25.

Der Weg war nicht mehr sehr weit, aber der unangenehmste Teil lag noch vor ihnen - in zweifacher Hinsicht. Das Haus der Starbergs lag nicht weiter entfernt von Schwarzenmoor als ihr Gut, was selbst bei der schlechten Straße und Liz' Müdigkeit kaum mehr als einen Katzensprung für den Jaguar darstellte; aber es lag auf der anderen Seite der Stadt, und es gab nur diese einzige Straße, so daß sie Schwarzenmoor durchqueren mußten. Zu Liz' - und mehr noch sichtbar Peters - Erleichterung sahen sie weder Ohlsberg noch einen der anderen Stadtbewohner; die Straße und die wenigen Häuser lagen wie ausgestorben da, während der Jaguar an ihnen vor überrollte. Aber Liz war nicht so naiv, diesem Umstand zu viel Bedeutung beizumessen - daß sie niemanden sahen, bedeutete ganz und gar nicht, daß sie umgekehrt nicht gesehen wurden. Und Liz war sogar ziemlich sicher, daß man auch Peter in ihrer Gesellschaft erkannte und Ohlsberg nach spätestens fünf Minuten wußte, daß sie durch die Stadt gekommen war und mit wem und in welcher Richtung. Aber das machte nicht viel - es gab wie gesagt nur diese eine Straße, was nun vielleicht zu ihrem Vorteil wurde, denn Ohlsberg konnte unmöglich ahnen, wohin sie wirklich fuhren.

Liz war mit ihren Überlegungen genau an diesem Punkt angelangt, als sie eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrzunehmen glaubte; nicht mehr als ein schattenhaftes Wischen irgendwo rechts vor ihr, ein grauer Fleck, der sich kaum von dem etwas helleren Grau der Häuser abhob.

Ganz instinktiv trat sie auf die Bremse. Sie war ohnehin nicht sehr schnell gefahren, aber sie bremste mit aller Kraft. Die Reifen des Jaguars kreischten protestierend, als der Wagen praktisch auf der Stelle zum Stehen kam; die flache Schnauze bewegte sich wippend nach unten und berührte fast das Pflaster, und Peter, der sich nicht angeschnallt hatte, wurde ABS-bremskraftverstärkt nach vorne geschleudert und fing den Sturz erst im allerletzten Moment mit erschrocken hoch gerissenen Händen ab.

Liz fluchte unterdrückt, überzeugte sich mit einem raschen Seitenblick davon, daß Peter unverletzt geblieben war, und ließ mit einem zweiten, schon nicht mehr ganz so unterdrückten Fluch den Verschluß ihres Sicherheitsgurtes aufschnappen. Ihr Blick sprühte vor Zorn, als sie aus dem Wagen stieg.

»Was, zum Teufel...«

Sie sprach nicht weiter, als sie erkannte, wen sie da beinahe über den Haufen gefahren hätte.

Es war Beldersen.

Er stand da, blickte sie mit einer Mischung aus Vorwurf und sanftem Tadel an (kein Schrecken, dachte sie verwirrt, Beldersen war nicht im mindesten erschrocken!!) und lächelte. »Ist... ist Ihnen etwas passiert?« stotterte sie, vielmehr aus dem Konzept gebracht als nun wirklich erschrocken.

Beldersens Lächeln wurde noch breiter. Liz war sicher, daß es beruhigend wirken sollte, aber in diesem Moment kam es ihr viel eher wie eine böse Grimasse vor, ein höhnisches Grinsen, fast als lese er ihre Gedanken und amüsierte sich insgeheim darüber. Wo war er hergekommen ?! »Nein«, sagte er, wie immer ruhig, wie immer sehr langsam, jedes Wort sorgfältig artikulierend, als überlege er sich seinen Sinn ganz genau, bevor er es aussprach. »Aber Sie sollten vorsichtiger fahren, Frau König. Dies hier ist eine Stadt, wissen Sie? Wenn auch eine kleine.«

Liz nickte ganz instinktiv und kam sich dabei immer hilfloser vor. Wo, zum Teufel, war er hergekommen? Verwirrt sah sie nach rechts, dann nach links. Sie waren noch innerhalb Schwarzenmoors, das rechte Vorderrad des Jaguars, der durch das abrupte Bremsmanöver ein ganz klein wenig aus der Spur gekommen war, war nur Zentimeter von der Bordsteinkante entfernt, das Haus keinen Meter dahinter - aber da war keine Tür.

Keine Tür.

Keine Gasse. Kein Spalt zwischen den Häusern, keine...

Keine Möglichkeit für einen Mann wie Beldersen, so abrupt zu erscheinen, daß sie ihn nicht sehen konnte. Wo war er hergekommen, zum Teufel?!

»Stimmt etwas nicht?« Beldersen legte den Kopf schräg, machte einen halben Schritt auf sie zu und hob seine verkrüppelte rechte Hand, wie um nach ihr zu greifen. In seinen Augen war ... etwas ...

... ein Lächeln, aber auch...

Liz unterdrückte im letzten Augenblick einen Schrei, prallte zurück und wäre um ein Haar gestürzt, als die Stoßstange des Jaguars ihre Kniekehle berührte.

Haltsuchend streckte sie die Hand aus, bekam die offen stehende Tür zufassen und fuhr zusammen, als ein scharfer Schmerz durch ihre rechte Hand fuhr. Sie spürte, wie die Wunden unter dem ungeschickt angelegten Verband aufbrachen und wieder zu bluten begannen.

Aber der Schmerz riß sie auch in die Wirklichkeit zurück.

Das dämonische Glühen in Beldersens Augen erlosch, und sie begriff, daß es wohl in Wahrheit nirgendwo anders als in ihrer eigenen Phantasie existiert hatte, aus dem satanischen Grinsen auf seinen Zügen wurde wieder ein ganz normales, sogar etwas verlegenes Lächeln, der Golem war wieder Mensch.

»Sind Sie wirklich in Ordnung?« fragte Beldersen. Er war stehengeblieben, die Hand wie in einer grotesken Pantomime mitten in der Bewegung erstarrt.

Sie nickte hastig. »Es ist... nichts. Ich war nur erschrocken, als Sie so plötzlich... so plötzlich auf der Straße standen.« (Aus dem Nichts.) Beldersen seufzte. Sein Blick streifte seine eigene rechte Hand, und er sah noch ein bißchen schuldbewußter aus als bisher; wahrscheinlich glaubte er, sie wäre aus lauter Ekel vor ihm so überhastet zurückgeprallt. Liz verspürte plötzlich das heftige Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Aber sie tat es nicht.

Statt dessen schüttelte sie noch einmal den Kopf, raffte all ihre Kraft zu einem halbwegs gelungenen Lächeln zusammen und sagte noch einmal: »Es ist wirklich nichts, Herr Beldersen. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

Beldersen winkte ab. »Das macht nichts«, sagte er. »Ab erfahren Sie in Zukunft ein wenig vorsichtiger. Unsere Straßen sind nicht für Wagen wie den Ihren ausgelegt.« Sein Blick tastete über den Jaguar, blieb einen Moment auf Peters bleichem Gesicht hinter der Windschutzscheibe haften und glitt weiter, ohne daß sie irgendeine Reaktion erkennen konnte. Und er drehte sich auch ohne ein weiteres Wort um und trat wieder auf den Bürgersteig zurück, von dem er herunter aber das war er doch gar nicht! Er war geradewegs aus dem Nichts aufgetaucht, ein Schatten, der aus dem Boden gewachsen war getreten war. Seine unverletzte Linke machte eine einladende (oder befehlende?) Geste, weiterzufahren. »Seien Sie vorsichtig. Es gibt auch ein paar Kinder hier in der Stadt.«

»Das werde ich«, versprach Liz. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, wieder in den Wagen zu steigen und die Tür hinter sich zuzuziehen. Ihre Hände zitterten so stark, daß sie Mühe hatte, den Sicherheitsgurt einrasten zu lassen. Sie redete sich ein, daß es nur eine Folge der Schmerzen war, die in ihrer Rechten wühlten. Sie fuhr weiter, ganz gegen ihre eigene Versicherung so schnell, daß die Reifen beim Anfahren durchdrehten und das Kreischen bis ans andere Ende des Ortes zuhören sein mußte. Die einzige Straße, aus der Schwarzenmoor bestand, schrumpfte rasch im Rückspiegel hinter ihnen zusammen, aber Liz sah kaum auf die Straße, sondern starrte weiter in den Spiegel. Sie wartete darauf, daß Beldersen sich wie ein Spuk auflöste - was er natürlich nicht tat. Statt dessen schrumpfte er langsam zusammen und wurde schließlich zu einem konturlosen Fleck, wie es sich für ein normales Spiegelbild gehörte.

Und doch... bist du wahrscheinlich schon wieder dabei, hysterisch zu werden, dachte sie wütend. Sie hätte sich wirklich nicht ans Steuer setzen sollen, so müde und überreizt, wie sie war. Sie begann schon, Gespenster zu sehen. Und sie begann sie vor allem dort zu sehen, wo erstens keine waren und wo sie sie zweitens besser nicht sehen sollte - nämlich auf der Seite der Guten.

Sie hätte ihre eigene Reaktion noch verstanden, wäre es Ohlsberg gewesen, den sie um ein Haar überfahren hätte. Aber Beldersen hatte ihr nie etwas getan, sie hegte keinen Groll gegen ihn, und sie hatte auch keinen Grund, ihn zu fürchten. Von allen Einwohnern Schwarzenmoors (verrückt - sie kannte ja nur zwei: Ihn und Ohlsberg!), also gut: Erstellte die fünfzig Prozent der ihr persönlich bekannten Schwarzenmoorer dar, die ihr gegenüber nicht feindselig eingestellt waren.

Was nichts daran änderte, daß er quasi aus dem Nichts vor dem Wagen aufgetaucht war.

Verdammt, hör auf, dachte sie wütend. Sie war einfach überreizt. Es brachte gar nichts, wenn sie sich selbst noch verrückter machte, als sie schon war.

Vielleicht half es, wenn sie sich mit praktischeren - und vor allem näher liegenden - Problemen beschäftigte.

»Die Starbergs, Peter«, fragte sie, als sie die Ortschaft hinter sich gelassen hatten und wieder etwas langsamer fuhren, »haben sie Telefon?« Sie musterte Peter bei diesen Worten genau. Er war bleich wie der Tod. Sein Blick flackerte. Er mußte sich zu Tode erschreckt haben, als Beldersen so jäh vor ihnen aufgetaucht war. Seltsam, daß sie beide kein Wort darüber verloren hatten. Und es auch jetzt nicht taten.

Peter überlegte einen Moment angestrengt. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich ... ich habe nie eines bei ihnen gesehen. Warum?«

»Oh, nur so«, antwortete Liz ausweichend. »Ich wollte es einfach wissen.« Sie lächelte, schaltete in einen niedrigeren Gang und gab heftig Gas. Der Wagen machte einen spürbaren Satz, und der erhoffte Effekt stellte sich fast augenblicklich ein: Peter fuhr zusammen, wurde noch ein wenig blasser, als er ohnehin schon war, und konzentrierte seine Energie lieber darauf, sich an seinen Sitz festzuklammern, statt unangenehme Fragen zu stellen.

Obwohl Liz jetzt sehr schnell fuhr, brauchten sie noch einmal eine knappe Viertelstunde, bis sie das Haus der Starbergs erreichten, denn es stellte sich heraus, daß die fünf Kilometer Distanz Luftlinie gewesen waren und sie in Wahrheit fast die dreifache Strecke zurücklegen mußten; und das auf einer Straße, die kaum gut genug für einen Ochsenkarren gewesen wäre, geschweige denn für einen super flach gebauten Sportflitzer wie den Jaguar. Es erschien Liz hinterher beinahe wie ein Wunder, daß weder ihre Ölwanne noch sonst irgendein wichtigeres Teil des Wagens auf der Strecke blieb. Aber vielleicht waren die Geister dieses Landes heute ausnahmsweise einmal auf ihrer Seite.

Sonderbar - wieso sah sie Beldersens Gesicht vor sich, als sie diesen Gedanken dachte?

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