VIII

DIE DURCHSUCHUNG VON EADULFS

Cubiculum, das im Vergleich zu Wighards prunkvollen Räumen karg und schmucklos wirkte, erwies sich als enttäuschend. Fidelma hatte nicht wirklich damit gerechnet, die fehlenden Gegenstände dort zu finden. Dennoch hatte sie gehofft, auf irgendeinen Hinweis zu stoßen, der ihr geholfen hätte, das verwirrende Rätsel zu lösen. Aber so gründlich sie auch jeden Zentimeter unter die Lupe nahmen - ein solcher Hinweis ließ sich einfach nicht finden.

Furius Licinius verzog das Gesicht. «Dann muß es doch so gewesen sein, wie ich es vorhin schon sagte: Dieser Bruder Ronan hatte einen Komplizen, und während die custodes mit Ronan beschäftigt waren, ist der Komplize mit dem Schatz verschwunden.»

Obgleich Schwester Fidelma gegen die Schlußfolgerung des jungen Offiziers nichts einwenden konnte, hatte sie Zweifel.

«Ich nehme an, Bruder Ronans Unterkunft ist ebenfalls gründlich durchsucht worden?» fragte sie.

Furius Licinius nickte. «Marcus Narses ist persönlich dort gewesen, hat aber keine Spur von Wighards Schatz entdeckt.»

«Ich würde seine Unterkunft gern selbst in Augenschein nehmen.»

Licinius schien von ihrem Vorhaben nicht allzu begeistert zu sein. «Jetzt sofort?»

«Warum nicht?»

Als sie sich zum Gehen wandten, stand plötzlich ein Mann in der offenen Tür. Er war so groß, daß er sich hätte bücken müssen, um sich nicht den Kopf am hölzernen Türsturz zu stoßen. Seine dämonischen Gesichtszüge waren ebenmäßig und hatten für Fidelma doch etwas Widerwärtiges. Es war jener Mangel an Mitgefühl, den sie schon vorher bei Abt Puttoc von Stanggrund wahrgenommen hatte. Er hatte dunkle Haut, einen grausamen Zug um den Mund und eisblaue Augen unter dichten, schwarzen Augenbrauen. Nein, Abt Put-toc von Stanggrund war kein Mann, den Fidelma anziehend gefunden hätte, auch wenn sie sich vorstellen konnte, daß er auf manch andere Frau reizvoll wirkte. Abt Puttoc musterte sie eindringlich -wie eine Katze, die ihre Beute beobachtet, ehe sie zum Sprung ansetzt.

«Wie ich höre, wollt Ihr mir Fragen stellen, Fidelma von Kildare», sagte der Abt mit wohltönender Stimme, der jedoch jede Wärme fehlte. Bruder Eadulf würdigte er keines Blickes. «Der jetzige Zeitpunkt scheint mir dazu bestens geeignet.»

Er bückte sich und trat in Eadulfs Kammer. Mit seiner hochgewachsenen Gestalt überragte er sie alle. Erst jetzt sahen sie den zweiten, vergleichsweise kleinen Mann, der hinter ihm stand: Eanred, Puttocs scriptor und Diener. Er wirkte ruhig und sanft - ein Mann, der in einer Menschenmenge leicht unterging, da er bescheiden auftrat und nicht besonders einprägsame Gesichtszüge besaß. Fidelma erschien er wie Abt Puttocs treuer Schatten.

Fidelma runzelte die Stirn. Puttocs Hochmut und die Einstellung, jeder müsse nach seiner Pfeife tanzen, mißfielen ihr.

«Ich wollte Euch später rufen lassen, Puttoc ...», begann sie, aber der Abt wischte ihren Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite. «Wir werden die Angelegenheit gleich an Ort und Stelle regeln, denn später habe ich zu tun. Ich habe eine Verabredung mit Bischof Gelasius.»

Während Eanred, die Hände in die Ärmel seiner Kutte geschoben, artig an der Tür stehenblieb, nahm Puttoc ungefragt auf Eadulfs Schlafstätte Platz und sah sie mit seinen eisblauen Augen herausfordernd an.

«Nun, Schwester, was sind das für Fragen, die Ihr mir angeblich so dringend stellen müßt?»

Fidelma sah Eadulf an. Der sächsische Mönch hatte offenbar Mühe, seine Belustigung über Put-tocs anmaßende Art zu unterdrücken. Unter Fidelmas strengen Blicken jedoch beherrschte er sich und setzte eine ernste Miene auf. Er wußte, was die Zornesfalten um Fidelmas Mund bedeuten konnten.

«Sprecht endlich!» befahl Puttoc, der von der Verärgerung, die sein Auftritt auslöste, nichts zu bemerken schien. «Meine Zeit ist kostbar.»

«Das gleiche gilt für unsere Zeit, Puttoc von Northumbrien», entgegnete Fidelma kühl und schluckte die sehr viel gereiztere Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag.

Der dunkelhäutige Abt zwang sich zu einem verkniffenen Lächeln, das ihn noch finsterer erscheinen ließ.

«Das will ich bezweifeln», sagte er, ohne auf Fidelmas Mißmut zu achten. «Jetzt, da Wighard tot ist, muß ich das Ruder in die Hand nehmen. Es ist völlig klar, daß wir nicht ohne neuen Erzbischof nach Canterbury zurückkehren können, und wer von uns Sachsen ist sonst schon geeignet dafür, den Segen des Heiligen Vaters zu empfangen?»

Fidelma sah den selbstgefälligen, großen Mann voller Erstaunen an. «Ihr seid an Wighards Stelle zum Erzbischof berufen worden?» fragte sie. «Ich bin sicher, Bruder Eadulf hätte mir davon erzählt.»

«Ich weiß nichts ...», begann Eadulf, aber Put-toc ließ sich nicht aus der Fassung bringen, sondern lächelte selbstzufrieden. «Natürlich muß ich dem Heiligen Vater meine Gründe noch erläutern, aber die Entscheidung liegt doch wohl auf der Hand.»

Eadulfs Miene verdüsterte sich. «Aber Wighard wurde zum Nachfolger Deusdedits gewählt .»

Die eisblauen Augen richteten sich auf Eadulf. Sie wirkten kälter denn je. «Und Wighard ist tot. Wer sonst, der hier in Rom weilt, wäre geeignet, seinen Platz einzunehmen? Nennt mir diesen Mann!»

Eadulf schluckte. Ihm fehlten die Worte.

Triumphierend wandte sich der Abt wieder an Fidelma. «Eure Fragen, Schwester.»

Fidelma zögerte, dann zuckte sie die Achseln. Im Grunde konnte sie ihn ebenso gut jetzt befragen wie zu jedem späteren Zeitpunkt, auch wenn dies bedeutete, seinem anmaßenden Gebaren nachzugeben.

«Ich möchte wissen, wo Ihr wart, als Wighard ermordet wurde.»

Puttoc starrte sie an. Nur seinem feindseligen Blick war zu entnehmen, was wirklich in ihm vorging.

«Was wollt Ihr damit andeuten, Schwester?» zischte er.

Fidelma reckte das Kinn. «Andeuten? Das war eine einfache Frage. Und die Vertreter des Heiligen Vaters haben mir die Befugnis erteilt, jeden zu verhören, der mit Wighard im gleichen Stockwerk untergebracht war. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?»

Der Abt blinzelte. Offenbar war er überrascht, daß eine junge Irin so kühne Worte an ihn richtete. Doch er ließ sich nicht einschüchtern. «Ich glaube, Ihr vergeßt Eure Stellung, Schwester. Als Mitglied der Gemeinschaft der Heiligen B rigid von Kildare .»

«Ich vergesse meine Stellung nicht, Puttoc. Ich spreche nicht als Mitglied der Gemeinschaft von Kildare zu Euch, sondern als Advokatin der irischen Brehon-Gerichtsbarkeit, die von Bischof Ge-lasius und dem superista des Lateranpalasts ermächtigt wurde, gemeinsam mit Bruder Eadulf den Mord an Wighard aufzuklären. Ich habe Euch eine Frage gestellt und wünsche, daß sie auch beantwortet wird.»

Der Abt öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Schließlich fing er sich wieder. Die kalten Augen blitzten bedrohlich. «Selbst wenn das der Fall ist», begann er in beleidigtem Ton, «habt Ihr keinen Anlaß, Euch derart unverschämt zu gebärden. Ich werde Bischof Gelasius von Eurer Unhöflichkeit berichten.»

Er stand auf und ging zur Tür, doch Fidelma rief ihn zurück: «Ihr habt meine Frage nicht beantwortet, Puttoc von Northumbrien, und Ihr wollt doch sicherlich nicht, daß ich Bischof Gelasius berichten muß, Ihr hättet den von ihm als no-menclator des Lateranpalasts veranlaßten Ermittlungen jede Unterstützung verweigert?»

Der Abt erstarrte. Eine Weile herrschte gespanntes Schweigen. Ohne Zweifel trafen hier zwei willensstarke Menschen aufeinander.

«Ich war in meinem Zimmer und habe fest geschlafen», sagte der Abt schließlich und durchbohrte Fidelma mit einem haßerfüllten Blick seiner eisblauen Augen.

«Um welche Zeit seid Ihr zu Bett gegangen?»

«Früh. Kurz nach dem Abendessen.»

«Das war in der Tat sehr früh. Wieso?»

Wieder trat eine Pause ein, und Fidelma fragte sich, ob Puttoc sich ihr erneut widersetzen würde. Doch nach kurzem Zögern antwortete er. «In dieser Hinsicht geht es mir wie Wighard: Das hiesige Klima sagt mir ebenso wenig zu wie das Essen. Ich habe mich gestern abend nicht wohl gefühlt. Je eher ich wieder nach Northumbrien oder Kent zurücksegeln kann, desto besser.»

«Ihr seid also sofort eingeschlafen? Und wann seid Ihr aufgewacht?»

«Ich hatte eine sehr unruhige Nacht. Einmal glaubte ich, ein seltsames Geräusch zu hören, war aber zu erschöpft, um der Sache nachzugehen. Um zwei Uhr morgens weckte mich dann mein Diener und überbrachte mir die traurige Nachricht von Wighards Tod - möge er in ewigem Frieden ruhen.» In den frommen Worten lag keinerlei Mitgefühl.

Fidelma hatte den Eindruck, daß die Nachricht für Puttoc alles andere als traurig gewesen war. Sein Ehrgeiz war nicht zu übersehen. Die Aussicht, in Wighards Fußstapfen treten zu können, beflügelte ihn.

«Ihr habt also nichts gehört und auch nichts gesehen?»

«Gar nichts», antwortete Puttoc. «Und jetzt muß ich zu Bischof Gelasius. Komm, Eanred.»

Mit wenigen großen Schritten trat er hinaus auf den Flur. «Wartet!»

Verärgert wandte sich der Abt noch einmal um. Ihre ständigen Widerworte reizten ihn bis aufs Blut.

Noch nie war ihm jemand so kühn entgegengetreten, und dann auch noch eine Frau, eine Irin ...! Ihm fehlten die Worte. Eadulf hielt die Hand vor den Mund und tat so, als müsse er sich etwas aus dem Gesicht wischen.

«Ich habe Bruder Eanred noch nicht befragen können», sagte Fidelma gelassen, die empörte Miene des Abts geflissentlich übersehend, und wandte sich an Puttocs Diener.

«Er wird Euch auch nicht mehr sagen können als ich», unterbrach Puttoc Fidelma wütend.

«Dann laßt ihn selbst zu Wort kommen», lautete Fidelmas unnachgiebige Antwort. «Mit Euch bin ich fertig, Puttoc von Northumbrien. Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr gehen.»

Puttoc schluckte. Wie ein Mann, der seinem Hund Befehle erteilt, wandte er sich an Eanred.

«Sobald du hier fertig bist, kommst du zu mir in mein Zimmer», blaffte er und stapfte wütend über den Korridor davon.

Die Hände immer noch gefaltet, stand Bruder Eanred ruhig da und blickte Fidelma sanftmütig an. Von dem soeben Vorgefallenen schien er völlig unberührt, als ob er die Spannungen überhaupt nicht bemerkt hätte.

«Nun, Bruder Eanred ...», begann Fidelma.

Der Mönch wartete, ein seltsam geistesabwesendes Lächeln auf den Lippen. Seine Augen waren blaß und ausdruckslos.

«Wo wart Ihr gestern abend? Berichtet uns doch bitte, was Ihr nach dem Abendessen getan habt.»

«Getan habt, Schwester?» Der Mann lächelte unverdrossen weiter. «Ich habe mich schlafen gelegt, Schwester.»

«Gleich nach dem Essen?»

«Nein, Schwester. Zuerst bin ich spazierengegangen.»

Fidelma hob die Augenbrauen. Sie hatte bereits vermutet, daß sich hinter Eanreds Gleichmut ein schlichtes Gemüt verbarg. Eanred war ein williger Diener, der jedoch der ständigen Führung bedurfte.

«Wohin seid Ihr gegangen?»

«Zur großen Arena, Schwester.»

«Ihr meint das Colosseum?» hakte Eadulf nach.

Eanred nickte. «Ja, so wird es, glaube ich, genannt. Der Ort, wo so viele Menschen ihr Leben gelassen haben. Das wollte ich gern mal mit eigenen Augen sehen.» Er lächelte zufrieden. «Gestern abend hat es einen Fackelzug dorthin gegeben.»

Auch Fidelma und Eadulf hatten an der Prozession teilgenommen, ehe sie die Mitternachtsmesse für Aidan von Lindisfarne besucht hatten.

«Und wann seid Ihr zurückgekehrt?»

Eanred runzelte die Stirn, dann erschien das unerschütterliche Lächeln wieder auf seinem Gesicht. «Das weiß ich nicht so genau. Jedenfalls standen viele Leute herum, und die Soldaten liefen aufgeregt hin und her.»

«Soll das heißen, daß Ihr erst zurückgekehrt seid, als Wighard schon nicht mehr am Leben war? Aber das wäre erst nach Mitternacht gewesen. Hat Euch jemand zurückkommen sehen?»

«Die Soldaten natürlich. Ach ja, und Bruder Sebbi. Ich traf ihn im Korridor, und er sagte, ich solle Abt Puttoc wecken und ihm mitteilen, daß Wighard tot sei. Das habe ich dann auch gemacht.»

«Ihr müßt viele Stunden im Colosseum verbracht haben, wenn Ihr erst so spät zurückgekehrt seid», warf Eadulf ein.

«Ich war nicht die ganze Zeit über dort.»

«Sondern?»

«Ich wurde in eine feine Villa, nicht weit von hier, auf ein Glas Wein eingeladen.»

Eadulf und Fidelma wechselten erstaunte Blicke.

«Und wer hat Euch in diese feine Villa eingeladen, Eanred?»

«Der griechische Medikus, den ich hier im Palast schon oft gesehen hatte.»

«Cornelius? Cornelius von Alexandria?»

Eanred lächelte froh und nickte. «Ja, das ist sein Name, Schwester, Cornelius. Er lud mich in seine Villa ein, um mir einige alte Kunstwerke aus seiner wertvollen Sammlung zu zeigen und dazu ein Glas Wein zu trinken. Ich liebe es, ihm zuzuhören, wenn er Geschichten aus fernen Ländern erzählt, auch wenn mein Latein eher dürftig ist. Ich bin kein Gelehrter, müßt Ihr wissen.»

«Ihr habt also den Abend mit Cornelius verbracht, was dieser zweifellos bestätigen wird?»

«Ich war bei ihm», nickte Eanred, der offenbar nicht verstand, was Eadulf damit meinte.

«Verstehe. Und als Ihr zurückkamt, hat Euch Bruder Sebbi über die Geschehnisse aufgeklärt und Euch gebeten, Abt Puttoc zu wecken. Ihr seid also zu ihm gegangen?»

«Ja.»

«Und Abt Puttoc lag in seinem Bett und schlief?»

«Ja, und zwar tief und fest», bestätigte der Mönch.

«Und was geschah dann?»

«Der Abt war sehr aufgeregt, zog sich sofort etwas über und begab sich in Wighards Gemächer, wo bereits viele Leute versammelt waren.»

«Und was habt Ihr getan?»

«Ich ging in meine eigene Kammer nebenan und schlief sofort ein. Ich war müde und hatte bei dem griechischen Medikus viel Wein getrunken.»

«Wart Ihr nicht neugierig, wie Wighard zu Tode gekommen war?»

Bruder Eanred zuckte die Achseln. «Wir sterben alle irgendwann.»

«Aber Wighard ist ermordet worden.»

Das Gesicht des Mannes blieb ohne jede Regung. «Bruder Sebbi hat mich gebeten, dem Abt mitzuteilen, daß Wighard tot ist. Das war alles.»

«Ihr wußtet also nicht, daß er ermordet wurde?»

«Jetzt weiß ich es, Schwester. Jetzt, wo Ihr es mir sagt. Kann ich jetzt gehen? Der Abt erwartet mich in seinem Zimmer.»

Fidelma sah Bruder Eanred eindringlich an. Dann sagte sie leise: «Also, gut. Ihr könnt gehen.»

Der Mönch neigte den Kopf und verließ den Raum.

Fidelma wandte sich fragend zu Eadulf und Licinius um. Ersterer lächelte und schüttelte den Kopf.

«Tja ... Ein einfacher Mann mit schlichtem Gemüt. Da kommt es mir doch etwas seltsam vor, daß Cornelius ausgerechnet seine Gesellschaft suchte, um mit ihm über Kunst zu plaudern und Wein zu trinken.»

«Hört sich ganz so an, als sei das Gespräch ziemlich einseitig verlaufen», stimmte Fidelma zu. «Aber es gibt genug Menschen, die sich selbst gern reden hören und denen es gleichgültig ist, ob daraus ein Dialog oder ein Monolog wird. Vielleicht gehört unser Freund Cornelius auch zu dieser Sorte.»

«Abt Puttoc ist nicht gerade eine Zierde der Christenheit», bemerkte Furius Licinius, der bisher geschwiegen hatte.

«Wie wahr! Er ist ehrgeizig, übereifrig ...» Fidelma hielt inne. «Ich frage mich, wie ehrgeizig .?»

Eadulf sah die irische Geistliche zweifelnd an.

«Kommt, Fidelma. Ihr vergeßt Bruder Ronan Ragallach. Ihr wollt den Abt von Stanggrund doch nicht ernsthaft des Mordes an Wighard von Can-terbury verdächtigen?»

Fidelma lächelte. «Ich habe Ronan nicht vergessen, Eadulf, aber was seine Rolle in der ganzen Angelegenheit betrifft, will ich mich lieber noch nicht festlegen. Es sind noch zu viele Fragen offen.»

Auf Furius Licinius’ jungem, edlem Gesicht spiegelte sich wachsende Ungeduld. «Wollt Ihr Bruder Ronans Unterkunft auch noch sehen?» erkundigte er sich.

«Gleich, Licinius. Zuvor möchte ich alle Zimmer auf diesem Stockwerk prüfen. Daß wir hier bei Bruder Eadulf nichts gefunden haben, heißt nicht, daß wir die anderen Zimmer unberücksichtigt lassen sollten.»

«Aber sie waren zur Tatzeit alle bewohnt.» Licinius fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.

«Eben nicht», erwiderte Fidelma. «Wir haben gerade von Eanred gehört, daß seine Kammer leer war. Er ist erst nach dem Mord in den Palast zurückgekehrt.»

«Ihr wollt wirklich alle Zimmer durchsuchen?» fragte Eadulf schmunzelnd. «Puttocs Zimmer auch?»

Furius Licinius machte ein unglückliches Gesicht.

«Sein Zimmer liegt im gleichen Stockwerk am Ende des Korridors. Aber niemand würde den Abt verdächtigen .»

Fidelma seufzte ärgerlich. «Wenn ich in dieser Sache erfolgreich ermitteln soll, muß ich alle Tatsachen kennen», wies sie den jungen Offizier zurecht. «Trotzdem werde ich in die Irre geführt. Erst sagt man mir, es habe eine Durchsuchung gegeben, dann muß ich feststellen, daß Wighards Gemächer gar nicht durchsucht worden sind. Und etwas später heißt es, nicht alle Räume auf diesem Stockwerk seien durchsucht worden, sondern nur die, von denen Ihr dachtet, sie seien in der fraglichen Nacht leer gewesen.»

Ihre Heftigkeit ließ den jungen tesserarius erbleichen.

«Es tut mir leid, aber das lag in der Verantwortung des decurion ...» Als er erkannte, daß er damit bloß die Schuld auf andere schob, hielt er bedrückt inne. «Ich dachte nur ...»

«Das Denken könnt Ihr getrost mir überlassen», unterbrach ihn Fidelma. «Sagt mir nur die Wahrheit, nicht mehr und nicht weniger.»

Furius Licinius trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. «Trotzdem könnt Ihr nicht einfach so Abt Puttocs Zimmer durchsuchen. Er ist . nun ja, er ist Abt eines Klosters .»

Das nicht sehr damenhafte Schnauben, das Fidelma daraufhin von sich gab, sagte mehr als deutlich, was sie von dieser Begründung hielt. Furius Licinius sah sich gezwungen, eine andere Ausrede zu finden.

«Außerdem war er zur fraglichen Zeit in seinem Zimmer. Der Mörder kann dort nichts versteckt haben, er hätte den Abt geweckt .»

Fidelma wandte sich an Eadulf. «Schaut nach, ob Puttoc und Eanred inzwischen zu ihrem Treffen mit Bischof Gelasius gegangen sind. Falls ja, werden wir ihre Zimmer jetzt gleich in Augenschein nehmen.»

Furius Licinius war entsetzt. «Aber .»

«Wir haben die Befugnis, tesserarius», fiel ihm Fidelma ins Wort. «Muß ich Euch erst daran erinnern?»

Eadulf ging hinaus auf den Flur und kam wenig später wieder. «Sie sind fort», berichtete er.

Es dauerte nicht lange, Abt Puttocs Zimmer zu durchsuchen. Aber sie gewannen daraus lediglich die Erkenntnis, daß Puttoc den Annehmlichkeiten des Lebens nicht abgeneigt war. Bei einem frommen Kirchenmann hätte Fidelma eigentlich eine karge, schlichte Kammer erwartet. Puttoc hingegen hatte die Zeit in Rom anscheinend vor allem dazu genutzt, sich für die Zeit im Kloster mit einem Vorrat von Luxusgegenständen einzudecken. Allerdings wies nichts daraufhin, daß in diesem Zimmer ein Teil des Inhalts von Wighards Schatztruhe versteckt worden war.

Abt Puttocs Zimmer hatte ein Fenster, von dem aus man in den hinteren Innenhof schauen konnte. Darunter befand sich ein schmaler Sims, der rings um das gesamte Gebäude verlief. Er war mehrere Zoll breit, aber zu schmal, um als Versteck zu dienen.

«Und Eanreds Zimmer ist gleich nebenan?» fragte Fidelma gereizt.

Licinius nickte stumm. Er hatte wenig Lust, Fidelmas Zorn durch eine falsche Antwort weiter anzustacheln. Noch nie war er einer Frau begegnet, die Männer herumkommandierte und zurechtwies, wie es diese Irin tat.

Gemeinsam traten sie in die Kammer des Geistlichen. Sie war karg und schlicht, und außer dem sacculus, in dem Bruder Eanred seine wenigen Habseligkeiten - ein zweites Paar Sandalen, etwas Unterwäsche und Rasierzeug - aufbewahrte, enthielt sie kaum etwas von persönlichem Wert.

Die Hände vor dem Bauch gefaltet, stand Fidelma da und ließ den Blick durch Eanreds Kammer schweifen. Dann ging sie zum Fenster und sah hinaus. Es lag im rechten Winkel zum nächsten Gebäude, in das es vom domus hospitale keinen direkten Zugang gab. Ihr fiel sofort auf, daß die Steine und der Putz dieses Gebäudes sehr viel neuer wirkten, es folglich erst später errichtet worden war. Der Sims unter dem Fenster setzte sich allerdings auch am Nebenflügel fort, wo der Baumeister ihn jedoch sehr viel großzügiger bemessen hatte: Er war dort einen ganzen Fuß breit und von Bruder Eanreds Fenster aus leicht zu erreichen.

«Seht Ihr?» fragte Eadulf hinter ihr. «Ich glaube, Furius Licinius hat recht. Wir verfolgen die falsche Fährte.»

«Eanreds Kammer ist ziemlich spartanisch eingerichtet.» Fidelma wandte sich zu ihm um.

«Offenbar liebt Eanred das einfache Leben», stimmte Eadulf zu und ging mit Furius Licinius zurück auf den Flur. Fidelma hielt noch einen Moment lang inne, dann folgte sie den beiden. Eadulf hatte wahrscheinlich recht: Vielleicht sah sie ja schon Gespenster. Allerdings wurde sie das seltsame Gefühl nicht los, daß ihr etwas entgangen war.

«Bleiben noch die Zimmer von Ine und Sebbi», sagte sie und schloß die Tür zu Eanreds Kammer hinter sich.

In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf den Rahmen der Tür. Etwa drei Fuß über dem Boden war das Holz gesplittert. Ein winziges Stück Stoff, ein kleiner, ausgefranster Streifen, war irgendwo abgerissen und an dem Splitter hängengeblieben.

Sie beugte sich vor, um ihn abzunehmen.

«Was ist das?» fragte Eadulf, der sie beobachtet hatte.

Sie schüttelte den Kopf. «Ich bin mir nicht sicher. Ein Stück Sackleinen vielleicht.»

Sie nahm den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn gegen das Licht.

«Ja, ein Stück Sackleinen», bestätigte Eadulf.

«Was hat das zu bedeuten?» fragte Furius Licinius.

«Das kann ich noch nicht sagen», erwiderte Fidelma.

«Vielleicht hat jemand etwas in einem Sack in Eanreds Zimmer geschleppt, der Stoff hat sich an dem Splitter verhakt, und es ist ein Stück abgerissen.»

Eadulf sah sie aufmerksam an und versuchte, ihre Gedanken zu lesen. «Soll das heißen, daß der Schatz in Eanreds Zimmer versteckt worden ist?»

Eadulf hatte aus Fidelmas Überlegungen schon immer rasche Schlüsse ziehen können.

«Ich erklärte doch schon, daß ich das noch nicht sagen kann», erwiderte Fidelma sanft. «Nur ein schlechter Richter zieht frühzeitige Schlüsse, ehe er alle verfügbaren Hinweise gesammelt und gegeneinander abgewogen hat.»

«Aber das wäre doch eine Erklärung», beharrte Furius Licinius, eifrig darauf bedacht, etwas zur Sache beizutragen. Er hatte das dringende Bedürfnis, die durch die nachlässige Durchsuchung ins Wanken geratene Ehre der custodes zu retten. «Eanred hat selbst gesagt, daß er erst zurückgekehrt ist, als man Wighards Leiche schon entdeckt hatte, also nach Ronan Ragallachs Verhaftung. Vielleicht hat Ronan die Beute in die Kammer geschafft, während Eanred noch fort war?»

Fidelma lächelte spöttisch.

«Meint Ihr wirklich, Ronan Ragallach hätte zwei Säcke mit Diebesbeute in Eanreds Kammer versteckt, bevor er von den custodes verhaftet wurde? Was ist dann aus den Säcken geworden?»

Licinius preßte die Lippen zusammen.

«Ich habe ja schon gesagt, daß er vielleicht einen Komplizen hatte», murmelte er.

«Ja, das stimmt. Wir werden später noch darüber sprechen. Jetzt laßt uns erst einmal Bruder Sebbis Zimmer durchsuchen», entgegnete Fidelma.

«Aber das Sackleinen?» fragte Eadulf und sah zu, wie sie es in ihrem marsupium, einem großen Umhängebeutel, verschwinden ließ.

«Der weise Richter sammelt nach und nach alle Beweisstücke», erklärte Fidelma lächelnd. «Erst wenn alle Stücke beisammen sind, versucht er - wie ein Handwerker, der ein kunstvolles Mosaik schafft - daraus vor seinem geistigen Auge ein Muster zusammenzusetzen und hie und da noch ein Stückchen einzufügen, bis sich allmählich ein stimmiges Bild ergibt. Nur ein schlechter Richter erliegt der Versuchung, ein Beweisstück herauszugreifen und daraus ein Gesamtbild ableiten zu wollen. Wer weiß? Vielleicht hat dieses Stück Stoff mit der Aufklärung unseres Falls gar nichts zu tun.»

Mit einem schelmischen Augenzwinkern schaute sie zu ihm auf, machte dann kehrt und ging den Flur hinunter. Weder in Bruder Sebbis noch in Bruders Ines Kammer konnten sie etwas Verdächtiges entdecken, so daß Fidelma auf ihren ursprünglichen Plan zurückkam, Ronan Ragallachs Unterkunft in Augenschein zu nehmen.

Eadulf wechselte einen kurzen Blick mit dem verdrossenen jungen tesserarius, ehe er ihr folgte. Was ihn betraf, war die Sache ziemlich klar, und es gab keinen Grund für weitere mühselige Ermittlungen. Ronan Ragallach hatte Wighard offenbar aus Habgier umgebracht, und es war ihm gelungen, den Schatz noch vor seiner Festnahme zu verstecken. Nach seiner Flucht aus dem Wachhaus war er wohl längst wieder in den Besitz seiner Beute gelangt und hatte - wenn er auch nur ein Fünkchen Verstand besaß - die Stadt inzwischen möglichst weit hinter sich gelassen.

Als sie über die vordere Treppe hinunter in den Innenhof vor dem domus hospitale kamen, sahen sie Abt Puttocs hochgewachsene Gestalt am Brunnen stehen. Doch es war die junge Frau neben ihm, die Fidelmas Blick auf sich zog, so daß sie wie angewurzelt auf der Schwelle verharrte. Eadulf und Fu-rius Licinius wären fast mit ihr zusammengestoßen. Die schmächtige Schwester Eafa zitterte wie Espenlaub und hatte die Stimme in tränenreicher Verzweiflung erhoben. Aus der Entfernung sah es so aus, als versuchte der Abt, sie mit Worten und Gesten zu beruhigen, doch Eafa wandte sich plötzlich um und stürzte durch einen der schmalen Gänge davon, ohne Schwester Fidelma und ihre Begleiter zu bemerken.

Abt Puttoc blickte ihr noch eine Weile betreten nach. Dann wandte er sich um und sah Fidelma, Eadulf und Furius Licinius in der offenen Tür zum domus hospitale stehen. Ohne ein Zeichen des Wie-dererkennens machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand raschen Schrittes im Nachbargebäude.

«Offenbar hat unser stolzer Abt die arme Schwester Eafa völlig aus der Fassung gebracht», sagte Fidelma. «Worum es wohl bei diesem Disput ging?»

«Jedenfalls wäre es nicht das erste Mal», bemerkte Eadulf grimmig.

Fidelma sah ihn erstaunt an. «Was meint Ihr damit, Eadulf?»

«Als ich gestern morgen vom Refektorium zurückkam, vernahm ich laute Stimmen aus Puttocs Zimmer. Ich war schon in meiner Kammer und gerade dabei, die Tür hinter mir zu schließen, als ich hörte, wie Puttocs Tür aufging. Neugier übermannte mich, und ich ließ meine Tür einen Spaltbreit offen, um zu sehen, was nebenan vor sich ging. Jedenfalls stürmte Schwester Eafa mit verrutschter Haube und zerknitterter Tracht aus Puttocs Zimmer, als ob ihr der Leibhaftige erschienen sei. Dann lief sie den Flur entlang und die Treppe hinunter.»

«Habt Ihr Puttoc auf den Vorfall angesprochen?»

Eadulf preßte die Lippen zusammen. Seine Wangen röteten sich. «Ich habe meine eigenen Schlüsse gezogen. Durch entsprechende Andeutungen hat man mir schon öfter zu verstehen gegeben, daß Puttoc bei den Frauen einen gewissen Ruf genießt. Die Lehre Roms schreibt zwar den Zölibat für Äbte und Bischöfe vor, aber ich fürchte, in dieser Hinsicht ist Puttoc eher den Lehren der Kirche Columbans zugeneigt.»

Fidelmas Augen verengten sich.

«Wohl kaum der passende Leumund für einen Mann, der den Ehrgeiz hat, in die Fußstapfen Augustins von Canterbury zu treten. Wollt Ihr damit sagen, Puttoc sei dafür bekannt, Frauen seine Aufmerksamkeiten aufzuzwingen?»

Eadulfs Gesichtsausdruck war eigentlich Antwort genug, dennoch sagte er: «So habe ich es jedenfalls gehört.»

«Gibt es in den sächsischen Königreichen denn keine Gesetze gegen Vergewaltigung?» fragte Fidelma entsetzt.

«Nicht für die Armen», erwiderte Eadulf.

«Unser Fenechus-Gesetz schützt die Frauen nicht nur vor Vergewaltigung. Auch dann, wenn ein Mann zum Beispiel eine betrunkene Frau zum Geschlechtsverkehr verleitet, wird der Vorwurf ebenso ernst genommen. Unser Gesetz schützt alle Frauen. Schon wenn ein Mann es wagt, eine Frau gegen ihren Willen zu küssen oder auch nur zu berühren, kann er zu einer Strafe von zweihundertvierzig Silber- screpall verurteilt werden.»

Eadulf wußte, daß der screpall zu den wichtigsten Münzen gehörte, die in Irland im Umlauf waren.

«Vielleicht gebe ich aber auch allzu leichtfertig irgendwelchen Klatsch wieder», sagte er, von Fidelmas Heftigkeit unangenehm berührt. «Ich habe die ganze Geschichte von Sebbi gehört.»

«Und ob den Absichten Bruder Sebbis zu trauen ist, sei noch dahingestellt», meinte Fidelma. Sie schien eine weitere Bemerkung machen zu wollen, besann sich aber eines Besseren und sagte statt dessen: «Kommt, Furius Licinius, zeigt uns den Weg zu Ronan Ragallachs Unterkunft.»

«Dazu müssen wir zu einer Herberge unter einer der Bögen der Aqua Claudia gehen», erklärte Licinius, der dem Gespräch zwischen Fidelma und Eadulf gebannt gelauscht hatte.

«Ist das weit?» fragte Fidelma.

«Nein, im Gegenteil, es ist ganz in der Nähe», sagte Licinius. «Sicherlich habt Ihr den Aquädukt schon gesehen. Die große, unter dem berüchtigten Kaiser Caligula vor über sechshundert Jahren erbaute Wasserleitung bringt Wasser von einer achtundsechzig Kilometer entfernten Quelle in der Nähe von Sublaquea in die Stadt.»

Fidelma hatte den Aquädukt tatsächlich schon gesehen und die Größe des Bauwerks bewundert. In Irland gab es nichts Vergleichbares, aber die irischen Königreiche waren auch reichlich mit Wasser versorgt, und es gab keinen Grund, den Verlauf von Flüssen oder Quellen zu verändern, um damit dürre Gegenden fruchtbar zu machen.

«Die Herberge gehört Diakon Bieda», erklärte Furius Licinius weiter. «Ich muß Euch warnen, Schwester, es ist eine sehr billige und schäbige Unterkunft, die nicht unter der Aufsicht von Geistlichen steht. Auf die Empfindsamkeiten gläubiger Frauen wird dort wenig Rücksicht genommen, wenn Ihr versteht, was ich meine.»

Fidelma sah den jungen Mann mit ernster Miene an.

«Ich glaube, ich verstehe, was Ihr meint, Furius Licinius», entgegnete sie. «Aber wenn der Eigentümer tatsächlich ein Diakon der Kirche ist, verstehe ich nicht, wie es dazu kommen konnte.»

Licinius zuckte mit den Achseln. «In Rom ist es einfach, Vergünstigungen käuflich zu erwerben. Der Titel eines Diakons gehört dazu.»

«Dann werde ich mein Bestes tun, um mich von etwaigen Anstößigkeiten nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Und jetzt sollten wir uns auf den Weg machen, denn ich habe wenig Lust, das Abendessen zu verpassen, das sicherlich bald aufgetragen wird.»

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