34.

Ein leises Klopfen an der Schlafzimmertür weckte sie. Sie war noch einmal eingeschlafen, konnte sich aber nicht erinnern, wann. Für einen Moment fühlte sie sich verwirrt und desorientiert. Sie fühlte sich verschwitzt und klebrig, als hätte sie lange Zeit in ihren Kleidern geschlafen. Sie fuhr sich verwirrt mit der Hand über die Augen. Das Bett neben ihr war noch unbenutzt. Stefan hatte nicht darin geschlafen. Es war also noch nicht wieder Morgen.

Es klopfte noch einmal.

Sie stand auf, ging unsicher und benommen zur Tür und drückte die Klinke herunter. Auf dem Korridor stand Stefan, ein Tablett mit Kaffee und Broten balancierend. »Hallo«, sagte er aufgeräumt. »Endlich wach?« Er schob die Tür mit dem Ellbogen weiter auf, zwängte sich an ihr vorbei und setzte sein Tablett auf dem Nachtschränkchen ab. Der verlockende Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase.

»Was... wird das, wenn du fertig bist?« fragte Liz verwirrt. »Und seit wann klopfst du an?« Sie war noch nicht ganz wach, aber ein Teil ihres Bewußtseins begriff, daß es wieder Stefan war, dem sie gegenüberstand, kein grunzendes Ding, das sich allmählich in ein Tier verwandelte. Natürlich - es war nur ihr Zustand gewesen - und diese vermaledeite Spritze, die ihr Swensen gegeben hatte. Plötzlich war sie sehr froh, die Tabletten nicht genommen zu haben.

Stefan ging wortlos zur Tür zurück, schloß sie und deutete mit einer Kopfbewegung aufs Bett. »Leg dich wieder hin.«

»Aber...«

»Keine Widerrede«, sagte Stefan mit gespielter Strenge. »Du bist krank, und ich habe mir vorgenommen, dich zu bemuttern. Also sei kein Spielverderber und tu wenigstens so, als ob du dich freust. Und jetzt setz dich und trink deinen Kaffee. Du siehst aus, als könntest du ihn gebrauchen.«

»Vielen Dank für das Kompliment«, murmelte Liz, ließ sich aber trotzdem gehorsam auf die Bett kante sinken und nippte an ihrer Tasse. Sie sah nicht nur so aus, sie fühlte sich auch, als könnte sie mehr als nur eine Tasse Kaffee vertragen. Er war heiß und schwarz und bitter, aber sie zwang sich, mit vorsichtigen kleinen Schlucken zu trinken und sich auch noch eine zweite Portion einzuschenken. Das taube Gefühl zwischen ihren Schläfen wollte nicht weichen, und sie fühlte sich kraftlos und auf seltsam unangenehme Art schwach.

Stefan sah ihr eine Weile wortlos zu, dann lehnte er sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte an ihr vorbei zum Fenster. »Ohlsberg hat vorhin angerufen«, sagte er plötzlich.

»Ohlsberg?« Liz kramte eine Weile in ihrem Gedächtnis. Alles, was heute vormittag geschehen war, erschien ihr seltsam fremd und unscharf. Ohlsberg ... irgend etwas klingelt ein ihrem Gehirn, als sie den Namen hörte, aber zum Teufel, sie wußte nicht, was? Was für ein Teufels zeug hatte Swensen ihr da nur gespritzt? »Was wollte er?« fragte sie matt.

Stefan lächelte, aber es wirkte sehr gequält. »Er hat tatsächlich Erkundigungen eingezogen. Ich fürchte, ich muß mich bei dem armen Kerl entschuldigen. Ich habe ihm unrecht getan.«

Oh, dachte Liz enttäuscht. Sie hatte sich also nicht geirrt. Alles war wieder beim alten. »Wieso?« fragte sie zwischen zwei Schlucken. Mit einem Mal fühlte sie sich wieder angespannt und nervös. Ihre Erinnerungen kamen schlagartig zurück und mit ihnen die Angst. Ohlsberg. Andy. Der tote Hund.

»Was ist passiert?«

»Eine Menge«, antwortete Stefan. »Wir sind nicht die einzigen, deren Hof überfallen wurde. Auf einem Nachbargehöft wurde ein Schaf gerissen, und einer der Bauern hat fast seine gesamten Hühner verloren. Wir waren nur die einzigen, die Anzeige erstattet haben. Es sieht so aus, als ob sich ein wildernder Hund in der Gegend herumtreibt.«

»Ein Hund?« wiederholte Liz verblüfft. Das war lächerlich. Für einen winzigen, schreckerfüllten Moment sah sie noch einmal Carrys zerfetzten Körper vor sich, die verdrehten Glieder, den mächtigen, wie von einem gigantischen Hammer zermalmten Schädel... Nein. Kein Hund konnte so etwas tun. Nicht in der kurzen Zeit. Es hatte nur Sekunden gedauert!

»Genauso habe ich auch reagiert«, fuhr Stefan fort. »Aber er könnte recht haben. Carry war zwar ein riesiger Hund, aber diese Streuner sind meistens besonders kräftige Exemplare. Sie müssen es sein, sonst würden sie nicht lange überleben, weißt du. Meistens sind es böse alte Einzelgänger, die alles angreifen, was sich ihnen in den Weg stellt. Gegen einen solchen Killer hätte Carry keine Chance gehabt.«

»Aber es ging so schnell...«, sagte Liz. Stefans Worte klangen durchaus logisch, aber irgend etwas sagte ihr, daßer trotzdem unrecht hatte. Was immer es gewesen war - es war kein Hund. Und es lauerte immer noch dort draußen.

»Sie werden ihn jagen«, sagte Stefan. »Es ist nicht das erste Mal, daß ein Streuner die Gegend unsicher macht. Sie werden ihn erledigen. Du wirst sehen, in ein paar Tagen ist der ganze Alptraum vorbei.« Er lächelte, stand auf und nahm ihr mit sanfter Gewalt die Kaffeetasse aus der Hand.

Liz sah ihn verwirrt an. »Was soll das?«

»Ich dachte, wir gehen nach unten. Oder willst du weiter schlafen?«

Liz überlegte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf und stand auf. Wenigstens versuchte sie es.

Das Zimmer begann sich um sie zu drehen. Der Boden zitterte, ihre Knie wurden weich, sie taumelte, griff haltsuchend nach dem Bett und verfehlte es und wäre gestürzt, wenn Stefan nicht blitzschnell zugegriffen und sie aufgefangen hätte. »Alles in Ordnung?« fragte er erschrocken.

»Nein, verdammt noch mal.« Liz keuchte, machte sich wütend aus seinem Griff frei und krümmte sich stöhnend auf der Bett kante. »Was für einen verdammten Mist hat dieser Pferdedoktor mir da gespritzt?« stöhnte sie.

»Nur ein Beruhigungsmittel«, antwortete Stefan ernst. »Allerdings ein ziemlich starkes. Vielleicht legst du dich besser doch wieder hin.«

»Zum Teufel noch mal, nein!« fauchte Liz. Sie versuchte wieder aufzustehen. Stefan postierte sich mit griffbereit ausgestreckten Händen hinter ihr, und vielleicht war es gerade das, was ihr die Energie gab, aus eigener Kraft zu stehen. Sie war kein Wickelkind mehr, verdammt. Und sie würde sich nicht von irgendeiner Scheiß spritze unterkriegen lassen!

Mehr taumelnd als gehend erreichte sie die Tür, blieb einen Moment keuchend gegen den Rahmen gelehnt stehen und machte eine wütende Kopfbewegung, als Stefan sie stützen wollte - mit dem Ergebnis, daß ihr auf der Stelle noch schwindeliger wurde. Trotzdem - verfluchter Stolz - schlug sie Stefans ausgestreckte Hand abermals beiseite, als sie weiterging.

Hinterher wußte sie kaum, wie sie die Treppe nach unten geschafft hatte. Ohne daß sie im ersten Moment selbst sagen konnte, warum, hatte sie auf den letzten Stufen fast panische Angst, Andy zu begegnen. Sie war in Schweiß gebadet und zitterte, als sie den Korridor im Erdgeschoß erreichte, und als Stefan ihr noch einmal den Arm hinhielt, schlug sie ihn nicht mehr aus, sondern stützte sich dankbar auf ihn, während er sie zum Wohnzimmer führte.

Eine Sekunde später wünschte sie sich, es nicht getan zu haben.

Sie waren nicht allein. Auf der anderen Seite des Zimmers vor dem Fenster stand ein grauhaariger Mann mit einem Weihnachtsmanngesicht, und auf dem Glastisch vor der Couch prangte eine wohl bekannte, abgewetzte schwarze Tasche.

»Swensen?« entfuhr es ihr. »Sie ...«

»Ich habe gesagt, daß ich noch einmal vorbei schaue und nach Ihnen sehe«, erklärte der Arzt lächelnd und kam auf sie zu. »Versprochen ist versprochen.«

Liz wich vor seinen ausgestreckten Händen zurück, aber nur einen Schritt, denn hinter ihr stand Stefan, der sie an den Schultern festhielt.

»Das ist... sehr aufmerksam von Ihnen«, sagte Liz stockend. Sie versuchte Stefans Hände abzustreifen, aber sein Griff war zu fest, als daß sie es tun konnte, ohne grob zu werden. Und sie war sich nicht einmal sicher, ob er sie nun hielt, weil er Angst hatte, daß sie wieder fallen könnte - oder ob er sie festhielt, damit sie nicht vor dem Arzt floh!

»Es ist mein Beruf, aufmerksam zu sein«, erklärte Swensen lächelnd. »Wie fühlen Sie sich?«

Liz ignorierte seine Frage. »Sie hätten sich den Weg sparen können«, sagte sie. »Ich bin schon wieder ganz in Ordnung.«

Swensen seufzte. Er sah richtig enttäuscht aus. »Immer dasselbe«, stellte er fest. »Warum überlassen Sie es nicht mir, die Diagnose zu stellen? Legen Sie sich hin.« Er machte eine Kopfbewegung zur Couch, und Stefan schob sie dorthin, nun schon mit etwas mehr als sanfter Gewalt, und zwang sie, sich zu setzen. Liz fand es nicht der Mühe wert, zu protestieren. Nicht gegen ihn.

Aber gegen den Arzt. Als Swensen sein Stethoskop aus der Tasche zog und Anstalten machte, ihre Bluse aufzuknöpfen, schlug sie seine Hand beiseite. »Mir fehlt nichts«, sagte sie ärgerlich. »Danke.«

»Stell dich nicht an«, schnauzte Stefan. »Glaubst du, der Doktor macht sich den weiten Weg hier heraus aus Langeweile?«

Sie war so wütend, daß ihr Stefans rüder Ton im ersten Moment gar nicht auffiel. »Ich bin wieder in Ordnung, Doktor«, sagte sie, noch immer scharf, aber jetzt völlig ohne Erregung, dafür mit um so größerer Entschiedenheit. »Ich will weder von Ihnen untersucht werden, noch möchte ich irgendwelche Medikamente haben. Und schon gar keine Spritzen mehr«, fügte sie hinzu.

Swensen sah nun wirklich enttäuscht aus und ein wenig ungeduldig. Aber er war Arzt und solcherlei Sperenzchen von störrischen Patienten sicherlich gewöhnt. Er seufzte, nahm sein Stethoskop herunter und sah sie einen Moment lang vorwurfsvoll an.

»Ich kann Sie nicht gegen Ihren Willen behandeln, Frau König«, sagte er ruhig. »Aber ich muß Sie warnen. Möglicherweise fühlen Sie sich jetzt wirklich wieder halbwegs kräftig. Aber das liegt wohl mehr an der Spritze, die ich Ihnen heute morgen gegeben habe. Überschätzen Sie sich nicht.«

»Überschätzen Sie sich nicht, Doktor«, antwortete Liz eisig. »Ich verklage Sie bis in die nächste Steinzeit, wenn Sie mich auch nur anrühren.«

Swensen erstarrte für einen Moment, machte eine Bewegung, als wollte er aufstehen, und sank dann wieder zurück, seine Schultern sackten nach vorne, und jede Spannung wich aus seinem Gesicht. Für einen Moment erinnerte er Liz an einen Ballon, aus dem schnell und lautlos die Luft entwich, ja, sie wartete fast ernsthaft darauf, daß sein Gesicht sich in Falten legen und weiter verschrumpeln würde. Was natürlich nicht geschah. Statt dessen erschien Stefan hinter ihm, groß und drohend und mit einem grimmig-entschlossenen Ausdruck im Gesicht.

»Jetzt reichts«, sagte er, nicht einmal besonders laut, aber unbeschreiblich kalt und hart. Liz prallte innerlich vor ihm zurück. Er beugte sich vor, legte die Hand auf Swensens Schulter - es war eine unglaublich herrische, besitzergreifende Bewegung, wie Liz voller Schrecken feststellte - und schob ihn ein kleines Stückchen zur Seite. »Es reicht«, sagte er noch einmal.

»Du...«

»Genug!« Er schrie jetzt fast. Swensen saß teilnahmslos da, er schien es nicht einmal zu hören. »Ich hab' allmählich die Schnauze voll von deinen Faxen!« brüllte er. »Du bist krank, gut. Das ist nicht deine Schuld. Aber du wirst jetzt verdammt noch mal den Doktor seine Arbeit tun lassen, oder du lernst mich von einer Seite kennen, die dir neu sein wird!«

Er schüttelte drohend die Faust. (Er drohte ihr tatsächlich mit der Faust!), stieß Swensen ein weiteres Stück zurück, sodaß er fast von der Couch fiel, und gab einen schnaubenden Laut von sich. Sein Gesicht verzerrte sich, wurde zu einer Grimasse, der bösen Karikatur eines menschlichen Antlitzes, und...

Es dauerte nur eine Sekunde, aber Liz sah es zu deutlich, um sich hinterher einreden zu können, es wäre bloße Einbildung gewesen.

Für einen Moment war Stefan nicht mehr Stefan. Er war nicht einmal mehr ein Mensch, nur noch ein Ding, das entfernte Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen hatte, ein schwarzgraues, lederhäutiges, uraltes Etwas, das nur aus Bosheit und Haß zusammengefügt war, die Banshee, das Ding aus dem Sumpf, die Moorhexe, in Stefans Gestalt. Eine verzerrte, faulige Grimasse starrte auf Liz herab, ein Gesicht (Gesicht?) flach wie ein Kuhfladen, mit zwei eiterigen Löchern, wo die Nase sein sollte, einem entsetzlichen schlabbernden Maul ohne Lippen, hinter dem fünf Zentimeter lange Zähne blitzten. Halb faustgroße, gelbleuchtende Augen ohne Pupillen glotzten auf Liz herab, Tümpel voller Blut und halb geronnenem Eiter, in denen etwas unbeschreiblich Böses lauerte.

Dann erlosch die Vision so schnell, wie sie gekommen war. Das Ungeheuer hatte für einen Moment seine Maske verloren; vielleicht aus Unbeherrschtheit, vielleicht hatte es ihr sogar absichtlich einen kurzen Blick auf sein wahres Antlitz gewährt, um sie zu verspotten, ihr zu zeigen, was sie erwartete.

»Nun?« Stefans Stimme war hart wie Glas.

Liz reagierte nicht, aber ihr Schweigen schien Antwort genug. Stefan richtete sich mit einem zufriedenen Grunzen wieder auf, versetzte Swensen einen rüden Stoß und sagte:»Tun Sie Ihre Arbeit, Doktor.«

Alles wurde unwirklich. Es war wie eine Ohnmacht, aber nicht ganz, denn sie blieb wach, Bewußtlosigkeit, ohne das Bewußtsein wirklich zu verlieren. Sie lag einfach da, eingesponnen in einen Kokon aus Grauen, hörte Geräusche, ein unbestimmtes, dumpfes Murmeln, das sie erst nach einiger Zeit als Swensens und Stefans Stimmen identifizierte. Sie versuchte die Augen zu öffnen, aber die Bewegung schien ihr unendlich schwer, und irgendwie schien es auch keinen Sinn zu machen, sich überhaupt noch einmal zu bewegen.

Es war vorbei. Das Ungeheuer hatte gewonnen. Es hatte Stefan, es hatte Ohlsberg - und irgendwie wußte sie, daßes auch Andy hatte, sie sogar zuallererst -, und es würde sie bekommen. Es war ihr gleich, was mit ihr geschah. Sie registrierte, wie Swensen sie untersuchte, schnell, routiniert und ohne das geringste dabei zu empfinden, so kalt und sachlich, als prüfe er ein Stück Fleisch auf seine Qualität.

Mehr war sie ja auch nicht. Fleisch. Futter für die Bestie. Ein halb durchgebratenes Liz-Steak bitte, innen noch blutig.

Es war unglaublich entwürdigend.

»Danach wird sie sich besser fühlen«, sagte eine Stimme. Sie verstand die Worte, aber ihr Sinn blieb ihr verborgen. Jemand berührte sie am Arm. Dann ein scharfer Stich, gefolgt von einem anhaltenden, brennenden Schmerz.

Sie öffnete die Augen.

»Wieder okay?« fragte Doktor Swensen, während er behutsam die Injektionsnadel aus ihrer Vene zog. Der Schmerz nahm für einen Augenblick zu und erlosch dann wie abgeschaltet. Sie sah einen winzigen glitzernden Tropfen auf der Spitze der Nadel. Liz richtete sich mit einem scharfen Ruck auf. Swensen prallte zurück, die Nadel hinterließ einen häßlichen, blutenden Kratzer in ihrer Arm beuge, und beinahe augenblicklich wurde ihr schwindelig. Sie stöhnte, griff sich mit beiden Händen an die Schläfen und ließ sich wieder zurück sinken.

Swenson sah sie vorwurfsvoll an, packte seine Spritze weg und tupfte behutsam mit einem Wattebausch das Blut von ihrem Arm. »Das war nicht sehr geschickt. Aber es wird Ihnen gleich besser gehen«, sagte er lächelnd. Er... wußte es nicht... Er hatte nicht nur nicht gesehen, was mit Stefan war - Liz war plötzlich sicher, daß er von dem ganzen Zwischenfall nichts mitbekommen hatte.

»Was - was haben Sie mir gegeben?« fragte sie schwach. Ihre Stimme zitterte. Hinter Swenson stand Stefan und lächelte böse auf sie herab.

»Ein harmloses Beruhigungsmittel«, antwortete der Arzt. »Nicht dasselbe wie heute morgen, keine Bange. Es ist nichts, worüber Sie sich Sorgen zu machen brauchten. Vielleicht werden Sie sich nachher ein wenig matt fühlen, aber das ist auch alles. Ich verspreche Ihnen, daß Sie nicht wieder einschlafen werden.«

»Ich will nicht... schlafen.« Warum war es plötzlich so schwer, zu sprechen? Einen klaren Gedanken zu fassen? Das Mittel konnte doch nicht so schnell wirken! »Niemand spricht von schlafen«, sagte Swenson noch einmal. »Ich sagte matt fühlen. Ein wenig benommen. So, als hätten Sie zu viel getrunken.« Er tauschte einen raschen Blick mit Stefan, der schweigend neben der Couch stand und die Szene scheinbar desinteressiert verfolgte. Nur in seinen Augen war ein böses, gelbes Feuer. »Aber das vergeht rasch«, fuhr Swenson fort, und sie hörte aus jedem einzelnen Wort heraus, daß er log. »Machen Sie sich keine Sorgen. Sie werden sehen, es ist alles halb so schlimm. In ein paar Minuten sieht die Welt für Sie viel freundlicher aus.«

»Aber ich ... ich will keine Drogen ...«

»Mein liebes Kind«, begann Swenson, »ich glaube, Sie verstehen nicht, wie ernst die Lage ist. Sie sind... krank.« Er zögerte unmerklich, bevor er das letzte Wort aussprach. Liz versuchte zu lächeln, aber es mißlang. »Verrückt«, murmelte sie. »Ich bin verrückt, wollen Sie sagen.« Alles drehte sich um sie. In ihrem Mund war ein Geschmack wie nach Erbrochenem.

»Nicht doch! Sie sind alles andere als verrückt, glauben Sie mir.«

»Aber ich...«

»Aber ... aber...«, unterbrach sie Swenson ungehalten. »Sie sind überarbeitet, das ist alles.« Er richtete sich auf, faltete die Hände vor dem Bauch und sah sie kopfschüttelnd von oben bis unten an.

»Es ist immer dasselbe mit euch jungen Leuten«, murrte er. »Ihr nehmt euch irgend etwas vor, etwas möglichst Schweres, Unmögliches, und dann arbeitet ihr wie die Berserker. Und wundert euch, wenn ihr auf die Nase fallt.« Er beugte sich vor, tätschelte ihre Wange und lächelte, wie er vielleicht ein krankes Kind angelächelt hätte. »Ein paar Tage Ruhe, und Sie sind wieder auf dem Damm. Treten Sie in den nächsten Wochen ein wenig kürzer, und Sie werden sich wundern, wie schnell Sie sich wieder erholen. Sie sind eine sehr kräftige junge Frau, aber Sie sollten trotzdem Ihre Grenzen kennen.«

Liz starrte ihn mit aller Feindseligkeit an, die sie noch aufbringen konnte. Das Medikament, das er ihr gespritzt hatte, begann bereits zu wirken. Ihre Gedanken schienen vernebelt, ihre Umgebung auf eine seltsame, fröhlich stimmende Art durchscheinend und irreal zu werden. Die Erinnerung an Stefans Un-Gesicht verblaßten zu einem schlechten Witz.

Sie fühlte sich an eine kurze Szene vor zehn oder elf Jahren zurückerinnert, als sie einmal zusammen mit einem Studienfreund Rauschgift probiert hatte. Es war eine leichte, relativ harmlose Droge gewesen, aber die Wirkung war fast so wie heute. Alles um sie herum wurde durchscheinend, gleichsam sphärisch. Ihre Probleme waren noch da, aber sie waren mit einem Mal unwichtig geworden. Die Welt versank allmählich hinter einer rosa Glasscheibe. Es gab nichts Belastendes mehr. Alles war leicht und schön. Nur Carry war tot. Aber eindeutig schön tot. Sie kicherte in Gedanken. Swenson stand auf und entfernte sich mit leisen Schritten. Stefan folgte ihm. Sie hörte, wie sie sich vor der Tür unterhielten, aber sie konnte die Worte nicht verstehen. Irgendwo in einem fast vergessenen Winkel ihres Bewußtseins war eine Stimme, die ihr zuflüsterte, daß sie eigentlich wütend auf Stefan sein müßte. (Nein, du dumme Kuh, du müßtest Angst vor ihm haben, eine Scheiß angst, denn er ist nicht mehr Stefan, sondern...) Liz dachte den Gedanken nicht zu Ende.

Denken war mühsam. Es wäre viel zu anstrengend gewesen, Gefühle wie Wut oder Haß zu empfinden.

Sie schlief ein, aber es konnte nur Sekunden gedauert haben, bis sie wieder erwachte. Stefan war immer noch auf dem Hof. Durch die halb zurückgezogenen Vorhänge konnte sie ihn sehen. Er stand neben Swensons Landrover, den Arm lässig auf den Kotflügel gestützt. Er lachte.

Lachte?

Trotz der einschläfernden Wirkung der Droge machte sich ein beunruhigendes Gefühl in ihr breit. Irgend etwas stimmte nicht an der Szene. Sie dürfte nicht hier liegen. Nach alldem, was passiert war, dürfte sie nicht mehr hier sein. Und Stefan dürfte nicht lachen.

Sie versuchte aufzustehen. Es ging, wenn ihre Knie auch zitterten und sich ihre Beine furchtbar kraftlos anfühlten. Sie wankte ein paar Schritte, hielt sich am Kaminsims fest und blieb schwer atmend stehen. Sie mußte weg hier.

Der Gedanke stand klar und plastisch vor ihr. Weg.

Aber es war schwer, so unendlich schwer. Die Tür lag nur wenige Schritte vor ihr, aber die Entfernung schien unüberwindlich.

Sie taumelte zurück zur Couch, ließ sich dar auffallen und schloß die Augen. Einschlafen.

Einschlafen wäre so leicht. Einschlafen und nie wieder aufwachen. So verlockend. Aber sie durfte nicht. Sie durfte nicht schlafen, wenn sie nicht endgültig wahnsinnig werden wollte.

Das Geräusch der Tür drang an ihr Bewußtsein, aber sie war viel zu müde, um auch nur den Kopf zu heben.

»Schläfst du?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Aber es wäre besser.«

»Besser? Für wen? Für dich?« Es gelang ihr tatsächlich, einen verletzenden Klang in ihre Stimme zu zwingen.

Ein flüchtiger Schatten von Ärger huschte über Stefans Gesicht. Aber seine Stimme klang unbewegt, als er antwortete. »Ich werde mich jetzt nicht mit dir streiten, Liz.« Sie richtete sich mühsam auf und erwiderte seinen Blick. War er jetzt er selbst - oder wieder das DING? Egal, sie mußte es riskieren, vielleicht hatte sie nur noch diese eine Chance. »Stefan«, sagte sie ernst. »Ich möchte hier weg.«

»Du möchtest weg?«

»Ja. Bring mich von hier fort. Gleich.«

Stefan lächelte. Mit umständlichen, betont langsamen Bewegungen kramte er seine Zigaretten hervor und ließ sein Feuerzeug aufschnappen. »Morgen«, sagte er schließlich. »Vielleicht gehen wir morgen fort. Ruh dich heute aus. Wenn du morgen immer noch weg willst, reden wir noch einmal in Ruhe über alles.« Er lächelte noch einmal, nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und blies einen Rauchring gegen die Decke.

»Aber ich möchte sofort weg!« Für einen kurzen Moment war ihr Zorn sogar stärker als die betäubende Wirkung der Droge. »Gleich - Stefan! Nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt!«

Stefan lächelte kalt. »Morgen.«

»Aber... warum nicht? Warum nicht jetzt?«

Stefan atmete hörbar aus. »Wir reden später darüber«, sagte er ruhig. »Benimm dich bitte ausnahmsweise einmal wie ein erwachsener Mensch und ruh dich jetzt aus. Du hast es verdammt nötig.«

»Aber ich will mich nicht benehmen !« schrie Liz plötzlich. »Ich will weg hier, Stefan. Und wenn du mich nicht fortbringst, dann...«

»Dann?«

»Dann... dann gehe ich eben allein«, Stefan lachte, ein böses, höhnisches Lachen, das sie noch nie an ihm bemerkt hatte. »Du wirst nirgendwo hingehen«, sagte er ruhig. Er schnippte seine Zigarette in den Aschenbecher, setzte sich neben sie und sah ihr in die Augen. »Wahrscheinlich ist es der falsche Moment«, begann er. »Aber irgendwann muß ich es dir sagen. Du benimmst dich in letzter Zeit, als wäre bei dir irgend etwas ausgeklinkt, weißt du das?«

»Aber ich ...«

»Du hörst mir jetzt zu«, unterbrach er sie sanft, aber bestimmt. »Ich habe in den letzten Tagen verdammt viel Verständnis aufgebracht, aber irgendwann ist selbst meine Geduld erschöpft. Du wirst dich jetzt zusammenreißen, jetzt und in Zukunft. Ich habe absolut keine Lust, den Rest meines Lebens mit einer hysterischen Ziege zu verbringen, die jedes mal einen Schreikrampf bekommt, wenn sie einen Schatten sieht.« Seine Stimme wurde plötzlich schneidend. »Und damit du es genau weißt: Ich denke nicht daran, hier wegzugehen. Wir sind gerade dabei, uns einzuleben. Die Menschen hier im Tal beginnen gerade jetzt, uns zu akzeptieren, obwohl du dir weiß Gott Mühe genug gegeben hast, dir Feinde zu machen. Ich fühle mich hier wohl, Liz, und ich glaube, daß wir hie reines Tages zu Hause sein können. Ich will das nicht alles aufs Spiel setzen, nur weil du plötzlich einen Rückfall in deine vorpubertäre Phase hast.« Er stand ruckartig auf. »Ich gehe jetzt nach oben. Ich muß arbeiten. Vielleicht versuchst du, ein wenig über meine Worte nachzudenken.«

Liz starrte ihm aus brennenden Augen nach. Der Schock hätte kaum größer sein können, wenn er sie geschlagen hätte, und erneut mußte sie sich an die Szene vom vergangenen Abend zurück erinnern.

Das war nicht mehr Stefan.

Dieser große, schlanke Mann war ein Fremder, der nur noch äußerlich dem liebenswerten, niemals ganz erwachsen gewordenen Jungen ähnelte, den sie geheiratet hatte.

Sie spürte, wie die betäubende Wirkung des Mittels wieder einsetzte. Etwas Weiches, Schweres schien sich auf sie herabzusenken, etwas wie die Berührung einer unendlich zarten und doch kraftvollen Hand. Sie stöhnte, hob die Arme und ließ sie wieder sinken, ehe sie die Bewegung zu Ende geführt hatte.

Sie begann, sich zu wehren, oder sie versuchte es zumindest. Die Droge mußte stärker sein, als Swenson behauptet hatte. Sie hatte das Gefühl, abzugleiten, in ein tiefes, bodenloses Nichts zu stürzen ...

Und stürzte.

Загрузка...