28.

An diesem Tag geschah nichts Außergewöhnliches mehr, sah man davon ab, daß sich weder Ohlsberg noch die Starbergs bei ihnen meldeten, geschweige denn irgend etwas gegen Liz unternahmen - was an sich schon außergewöhnlich genug war, bei Licht betrachtet aber nicht sonderlich viel zu bedeuten hatte.

Liz war sich durchaus darüber im klaren, daß sie möglicherweise einen Pyrrhussieg errungen hatte, und einen, den sie fast ausschließlich dem Moment der Überraschung zu verdanken hatte. Wahrscheinlich hatte die Starberg selbst jetzt noch nicht richtig begriffen, was überhaupt geschehen war, und vielleicht auch Ohlsberg nicht. Liz' plötzliche - und vor allem unerwartete - Gegenwehr mußte sie beide überrascht und völlig aus dem Konzept gebracht haben. Aber wenn sie den ersten Schrecken verwunden hatten, würden sie reagieren; irgendwie.

Nun, für diesen Tag jedenfalls war Ruhe. Weder erschien ein Polizeiwagen auf dem Hof, um das Mädchen zurückzubringen, noch tauchte ein aufgebrachter Mob mit Dreschflegeln und Fackeln auf, um Eversmoor samt seinen Bewohnern einzuäschern. Obwohl weder das eine noch das andere Liz weiter in Erstaunen versetzt hätte. Ihr Glaube an die Zivilisation war erschüttert, seit diese ganze verrückte Geschichte begonnen hatte. Zu der Welt, in der sie jetzt lebte, gehörte auch das. Der Tag verging überraschend schnell. Während der letzten Tage war eine Menge Arbeit liegen geblieben, und als Liz erst einmal damit angefangen hatte, war sie mehr als erstaunt, wie schnell die Zeiger der Uhr weiter liefen; am Ende mußte sie sich fast überschlagen, um ein Abendessen zu improvisieren, das Andy den Gedanken an ein Leben auf Gut Eversmoor nicht gleich am ersten Tag vergällte.

Allerdings war ihre Mühe umsonst. Sie deckte für vier, wobei ihr der Gedanke durch den Kopf ging, daß sie noch vor Wochenfrist ein kinderloses Ehepaar gewesen waren und sich quasi über Nacht in eine richtige Familie verwandelt hatten, aber nur Stefan erschien zum Essen und erklärte, daß Peter es vorzöge, mit seiner Tochter allein zu bleiben, wenigstens am ersten Abend. Liz akzeptierte das, aber Stefan mußte den enttäuschten Unterton in ihrer Stimme sehr wohl bemerkt haben, denn er stand noch einmal auf, trat leise hinter sie und schloß sie in die Arme.

»Nimm es ihm nicht übel, Schatz«, sagte er. »Der arme Kerl ist völlig verstört.«

»So?« Liz löste sich von ihm - sehr behutsam, damit er die Bewegung nicht falsch verstand, und aus dem einzigen profanen Grund, daß die Kartoffeln auf der Platte überzukochen drohten -, trat an den Herd heran und zog den Topf mit spitzen Fingern herunter. Natürlich vergaß sie dabei ihre lädierte rechte Hand und fuhr vor Schmerz zusammen. Stefan bemerkte es nicht.

»Was für ein Gefühl hast du?« fragte sie, während sie mit zusammengebissenen Zähnen nach den Topflappen angelte und gleichzeitig in die schäumende Brühe im Topf blies, damit sie nicht völlig überkochte und ihr den Herd versaute.

»Gefühl?« Stefan grinste anzüglich. »Komm mit ins Schlafzimmer und schau selbst nach.«

»Blödmann«, sagte Liz ruhig. Rasch goß sie die Kartoffeln ab, kippte sie in die Schüssel - sie hatte ihr bestes Porzellan aus der Kiste geholt, die noch unausgepackt in der Kammer hinter der Küche gestanden hatte, um dem Essen einen angemessenen festlichen Rahmen zu geben - und balancierte mit ihrer heißen Fracht zum Tisch, wobei sie eine fast groteske, nach hinten geneigte Haltung einnehmen mußte, damit ihr der kochende Dampf nicht ins Gesicht stieg. »Ich meine Peter. Glaubst du, er...«

»Ist glücklich?« fiel ihr Stefan ins Wort. Er setzte sich, zuckte mit den Achseln und spießte eine Kartoffel mit seiner Gabel auf, noch ehe sie die Schüssel richtig abgesetzt hatte. »Ich glaube, im Moment ist er vor allem verstört. Es ging alles viel zu schnell.« Er lachte leise und unecht. »Nicht einmal ich habe bisher wirklich begriffen, was passiert ist. Was erwartest du von einem Mann wie Peter?«

»Immerhin ist er der Vater.«

»Vater, papperlapapp«, sagte Stefan. »Er hat sie gezeugt, und er hat sie alle paar Wochen mal zu Gesicht bekommen, aber das ist auch alles. Du bist schief gewickelt, wenn du nach allem, was passiert ist, jetzt erwartest, daß er sie einfach in seine Arme und danach in sein Herz schließt, Schatz. Mit diesem Mädchen sind für ihn negative Erinnerungen verbunden. Er wurde mit ihr erpreßt und unter Druck gesetzt, seit es sie gibt. Er wird es schwer haben, sich an sie zu gewöhnen. Negatives Feedback nennt man so etwas.«

»Du hast mit Ohlsberg gesprochen.«

Stefan seufzte. »Ja. Aber das jetzt waren meine Worte, Copyright bei Stefan König, Liebes. Ich will dich nur darauf vorbereiten, was du vielleicht zu hören kriegst, sollte die Sache vor Gericht gehen.«

»Gericht?« Liz war wieder auf dem Weg zum Herd gewesen, um den Rest der Mahlzeit aufzutragen, blieb aber jetzt stehen und drehte sich abrupt wieder um. »Du meinst, er...würde uns verklagen?«

»Ich meine überhaupt nichts«, antwortete Stefan. »Ich würde es tun, an seiner Stelle, aber ich bin nicht Ohlsberg. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, was er tun wird.«

»Aber mit welchem Recht?«

»Was weiß ich?« entgegnete Stefan achselzuckend. »Vielleicht unternimmt er auch gar nichts. Lassen wir uns überraschen. Ich werde auf jeden Fall gleich morgen noch einmal mit unserem Anwalt telefonieren. Ich glaube es eigentlich nicht, daß Ohlsberg den gerichtlichen Weg geht - so etwas tut man hier auf dem Lande nicht so rasch, weißt du. Aber besser ist besser.«

Liz schwieg. Wenn Stefan seine Worte wahr machte - und warum sollte er nicht? - und wirklich mit dem Anwalt sprach, würde er sehr schnell herausfinden, wie dünn das Eis war, auf dem sie sich bewegte; und daß sie ihn glattweg belegen hatte. Aber was hatte sie erwartet?

Hastig drehte sie sich wieder zum Herd um, trug den Rest ihres zwar in aller Hast, aber trotzdem mit großer Liebe vorbereiteten Festessens auf und band ihre Schürze ab. Stefan schien auch jetzt nicht einmal zu bemerken, daß sie darunter ihr allerbestes Kleid trug, so wenig, wie ihm aufzufallen schien, von welchem Geschirr sie aßen und mit welchem Besteck. Liz war enttäuscht, ihm dabei zuzusehen, wie er Kartoffeln und Fleisch und Gemüse scheinbar wahllos in sich hineinstopfte. Aber es war nicht einfach die Enttäuschung einer Hausfrau, deren Gast ihre Mühe nicht zu würdigen wußte. Sie hatte sich alles so schön vorgestellt - nach dem massierten Wahnsinn der letzten Tage war ihr der Gedanke, ganz plötzlich eine Familie zu haben, in deren Schutz und Wärme sie sich zurückziehen konnte, sehr verlockend gewesen, selbst wenn es nur eine Pseudo-Familie war und ihr Schutz nur ein höchst fragwürdiger. Peter und Andy mit ihrem Wegbleiben und Stefan mit seiner ungeschlachten Art machten alles zunichte.

Andererseits konnte sie Peter natürlich verstehen. Für ihn mußte die Situation zehnmal neuer und aufregender sein als für Stefan und sie. Wahrscheinlich war er bis ins Mark verstört und eingeschüchtert, und wahrscheinlich hatte er vor nichts mehr Angst als davor, daß sich alles nur als sehr kurzer Traum herausstellen würde, dem ein um so brutaleres Erwachen folgte. Nein - sie akzeptierte, daß er mit seiner Tochter allein sein wollte. Auch für ihn war sie fast eine Fremde, nachdem er sie fünfzehn Jahre lang nur alle paar Wochen einmal hatte sehen dürfen. Er konnte nicht einfach hierherkommen, sich mit ihr an den Tisch setzen und zur Tagesordnung übergehen, als wäre nichts geschehen. Negatives Feedback... Liz schauderte ein bißchen. Sie hoffte inständig, daß Stefan sich täuschte...

Es wurde dunkel, bis sie fertig waren und Liz den Tisch abzuräumen begann. Ihre Müdigkeit machte sich wieder stärker bemerkbar: ihre rechte Hand schmerzte, trotz des guten Essens war ein permanenter schlechter Geschmack in ihrem Mund, und sie merkte selbst, daß sie nach saurem Schweiß roch. Und plötzlich wollte sie nichts mehr, nur ins Bett und sechsunddreißig Stunden durch schlafen.

Oder besser gleich zweiundsiebzig.

Загрузка...