der Major. Und er: Abel!

Am oberen Rand der Schalttafel war eine Uhr in die Kunststofffläche eingesenkt. Der Stundenzeiger wies auf die Drei. Es war noch nicht spät, die Nachtübung hatte diesmal recht früh stattgefunden.

Abel blickte sich nach Austin um. Er ging zum Hintergrund des Raumes, dorthin, wo er ihn zuletzt hantieren gehört hatte. Aus einer spaltweit geöffneten Schiebetür fiel ein matter Lichtstreif über den Boden. Es war eine schwere Metalltür. Sie ließ sich mit Hebeln sichern, doch diese waren jetzt auf die Seite gelegt. Abel betrat einen Korridor. Notlampen spendeten trübes Licht, das ihn aber, der aus dem Dunkel kam, trotzdem die Augen schließen ließ. Er öffnete sie rasch wieder, Austin war nicht hier. Die Lampen liefen als schimmernde Perlenkette in die Tiefe des Ganges. Viele Türen lagen in der Wand. Alle, außer jener, durch die sie gekommen waren, waren geschlossen, und alle führten nach innen. Die Außenwand war leer, eine grauweiße Betonwand, roh gemauert, mit Tausenden feiner glitzernder Tröpfchen Kondenswasser überzogen.

Austin mußte hinter einer Ecke verschwunden sein. Abel ging in den Gang hinein. Bei jeder Tür blieb er stehen und lauschte. Er hörte nichts. Die Türen waren unwahrscheinlich dick. Durch miteinander zusammenhängende, an Achsen drehbare Hebel waren sie verschlossen, aber diese Maßnahme konnte nicht der Sicherung gegen Menschen dienen, denn keine Sperre verhinderte, sie zu öffnen. Abel neigte zur Annahme, daß sie auch von innen nicht gesichert wären – genausowenig wie die Tür, die sie benützt hatten. Gegen Menschen war keine Sicherung nötig. Abel dachte an die schwarzen Pillen – sie waren eine viel wirksamere Sperre. Wieder kam er an eine Tür – eine Tür mit geöffneten Hebeln! Sie war zugezogen, aber sie bewegte sich ohne Geräusch auf Rollen seitwärts, als Abel an einem Bügel antauchte.

Abels Hand verkrampfte sich am Bügelgriff. Drinnen war das helle Licht, und in dem Schein stand jemand, der ihm den Rücken zuwandte. Langes blondes Haar fiel über einen schmalen Rücken, der von einem roten Pullover bedeckt war. Ein enger blauer Rock spannte sich über runde Hüften. Er gab von rötlichbraunen Nylons bedeckte Waden frei. Die Füße steckten in blauglänzenden hochhackigen Pumps.

Eine helle Stimme sagte: »... einen Garten, Heckenrosen, Rehe ... Tannen, ein See. Brombeeren, der Geruch von Heu ... Efeu an der Mauer. Die Sonne ... ja, vor allem: die echte Sonne...«

Das Mädchen stand an einer chromblitzenden Maschine. Direkt vor ihr waren einige blockartige Kästen aufgebaut. Relais klickten, ein Lochstreifen lief.

»... eine Wiese, Zittergras, Moos. Wärme ... das Rauschen eines Brunnens. Und die Sonne...«

Die Relais klickten, der Lochstreifen lief. Dann war es zwei Sekunden lang still. Nichts bewegte sich. Das Mädchen wartete regungslos... Schließlich heulte die Maschine kurz auf. Eine Klappe öffnete sich. Das Mädchen streckte die Hand aus. Aus einer Rinne glitt ein Plastiktütchen heraus. Die Finger griffen zu, die andere Hand zerrte den Rock hinauf ... entblößte die Schenkel bis zu den Spangen des Strumpfbandgürtels ... das Tütchen verschwand unter dem Strumpf, der Rock wurde hinabgezerrt ... die Hände strichen die Falten glatt.

Ruckartig hob das Mädchen den Kopf und lauschte. Dann flog sie auf die Tür zu ... riß sie auf... Abel legte seine Hand auf den rotgeschminkten Mund und erstickte den Schrei. Er hielt das Mädchen eisern fest und zog die Tür wieder bis auf einen Spalt zu.

Zum erstenmal sah er in das Gesicht der Frau. Es war eine Frau. Es war ein blasses verhärmtes Gesicht, von Falten durchstrichelt. Die Augen blickten weit aufgerissen auf Abel. An den Lidern saßen lange gebogene Wimpern. Die Pupillen waren braun. In Abel fluteten Erinnerungen auf. Er preßte die Frau an sich, spürte ihre Wärme, den Duft ihrer Haare ... er drückte sein Gesicht an die blonde, weiche, seidige Masse...

Er zuckte zurück, als sie ihn in den Finger biß. Er hielt das Gesicht ernüchtert von sich ab ... der Ausdruck ihrer Augen war anders, als er erwartet hatte. Kein Ärger – eher Entsetzen. Dieses Entsetzen kam aus dem anderen Raum ... ihre Augen hingen am Türspalt. Auch Abel blickte hindurch: Vor ihm stand der Major, keine Armlänge von ihm entfernt, und blickte ihn an. Abel stand zu Eis erstarrt. Der Major streckte die Hand aus ... sie geriet aus dem Blickfeld ... die Tür schloß sich. Der Hebel bewegte sich. Es waren Hebel, die man von innen und außen bewegen konnte. Der Major hatte die Tür geschlossen.

Abels Hand sank vom Mund der Frau hinunter. Das Lippenstiftrot auf ihren Wangen war verschmiert.

»Laß mich los«, forderte sie.

Abel gehorchte. Sie wandte sich um und ging davon. Abel zögerte einen Moment, dann lief er ihr nach. Sie hörte die Schritte und drehte sich um.

»Rühr mich nicht an!« sagte sie.

Er lief neben ihr her.

»Was machst du überhaupt hier?« fragte sie. Sie erholte sich allmählich von ihrem Schreck. »Wie kommst du her?« Ihre Stimme klang tief und rauh. Sie blieb stehen und sah Abel an.

»Du hast dich selbständig gemacht, Kleiner! Gib es auf, es nützt dir nichts.«

Abel konnte den Blick nicht von ihren Augen lösen.

Vor diesem Blick wurde sie mißtrauisch. »Was starrst du mich so an? Warst du vielleicht schon einmal bei mir?«

Abel sagte noch immer nichts. Sie tätschelte seine Wange und sagte:

»Bist ein netter Junge. Schade um dich. Sie machen dich fertig.«

Sie wandte sich zu einer Tür und zog sie auf. Abel blickte in einen Raum voller Rohrleitungen. Sie trat ein, und als er ihr folgen wollte, sagte sie:

»Du mußt hier bleiben!«

»Warten Sie!« bat Abel.

»Es geht nicht. Es wäre sowieso fast schiefgegangen, heute. Hab keine Angst, ich zeig’ dich nicht an. Vergiß mich!«

Sie verschwand in der Tür und zog sie hinter sich zu.

Abel blieb kurze Zeit unschlüssig vor der Tür stehen. Dann schüttelte er die Überraschung von sich ab und zwang seine Gedanken in ruhige Bahnen. Er hatte einen von den ›Engeln‹ getroffen – doch was bedeutete das schon! Es bedeutete nichts in seinem Plan. Aber trotzdem hatte er gewonnen: Das letzte Steinchen war in sein Mosaik eingefügt: Er wußte, wie er an den Major herankommen konnte. Er hatte sich oft ausgemalt, wie er es tun würde – daß er während der Befehlsausgabe aus den Reihen stürmte und ihn mit Kugeln durchlöcherte, daß er während des Vorbeimarsches aus den paradierenden Reihen heraus feuerte oder bei einer Nachtübung an ihn heranschlich, bis er ihm die Pistole in den Rücken setzen konnte. Alles das war nicht so sicher, und, vor allem, es ließ dem Major zuwenig Zeit. Denn das war wichtig: Er mußte es begreifen, bevor er starb, mußte begreifen, daß ein anderer stärker war, daß nicht alles geschah, was er wollte, daß seine ganze wunderbare Welt aus Soldatentum wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzte.

Abel hielt nichts mehr in diesen Mauern. Am liebsten wäre er auf dem schnellsten Weg zurückgekehrt: in die Unterkunft, in die Sicherheit des Anonymen, der Masse. Sein Plan durfte durch keinen überflüssigen Schritt gefährdet werden.

Aber da war ja noch dieser Narr, Austin. Er fragte sich, wozu er ihn eigentlich brauchte; es war doch alles so geplant, daß er es allein tun konnte! Vielleicht hatte er den andern von Anfang an nur als wissenden Zeugen seiner Tat vorgesehen – er war der einzige, der das Ungeheure daran begreifen mochte. Aber er konnte im letzten Moment alles gefährden! Abel machte sich auf die Suche. Er lief durch den Korridor, bog um zwei Ecken, und da war es, was er niemals erwartet hätte: An der Außenwand war eine Klappe offen.

Auf allen vieren kroch er durch. Hier gab es keine Notbeleuchtung, er drehte die Taschenlampe wieder auf. Der Raum, den er betreten hatte, sah aus wie eine Höhle. Einige Schritte ging es waagrecht weiter, dann kamen Stufen – Stufen, die hinaufführten! Von vorn hörte er Geräusche. Es rollte dumpf. Er rief:

»Austin!«

Der Lichtkegel seiner Taschenlampe tanzte vor ihm her, hüpfte über die steilen und rohbehauenen Steinstufen, die stetig hinaufführten... Er mußte längst die Höhe eines fünfstöckigen Gebäudes erreicht haben – obwohl es in unmittelbarer Nähe des Kasernenfeldes sicher kein fünfstöckiges Gebäude gab. Aber er wunderte sich über nichts mehr. Sein einziger Wunsch war, Austin zurückzuholen.

Er fand ihn nach wenigen Schritten. Hier waren die Stufen zu Ende. Am Boden lagen Schutt und größere Gesteinstrümmer. Von Austin waren nur die Füße zu sehen. Er steckte zwischen Blöcken, war hineingekrochen in einen Berg von ineinandergekeiltem Gestein, das den Raum nach vorn und nach oben abschloß. Es rollte und polterte im Innern, Austins Beine erschienen, dann sein Körper – die Hände schoben einen kleinen Wall Steine heraus. Dann tauchten sie wieder unter.

»Hallo, Austin!« rief Abel und zerrte an den Beinen des Gefährten.

Wieder kam der Teil von Austins Körper, der noch im Freien lag, in Bewegung, wand und drehte sich. Langsam schob er sich aus dem Loch.

Austins Gesicht war von Schweiß und Dreck verklebt, aber er strahlte. Der Mund zuckte.

»Ich hab’s gefunden! Hier muß der Ausgang sein!«

»Es ist spät«, sagte Abel. »Höchste Zeit, daß wir verschwinden!«

»Aber es geht hier hinaus, verstehst du denn nicht? Schau doch selbst – dort drinnen ist eine Tür!«

Abel sah zweifelnd zur Öffnung. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinein, konnte aber nichts erkennen.

»Wenn du dich nach vorne schiebst, siehst du es!« drängte Austin.

Abel streckte die Hand mit der Taschenlampe aus und schob sich auf dem Bauch einwärts. Über seinem Kopf lagen lockere Felsstücke. Bei jeder Bewegung rieselte Sand aus den Ritzen. Schließlich sah er, was Austin gemeint hatte: Dort vorn, etwas über ihm blinkte eine glatte Fläche, und daraus ragte ein kreisförmiger Metallgriff, wie er bei Unterseeboten gebraucht wurde.

Abel schob sich zurück. Austin packte ihn am Arm. »Hast du es gesehen?«

»Vielleicht ist es bloß ein eingekeiltes Metallstück. Vielleicht hast du auch recht. Ich weiß es nicht. Jedenfalls mußt du lange arbeiten, bis du diesen Schuttberg beseitigt hast. Es sieht aus, als wäre der Ausgang zugesprengt. Kommst du mit?«

Auf Austins Gesicht erlosch die Begeisterung.

»Du hast recht«, sagte er verbissen. »Gehen wir. Aber ich komme wieder!«

Kurz nach vier Uhr kamen sie in ihrer Unterkunft an.

Als Abel wieder unter der Decke lag, zitterte das Abenteuer der letzten Stunde noch in ihm, aber nicht wie etwas tatsächlich Erlebtes – sondern eher wie ein Traum. Bald übermannte ihn der Schlaf, doch die Gedanken blieben wach, unablässig liefen Szenen ab wie in einem Theaterstück, die Wache ließ den Scheinwerfer kreisen, das Licht streifte ihn... Wo es ihn berührt hatte, blieb ein verkohlter Fleck zurück; das Mädchen lag in seinen Armen ... dann hielt er nur mehr ein Bündel Kleider, über die gelbe Haare zu Boden rieselten; der Major trat auf ihn zu, ein riesengroßer Major, der die Hand mit einer Injektionsspritze nach ihm ausstreckte und sagte: »Draußen ist nichts, nur der Abgrund. Und jetzt lasse ich dich fallen!«

Das Klingelzeichen ertönte. In automatischer Reaktion sprang er aus dem Bett, zog die Turnhose an und lief mit den anderen in den Waschraum. In seinem Kopf hinter den Augen pochte ein dumpfer Schmerz, doch als das kalte Wasser an seinen Körper schlug, ließ er etwas nach. Er bemühte sich um klares Denken, keine Sekunde wollte er nachgeben und sich gehenlassen, stets mußte er sich auf seinen Plan konzentrieren. Und auch jetzt stand ihm wieder eine Aufgabe bevor, keine schwere, aber trotzdem eine wichtige – wie jede in dieser Kette von Handlungen, die klar auf ein einziges Ziel gerichtet waren.

Das Innere des Waschraums bestand aus einem Raum, der durch brusthohe Kunststoffwände mehrfach unterteilt war. Im Hintergrund lagen die Toiletten, den Mittelteil bildete die pferchartig abgeschlossene Duschanlage, vorn waren Wasserhähne und Schüsseln in vier langen Reihen angeordnet; zwei von ihnen an den Außenwänden, zwei diesseits und jenseits einer der niedrigen Zwischenbarrieren. Der Boden war von Abflußlöchern durchbohrt und trotzdem mit Pfützen bedeckt.

Jeder Mann besaß ein Handtuch und ein Stück Seife. Die Handtücher wurden jede Woche einmal gegen gereinigte ausgetauscht. Seife konnte jeder beim Mittagsappell anfordern, wenn sie verbraucht war. Die Korporale notierten die ausgegebene Stückzahl und die Empfänger. Abel brauchte ein Stück Seife, oder richtiger gesagt, er brauchte ein zweites Stück. Ein völlig ungebrauchtes – er hatte es erst gestern bekommen – lag schon im Spind, in einem Stiefel versteckt. Er stand mit vielen anderen Unbekannten in einer Reihe; absichtlich hatte er seinen Platz nicht zwischen den Stubenkameraden eingenommen. Der Mann neben ihm benützte ein neues Stück Seife, und das war der Grund, weshalb er sich neben ihn gestellt hatte.

»Mehr Beeilung, ihr müden Krieger!«

Die Schreie der Korporale stießen ins Wassergeplätscher, in die stickige, feuchte, tropfendurchsprühte Luft. Abel hatte das Reststück seiner alten Seife mitgenommen, aber es war präpariert. Aus Glaswolle, Lehm und Talkum hatte er einen Kern geformt und darauf das Reststückchen verschmiert, in einer dünnen glänzenden Schicht aufgetragen, die das matte Innere verbarg.

Er mußte den richtigen Moment abwarten, und den hielt er jetzt für gekommen. Sein Nachbar schien mit dem Waschen fertig zu sein und steckte nun Kopf und Nacken unter den Wasserstrahl, um den Schaum abzuspülen. Seine Seife lag am Rand des Beckens. Abel legte sein präpariertes Stück daneben und nahm das gute des Nebenmannes. Verstohlen blickte er umher ... niemand hatte etwas von dem Tausch bemerkt. Er drehte sich um und rannte davon, in die Unterkunft zurück.

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