14.

Später: Wie viel Zeit genau vergangen war, wußte sie nicht. Aber es mußte eine Menge gewesen sein. Stefan hatte sie ins Wohnzimmer gebracht und auf die Couch gelegt, und danach hatte er nach einem Arzt telefoniert. Jetzt saß er neben ihr, eine große, breitschultrige Gestalt, deren Gegenwart Wärme und Schutz versprechen sollte, es aber nicht tat. Die Furcht, die Vision, der Schrei, der schleichende Terror aus dem Wald, das alles war erloschen, aber dieses absurde Gefühl von Einsamkeit war geblieben. Sie fühlte sich noch immer wie der einzige Mensch auf der Welt, das einzige lebende Wesen auf diesem ganzen Planeten; alle anderen - Stefan, Peter, Carry, waren nichts als Staffage, die nur erschaffen worden war, um sie den Wahnsinn noch deutlicher spüren zu lassen. Es gab nur sie. Sie und das DING. »Beruhige dich erst einmal, Schatz«, flüsterte Stefan. Seine Stimme klang besorgt, und in seinen Augen lag ein mitfühlender, zärtlicher Ausdruck. Seine Hand ruhte auf ihrer Schulter, leicht und doch gleichzeitig kraftvoll und stark. Sie konnte durch den dünnen Stoff der Bluse hindurch fühlen, wie sie im Rhythmus ihrer eigenen Herzschläge zitterte, obwohl Stefan sich Mühe gab, ruhig und gelassen zu erscheinen. Die unnatürliche Blässe seines Gesichts strafte seine Worte Lügen. In seinen Augen flackerte nur noch mühsam unterdrückte Panik. Die Umrisse ihrer Hand zeichneten sich feuerrot auf seiner linken Wange ab. Sie erinnerte sich kaum, ihn geschlagen zu haben. »Was war los?« fragte er. »Was ist passiert, um Gottes willen?«

Sie konnte nicht gleich antworten. Ihr Gaumen war so trocken, daß sie im allerersten Moment nur ein unverständliches Krächzen hervorbrachte. Sie hatte Angst, daß sie wieder schreien würde, wenn sie auch nur versuchte zu sprechen.

»Es - es war gräßlich«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. Allein die Erinnerung an diesen fürchterlichen Laut trieb ihr wieder die Tränen in die Augen. Sie fror, obwohl ihre Bluse schweißgetränkt war.

Sie trank nervös aus dem Glas, das Stefan ihr in die Hand gedrückt hatte, verschluckte sich und hustete. Ihr Blick flatterte unstet.

»Erzähl mir davon«, sagte Stefan. »Wenn du kannst.« Er lächelte, aber seine Augen blieben ernst, und seine Stimme bebte in dem vergeblichen Bemühen, die Angst zu unterdrücken. »Das Wort gräßlich allein reicht vielleicht nicht ganz als Erklärung, meinst du nicht?«

Liz sah auf. Ihre Finger zitterten so stark, daß sie Mühe hatte, das Glas zu halten. »Es war so... so fürchterlich«, schluchzte sie.

»Fürchterlich?« Er beugte sich vor und versuchte Interesse zu heucheln, wo nur Angst war. »Was?«

»Ein ... ein Geräusch«, murmelte sie. »Ein Laut. Ich ... ich habe noch nie einen so grauenhaften Laut gehört. Ich...«

Sie brach ab, erstarrte für einen Moment und sah zuerst Stefan, dann Peter und dann wieder Stefan gleichermaßen verwirrt wie hilfesuchend an. Plötzlich spürte sie, wie erneut Angst in ihr hoch kroch. Sie hatten es nicht gehört. Weder Stefan noch Peter hatten dieses entsetzliche Geräusch GEHÖRT!

In ihre Augen trat ein seltsamer, hilfloser Ausdruck. »Aber - du - du mußt es doch auch gehört haben.« Ihre Stimme bebte; ein lautloser Hilfeschrei klang darin mit. Stefan antwortete nicht; aber das war auch gar nicht notwendig. Der Ausdruck in seinem Gesicht sagte ihr genug. »Du - du hast es gehört«, flüsterte sie. »Bitte, sag, daß du es auch gehört hast. Du mußt es gehört haben!« Sie fuhr hoch. Das Glas fiel zu Boden und zerbrach klirrend. Niemand nahm Notiz davon. Sie starrte Stefan an, sah den Blick seiner Augen und wandte sich fast verzweifelt an Peter, der neben der Tür stand, den Blick betreten zu Boden gerichtet. »Sagen Sie, daß Sie etwas gehört haben, Peter«, flehte sie. »Bitte...«

Er wich ihrem Blick aus, aber die Art, wie er es tat, die Art, wie er mit den Händen rang und mit dem Fuß über den Boden scharrte, sagte genug. Mehr als genug. Sie hatten es nicht gehört!

»Ich muß jetzt wieder gehen«, sagte Peter. »Die Arbeit...«

»Nein!« Liz schrie fast, und Heyning erstarrte mitten in der Bewegung. Er wirkte nervös, auf seine Art ebenso erschrocken wie Liz. Auch Stefan sah sie einen Moment irritiert an, drehte sich dann aber zu Peter um und nickte. »Das ist in Ordnung. Gehen Sie ruhig, Peter. Ich rufe Sie, wenn ich Sie brauche. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Liz riß sich mit aller Macht zusammen, um nicht aufzuschreien. Sie wollte nicht, daß er ging. Er durfte nicht gehen. Wenn er ging, würde er verschwinden, einfach erlöschen wie eine Kerze, die der Sturm aus blies. Es würde ihn einfach nicht mehr geben, weil es die Welt dort draußen in Wirklichkeit nicht gab, weil die Realität jenseits dieser Tür endete und weil...

Sie begriff, daß sie ganz nahe daran war, schon wieder hysterisch zu werden, und zwang sich mit aller Gewalt zur Ruhe. Es war vorbei. Vorbei.

»Du hast ihn verwirrt«, sagte Stefan. »Das solltest du nicht tun.«

»Ich...«

»Was war los?« unterbrach er sie. »Also?«

»Der... Schrei«, sagte sie stockend. Ihre Augen waren unnatürlich geweitet, und ihr Herz begann mit einem Mal so rasend schnell zu hämmern, daß sie die Schläge bis in Finger- und Zehenspitzen zu spüren glaubte.

»Schrei?« wiederholte Stefan. »Der gleiche wie gestern?«

Sie nickte. Unsicher beugte sie sich vor, hob das Glas vom Boden auf und lehnte sich wieder zurück. Ihre Hände umklammerten es so fest, daß die Knöchel weiß hervortraten. Sie saß zusammengesunken auf der Couch, lauschte auf das wahnwitzige Hämmern ihres eigenen Herzens und fragte sich zum hundertsten Mal, ob sie verrückt geworden war. Lange Zeit sagte sie nichts, dann, mit einer plötzlichen, ruckartigen Bewegung flog ihr Kopf hoch. »Der Hund«, stieß sie hervor. »Carry. Er hat es auch gehört! Du weißt, wie er gebellt hat. Er muß es gehört haben. Und ihr.«

Aber sie las die Antwort in seinem Gesicht. Er hatte es nicht gehört. Niemand hatte es gehört.

Stefan rückte ein Stück näher zu ihr und drückte sie an sich. »Es wird alles wieder gut, Liebes ...«, flüsterte er. »Jetzt beruhige dich erst einmal. Ich habe den Arzt angerufen. Er müßte bald hier sein.«

Sie stieß ihn mit überraschender Heftigkeit von sich. Ihre Augen blitzten. »Ich brauche keinen Arzt«, schrie sie mit überschnappender Stimme. »Ich bin nicht verrückt, wenn du das meinst.«

»Das meine ich nicht«, antwortete er mit einer Ruhe, die sie noch wütender machte. »Und das weißt du genau. Du hast irgend etwas gehört, bitte. Ich habe nichts gehört und Peter auch nicht. Aber das bedeutet nicht, daß du verrückt bist.«

»Und der Hund?« fuhr sie auf.

»Ich habe ja nicht behauptet, daß da nichts war«, erwiderte Stefan ruhig. »Peter und ich haben nichts Außergewöhnliches gehört oder gesehen, aber das heißt nicht, daß wirklich nichts da war. Vielleicht hast du nur ein feineres Gehör als wir. Außerdem war ich im Haus und habe auf meiner Schreibmaschine herumgehämmert, und Peter war mit seinem Traktor beschäftigt. Gut möglich, daß wir es überhört haben.« Liz starrte ihn fassungslos an. Sein Gesicht war ernst, aber sie glaubte ihm. Er glaubte, was er sagte. Es war keine fromme Lüge. Stefan war gar nicht fähig zu so einer Handlung. Er war fair, auch wenn er unglaublich hart sein konnte, manchmal. Aber bevor er ein Urteil über jemanden fällte, gab er ihm jede nur erdenkliche Chance, so wie jetzt ihr. Er sagte all dies nicht einfach so daher, nur um sie zu beruhigen. Er zählte Fakten auf, wog sie gegeneinander ab, versuchte herauszufinden, was wirklich geschehen war. Er war geradezu ekelhaft fair, in diesem Moment. Er baute ihr eine Brücke, zeigte ihr einen Ausweg, eine logische Erklärung, wie es gewesen sein könnte.

»Beruhige dich, Liebling«, sagte er sanft. »Es wird sich eine ganz einfache Lösung finden, irgendwie.« Er fuhr zärtlich mit den Fingern durch das Haar, hauchte einen Kuß auf ihre Stirn und drückte kurz und beinahe schmerzhaft fest ihre Hand. »Vielleicht bist du auch einfach nur überarbeitet«, sagte er. »Es war alles zu viel für dich. Die schwere Arbeit, das Haus, der Garten ... Ich glaube, alles, was dir fehlt ist eine Woche Urlaub. Ruhe.«

Sie schwieg. Sie wußte, was sie gehört hatte, aber sie konnte nichts sagen. Jedes Wort, das sie hätte sagen können, hätte alles nur schlimmer gemacht. Und doch... er mußte es gehört haben. Er mußte!

»Ich werde den Arzt fragen«, sagte Stefan ernsthaft.

»Wenn er nichts dagegen einzuwenden hat, fahren wir gleich morgen ab. Ich kann den Roman genauso gut in einem gemütlichen Hotelzimmer in Hamburg fertig schreiben.« Plötzlich lächelte er, wie jemand, dem gerade ein besonders guter Einfall gekommen war. »Was hältst du davon, deine verrückte Freundin Gabi und ihren kaum weniger verrückten Mann Rainer wieder einmal zu besuchen? Versprochen haben wir es schon lange.«

Liz fuhr mit überraschender Heftigkeit auf. »Aber das will ich nicht! Ich will nicht, daß du meinetwegen...«

»Und ich will nicht, daß du dich meinetwegen überanstrengst«, unterbrach er sie. »Mach dir doch nichts vor. Du hast zu viel von dir verlangt, und jetzt bekommst du die Quittung.«

»Aber Stefan, ich habe es gehört, verstehst du? Gehört!Ich bilde mir nichts ein. Das... das Geräusch war da!« Sie sprang auf, hob die Arme und sank mit einem halb unterdrückten Schluchzen wieder zurück. »Es war da«, wimmerte sie.

Stefan schwieg einen Moment, und in sein Gesicht trat ein undefinierbarer Ausdruck, etwas, vor dem sie erschrak, plötzlich und ohne es sich selbst erklären zu können. »Ich glaube dir ja«, sagte er beruhigend. »Ich glaube dir, daß du etwas gehört hast. Ich glaube dir, daß du es wirklich gehört hast, daß du es dir nicht nur einbildest. Aber ich will gar nicht wissen, was es war.«

Er nahm sie an den Schultern und schob sie auf Armeslänge von sich. »Sieh mal, Schatz. Nehmen wir an, du hast dort draußen wirklich etwas gehört, während ich hier auf meiner Schreibmaschine randaliert habe und Peter mit seinem Spielzeug beschäftigt war. Aber - ganz egal, was es war: Noch vor drei, vier Minuten hättest du gelacht. Wenigstens hättest du nicht so ohne weiteres einen Nervenzusammenbruch erlitten. Du bist einfach am Ende deiner Kräfte.

Und es ist meine Schuld«, fügte er etwas leiser und nach einer kaum merklichen Pause hinzu.

»Wieso? Ich ...«

»Doch. Ich weiß, was du sagen willst, aber es ist meine Schuld. Ich bin ein Idiot, Liz. Ich habe mich die letzten sechs Monate hier oben in meinem Arbeitszimmer vergraben, seitenweise Papier voll gekritzelt und gar nicht gemerkt, wie du dich zugrunde richtest.«

»Jetzt redest du Unsinn«, sagte sie lahm. Aber irgendetwas sagte ihr, daß er nicht einmal so völlig unrecht hatte;wenn auch aus ganz anderen Gründen, als er selbst an nahm.

Er schüttelte ernst den Kopf. »Oh, nein. Ich war noch nie so vernünftig wie in diesem Augenblick. Ich glaube, ich habe mir wirklich eingebildet, du könntest aus eigener Kraft aus dieser Ruine hier wieder ein funktionierendes Heim machen.«

»Unsinn«, sagte sie. »Du hast mehr getan als ich. Du ...«

»Vierzehn Tage geackert wie ein Wahnsinniger, ja«, unterbrach er sie. »Ich habe mir die schweren Sachen herausgepickt, ein paar Kraftakte vollbracht und meine Muskeln spielen lassen und bin mir auch noch toll dabei vorgekommen. Es tut mir leid, Schatz. Ich... ich habe wohl nicht begriffen, wie aufreibend dein tägliches Einerlei war. Und dann noch die Sache gestern.« Er schüttelte den Kopf. »Du bist nun mal kein Herkules. Es hätte mir klar sein müssen, daß du irgendwann einmal am Ende deiner Kräfte angelangt sein würdest. Sei froh, daß es so glimpflich abgegangen ist.«

»Glimpflich?« Sie keuchte.

»Es hätte schlimmer kommen können«, sagte er. »Du ...« Er brach ab, als vom Hof das Geräusch eines Wagens hereindrang, und stand auf. »Das wird der Arzt sein«, vermutete er.

»Schick ihn weg«, verlangte Liz.

»Wie bitte?«

»Schick ihn weg, bitte. Ich möchte nicht, daß die ganze Gegend erfährt, daß ich mich wie eine hysterische Ziege verhalten habe.«

Stefan lächelte. »Erstens hast du dich nicht wie eine hysterische Ziege verhalten. Du benimmst dich allerhöchstens jetzt wie ein störrisches Kind, aber das konntest du ja schon immer gut. Und zweitens gibt es so etwas wie eine ärztliche Schweigepflicht, falls ich dich daran erinnern darf.«

»Wieso ... ist er jetzt schon da?« murmelte Liz verstört. »Habe ich...«

Sie stockte. »Ist es ... schon so lange her?« Gott, hatte sie wieder Zeit verloren? Ein neuer Blackout?

»Lange?« Stefan blickte sie verwirrt an, dann schüttelte erden Kopf und lächelte. »Nein. Ich habe nur mit seiner Frau telefoniert, vorhin. Wahrscheinlich hat sie ihn bei irgendeinem seiner anderen Patienten erwischt, hier in der Nähe. Oder er hat Funk im Wagen.«

»Ich will nicht, daß er mich so sieht!«

»Wie?« fragte Stefan. »Krank?«

»Hysterisch«, erwiderte Liz.

»Du bist krank«, beharrte Stefan. »Und niemand wird auch nur ein Sterbenswörtchen von dem erfahren, was hier vorgefallen ist, wenn du es nicht selbst herum erzählst. Der Arzt darf überhaupt nichts davon erzählen, das weißt du doch.«

Sie wollte ihm sagen, was sie von der ärztlichen Schweigepflicht hier hielt, aber das Eintreten des Doktors hinderte sie daran.

Doktor Swensen machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen oder Zeit mit irgendwelchen anderen Förmlichkeiten zu verschwenden. Er war ein alter, kurzbeiniger Mann mit einem roten Weihnachtsmanngesicht und dicken Wurstfingern, die kaum so aussahen, als könnten sie ein Schlachtermesser richtig führen, geschweige denn ein ärztliches Instrument. Sein Anzug schien die letzten beiden Weltkriege mitgemacht zu haben, und unter seinem Gesicht wackelte ein Doppelkinn, das ihm einen plumpen, schwer fälligen Anstrich gab. Er kam herein, ohne anzuklopfen, warf seinen Hut auf einen freien Stuhl und hinterließ eine Schmutzspur auf dem weißen Teppich, während er auf die Couch zusteuerte. Liz hatte ihn bisher einmal flüchtig gesehen - sie erinnerte sich nicht mehr, wo - und dabei seinen Namen auf geschnappt, aber die Zeit, die sie bis jetzt hier lebten, war zu kurz gewesen, als daß sie seine Hilfe hätte in Anspruch nehmen können. Sie wollte es auch nicht; schon gar nicht jetzt.

»Das ist unsere Patientin, wenn ich mich nicht irre«, sagte er jovial. Es klang unecht, und Swensen gab sich nicht einmal sonderlich Mühe, um den Anschein zu erwecken, daß seine Worte mehr waren als eine bloße Floskel, die er vermutlich bei jedem Hausbesuch von sich gab.

Liz starrte ihn feindselig an, aber das schien ihn nicht sonderlich zu stören. Er lächelte, stellte seine abgewetzte Arzttasche auf den Tisch und legte seine dicken Finger auf ihre.

Seine Hände fühlten sich feucht und verschwitzt an. Liz zog ihre Hand zurück und rückte ein Stück von ihm weg. »Wo fehlt's denn?« fragte Swensen noch immer in diesem jovialen, aufreizenden Ton, der ihre Abneigung noch verstärkte. »Nirgends«, sagte Liz wütend. »Ich brauche keine Hilfe.«

Swensen lächelte milde. »So sehen Sie mir aber ganz und gar nicht aus«, sagte er. »Im Gegenteil. Was ist passiert? Ein Unfall?«

»Ich habe ein Gespenst gesehen«, antwortete Liz wütend. »Das war alles. Wenn Sie das unter dem Wort Unfall verstehen, dann war es einer, ja.«

Swensen sah auf und tauschte einen fragenden Blick mit Stefan, ehe er sich wieder Liz zuwandte, ein Stück näher rutschte und erneut ihre Hand ergriff. Diesmal ließ sie es geschehen. »Ihr Mann hat am Telefon etwas von einem Nervenzusammenbruch erzählt«, sagte er. »Nach dem, was ich jetzt sehe, scheint mir das ein wenig übertrieben. Aber immerhin... ganz in Ordnung sind Sie nicht, mein Kind. Ein Gespenst, sagen Sie. Welche Art von Gespenst?« Es dauerte einen Moment, bis Liz begriff, daß er sich keineswegs über sie lustig machte, sondern diese Frage in vollem Ernst stellte. Sie glaubte nicht einmal, daß er sie für hysterisch oder übergeschnappt hielt - für ihn war einfach alles, was er hörte, Symptom einer Krankheit, und er fragte nach, um sich Klarheit über ihre Art und Schwere zu verschaffen.

»Es war ... keine... keine Halluzination«, antwortete sie zögernd, »wenn Sie das meinen. Ich ... ich dachte, ich hätte etwas gehört.«

»Ein Geräusch?«

»Gibt es noch etwas anderes, was man hören kann?«

Swensen blieb ernst. »Sie haben etwas gehört«, wiederholte er. »Und das hat Ihnen angst gemacht.«

Sie nickte widerwillig. »So ungefähr... Aber ich fühle mich schon wieder ganz gesund. Sie verschwenden Ihre Zeit, Doktor.«

Swensen zuckte gleichmütig die Achseln. »Kaum. Höchstens das Geld Ihres Mannes.« Er grinste, als hätte er einen guten Witz gemacht, und begann mit schnellen, routinierten Bewegungen, ihren Ärmel aufzurollen.

»Sie brauchen mich nicht zu untersuchen«, sagte Liz. Sie versuchte, den Arm zurückzuziehen, aber Swensen hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest.

»Ich weiß. Aber ich tue es trotzdem. Haben Sie doch Mitleid mit einem armen Landarzt. Und etwas muß ich doch auf die Rechnung schreiben, oder?«

Gegen ihren Willen mußte Liz lachen. Sie zögerte noch einen Moment, legte sich dann zurück und ließ es zu, daßer sie gründlich untersuchte. Sie empfand noch immer ein starkes Unbehagen dabei; allein die Berührung seiner plumpen, verschwitzten Hände war ihr unangenehm. Aber sie begriff auch, daß dieser Widerwille gar nicht Swensen persönlich galt - jede Berührung wäre ihr in diesem Moment zuwider gewesen, selbst die Stefans. Ganz im Gegenteil schwand ihre Abneigung gegen Swensen jetzt rasch, zumal sie zu spüren glaubte, daß er sein Handwerk wirklich verstand. Sein Aussehen und seine Bewegungen erinnerten sie noch immer mehr an einen Metzger gesellen als an einen Arzt, aber er untersuchte sie schnell und routiniert, stellte eine Menge präziser, knapper Fragen und schien keine Bewegung zu machen, die überflüssig war.

Es war eine völlig neue Erfahrung für Liz - Swensen war ein Arzt von gänzlich anderer Art, als sie es gewohnt war. Aber sie war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob seine Art wirklich schlechter war. Sie hätte sich ihm nicht anvertrauen wollen, wenn sie irgendeine exotische oder kompliziert zuerkennende Krankheit gehabt hätte, aber für die Rolle, die er hier zu spielen hatte, schien er perfekt. Und er strahlte etwas aus, was vielleicht ebenso wichtig war wie das überlegene Fachwissen seiner Kollegen in der Stadt: Sicherheit. So unangenehm ihr seine Berührung noch immer war, erfüllte sie sie doch gleichzeitig mit Ruhe. Irgendwie fühlte sie sich... beschützt, einfach dadurch, daß er da war.

Als er fertig war, packte er seine Instrumente umständlich wieder zusammen und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück. Sein Blick ruhte lange auf ihrem Gesicht, und Liz vermochte nicht zu sagen, ob das, was sie darin las, nun Spott oder Sorge oder Erleichterung war oder von allem ein bißchen.

»Nun, Doktor?« fragte sie schließlich. »Wie lange habe ich noch zu leben?« Swensen sah sie nachdenklich an. »Schwer zu sagen«, antwortete er ernst. »Ich bin kein Spezialist für solche Fälle.« Er überlegte einen Moment angestrengt. »Vielleicht... vielleicht fünfzig Jahre - ungefähr«, sagte er schließlich. »Aber das ist nur eine Schätzung, ohne Gewähr. Machen Sie mich nicht dafür verantwortlich, wenn es länger dauert.« Er lächelte flüchtig, wurde aber sofort wieder ernst und sah sie abermals auf diese sonderbare Art an.

»Tz, tz«, machte er. »Organisch sind Sie gesund wie ein Pferd, wenn Sie mir den Vergleich gestatten. Vielleicht ein wenig überanstrengt.«

»Siehst du«, triumphierte Stefan, »was habe ich gesagt!«

»Aber nicht sehr schlimm«, fuhr der Arzt ungerührt fort. »Auf keinen Fall so, daß dies ein Grund für einen Nervenzusammenbruch wäre. Nicht bei einer so jungen, kräftigen Frau. Aber irgendeinen Grund muß es ja wohl gegeben haben. Vielleicht erzählen Sie mir, was vorgefallen ist.«

Liz zögerte. Allein der Gedanke, darüber reden zu müssen - mit einem wildfremden Menschen wie Swensen noch dazu -, bereitete ihr Unbehagen. Aber schließlich überwand sie sich und erzählte ihm alles, stockend und mit sichtlicher Überwindung zuerst, dann immer schneller und hastiger, als könnte sie nun, da der Bann einmal gebrochen war, den Redefluß nicht mehr aus eigener Kraft stoppen, ehe nicht alles, aber auch wirklich alles heraus war. Sie ließ nichts aus, begann bei dem Vorfall vom vergangenen Morgen, erzählte von ihrem seltsamen Erlebnis im Wald und endete mit dem heutigen Zwischenfall. Sie erzählte nur zwei Dinge nicht - nichts von der blutenden Tür (daran erinnerte sie sich noch immer nicht), und nichts von dem Mitternachtssee und seinem entsetzlichen Bewohner, obwohl ihr klar war, daß ihr Zusammenbruch Swensen ohne dieses Wissen noch rätselhafter erscheinen mußte, denn so war er völlig unmotiviert. Aber sie war mittlerweile felsenfest davon überzeugt, daß zumindest dieser Teil ihrer Erlebnisse pure Einbildung war. Sie war niemals dort im Wald gewesen. Es war so, wie die Stimme des DINGS gesagt hatte: Das Ungeheuer war in ihr.

»Das ist... interessant«, murmelte Swensen, als sie geendet hatte. Er lächelte. »Aber auch ziemlich verrückt, nicht?«

»Vielleicht spinne ich auch einfach nur«, antwortete Liz.

»Oh, das meine ich nicht«, erwiderte Swensen. Er lächelte, setzte sich ein wenig bequemer hin und tippte sich gegen die Schläfe. »Ab und zu rastet es bei jedem von uns mal aus, da oben«, erklärte er ernsthaft. »Aber das allein ist gar nicht schlimm. Schlimm wird es erst, wenn man die Sache einfach übergeht. So etwas ist meistens ein Warnzeichen. Geistiger Schmerz, wenn Sie so wollen. Er kann harmlose Ursachen haben.«

»Oder auch nicht.«

»Oder auch nicht«, bestätigte Swensen ungerührt. Er seufzte. »Ich fürchte, ich bin kaum der richtige Partner für dieses Gespräch, mein liebes Kind. Ich bin ein einfacher Knochenflicker, kein Seelenklempner. Andererseits...«

»Sie meinen, ich sollte zu einem Irrenarzt gehen?« fragte sie spitz.

Swensen seufzte abermals. Sein Blick wurde vorwurfsvoll. »Es ist immer dasselbe mit euch jungen Leuten«, murmelte er. »Warum lassen Sie einen armen alten Pferdedoktor wie mich nicht einfach einmal aussprechen? Was Ihnen fehlt, sind allenfalls ein paar Unterrichtsstunden in gutem Benehmen, kein Irrenarzt.«

»Entschuldigung«, murmelte Liz. »Ich wollte Sie nicht beleidigen.«

»Das haben Sie auch nicht«, antwortete Swensen verzeihend. »Was ich sagen wollte, war, daß ich prinzipiell dagegen bin, einen kleinen Zwischenfall wie diesen künstlich hochzuspielen. Es wäre ein Fehler, ihn zu ignorieren, aber es wäre genauso falsch, mehr hineinzugeheimnissen, als darin ist. Wenn er sich wiederholt, müssen wir vielleicht anfangen, uns Gedanken zu machen. Aber im Moment bin ich eher der Meinung, daß Ihr Mann recht hat und Sie schlicht und einfach überarbeitet sind. Ihre Nerven scheinen mir ein wenig angegriffen, aber ich denke, das legt sich wieder. Ihr Mann sagte, er will Sie für ein paar Tage in die Stadt bringen?« Sie nickte störrisch. »Gegen meinen Willen, ja.«

»Nun«, Swensen lächelte ironisch, »normalerweise verfahren wir ja so, daß wir Leute, die dringend der Erholung bedürfen, aus der Stadt auf das Land schicken. Aber in Ihrem Fall scheint es umgekehrt zu gehen. Versuchen Sie es ruhig. Vielleicht tut es Ihnen gut, einmal alte Freunde wiederzusehen und ein bißchen Kohlenmonoxid zu schnuppern.« Er grinste. »Und ich dachte immer, das Stadtleben macht krank.«

»Jedwedes Leben macht krank«, erwiderte Swensen ruhig. »Ich persönlich kenne niemanden, der nicht irgendein Zipperlein hätte - außer ein paar ehemaligen Patienten von mir, die jetzt draußen auf dem Friedhof liegen. Sie haben Ihre Kräfte überschätzt, junge Dame. Es ist nicht immer einfach, so von heute auf morgen seine Koffer zu packen und ein vollkommen neues Leben anzufangen. Da können sich nervliche Belastungen ergeben, die man nie erwartet hätte. In der ersten Zeit, wenn noch alles neu und fremd ist, merkt man vielleicht nichts davon, aber der Druck ist da. Er staut sich auf, wird stärker und stärker, ohne daß man etwas davon spürt, und eines Tages...« Er seufzte, stand auf und klappte seine Tasche zusammen. »Ich lasse Ihnen ein leichtes Schlafmittel hier«, sagte er, während er aufstand und nach seinem Hut griff. »Ich glaube nicht, daß Sie es brauchen - aber für alle Fälle. Und - machen Sie sich keine Sorgen. In ein paar Tagen sind Sie wieder auf dem Damm.«

»Wie beruhigend.«

Swensen überhörte den sarkastischen Unterton geflissentlich, lächelte ihr noch einmal zu und wandte sich an Stefan. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich den Krankenschein...«

»Kein Krankenschein«, unterbrach ihn Stefan. »Wir sind privat versichert. Schicken Sie mir die Rechnung zu.«

»Privat?« Swensen lächelte geradezu unverschämt. »Wie erfreulich. Dann hat sich der Weg ja vielleicht doch noch gelohnt.«

Stefan blickte ihn reichlich verdutzt an, überlegte einen Moment sichtbar angestrengt, was er antworten sollte, und rettete sich schließlich in ein säuerliches Grinsen. »Wie Sie meinen«, murmelte er. »Ich... bringe Sie noch zum Wagen.«

Swensen lehnte mit einer hastigen Handbewegung ab. »Ich kenne den Weg. Sie bleiben bei Ihrer Frau. Schicken Sie sie heute abend früh ins Bett, und sorgen Sie dafür, daß sie in den nächsten Tagen nicht allzu schwer arbeitet. Am besten gar nicht.« Stefan nickte. »Das werde ich tun. Verlassen Sie sich darauf.« Er begleitete Swensen zur Tür, wartete, bis er gegangen war, und drehte sich wieder zu Liz um. »Du hast gehört, was er gesagt hat.«

»Ja, und?«

»Fahren wir gleich heute? Oder lieber morgen, wenn du dich ein wenig ausgeruht hast?« fragte er.

Sie zog eine Grimasse und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Finger zitterten. »Überhaupt nicht«, sagte sie nach einem tiefen Zug. Der Rauch schmeckte nicht. Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde, als wäre es die erste Zigarette ihres Lebens. Am liebsten hätte sie sie auf der Stelle wieder ausgedrückt, sie hatte plötzlich die absurde Idee, daß Stefan es bemerken und als ein neuerliches Zeichen von Schwäche auslegen könnte.

»Wie?« machte er überrascht. »Ich dachte, das wäre klar.«

Sie nickte, schnippte ihre Asche in den Aschenbecher und starrte aus dem Fenster. »Sicher. Sowie dein Buch fertig ist, und keinen Tag eher.«

»Aber...«

»Ich möchte nicht darüber diskutieren«, sagte sie scharf.

Ihre Blicke trafen sich, und diesmal hielt sie dem stummen Duell stand. »Wirklich, Stefan - ich freue mich auf den Urlaub, aber ich möchte, daß du erst dein Buch zu Ende schreibst. Du hast in den letzten Tagen so schöne Fortschritte gemacht.« Stefan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und du glaubst, es kommt jetzt noch auf ein paar Tage an?«

Sie nickte. »Ja. Ich möchte nicht, daß du Pfusch ablieferst, nur um mir zu helfen. Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn...«

»Unsinn«, unterbrach sie Stefan. Er sprach ein wenig lauter, und in sehr viel schärferem Tonfall als bisher. Ein Gutteil seiner Freundlichkeit und Besorgnis war verflogen, im gleichen Moment, in dem Swensen gegangen war. »Ich will nichts mehr hören, Punkt. Wir fahren, und zwar nicht morgen, sondern heute noch.«

»Aber du...«

»Schluß«, unterbrach sie Stefan erneut. Er lächelte, aber in seinen Augen war etwas, was das Gegenteil behauptete. Ein kaltes, hartes Glitzern, das Liz frösteln ließ. »Und der Hof?« fragte sie. »Die Arbeit hier...«

»Wir haben jetzt Peter«, fiel er ihr ins Wort. »Er macht alles dreimal so gut wie du, und er wird dafür bezahlt. Du ruhst dich aus.«

Liz widersprach nicht mehr. Sie spürte, daß es keinen Sinn hatte; alles, was dabei herauskommen würde, wäre ein handfester Streit. Irgendwie wußte sie, daß es keinen Sinn hatte.

Und es war letztendlich sogar egal.

Sie hatte ihn belogen. Die Sorge um sein Buch war nicht der Grund. Überhaupt nicht. Sie wußte, daß er es ebensogut in einem Hotel in Hamburg zu Ende schreiben konnte wie hier. Er gehörte nicht zu den Schriftstellern, die nur unter bestimmten Bedingungen oder in einer ganz bestimmten Umgebung arbeiten konnten.

Der wahre Grund war ein anderer.

Sie war sich jetzt ganz sicher, daß sie sich das Geräusch nicht eingebildet hatte, und sie wußte jetzt auch mit absoluter Bestimmtheit, ohne einen Grund für dieses Wissen angeben zu können, daß ihr seltsames Abenteuer im Wald nicht allein ein Resultat ihrer überreizten Nerven gewesen war. Und obwohl ihr allein der Gedanke daran beinahe Übelkeit bereitete, obwohl sie allein bei der Erinnerung wieder panische Angst in sich aufsteigen fühlte, hatte sie sich entschlossen, das Geheimnis zu lüften. Ihr Entschluß hatte nichts mit Mut zu tun; gewiß nicht. Aber sie wußte mit der gleichen unerschütterlichen Gewißheit, daß weder ihr Urlaub noch alles gute Zureden von Stefan oder alle Tabletten und Medikamente nutzen würden. Das DING im See würde auf sie warten. Ganz egal, was mit ihr geschah und vielleicht noch geschehen würde - sie würde es durchstehen müssen. Es gab Dinge, vor denen man nicht fliehen konnte, gleich, wohin und wie weit man auch lief.

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