XVIII

DIE SONNE BRANNTE UNBARMHERZIG

vom Himmel und tauchte die leuchtend weißen römischen Häuser in ein gleißendes Licht. Fidelma saß im Schatten eines grobleinenen Sonnensegels auf einem Bootssteg. Ganz in der Nähe spannte sich die Probi-Brücke über das trübe Wasser des mächtigen Tiber, hinter ihr erhob sich der steil ansteigende Aventinus, dessen Schatten jedoch nicht bis zum Ufer des Flusses reichten.

Eadulf konnte nicht stillsitzen. Er wirkte verlegen und schritt ruhelos auf und ab.

«Wann, sagtet Ihr, würde das Boot kommen?» fragte er nicht zum ersten Mal.

Fidelma verkniff sich eine ungehaltene Bemerkung und antwortete auch diesmal geduldig: «Um die Mittagsstunde, Eadulf. Wir sind die ersten. Der Fährmann hat bestimmt eine ganze Reihe von Leuten flußabwärts nach Ostia und Porto zu bringen.»

Eadulfs Miene war besorgt. «Ob es wirklich so klug ist, allein zu reisen?»

Fidelma schüttelte den Kopf. «Bis Ostia wird mir schon nichts geschehen. Und dort treffe ich mit meinen Landsleuten aus Columbans Kloster Bobbio zusammen, die ebenfalls nach Irland wollen. Wir schiffen uns gemeinsam nach Massilia ein, und von dort aus geht es dann weiter nach Irland.»

«Seid Ihr sicher, daß Ihr sie in Ostia auch nicht verfehlen werdet?» fragte Eadulf.

Seine Fürsorglichkeit brachte sie zum Lächeln.

Er hatte darauf bestanden, sie von ihrer Herberge durch die Stadt bis zur Anlegestelle zu begleiten. In den letzten Tagen seit der Aufklärung des Mords an Wighard hatte zwischen ihnen eine seltsame Beklommenheit geherrscht.

«Müßt Ihr denn wirklich schon abreisen?» platzte Eadulf schließlich heraus.

«Ja», erwiderte Fidelma schlicht. «Jetzt, da der Heilige Vater die Ordensregeln meines Klosters gebilligt und gesegnet hat, muß ich nach Kildare zurückkehren. Meine Mission ist erfüllt. Außerdem hat man mir mehrere Briefe für Ultan von Armagh mitgegeben.» Sie sah Eadulf nachdenklich an. «Und was meint Ihr, wie lange Ihr noch in Rom bleiben werdet?»

Eadulf zuckte die Achseln. «Möglicherweise wird es mehrere Jahre dauern, bis wir nach Canterbury zurückkehren können. Zuerst müssen wir den neuen Erzbischof unterweisen.»

Fidelma sah ihn erstaunt an. Von der Berufung eines neuen Erzbischofs hatte sie noch nichts gehört.

«Vitalian hat also bereits einen neuen Kandidaten ernannt? Ich hatte mich schon gefragt, warum Ihr Euch gestern nachmittag stundenlang in Klausur begeben habt. Ich befürchtete schon, ich müßte abreisen, ohne Euch noch einmal gesehen zu haben. Ist es Abt Hadrian von Hiridanum?»

Eadulf trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. «Eigentlich sollte noch niemand davon erfahren, aber . » Er senkte die Stimme und raunte ihr vertraulich zu: «Nein, es ist nicht Hadrian. Er hat Vitalians Berufung abgelehnt und einen anderen Abt namens Andrius empfohlen, aber Andrius war offenbar zu krank, um das Amt anzunehmen.»

«Für wen hat der Heilige Vater sich dann entschieden? Doch nicht etwa für Bruder Sebbi .?»

Eadulf lachte.

«Nein, nicht für Sebbi. Der neue Kandidat ist ein älterer griechischer Mönch aus Tarsus und heißt Theodoras. Er hat die letzten vier Jahre als Flüchtling in Rom gelebt. Tarsus ist an die Anhänger Mohammeds gefallen, er mußte fliehen und hat sich in Rom in Sicherheit gebracht.»

Fidelma war überrascht. «Ein Grieche? Ein Träger der östlichen Tonsur?»

Eadulf lächelte. «Ich wußte, daß Ihr das sagen würdet. Aber Theodorus hat versprochen, sich nach entsprechender Unterweisung zu den Lehren Roms zu bekennen.»

«Das wird Euren sächsischen Königen und Prälaten aber gar nicht gefallen», bemerkte Fidelma. «Und schon gar nicht unserem Freund Wilfrid von Ripon.»

Eadulf nickte. «Deshalb werden wir auch noch eine Weile in Rom bleiben. Hadrian hat von Vitali-an den Auftrag bekommen, Theodorus in den Lehren Roms zu unterweisen. Außerdem soll er den neuen Erzbischof nach Canterbury begleiten und ein Auge darauf haben, daß er in den sächsischen Königreichen keine griechischen Sitten einführt. Schließlich unterscheiden sich diese bekanntermaßen nur unwesentlich von den Geboten der Kirche Columbans.»

Fidelma grinste spitzbübisch. «Nun, das wäre doch eine interessante Wendung, Eadulf. Die Entscheidung von Witebia zugunsten Roms wird von einem von Rom berufenen Bischof wieder rückgängig gemacht.»

Eadulfs Miene blieb ernst, obwohl er sich dieser Logik nicht verschließen konnte. «Wie Ihr schon sagtet, werden viele mit dieser Berufung nicht einverstanden sein.»

«Was ist mit den Brüdern Sebbi und Ine?»

«Ine hat zugestimmt, Theodorus’ persönlicher Diener zu werden, und Sebbi wird als Abt von Stanggrund nach Kent zurückkehren, so wie er es sich immer gewünscht hat. Zumindest seine ehrgeizigen Pläne haben sich erfüllt.»

Fidelma sah ihn aufmerksam an. «Und Ihr?»

«Ich? Ich habe Vitalian versprochen, Theodorus als scriptor und Berater in allen Fragen des sächsischen Rechts zur Seite zu stehen. Aber es wird eine Weile dauern, bis wir soweit sind, daß wir die Rückreise nach Canterbury antret en können. Theodorus hat nicht nur vieles zu lernen, er ist bisher auch nur ein einfacher Mönch. Er muß erst zur Kirche Roms konvertieren und danach zum Priester, Diakon und Bischof geweiht werden.»

Fidelma betrachtete die Holzplanken des Stegs so angestrengt, als besäßen sie eine geheimnisvolle Anziehungskraft. Eine Weile lang schwiegen sie beide.

«Ihr werdet also hierbleiben, bis Theodorus bereit ist, sein Amt in Canterbury anzutreten?»

«Ja. Und Ihr werdet für immer nach Kildare zurückkehren?»

Fidelma verzog das Gesicht. «Ihr werdet mir fehlen, Eadulf ...», sagte sie anstelle einer Antwort.

Vom Ende des Stegs waren laute Rufe zu hören. Als Fidelma und Eadulf sich umdrehten, sahen sie Äbtissin Wulfrun auf sich zukommen. Sie hatte zwei verschüchterte Nonnen im Schlepptau, die sich mit ihrem umfangreichen Gepäck abmühten, während sie ihnen mit gewohnt barscher Stimme Befehle erteilte. Bei Fidelmas und Eadulfs Anblick wandte sie sich um. Offenbar zog sie es vor, in der glühenden Sonne zu stehen, als sich zu Fidelma in den Schatten des Sonnensegels zu setzen.

«», zitierte Fidelma.

Eadulf grinste. «Wulfrun scheint wirklich nichts dazugelernt zu haben», sagte er. «Daß die Wahrheit ans Licht gekommen ist, war ein herber Schlag für sie. Lieber würde sie als Prinzessin in einer Traumwelt leben, als sich zu ihrer Vergangenheit als Sklavin zu bekennen.»

«Veritas odium parit», gab Fidelma eine Zeile von Terenz wieder. «Wahrheit zeugt Haß. Und doch tut sie mir leid. Es muß traurig sein, wenn man so wenig Selbstvertrauen hat, daß man glaubt, die Achtung seiner Mitmenschen nur mit einer er-fandenen Geschichte erlangen zu können. Viel zuviel Leid auf dieser Welt geht auf Menschen zurück, die sich ständig wichtig machen und andere beeindrucken müssen.»

«Wie lauten noch Epiktets spöttische Worte?» fragte Eadulf, während er stirnrunzelnd überlegte.

«Ihr denkt wohl an seine Frage: Tatsächlich ein äußerst feiner Spott», sagte Fidelma lächelnd. «Wie auch immer, offenbar hat Äbtissin Wulfrun ein paar bedauernswerte Seelen gefunden, die bereit sind, in die Fußstapfen der armen, traurigen Schwester Eafa zu treten. Ich muß gestehen, ich empfinde noch immer Mitleid für sie.»

Sie deutete auf Wulfrun, die vollauf damit beschäftigt war, die beiden jungen Nonnen herumzukommandieren.

«Sie wird sich nicht ändern», meinte Eadulf. «Ich hoffe nur, Ihr braucht sie nicht die ganze Reise über zu ertragen.»

«Ich werde versuchen, sie einfach nicht zu beachten.»

Fidelma suchte Eadulfs Blick, aber seine Augen richteten sich bereits auf einen weiteren Neuankömmling am Ende des Stegs.

Ein kleines Bündel unter dem Arm, schritt tesserarius Furius Licinius an Äbtissin Wulfrun und ihren Dienerinnen vorbei und ging direkt auf das große Sonnensegel zu.

«Ich habe erst heute morgen gehört, daß Ihr Rom verlassen wollt, Schwester», begrüßte er Fidelma sichtlich verlegen.

Fidelma lächelte bescheiden. «Ich hätte nicht gedacht, daß die Reisepläne einer armen irischen Schwester für einen Offizier der custodes am römischen Lateranpalast von Bedeutung sein könnten, Furius Licinius», sagte sie ernst.

«Ich . » Licinius biß sich auf die Unterlippe und warf einen kurzen Seitenblick auf Eadulf, der so tat, als interessiere er sich brennend für das rasch dahinfließende Wasser des mächtigen Tiber. «Ich habe Euch ein Geschenk mitgebracht . Ein Andenken an Eure Zeit in Rom.»

Die Wangen des jungen Mannes röteten sich, als er ihr einen in Sackleinen gewickelten Gegenstand hinschob. Offenbar war es ein Holzkästchen. Fidelma nahm das Bündel feierlich entgegen und schlug das Tuch zurück. Tatsächlich, es war ein hübsches Kästchen aus einem tiefschwarzen Holz, wie Fidelma es noch nie zuvor gesehen hatte.

«Man nennt es ebenus», erklärte Licinius.

«Es ist wunderschön», sagte Fidelma und betrachtete die winzigen Silberbeschläge, die zu dem schwarzen Holz einen reizvollen Gegensatz bildeten. «Aber Ihr hättet nicht ...»

«Das Kästchen hat auch einen Inhalt», unterbrach Licinius sie eifrig. «Macht es auf.»

Feierlich öffnete Fidelma das schwarze Kästchen. In den mit Samt ausgeschlagenen Fächern steckten zwölf hübsche Fläschchen aus Glas.

«Sind das Kräutertinkturen?» fragte sie.

Eadulf reckte den Hals, um ihr über die Schultern zu schauen.

Noch tiefer errötend, beugte sich Licinius vor, nahm eine Flasche heraus und zog den winzigen Korkverschluß ab.

Vorsichtig roch Fidelma an dem Fläschchen, dann weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen.

«Parfüm!» hauchte sie.

Licinius schluckte aufgeregt. «Bei den Damen Roms sind solche Duftwässer ganz groß in Mode. Ich hoffe, daß Ihr mein Geschenk als Zeichen meiner großen Hochachtung annehmt, Fidelma von Kildare.»

Fidelma fühlte sich plötzlich sehr verlegen.

«Ich glaube nicht ...», begann sie.

Licinius ergriff ungestüm ihre Hand. «Ich habe von Euch viel über die Frauen gelernt», sagte er ernst. «Ich werde es nicht vergessen. Bitte nehmt dieses Geschenk in Erinnerung an mich an.»

Fidelma wurde von plötzlicher Trauer übermannt, und zu ihrem Ärger traten ihr Tränen in die Augen. Sie dachte an Cian und an Eadulf und wünschte, sie wäre wieder ein junges Mädchen, das die aimsir togu, die Zeit der Wahl, und das ganze Leben noch vor sich hatte. Sie versuchte zu lächeln.

«Ich werde Euer Geschenk annehmen, Licinius, und es ebenso ehren wie den Geist, in dem Ihr es mir überreicht habt.»

Licinius bemerkte Eadulfs starren Blick. Ruckartig richtete er sich auf und wurde plötzlich förmlich. «Danke, Schwester. Ich wünsche Euch eine sichere Reise zurück in Eurer Heimatland. Gott sei mit Euch, Fidelma von Kildare.»

«Dia argach bothar a rachaidh tu, Licinius, wie wir in meiner Sprache sagen: Gott sei mit Euch auf allen Wegen.»

Der junge Offizier der Palastwache salutierte, drehte sich auf dem Absatz um und schritt davon.

Mit offensichtlichem Mißbehagen sah Eadulf ihm nach. Dann wandte er sich in bemüht scherzhaftem Ton an Fidelma.

«Mir scheint, Ihr habt eine Eroberung gemacht.» Fidelma wandte sich ab, doch ihre ärgerliche Miene war ihm nicht entgangen, und er fragte sich, womit er diese ausgelöst hatte. Betreten stand er da, während sie das Ebenholzkästchen schloß, es wieder in das Sackleinen wickelte und in ihrem Gepäck verstaute.

«Fidelma ...», begann er verlegen, hielt inne und stieß einen heftigen Fluch in seiner Muttersprache aus.

Sie erschrak so über die ungewohnten Kraftausdrücke, daß sie erstaunt den Kopf hob. Eadulf blickte zum Ende des Stegs, wo gerade eine lecticula angehalten hatte. Begleitet wurde sie von einer Gruppe von custodes, deren Uniform eher wie ein Relikt aus dem heidnischen Rom der Kaiserzeit als wie ein Symbol der christlichen Gegenwart wirkte. Der hochgewachsene Bischof Gelasius kletterte aus der Sänfte. Er hieß seine Begleiter warten und trat allein auf den hölzernen Steg.

Äbtissin Wulfrun eilte ihm entgegen. Fidelma konnte ihre schrille, durchdringende Stimme hören.

«Ah, Bischof Gelasius! Es ist Euch also zu Ohren gekommen, daß ich Rom heute verlasse?» begrüßte sie ihn.

Gelasius blinzelte sie an, als sehe er sie zum ersten Mal.

«Wie, bitte? Nein», erwiderte er kühl. «Ich wünsche Euch eine gute Reise. Aber ich bin gekommen, um mich von jemand anderem zu verabschieden.»

Er eilte weiter und ließ die empörte Äbtissin von Sheppey einfach stehen.

«», wiederholte Eadulf leise.

Mit großen Schritten ging Bischof Gelasius direkt auf das Sonnensegel zu, unter dem Fidelma saß. Zögernd erhob sie sich, um ihn zu begrüßen.

«Fidelma von Kildare», sagte der nomenclator des Heiligen Vaters lächelnd, ohne Eadulf weiter zu beachten. «Ich konnte Euch unmöglich abreisen lassen, ohne Euch meine besten Wünsche für eine sichere Heimreise mit auf den Weg zu geben.»

«Das ist sehr gütig von Euch», erwiderte Fidelma.

«Gütig? Oh, nein, wir verdanken Euch so viel, Schwester. Ohne Eure Einsatzbereitschaft . und natürlich ohne Bruder Eadulfs Hilfe . hätte Rom möglicherweise eine folgenschwere Auseinandersetzung zwischen Irland und den sächsischen Königreichen erleben müssen.»

Fidelma zuckte die Achseln. «Ich habe nur meine Pflicht getan, Gelasius», sagte sie.

«Schon das Gerücht, Wighard sei durch die ruchlose Tat eines irischen Mönchs ums Leben gekommen, hätte die Sachsen womöglich .» Gelasius hielt inne und zögerte, dann sah er Fidelma offen ins Gesicht. «Ich gehe davon aus, daß Ihr die Wünsche des Heiligen Vaters in dieser Angelegenheit achten werdet?»

Er schien erstaunt, als Fidelma auflachte.

«Ist das der wahre Grund Eures Kommens, Ge-lasius? Sicherzugehen, daß ich Rom nicht in Verlegenheit bringen werde?»

Die Unverblümtheit dieser Frau verschlug Ge-lasius zunächst die Sprache. Allerdings mußte er sich eingestehen, daß sie im Grunde recht hatte. Hauptsächlich hatte er sich aus Besorgnis auf den Weg quer durch Rom gemacht, um vor ihrer Abreise noch einmal mit der irischen Nonne zu sprechen. Lächelnd sah er Fidelma an.

«Gibt es denn keine Wahrheit, die sich vor Euch verbergen läßt, Fidelma von Kildare?» fragte er.

«Doch, einige solcher Wahrheiten gibt es schon», antwortete sie nach einer Weile und warf Eadulf einen kurzen Seitenblick zu. Aber der sächsische Mönch betrachtete aufmerksam den Bischof.

«Nun, da wir die Sache schon einmal angesprochen haben: Meiner Ansicht nach sollten wir in unserem offiziellen Bericht an die sächsischen Könige und Prälaten sagen, daß Wighard von Canterbury und ein Teil seines Gefolges . Puttoc, Eanred und Eafa ... an der Gelben Pest gestorben sind. Die Krankheit tritt so häufig auf, daß niemand diese Erklärung anzweifeln wird.»

«Darauf hatten wir uns bereits geeinigt», sagte Fidelma. «Ich halte mich an Roms Wunsch, geheimzuhalten, daß die Männer und Frauen der Kirche nur Menschen sind und daß Bischöfe und Äbte ebenso große Sünder sein können wie die gemeinsten Bauern.»

«Wie sollten wir das Volk dazu bringen, dem Wort Gottes zu gehorchen, wenn es keine Achtung vor denen hat, die es predigen?» fragte Gelasius.

«Von mir wird niemand die Wahrheit über Wighards Tod erfahren», beruhigte ihn Fidelma. «Aber es sind noch andere eingeweiht .»

Sie deutete auf Äbtissin Wulfrun, die ihren beiden jungen Dienerinnen noch immer Befehle erteilte. Gelasius folgte ihrem Blick.

«Wulfrun? Wie Ihr nur allzu gut wißt, ist sie eine eitle Frau, und mit eitlen Menschen hat Rom sich bisher noch immer einigen können. Das gleiche gilt für ehrgeizige Glaubensjünger. Bruder Sebbi haben wir durch seinen Ehrgeiz an uns gebunden. Um Ine brauchen wir uns keine weiteren Gedanken zu machen, als Diener des neuen Erzbischofs haben wir direkten Einfluß auf ihn. Und was Bruder Eadulf angeht .»

Er betrachtete den sächsischen Mönch nachdenklich.

«Eadulf», sagte Fidelma, «ist ein kluger, von innerer Überzeugung und nicht von Ehrgeiz getriebener Mann, den Ihr mit nichts anderem bestechen müßt als mit einer einleuchtenden Erklärung.»

Gelasius neigte den Kopf.

«Das gleiche gilt für Euch, Fidelma von Kildare. Ich habe von Euch viel über die Frauen Eures Landes gelernt. Vielleicht tun wir Römer unrecht, indem wir unseren Frauen jegliche öffentliche Betätigung untersagen. Begabungen wie die Euren sind wirklich rar.»

«Wenn ich das Thema wechseln dürfte, Bischof Gelasius ...», sagte Fidelma, um ihre Verlegenheit zu verbergen. «Ich hatte Euch um etwas gebeten, und ich wollte fragen, ob es erledigt worden ist?»

Gelasius nickte lächelnd. «Ihr sprecht von dem kleinen Antonio, dem Sohn des Nereus, der auf dem christlichen Friedhof Kerzen verkauft hat?»

Fidelma nickte.

«Die Sache ist erledigt, Schwester. Wir haben ihn nach Lucca in das Kloster des heiligen Fridian gesandt. Fridian ist einer Eurer Landsleute.»

«Ich habe von Fridian gehört», sagte Fidelma. «Er war der Sohn eines Königs von Ulster, der sich entschieden hat, sein Leben Gott zu weihen.»

«Wir hielten es für ein Zeichen unserer Anerkennung, Schwester, daß der junge Antonio in einem Haus erzogen wird, das von einem Eurer Landsleute gegründet wurde.»

«Ich freue mich für ihn», sagte Fidelma. «Er wird dem Glauben Ehre machen. Ich bin froh, daß ich dem Jungen helfen konnte.»

Laute Rufe vom Fluß unterbrachen ihr Gespräch. Ein großes, vom anderen Ufer des Tiber kommendes Boot steuerte in einem großen Bogen auf den Steg zu.

«Das muß Euer Boot sein, Schwester», sagte Gelasius.

Ein plötzlicher Schreck fuhr ihr durch die Glieder. So bald? Obwohl so vieles ungesagt geblieben war?

Gelasius sah ihren Gesichtsausdruck und deutete ihn richtig. Er streckte die Hand aus und lächelte sogar, als Fidelma sie ergriff und kurz den Kopf neigte. Allmählich hatte er sich an die irischen Sitten gewöhnt.

«Unser Dank für alles, was Ihr für uns getan habt, begleitet Euch, Schwester. Möget Ihr eine sichere Heimreise und ein langes, gesundes Leben haben. Deus vobiscum.»

Er nickte Eadulf kurz zu und ging mit großen Schritten zu seiner lecticula zurück, ohne Äbtissin Wulfrun weiter zu beachten.

Das von einem Dutzend kräftiger Ruderer angetriebene Boot näherte sich dem Steg.

«Nun», sagte Eadulf zögernd, «die Zeit für Eure Abreise ist gekommen.»

Fidelma seufzte und versuchte, ihre Traurigkeit zu bezwingen. «Vestigia ... nulla retrorsum», zitierte sie Horaz und blickte Eadulf forschend an. Doch sie konnte seine Miene nicht deuten.

«Ihr werdet mir fehlen, Eadulf von Seaxmund’s Ham», sagte Fidelma leise.

«Und Ihr werdet mir fehlen, Fidelma von Kildare.»

Viel mehr gab es zwischen ihnen jetzt nicht mehr zu sagen.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und ergriff seine Hände. «Unterweist den zukünftigen Erzbischof gut in den Sitten Eures Landes, Eadulf.»

«Ich werde unsere Debatten vermissen, Fidelma. Aber vielleicht haben wir doch ein wenig voneinander lernen können.»

Das Boot hatte angelegt. Wulfrun und ihre Dienerinnen hatten ihr Gepäck bereits an Bord verstaut und ihre Plätze eingenommen. Einer der Männer hatte Fidelmas Taschen ins Boot gestellt und schickte sich an, ihr an Bord zu helfen.

Einen Augenblick standen Fidelma und Eadulf einander noch gegenüber und schauten sich in die Augen, dann brach Fidelma den Bann durch ein schelmisches Grinsen. Sie wandte sich um, stieg leichtfüßig ins Heck des Bootes und ließ sich auf einer der Bänke nieder.

Mit einem heiseren Schrei stießen sich die Ruderer ab. Einige Sekunden lang trieb das Boot im Wasser, dann tauchten sie mit einem weiteren Schrei ihre Ruder ins Wasser, um das Boot mit raschen Schlägen stromabwärts zu steuern.

Fidelma hob die Hand und winkte der immer kleiner werdenden Gestalt Bruder Eadulfs zu, der ganz allein auf dem Steg zurückgeblieben war. Erst als er hinter einer Biegung des Flusses verschwand, wandte sie den Blick vom Ufer ab.

Die Ruderer stimmten ein Lied an, das ihnen bei ihrer harten, von der heißen Mittagssonne noch erschwerten Arbeit half:

Der Himmel klart auf, der Sturm hat sich gelegt,

unsre Mühe zähmt alles, was sich bewegt .

Heia ulri! Nostrum reboans echo sonet heia!

Holt auf, Männer! Ein schallendes Echo

soll unsre Schläge vorwärts tragen!

Fidelma seufzte leise, lehnte sich auf ihrer Bank zurück und ließ den Blick über das vorüberziehende Flußufer schweifen. Bald hatten sie die Hügel Roms mit ihren dichtgedrängten Häusern und Anlegeplätzen hinter sich gelassen. Das Land war kahl und baumlos, und auch der Fluß hatte nichts mehr von der Schönheit des großen Tiber an sich, die man Fidelma einst so eindringlich gepriesen hatte.

Nur hin und wieder kamen sie an einer von Kiefern gekrönten Anhöhe vorbei, und auf den wenigen Feldern wuchs spärliches Korn. Fidelma hielt sich vor Augen, daß die Armee Kaiser Con-stans’ erst vor kurzem durch diese Gegend gezogen war. Menschen, nicht die Natur, hatten diese Ödnis geschaffen.

Wie Fidelma sich erinnerte, teilte sich der Fluß um die Isola Sacra genannte Insel und ergoß sich zwischen den Hafenstädten Ostia und Porto ins Mittelmeer. Die Einfahrt nach Rom durch die tiefliegenden stagni oder salzigen Sümpfe konnte man zwar nicht gerade malerisch nennen, aber Ostia und Porto waren nun einmal von alters her die beiden Häfen Roms, in denen Schiffe aus allen Ländern der Welt vor Anker gingen.

Die Landschaft veränderte sich, und das Sonnenlicht spiegelte sich im silbrigen Grün unzähliger Olivenbäume. Anders als die brachen Getreidefelder hatten die Olivenhaine Constans’ Plünderungen unbeschadet überstanden. Doch in welchem Gegensatz stand diese helle, silbrige Farbe zu dem Grün, das Fidelma aus ihrem Heimatland kannte, zu den üppigen, schattenspendenden Bäumen, die im gemäßigten Klima Irlands so prächtig wuchsen und gediehen. Sie dachte an die von Fuchsienbüschen gesäumten Wege, die safrangelb gefleckten, grauen Granitfelsen an der steinigen Küste, an die breiten, grünen Hügel und tiefen, dunklen Täler, an die von Brombeerhecken, Heidekraut und Nesseln gesäumten Wälder, an Eiben, Haselnüsse und Geißblatt.

Erstaunt stellte Fidelma fest, daß sie Heimweh hatte. Ihr wurde klar, wie sehr sie sich darauf freute, in ihr Heimatland zurückzukehren, ihre eigene Sprache zu hören, sich geborgen zu fühlen, zu Hause zu sein. Was hatte Homer geschrieben? «Kann ich für mein Teil, als das eig’ne Land, doch sonst nichts Süßeres erblicken.» Vielleicht hatte er recht.

Sie betrachtete die vorüberziehende Landschaft, und ihre Gedanken wanderten zurück zu Eadulf. Warum hatte sie beim Abschied solche Trauer empfunden? Versuchte sie, aus ihrer Freundschaft mit Eadulf mehr zu machen, als in Wirklichkeit vorhanden war? Hatte Aristoteles recht, wenn er sagte, daß Freundschaft nur eine einzige Seele kennt, die in zwei Körpern wohnt? Hatte sie deshalb das Gefühl, daß ihr etwas fehlte? Wütend auf sich selbst, preßte sie die Lippen zusammen. Wie so oft versuchte sie, ihren Gefühlen durch vernünftige Überlegungen auf den Grund zu kommen, anstatt ihnen einfach nachzuspüren. Die Empfindungen anderer Menschen zu verstehen fiel ihr hingegen meist nicht schwer. Wer sagte noch gleich: «Arzt, hilf dir selbst»? Fidelma konnte sich nicht erinnern. Es gab ein altes Sprichwort in ihrer eigenen Sprache: «Jeder Kranke ist zugleich auch Arzt.» Eine Wahrheit, die sie sich zu Herzen nehmen sollte.

Fidelmas Blick schweifte über das Flußufer und seine blaßgrüne Pflanzenwelt. Wieder dachte sie an den starken Gegensatz zu dem satten Grün Irlands. Sie wandte sich zu der Biegung um, hinter der Rom verschwunden war, und dachte wieder an Ea-dulf.

Sie lächelte traurig. Horaz hatte recht: Vestigia ... nulla retrorsum - keinen Schritt zurück. Nein, es gab kein Zurück mehr. Die Heimat erwartete sie.

Загрузка...