1.

Der Schrei hatte sie geweckt.

Sie blinzelte, drehte müde den Kopf in den Kissen und öffnete widerwillig die Augen, während sie gebannt lauschte. Sie hatte Mühe, wirklich zu erwachen. So absurd und unwirklich dieser entsetzliche Nachtmahr gewesen war, hielt er sie doch immer noch fest, selbst jetzt, wo sie wirklich und eindeutig wach war: ein kleiner Teil ihres Selbst war noch immer in der entsetzlichen Welt dieses Alptraumes gefangen, und es kostete sie erstaunliche Kraft, sich vollends zu lösen. Und es war unangenehm, ein Gefühl, als wäre sie in ein gewaltiges klebriges Spinnennetz verstrickt, dessen Fäden sie nur einzeln und unter gewaltiger physischer Kraftanstrengung zerreißen konnte. Und selbst als sie es endlich geschafft hatte, war es noch nicht völlig vorbei. Der Traum schickte ihr einen allerletzten, bösen Gruß in die Wirklichkeit hinterher: für einen kurzen Moment fühlten sich ihr Gesicht und ihre Hände klebrig an, als wäre sie wirklich durch jenes entsetzliche Spinngewebe hin durchgelaufen, um den Weg ins Wachsein zu finden. Im ersten Moment hatte sie Angst, daß sie selbst geschrien haben könnte, so real war der Alptraum gewesen. Sonderbar erweise hatte sie überhaupt keine Angst, sondern empfand nur einen schwachen Schrecken, gepaart mit Verwirrung und einer fast wissenschaftlichen Neugier. Sie neigte nicht zu Alpträumen - nicht einmal zu Träumen -, wenigstens nicht solchen, an die sie sich hinterher erinnerte, und ihr Erlebnis erfüllte sie jetzt, nachdem auch der letzte Schrecken allmählich verebbte, mit der Erregung, etwas völlig Neues und Unbekanntes erfahren zu haben. Es war keiner jener Alpträume gewesen, wie ihn jedermann von Zeit zu Zeit einmal hatte, nicht von dieser unsinnigen, kalten Furcht, die einem noch ein Stück weit ins Wach sein hineinnachschleicht und einen mit rasendem Herzschlag und zitternden Gliedern und kaltem Schweiß auf der Stirn erwachen läßt. Sie erinnerte sich an jede Kleinigkeit, jedes noch so winzige, entsetzliche Detail, aber sie hatte jetzt überhaupt keine Angst mehr. Mit dem Traum war auch die Furcht einfach abgeschaltet worden. Sie war nur verwirrt. Die einzige Furcht, die geblieben war, war die, daß sie selbst geschrien und Stefan damit geweckt haben könnte, was an sich nicht einmal schlimm gewesen wäre, sie aber in die unangenehme Situation brächte, Stefan erklären zu müssen, was passiert war.

Und das wußte sie selbst nicht so genau.

Ein Traum - sicher. Und doch...

Etwas daran war anders gewesen. Trotz seiner vollkommen konfusen und widersinnigen Handlung war er ungeheuer real gewesen, so real, daß ... Sie verscheuchte den Gedanken, stemmte sich halb auf die Ellbogen hoch und sah sich um, fast als müsse sie sich in der Wirklichkeit fest klammern - oder als müsse sie sich selbst beweisen, daß dies die Wirklichkeit war, und nicht die abstrusen schwarzen Chrom-Zimmer ihres Traumes, wisperte eine böse Stimme hinter ihrer Stirn. Sie glaubte Flammen zu riechen...

Liz verscheuchte auch diesen Gedanken, atmete bewußt tief ein und aus und preßte die Lider so fest zusammen, daß bunte Kreise und Ringe vor ihren Augen erschienen. Es half. Die Visionen waren fort, als sie die Augen abermals öffnete. Auf ihren Netzhäuten flimmerten blasse Nachbilder der grellen Blitze.

Was sie sah, war von einer beruhigenden Normalität: Das Zimmer war dunkel, erfüllt von grauen und schwarzen Schatten und einer Kühle, die sie die wohlige Wärme unter der dünnen Leinen decke als doppelt angenehm empfinden ließ. Schatten trieben durch den Raum, aber es waren die normalen, durch und durch vertrauten Schatten dieses Zimmers, die sie so gut kannte wie die Möbelstücke und die Einrichtung. Sie hatten nichts Bedrohliches. Die Dunkelheit, die sie sah, war von jener Art, die Schutz und Wärme versprach, nicht Gefahr. Trotz (oder vielleicht gerade wegen!) des Alptraumes, der noch immer in ihrer Seele wühlte, fühlte sie sich auf eine wohltuende, entspannte Art erschöpft und matt. Dem abrupten Erwachen aus dem Alptraum schien ein zweites, ganz normales zu folgen. Mit einem Male fühlte sie sich müde, und ihre Gedanken bewegten sich schwerfällig und träge, wie kleine störrische Tiere, die sich nur unter Protest bereit fanden, in den gewohnten Bahnen zu laufen. In ein paar Minuten, das wußte sie, würde sie über den Traum lachen. Nein, nicht einmal das - sie würde ihn einfach vergessen haben. So sonderbar er gewesen war, er war es nicht wert, für länger aufbewahrt zu werden.

Sie gähnte, blinzelte noch einmal und fuhr sich mit der Hand über die Augen, ehe sie zum Nachttisch hinüberblinzelte. Die grünen Leuchtziffern des Radioweckers schimmerten wie kleine funkelnde Katzenaugen durch die Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis sich die verschwommenen Farbklekse zu lesbaren Zahlen ordneten und sie sie entziffern konnte.

Liz runzelte die Stirn. Es war kurz nach fünf, wie sie mit einem heftigen Gefühl von Verärgerung feststellte - eine geradezu gotteslästerliche Zeit, aufzuwachen. Sie seufzte. Was für ein Scheißtraum, dachte sie matt. Warum hatte er nicht zwei Stunden später anfangen können? Sie schloß die Augen und versuchte wieder einzuschlafen. Es ging nicht.

Als sie die Augen schloß (es war absurd: die Dunkelheit war kaum weniger tief als die, die sie mit geöffneten Augen gesehen hatte!), kam die Furcht zurück. Es war nicht die Panik aus ihrem Traum, nicht die an körperlichen Schmerz grenzende Angst, die die Zimmer aus schwarzem Chrom und jene entsetzliche Treppe in ihr ausgelöst hatten, nicht die Panik beim Anblick des brennenden Mannes, denn sie wußte sehr gut, daß all dies nichts anderes als ein böser Streich gewesen war, den ihr Unterbewußtsein ihr gespielt hatte. Es war...

Eine völlig grundlose Beunruhigung, die stärker und stärker wurde, ein Kribbeln wie von tausend tollwütigen Ameisen in ihrem Leib, das es ihr unmöglich machte, ruhig zu liegen. Irgend etwas hatte sie geweckt, etwas, das nicht hierher gehörte und das sie beunruhigte, ohne daß sie sagen konnte, was es eigentlich war.

Eine Zeit lang dämmerte sie noch auf der schmalen Trennlinie zwischen Schlaf und Wach sein dahin, ehe sie aufgab und mit einem resignierenden Achselzucken die Beine aus dem Bett schwang. Sollte der Teufel ihr Unterbewußtsein holen und alle Träume der Welt dazu!

Eine Weile blieb sie noch schlaftrunken auf der Bettkante sitzen und genoß das Gefühl der Schwere, das nur langsam aus ihren Gliedern wich. Sie gähnte, reckte sich ausgiebig und fuhr sich noch einmal über die Augen. Ihr Blick klärte sich ein wenig. Ein dünner, staubflirrender Streifen Sonnenlicht strömte durch die halb geschlossenen Fensterläden herein und zeichnete ein verworrenes Muster aus Gold und schwarzen und braunen Schatten auf den Fellteppich; ein Spielbrett, auf dem die Dame des Tages dem schwarzen König der Nacht gerade wieder einmal Schach bot, ohne daß einer von beiden die Partie jemals entscheiden würde.

Sie lächelte flüchtig über ihren eigenen Gedanken, der ungefähr so albern wie der Traum war, der nun allmählich doch zu verblassen begann, bückte sich nach ihrem Morgenrock, streifte ihn über und wankte schlaftrunken auf nackten Füßen zum Fenster.

Draußen sangen bereits die ersten Vögel, und irgendwo drüben in dem kleinen Wald, der sich zweihundert Schritt entfernt hinter dem Weg wie eine schwarz grün gefleckte Mauer erhob, antwortete ein Eichelhäher auf den Ruf. Sie lauschte einen Moment auf das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln und genoß die Berührung der Sonnenstrahlen auf der Haut. Obwohl sie grade erst über dem Horizont aufgetaucht war, hatte die Sonne bereits Kraft. Der Tag würde heiß werden. Auf der Rückseite des Hauses spielte der Wind klappernd mit einem Fensterladen. Das Geräusch zerstörte nicht nur den Zauber des Augenblickes, es erinnerte sie auch schmerzlich daran, wie viel Arbeit und Mühe noch auf sie warteten, ehe aus dieser Ruine wieder ein einigermaßen bewohnbares Haus geworden war. Wenn es ihnen überhaupt jemals gelang. In letzter Zeit mehrten sich die Augenblicke, in denen Liz ernsthaft daran zu zweifeln begann.

Sie gähnte erneut, wobei sie sich den verbotenen Luxus erlaubte, die Hand nicht vor den Mund zu halten, öffnete das Fenster, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht und stieß dann mit einem Ruck die Läden weit auf.

Liz lächelte flüchtig, als ihr einfiel, daß sie jetzt für einen zufälligen Beobachter genauso aussehen mußte wie das Mädchen aus dem Kaffee-Werbespot - nur daß sie nicht komplett geschminkt und frisiert aus dem Bett kam, sondern mit wirrem Haar und einem Gesicht, das vom Schlaf teigig und auf gequollen war.

Kühle, sauerstoffreiche Morgenluft strömte ins Zimmer, begleitet von im ersten Moment fast schmerzhaft hellem Sonnenschein und einer Vielfalt von Gerüchen: Der Duft von frischem Heu und Tannennadeln, von Gras und Blumen und Weite und klarem, fließendem Wasser. Sie schloß die Augen und konzentrierte sich für Sekunden darauf, ein- und auszuatmen. Die kühle Luft, in der noch ein schwacher Hauch der Nacht mit schwang, vertrieb auch die letzten Reste von Müdigkeit und schuf für Augenblicke eine tiefe, wohltuende Leere hinter ihrer Stirn, in der nicht einmal Platz für Gedanken war, sondern nur noch für Ruhe und ein Gefühl des Friedens und der Einsamkeit. Für einen kurzen Moment war sie sich ihres Körpers mit seltener Klarheit bewußt, spürte jeden Quadratmillimeter ihrer Haut, jedes Haar, das sanfte Streicheln des Windes, die Berührung des Sonnenlichtes, alles mit einer Intensität, die sie niemals kennengelernt hatte vor ihrem Umzug hier heraus. Augenblicke wie diese entschädigten sie immer wieder für die harte Arbeit und die Umstellung, die er mit sich gebracht hatte. Und in solchen Momenten fand sie Zeit, über sich und ihre Lage nachzudenken.

Sie bereute nichts.

Noch vor einem halben Jahr hätte sie jeden ausgelacht, der ihr prophezeit hätte, sie würde in nicht allzuferner Zukunft ihre Tage damit verbringen, Schweine und Hühner zu füttern, Ställe zu entmisten und ein zwei mal vier Schritte messendes Gemüsebeet zu bestellen, zusammen mit den tausend anderen kleinen und großen - und zum allergrößten Teil lästigen - Aufgaben, die das Leben auf einem Bauernhof nun einmal so mit sich brachte. Aber genau das war passiert. Und das Schlimme daran war, dachte sie spöttisch, daß es ihr Spaß machte. Sie mußten nicht von dem leben, was der Hof abwarf, und wenn sie sich trotzdem um die Tiere und den Gemüsegarten kümmerte - der überdies für zwei Personen um mehrere Nummern zu groß geraten war -, dann nur aus Begeisterung.

Und diese Begeisterung war keineswegs nach einiger Zeit verschwunden - wie in den meisten solcher Fälle üblich -, sondern im Gegenteil von Tag zu Tag gewachsen. Sie hatte sich in überraschend kurzer Zeit an das Leben hier draußen gewöhnt, und sie hatte vom ersten Augenblick an begonnen, es zu lieben. Der Wandel vom lärm- und streßgewöhnten Großstadtmenschen zur Bäuerin war ihr überraschend leichtgefallen. Leichter sogar, als sie selbst zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte die alte Liz, die an Partys, schnelle Autos, Großstadtlärm und Smog und teure Restaurants gewöhnt war, wie eine zu klein gewordene Haut einfach abgestreift und war mit einer fast selbstverständlichen Gelassenheit und Ruhe in ihre neue Rolle geschlüpft; ein Schmetterling, der sich zum zweiten Male verpuppte und als Raupe wieder erwacht war. Aber als eine Raupe, die sich wohlfühlte - und die ihre Flügel außerdem im Kleiderschrank hängen hatte und jederzeit wieder überstreifen konnte, was erheblich dazu beitrug, die Raupe ihre Rolle noch leichter tragen zu lassen. Sie hatte die Flügel noch nie gebraucht, aber allein die Tatsache, daß sie da waren, hatte etwas Beruhigendes.

Nein - sie vermißte nichts. Im Gegenteil. Der Umzug hier heraus hatte ihr nichts genommen, sondern ihr Leben um eine ungeheure Palette neuer und schöner Dinge bereichert. Sie liebte den Geruch frisch umgegrabener Erde, den Duft von frischem Heu und die Geräusche der Tiere unten im Stall, die jetzt bereits die Wärme und das Sonnenlicht witterten und ungeduldig darauf warteten, hin ausgelassen zu werden. Jetzt, nach sechs Monaten und dem Wechsel in eine vollkommen neue Welt und ein genauso neues Leben, erschien es ihr fast unglaublich, daß sie sich einmal in der lauten, glitzernden Welt der Städte wohl gefühlt haben sollte. Wenn ihre Freundinnen zu Besuch kamen (was jetzt seltener geschah - früher, als sie frisch verheiratet und gerade hier herausgezogen waren, waren sie oft gekommen, aber der Reiz des Neuen hatte schnell nachgelassen. Im gleichen Maße, in dem ihre Bekannten zu begreifen begannen, daß ihre Flucht aus der Stadt mehr als eine vorübergehende Laune war und der insgeheim voller Schadenfreude erwartete Katzenjammer ausblieb, ließen auch die Besuche mehr und mehr nach), ja, wenn sie jetzt Besuch aus der Stadt bekam, dann mußte sie sich immer öfter ein mitleidiges Kopfschütteln verkneifen, wenn sie die neuesten ach-so-interessanten Partygeschichten hörte.

Und die Veränderung hatte nicht nur ihr Inneres ergriffen. Auch ihr Körper hatte sich überraschend schnell dem Leben hier draußen angepaßt. Sie war eine neue Liz, zwar noch die gleiche schlanke junge Frau mit dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar, den dazu passenden dunklen Augen und einem Mund, über den sie sich jeden Tag ärgerte, seit sie alt genug geworden war, zum ersten Mal bewußt in einen Spiegel zu sehen. Er war zu groß. Er war zu groß gewesen, als sie ein Kind gewesen war, und daran hatte sich nichts geändert, obwohl aus dem häßlichen Entlein von damals mittlerweile der sprichwörtliche Schwan geworden war. Sie war keine Schönheitskönigin. Aber aus dem häßlichen, vorlauten kleinen Mädchen war eine halbwegs hübsche, vorlaute junge Frau geworden. Und hier draußen war sie gewissermaßen zum zweiten Mal geboren worden. Nicht jünger. Nicht schöner oder häßlicher - aber anders. Unter ihrer glatten, make-up-verwöhnten Haut waren harte Muskeln herangewachsen. Ihr Teint war jetzt dunkler und zugleich frischer geworden, und sie geriet jetzt nicht mehr außer Atem, wenn sie mehr als zehn Stufen hintereinander hinauf lief.

Sie öffnete die Augen, lehnte sich weit hinaus und ließ den Blick über den Hof schweifen. Sie begann jeden Tag mit diesem Rundblick, unabhängig vom Wetter oder der Zeit. Der Anblick war ihr in den letzten Monaten vertraut geworden, aber sie genoß ihn jeden Morgen neu, und er erfüllte sie immer noch mit der gleichen Mischung aus Besitzer stolz und Unglauben, daß das alles wirklich ihnen gehören sollte.

Der Hof war nicht groß, aber wie alles war auch der Begriff Größe relativ - einer von Stefans typischen Sprüchen, mit denen er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit um sich warf, hier paßte er ausnahmsweise.

Für sie war er groß; auf seine Art sogar größer als die glas und beton gesäumten Straßen Frankfurts, in denen sie aufgewachsen war - ein asymmetrisches Viereck aus festgetrampeltem Lehm, zur Rechten von einem flachen, reetgedeckten Gebäude begrenzt, in dem früher einmal die Ställe untergebracht gewesen waren. Von ihrer erhöhten Warte auswirkte es schräg und windschief, fast, als bewahre es nur eine Laune des Zufalls noch vor dem Umfallen. Aber sie wußte, daß das nicht stimmte - eine optische Täuschung, deren Grund sie bis heute nicht herausgefunden hatte. Das genaue Gegenteil war der Fall: Von allen Gebäuden des Hofes war der Stall noch am ehesten in einem Zustand, den man mit einigem guten Willen als leidlich bezeichnen konnte. Boden und Außenwände bestanden aus gegossenem Beton - was nach Stefans Worten ein Sakrileg ohnegleichen darstellte, aber wenn, dann war es ein sehr haltbares Sakrileg -, und das Strohdach war trotz seines Alters noch in einem erstaunlich guten Zustand. Damals hatten die Leute eben noch für die Ewigkeit gebaut. Sie hatten vor, den Stall später zur Hälfte in eine Garage mit angeschlossener Werkstatt um zubauen und in der anderen Hälfte einen großzügigen Partyraum einzurichten. Das betrachtete Stefan sonderbar erweise nicht als Sakrileg. Neben dem Stall befand sich eine wuchtige Balkenkonstruktion, drei Meter im Quadrat und mit schweren, pechimprägnierten Eisenbeschlägen versehen, unter der die längst ausgetrocknete Jauchegrube lag, zusätzlich gesichert mit einem rostzerfressenen Gitter aus daumendicken Stäben, die irgendein besorgter Vorbesitzer vor dreißig oder mehr Jahren angebracht hatte, um zu verhindern, daß jemand in die Grube fiel und an seinem eigenen Mist erstickte. Links der Schuppen, höher und wuchtiger als der Stall, aber in einem wesentlich schlechteren Zustand. Irgendwann einmal würden sie ihn abreißen, wenn er nicht vorher von selbst zusammenfiel wie ein Kartenhaus, und statt dessen einen überdachten Swimmingpool dort anlegen. Im Moment stand er so gut wie leer und beherbergte außer Stefans feuerrotem Jaguar nur noch das Wrack eines rostzerfressenen Traktors, den sie - ohne es zu wissen - zusammen mit dem Hof und einem ganzen Sammelsurium rostigen Gerümpels gekauft hatten und der wahrscheinlich noch aus der Zeit vor der letzten Sintflut stammte. Später, wenn der Verkauf von Stefans neuem Roman - und damit die Tantiemenzahlungen - richtig angelaufen waren und ihr geschröpftes Bankkonto sich erholt hatte, würden sie vielleicht einen neuen Traktor anschaffen und auf einem der jetzt brachliegenden Felder Mais oder Hafer anpflanzen. Vielleicht auch nur Sonnenblumen, dachte Liz spöttisch. Es brachte gewisse unbestreitbare Vorteile mit sich, nicht von dem leben zu müssen, was der Hof erwirtschaftete.

Carry, der schottische Schäferhund, der darüber wachte, daß niemand kam und ihnen nachts den Hof über dem Kopf weg stahl, bellte ein fröhliches Guten Morgen zu ihr hinauf, und wie zur Antwort erklang vom Misthaufen hinter dem Stall das Kikeriki Sir Winstons, ihres Hahns. Zusammen mit dem halben Dutzend Hühner, das sich bis heute weigerte, auch nur ein einziges Ei zu legen, einem lebenden Rasenmäher in Gestalt eines Schafes und drei grauen Stallhasen bildeten sie ihr ganzes Vieh. Nicht sehr viel im Vergleich mit den anderen Höfen in der Nachbarschaft, aber dafür Vieh, das in einer ungleich glücklicheren Lage war, denn wenn sie nicht vorher der Schlag traf oder sie an Überfettung starben, würden sowohl die Hühner als auch die Hasen - Liz hatte jedem von ihnen einen Namen gegeben und sie in ihr Herz geschlossen - wohl ihr hundertstes Dienstjubiläum hier auf dem Hof feiern. Allein der Gedanke, sie zu schlachten oder gar zu essen, bereitete Liz echte körperliche Übelkeit.

Ihr Blick wanderte weiter und verharrte am zerfallenen Gerippe des ehemaligen Gemeindehauses, von dem nur noch ein paar baufällige Mauerreste und geschwärzte Dachsparren übrig geblieben waren. Wie immer blieb Liz' Blick ein wenig länger an dem Gemeindehaus hängen. Sie wußte nicht, warum, aber sie hatte in dieser halbverkohlten Ruine schon immer etwas Besonders gesehen. Auf eine schwer zu beschreibende Art wirkte sie zugleich abstoßend und faszinierend. Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, wirkten die vermengten Dachbalken wie das Gerippe eines gigantischen Urzeittieres, das den Abgrund der Zeit überwunden hatte, um hier zu sterben.

Natürlich hatten sie sich erkundigt, was damals hier geschehen war, vor gut dreißig Jahren - genauer gesagt, sie hatten es versucht. Es war lange her, fast ein halbes Menschenalter, und niemand schien heute mehr zu wissen, was damals wirklich passiert war, ob - und wenn ja - wie viele Menschenleben der Brand gefordert hatte, wie er überhaupt ausgebrochen war. Für eine Weile war Liz beinahe überzeugt gewesen, daß die Menschen hier in der Gegend einfach nicht über das reden wollten, was damals geschehen war, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht gab es ein finsteres Geheimnis um diese Ruine und das Feuer, eine ostfriesische Variante von McBeth, eine finstere Geschichte um Intrigen, Verrat und Mord, die in einem flammenden Inferno geendet hatte. Vielleicht war es auch nur die Unachtsamkeit eines Knechtes gewesen, der im Bett geraucht hatte und zu spät merkte, daß die Asche, die auf den Boden fiel, seine eigene war. Am wahrscheinlichsten - aber auch am langweiligsten, dachte Liz - war es etwas so Banales wie eine umgestoßene Petroleumlampe gewesen oder ein Funke, der aus dem Ofen fiel. Trotzdem favorisierte sie ganz persönlich den Gedanken um eine große Tragödie. Er gefiel ihr. Und sie war der Meinung, daß zu einem Hof wie diesem ein bißchen Spuk gehörte.

Aber gleich, was es nun wirklich gewesen war - ein dummer Zufall oder eine niemals niedergeschriebene Tragödie -, es war ein entsetzliches Feuer gewesen. Die Flammen hatten nichts verschont, was auch nur irgendwie brennbar gewesen wäre. Die Balken dort unten hatten sich in pure Holzkohle verwandelt, und selbst die wenigen Mauerreste waren zu schwarzer Schlacke geworden, die nur noch ihr eigenes Gewicht zusammen hielt. Bis heute war es ihr rätselhaft geblieben, daß der Brand damals nicht auf die übrigen Gebäude des Hofes übergegriffen hatte. Das zweistöckige Wohnhaus war wie die Stallungen und der Schuppen strohgedeckt. Ein einziger Funken mußte hier genügen, um eine Katastrophe auszulösen. Aber es war nichts geschehen. Ein gnädiges Schicksal oder vielleicht auch nur eine Laune des Windes hatten den Hof davor bewahrt, ein Raub der Flammen zu werden.

Gottlob, dachte sie sarkastisch. Sonst hätten Stefan und sie es nicht für einen Spottpreis erwerben und sich den Traum vom alternativen Leben erfüllen können. Hinter der Ruine des Gesindehauses markierte der Zaun die Grenze des eigentlichen Gehöftes - oder sollte es jedenfalls tun. Im Moment bestand er lediglich aus einigen wenigen schräg stehenden Pfählen, zwischen denen man sich den dazugehörigen Draht zu denken hatte. Dahinter begann das wellige Grün der Wiese, auf der das Gras den Kampf gegen den wild wuchernden Klee schon lange aufgegeben hatte, schließlich ein schmaler Weg - eigentlich nur eine ausgefahrene Spur voller Steine und Erdbuckel, und dahinter endlich dichter Mischwald, aus dem manchmal kleine silberne und goldene Funken stoben - Sonnenlicht, das sich auf dem Wasser des kleinen Sees brach, der sich dahinter verbarg.

Bis zum jenseitigen Ufer dieses Sees reichte ihr Besitz, sogar noch ein Stück weiter, obwohl der Boden dort so sumpfig war, daß ihr Besitzanspruch dort nur mehr rein juristische Bedeutung hatte. Seltsam; sie lebten jetzt seit einem halben Jahr hier draußen - sechseinhalb Monate, wenn man es genau nahm -, aber sie hatte es immer noch nicht fertiggebracht, ihren gesamten Grund und Boden in Augenschein zu nehmen. Dieser Wald dort drüben zum Beispiel:jeder einzelne Baum, jeder Fuß breit Boden, jeder herabgefallene Ast und jeder Busch gehörten ihnen, aber sie war niemals tiefer als zwei-, dreihundert Schritte weit hineingegangen, auch nicht während der ersten Wochen, als sie die Arbeit auf dem Hof noch nicht so sehr in Anspruch genommen hatte wie jetzt.

Irgendwann würde sie es nachholen.

Irgendwann...

Liz lächelte, aber sie war selbst nicht ganz sicher, ob es ein spöttisches oder resignierendes Lächeln war. Es gab eine Menge Dinge, die sie sich irgendwann einmal nachzuholen vorgenommen hatte. Zu viele. Sie hatte geglaubt, hier etwas von der Ruhe zu finden, die sie in der Stadt immer vermißt hatten, aber das genaue Gegenteil war der Fall gewesen. Das ruhige Land leben, war nicht annähernd so ruhig, wie die dachten, die es nicht kannten. Seit sie hier herausgezogen waren, hatte sie weniger Zeit für sich als je zuvor.

Sie waren aus der Stadt geflohen, um ihrem Lärm und dem hektischen Leben zu entgehen, und Hals über Kopf in eine Fülle neuer und unerwarteter Verpflichtungen gestolpert. Tatsache war, daß sie praktisch jede Minute des Tages verplanen mußte, um mit ihrer Arbeit auch nur halbwegs zurande zu kommen. Dabei bewirtschafteten sie den Hof nicht einmal wirklich. Die Arbeit hier draußen war hart, und sie mußte die Zeit des Tages, die wirklich noch ihr gehörte, jetzt nach Minuten statt wie früher nach Stunden zählen.

Aber sie mußte gerecht sein - es war ein Streß ganz anderer Art als früher. Einer, aus dem sie Kraft gewann. Sie hatte lange gebraucht, bis ihr der Unterschied klar geworden war. Das Leben hier draußen war hart, aber im Gegensatz zu dem in der Stadt gab es ihr mehr, als es von ihr forderte.

Hinter ihr regte sich Stefan.

Sie drehte sich langsam um, stützte die Ellbogen auf der schmalen Fensterbank auf und betrachtete ihn zärtlich. Er schlief nicht mehr ganz, aber er war auch noch nicht ganz wach. Er war schon immer ein Langschläfer gewesen, und die gute Luft und die ungewohnte körperliche Arbeit sorgten jetzt mehr denn je dafür, daß er selten vor Mittag aus den Federn kam; der Grund zahlloser kleiner Kabbeleien zwischen ihnen, denn bei Liz war das genaue Gegenteil der Fall:Sie wußte selbst nicht genau, warum, aber aus der jungen Frau, die früher selten vor zehn aus den Federn gekommen war, war eine Frühaufsteherin geworden. Stefan dagegen schien sich allmählich in ein Murmeltier zu verwandeln. Wenn sie nicht auf ihn acht gab, dachte sie, dann würde er eines Tages überhaupt nicht mehr aufwachen, sondern in einen sechsmonatigen Winterschlaf fallen.

Wieder bewegte er sich im Halbschlaf. Sein Gesicht wirkte auf dem bunt gemusterten Kopfkissen schmaler, als es war, und das grelle Sonnenlicht ließ die kleinen Unreinheiten seiner Haut über deutlich hervortreten, wie auf einer jener ganz bewußt körnig gehaltenen Fotografien - oder einer schlechten Fotokopie. Trotzdem wirkte er auf schwer in Worte zufassende Weise jung: Stefan gehörte zu den beneidenswerten Menschen, die nie zu altern schienen. Er hatte wie neunzehn ausgesehen, als sie ihn kennengelernt hatte, und er war bis heute um keinen Tag älter geworden. Dabei war er damals neunundzwanzig gewesen, und in knapp drei Wochen würde er seinen fünfunddreißigsten Geburtstag feiern. Nicht einmal der sorgsam gestutzte Vollbart vermochte an diesem Eindruck etwas zu ändern. Stefan sah einfach immer aus wie neunzehn, gleich, ob er nun seinen abgewetzten Jeans-Anzug und ein verwaschenes Baumwollhemd oder einen Smoking trug, ob er mit ihr herum alberte oder auf allen vieren auf dem Teppich herum kroch, um mit einer jungen Katze zuspielen, oder im Scheinwerferlicht vor einem mit tausend Leuten besetzten Auditorium saß und vorlas - er sah aus wie neunzehn, und nichts, rein gar nichts, konnte irgendetwas daran ändern.

Und trotz dieses jugendhaften Aussehens war in seinem Gesicht etwas, das einen genau spüren ließ, daß er nicht das Kind war, das zu sein er gerne vorgab, eine Art... Ernsthaftigkeit und - ja, dachte Liz, auch wenn sie das Wort normalerweise für albern hielt und es nie benutzte - beinahe Würde,die nicht in, sondern vielmehr hinter seinen Zügen verborgen schien. Als wären die schmalen Augen mit den buschigen Brauen, die dünne, wie mit einem Lineal gezogene Nase und der Mund mit seinen stets zu einem freundlichen Lächeln verzogenen Lippen nichts als eine Maske; hinter der der wahre Stefan nur undeutlich und manchmal sichtbar wurde. Es war gerade dieses sonderbar Zwiespältige gewesen, was Liz vom ersten Moment so sehr an ihm fasziniert hatte, das Zwiespältige in seinem Aussehen wie auch in seinem Wesen.

Sie hatten sich in Frankfurt kennengelernt auf der ersten - und vorletzten - Buchmesse, die sie je besucht hatte. Sie war in Frankfurt geboren, in Frankfurt aufgewachsen und in Frankfurt zur Schule gegangen, und mit Ausnahme des obligatorischen Urlaubs auf Mallorca oder Ibiza, zu dem sie ihre Eltern jedes Jahr mitnahmen, hatte sie Frankfurt auch niemals verlassen. Und sie hatte auch nie zuvor eine Buchmesse besucht. Bücher interessierten sie nicht - Stefan hatte sie später einmal eine literarische Kannibalin genannt -, und hätte ihr irgend jemand prophezeit, daß sie einmal einen Schriftsteller heiraten würde, hätte sie ihn schlichtweg ausgelacht.

Aber es war geschehen.

Sie war auch nur mit zu dieser Buchmesse gegangen, um dem Drängen einer Freundin nachzugeben, und sie hatte diesen kleinen Gefallen bereits bereut, als sie in der Schlange vor der Kasse gewartet und sich die Beine in den Bauch gestanden hatte. Fünfundzwanzig Minuten, nur um sich anschließend zwei Stunden durch endlose, überfüllte Gänge voller rücksichtsloser Menschen und und stickiger Luft zu quälen. Irgendwo in diesem entsetzlichen Gedränge hatte sie ihre Freundin dann auch noch verloren, und nach einer Stunde vergeblichen Suchens hatte sie aufgegeben und war regelrecht geflohen. All diese lärmenden, lauten, drängelnden Menschen gaben ihr das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die grellen Farben beleidigten ihr Auge, und die ungeheuren Mengen bedruckten Papier es (Wer in Gottes Namen las das alles?) schienen sie zu erschlagen.

Sie hatte nicht einmal stehen bleiben wollen, aber sie war einfach eingekeilt worden; unfähig, auch nur einen Schritt vor oder zurück zu tun.

Und dann hatte sie ihn gesehen: einen jungen Mann in Jeans und kariertem Baumwollhemd, der auf einem der billigen weißen Plastik-Stühle an den Verlagsständen saß und auf seine Weise ebenso verloren und erschreckt aussah wie sie. Natürlich hatte sie nicht gewußt, wer er war. Aus irgendeinem Grund hatte er ihr einfach leid getan, sie hatte sich mit Ellbogen und Knien aus der verkeilten Masse herausgearbeitet und ihn einfach angesprochen. Sechs Monate später hatten sie geheiratet.

Stefan gähnte geräuschvoll, ohne dabei die Augen zu öffnen. Seine Hand tauchte unter der Bettdecke auf und tastete verschlafen nach der Stelle an seiner Seite, wo sie normalerweise lag, fand aber nur das leere Bett. Die Erkenntnis, daß Liz schon auf war, schien ihn endgültig zu wecken. Er blinzelte, hob müde den Kopf und starrte einen Atemzug lang auf das Laken, auf dem sich noch deutlich die Umrisse ihres Körpers abzeichneten.

»Guten Morgen«, sagte Liz.

Sein Kopf flog verdutzt herum. »Eh?«

»Ich sagte, guten Morgen, Langschläfer«, wiederholte sie. »Ich dachte schon, du wirst überhaupt nicht mehr wach.«

Stefan blinzelte in das grelle Sonnenlicht, vor dem sich ihre Gestalt nur als schwarzer, tiefenloser Schatten abzeichnete. »Wieso,... ich ...« Er brach verwirrt ab, gähnte und verrenkte sich halbwegs den Nacken, um auf den Wecker sehen zu können. Er blinzelte. Ein erst verwirrter, dann ein ungläubiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

»Morgen?« fragte er schließlich. »Wieso Morgen? Es ist mitten in der Nacht.« Seine Stimme wurde vorwurfsvoll. »Das ist Mord!«

»Es ist fünf Uhr.«

Stefan gähnte demonstrativ. »Sag ich doch. Mitten in der Nacht.« Er gähnte erneut, ließ den Kopf wieder in das Kissen fallen und zog die Decke bis zur Nase hoch. »Jemanden um diese Zeit zu wecken ist Körperverletzung«, nuschelte er. »Vorsätzliche Körperverletzung!«

»Für dich vielleicht.« Liz seufzte, stieß sich vom Fensterbrett ab und ging zum Bett hinüber, um mit einer einzigen Bewegung die Decke herunterzureißen. »Wenn du schon wach bist, kannst du genauso gut aufstehen und mir helfen, das Frühstück zu machen.«

»He! Moment mal. Ich...«

Sie bückte sich, hob das Kopfkissen vom Fußboden auf und erstickte seinen Protest mit einem wohl gezielten Wurf.

»Ich setze schon mal Wasser auf«, sagte sie, während sie zur Tür ging. »Beeil dich.«

»Aber es ist fünf Uhr früh, und...«

»Fünf Uhr siebzehn, um genau zu sein«, korrigierte ihn Liz nach einem Blick auf den Wecker. »Und es tut dir ganz gut, einmal ausnahmsweise vor dem Mittagessen aufzustehen. Wir wollen heute in die Stadt fahren, vergiß das nicht.«

»Aber doch nicht mitten in der Nacht!« kreischte Stefan in gespielter Verzweiflung. »Weißt du, wann ich ins Bett gekommen bin?« Er zog eine vorwurfsvolle Grimasse. »Ich habe bis eins gearbeitet, verfluchtes Weib!«

Liz schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln und zog die Tür hinter sich ins Schloß.

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