VII

TROTZ DES SPÄTEN NACHMITTAGS WAR

es noch immer heiß und schwül. Schwester Fidelma war vom Friedhof aus in die von Diakon Ar-senius und seiner Frau Epiphania geführte Herberge zurückgekehrt. Seit dem Morgengrauen war sie schon auf den Beinen und fühlte sich ziemlich erschöpft. Sie mußte unbedingt etwas essen und eine Siesta halten, wie man hier die Mittagsruhe nach der sexta, der sechsten und heißesten Stunde des Tages, nannte. Belebt und erfrischt von einem kurzen Schlummer, traf sie anschließend mit tesserarius Furius Licinius zusammen, der schon darauf wartete, sie zum Lateranpalast zu begleiten, wo sie mit der Befragung der Gefolgsleute Wighards beginnen wollten.

Doch als erstes erkundigte sie sich bei dem jungen Soldaten nach dem entflohenen Bruder Ronan Ragallach.

Licinius schüttelte bedauernd den Kopf. «Wir haben nicht die geringste Spur von ihm, seitdem er heute morgen aus seiner Zelle ausgebrochen ist, Schwester. Offenbar hält er sich irgendwo in der Stadt versteckt, obwohl er mit seiner fremdländischen Tonsur eigentlich überall auffallen müßte.»

Fidelma blickte ihn nachdenklich an.

«Ihr seid also davon überzeugt, daß er noch immer in der Stadt ist?»

Licinius zuckte die Achseln. Sie gingen am Oratorium der Heiligen Prassede vorbei, bogen in die Via Merulana ein und steuerten den Lateranpalast am Fuße des Hügels an.

«Wir haben die Wachen an allen Toren der Stadt benachrichtigt. Aber Rom ist groß und unübersichtlich, es gibt Viertel, in denen man jahrelang untertauchen kann, und zahllose Möglichkeiten zur Flucht. Am Tiber entlang zum Beispiel, nach Ostia oder Porto zur Küste, wo täglich unzählige Schiffe in See stechen, um in alle Länder der Welt zu fahren.»

«Mein Gefühl sagt mir, daß er sich noch in der Stadt befindet. Früher oder später wird er wieder auftauchen.»

«Deo volente», erwiderte Licinius ehrfürchtig. «So Gott will.»

«Kennt Ihr Euch in Rom gut aus, Licinius?» griff Fidelma nach einer Weile den Gesprächsfaden wieder auf.

Licinius blinzelte. «So gut sich jemand hier auskennen kann. Ich bin auf dem Aventin geboren und aufgewachsen. Meine Vorfahren waren römische Adlige der allerersten Stunde - Tribune, die vor neunhundert Jahren das Licinische Gesetz einführten.» Fidelma bemerkte, wie sein jugendliches Gesicht vor Stolz errötete. «Unter den mächtigen Cäsaren wäre ich ein General der kaiserlichen Armee geworden, kein kleiner ...»

Er beherrschte sich, schaute verärgert zu Fidelma hinüber, als sei sie der Anlaß dafür, daß er seiner Wut über seine untergeordnete Stellung Luft gemacht hatte. Dann verfiel er in finsteres Schweigen.

«Vielleicht könnt Ihr mir etwas erklären, das mir rätselhaft ist», sagte Fidelma mit so ruhiger Stimme, als habe sie seinen Gefühlsausbruch nicht bemerkt. «Ständig hört man, was für eine schöne und reiche Stadt Rom ist, und doch sehen viele Häuser so beschädigt aus, als hätte es gerade einen Krieg gegeben. Manche Gebäude fallen fast in sich zusammen, bei anderen fehlt das Dach. Es sieht aus, als seien erst vor kurzem Barbaren über die Stadt hergefallen. Dabei weiß ich, daß es viele Jahre her ist, seit Geise-rich mit seinen Vandalen die Stadt geplündert hat. Die Schäden scheinen jüngeren Datums zu sein.»

Licinius grinste. «Ihr seid eine gute Beobachterin, Schwester. Leider ist der Barbar, der für diese Zerstörung verantwortlich ist, kein anderer als unser eigener Kaiser.»

Fidelma sah ihn fragend an. «Das müßt Ihr mir erklären.»

«Ihr wißt sicherlich, daß das römische Reich seit mehr als zwanzig Jahren Krieg mit den Arabern führt. Sie ziehen mit ihren Flotten über unsere Meere und rauben jedes Schiff aus, das ihnen in die Hände fällt. Sie haben weite Teile des früheren Reichs in Nordafrika erobert und nutzen diese als Stützpunkte, um uns anzugreifen. Kaiser Constans II. beschloß daraufhin, auf Sizilien eine starke Festung zu errichten und von dort aus die Verteidigung gegen diese Fanatiker zu führen .»

«Fanatiker?» fragte Fidelma.

«Seitdem sie sich zu der neuen Religion eines Propheten namens Mohammed bekennen, haben sich die Araber rasch nach Westen ausgebreitet. Sie nennen ihren Glauben Islam, Hingabe an Gott, und seine Anhänger bezeichnen sich als Muslime.»

«Ah», Fidelma nickte. «Ich habe von diesen Leuten gehört. Aber erkennen sie nicht die Glaubenssätze sowohl der Juden als auch des Christentums an?»

«Schon, aber gleichzeitig sagen sie, daß dieser Mohammed in seiner Person das Wort und den Willen Gottes verkörpert. Es sind Fanatiker», sagte Licinius verächtlich. «Und sie bringen der gesamten Christenheit Tod und Zerstörung.» Er hielt einen Augenblick inne, ehe er fortfohr. «Jedenfalls traf Constans mit einer großen Flotte und zwanzigtausend Soldaten aus den östlichen Teilen des Reiches hier ein. Er kam aus Tarent, hatte mehrere Schlachten im Süden geschlagen und stattete nun der Stadt Rom einen Staatsbesuch ab. Er blieb nur zwölf Tage, aber ich bezweifle sehr, daß selbst die muslimische Armee unserer Stadt in so kurzer Zeit soviel Schaden hätte zufügen können wie unserer heldenhafter römischer Kaiser.»

Seine Heftigkeit erstaunte Fidelma. «Das verstehe ich nicht.»

«Bei seinem ersten Besuch in der Mutterstadt des römischen Reichs wurde er mit großer Ehrerbietung begrüßt. Seine Heiligkeit begab sich mit dem gesamten päpstlichen Haushalt vor die Tore der Stadt, um ihn mit allem gebührenden Pomp zu empfangen. Überall wurden zu seinen Ehren Festlichkeiten gegeben. Der Kaiser begab sich in die Petrus-Basilika auf dem Vatikanhügel und anschließend in die Basilika der Heiligen Maria Maggiore.»

Fidelma unterdrückte einen Seufzer. «Aber ich verstehe immer noch nicht .», begann sie.

Mit einer ausladenden Geste deutete der junge tesserarius auf die umstehenden Häuser. «Während der Kaiser betete, begannen seine Soldaten, aus allen Gebäuden Roms das Metall zu plündern. Sie rissen alle Bronzeplatten, Riegel, Klemmen und Verbindungsstücke heraus, die die großen Häuser zusammenhielten, nahmen auch die großen Statuen und Kunstwerke mit, die seit den Zeiten der großen römischen Republik in den Straßen der Stadt gestanden hatten, und brachten die Stadt durch ihre Habgier in den armseligen Zustand, den Ihr heute vor Euch seht.»

«Aber aus welchem Grund?»

«Aus welchem Grund? Einzig und allein deshalb, weil Constans es ihnen so befohlen hatte. Er brauchte dringend Metall, um daraus neue Waffen für seine Armeen schmieden zu lassen. Er ließ seine Beute nach Ostia bringen und von dort aus nach Syrakus verschiffen. Von Syrakus sollte sie dann nach Konstantinopel gebracht werden.»

Er lachte bitter. Als er sah, daß Fidelma ihn erstaunt ansah, erklärte er: «Und dann war es letztlich doch vergebens.»

«Vergebens?»

«Ja. Das Metall hat Syrakus nie erreicht. Ehe Constans’ Schiffe den Hafen erreichten, hat eine arabische Flotte die Ladung abgefangen und nach Alexandria gebracht.»

«Nach Alexandria?»

Licinius nickte. «Sie ist den Muslimen in die Hände gefallen. Ich denke, damit ist Eure Frage beantwortet.»

Fidelma machte ein nachdenkliches Gesicht. «Und der Kaiser von Rom hält sich jetzt im Süden des Landes auf?»

«Ja. Wie ich höre, soll es dort noch immer heftige Kämpfe mit den Muslimen geben.»

«Deshalb spürt man überall so eine seltsame Ängstlichkeit! Und deshalb ist wohl auch der Kapitän meines Schiffes auf der Überfahrt von Massilia jedesmal kreidebleich geworden, sobald am südlichen Horizont auch nur das kleinste Segel zu sehen war.»

Sie waren an den Stufen des Lateranpalasts angekommen. «Der superista hat Euch ein Zimmer zugewiesen, das Euch während Eurer Ermittlungen als officium dienen soll», erklärte der tesserarius und führte Fidelma durch einen langen Korridor, in dem auch das officium des superista lag, in ein großes Zimmer mit spärlicher, aber zweckmäßiger Möblierung. Bruder Eadulf wartete schon auf sie und erhob sich zur Begrüßung von seinem Platz. Er wirkte ausgeruht und erfrischt.

«Ich habe die Glaubensbrüder angewiesen, sich zur Befragung bereitzuhalten», erklärte er.

«Hervorragend. Licinius wird uns als dispensator dienen und sie zu gegebener Zeit zu uns geleiten.»

Der junge tesserarius, wieder ganz Amtsperson, nickte steif. «Zu Befehl, Schwester.»

Eadulf kratzte sich an der Nase. Einige Schreibtafeln aus Ton und ein stylus lagen neben ihm auf einem kleinen Tisch. «Im Bedarfsfall kann ich damit Aufzeichnungen machen», erklärte er. «Aber ganz ehrlich gesagt, Fidelma, glaube ich nicht, daß bei dieser Befragung viel herauskommen wird. Ich denke ...»

Fidelma hob die Hand, und er verstummte. «Ich weiß, ich weiß. Bruder Ronan Ragallach ist der Schuldige. Aber vielleicht gönnt Ihr es mir trotzdem, meine Neugier zu befriedigen. Um so schneller werden wir das Ganze hinter uns bringen.»

Eadulf schwieg trotzig.

Fidelma war unzufrieden. Sie wünschte, Eadulf wäre aufgeschlossener gewesen. Schließlich schätzte sie seinen scharfen Verstand und seine gute Menschenkenntnis. Aber die innere Stimme, die ihr sagte, daß sich hinter Wighards Tod ein Geheimnis verbarg, ließ sich nicht zum Schweigen bringen.

«Beginnen wir mit Bruder Ine, Wighards Diener», verkündete sie.

Eadulf wandte sich an Licinius. «Holt uns Bruder Ine. Ich habe alle, die wir befragen wollen, gebeten, sich im großen Saal bereitzuhalten. Dort müßtet Ihr ihn finden.»

Der junge tesserarius nickte kurz und verließ das Zimmer.

Grinsend wandte Eadulf sich an Fidelma. «Unser patrizischer Freund scheint von unseren Ermittlungen nicht viel zu halten.»

«Ich glaube, er würde lieber in den ruhmreichen Armeen des alten römischen Reiches kämpfen, als zwei neugierigen Geistlichen als Wächter und Beschützer zu dienen», erwiderte Fidelma trocken. «Er trägt seine patrizische Herkunft mit aller Ungeduld und Überheblichkeit eines unreifen, jungen Menschen wie eine Fahne vor sich her. Aber er hat die Zeit auf seiner Seite: Auch er wird innerlich wachsen und reifen.»

Es schien, als sei Licinius nur einen kurzen Augenblick fort gewesen, denn schon öffnete sich die Tür, und ein kleiner, hagerer Mann mit traurigem Gesicht stand auf der Schwelle. Fidelma schätzte ihn auf Mitte vierzig. Hinter ihm war der junge tesserarius zu sehen.

«Bruder Ine», verkündete Licinius, schob den sichtlich unwilligen Mönch ins Zimmer und schloß die Tür hinter ihm.

«Kommt herein, Bruder Ine.» Eadulf deutete auf einen freien Stuhl. «Das ist Schwester Fidelma von Kildare. Bischof Gelasius hat uns beide beauftragt, Wighards Tod näher zu untersuchen.»

Der Mönch blickte Fidelma mit dunklen, ernsten Augen an.

«Deus vobiscum», murmelte er und sank auf den angebotenen Stuhl.

«Bruder Ine», begann Fidelma, die das Gefühl hatte, noch einmal klarstellen zu müssen, worum es ihnen ging. «Ist Euch bewußt, daß wir im Fall des Mordes an Wighard von Canterbury mit aller Machtbefugnis des päpstlichen Haushalts ermitteln?»

Bruder Ine nickte kurz und ruckartig.

«Ihr wart Wighards persönlicher Diener?»

«Requiscat in pace!» erwiderte Bruder Ine got-tesfürchtig und machte eine Kniebeuge. «Ich bin dem Verstorbenen bei allen täglichen Verrichtungen zur Hand gegangen - mehr noch, ich war sein Vertrauter.»

«Ihr stammt aus dem Königreich Kent?»

Eadulf beschloß, sich zurückzulehnen und Fidelma das Fragen zu überlassen.

«Allerdings.» Ein Anflug von Stolz erschien auf seinem traurigen Gesicht. «Mein Vater war Churl am Hofe König Eadbalds, mein Bruder lebt noch heute am Hofe Eorcenbrehts, Eadbalds Nachfolger auf dem Königsthron.»

«Der Vater war Lehensmann», erklärte Eadulf für den Fall, daß Fidelmas Kenntnisse der sächsischen Sprache nicht ausreichten. «Ein Churl ist ein Lehensmann und persönlicher Diener seines Herrn.»

«Und wann habt Ihr Euer Leben Christus geweiht?» fragte Fidelma weiter.

«Mein Vater hat mich nach Canterbury gebracht, als Honorius Erzbischof war. Ich war damals zehn Jahre alt und wurde im Kloster zum Mönch erzogen.»

Fidelma hatte bereits von der seltsamen sächsischen Sitte gehört, kleine Kinder ins Kloster zu geben.

«Und wie lange standet Ihr in Wighards Diensten?»

«Zwanzig Jahre lang. Ich wurde sein Diener, als er zum Sekretär Bischof Ithamars von Rochester berufen wurde.»

«Ithamar war der erste Einheimische, der fünfzig Jahre, nachdem Augustin das Christentum nach Kent brachte, zum Bischof ernannt wurde», warf Eadulf erklärend ein.

Bruder Ine nickte zustimmend. «Im gleichen Jahr wurde Wighards Familie bei einem Überfall der Pikten auf die Küste Kents niedergemetzelt. Als einfacher Geistlicher war Wighard verheiratet gewesen und hatte mehrere Kinder gehabt. Nach der Ermordung seiner Frau und seiner Nachkommen widmete sich Wighard mit ganzer Kraft der Kirche. Zehn Jahre lang diente er Ithamar. Als Honorius starb und Deusdedit erster sächsischer Erzbischof von Canterbury wurde, ernannte er Wighard zu seinem Sekretär, und wir zogen von Rochester nach Canterbury.»

«Ihr habt Wighard also wirklich über einen langen Zeitraum gekannt ...»

Bruder Ine nickte.

«. und müßtet wissen, ob er irgendwelche Feinde hatte.»

Ine warf Eadulf einen unsicheren Blick zu und schlug die Augen nieder. Anscheinend fiel es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden.

«Wighard trat offen für die römische Vorherrschaft in Britannien ein und machte sich dadurch Feinde .»

Als er verstummte, lächelte Fidelma matt. «Ihr meint, bei den Anhängern Columbans, zu denen auch ich gehöre?»

Bruder Ine zuckte verlegen die Achseln.

«Und was ist mit weiteren Feindschaften?» hakte Fidelma nach.

Der Mönch sah sie mit ernsten Augen an. «Keine, die einen Mord rechtfertigen würden.»

«Dann laßt uns jetzt auf die Mordnacht zu sprechen kommen, Bruder Ine», fuhr Fidelma unbeirrt fort. «Als Wighards Diener oblag es Euch sicherlich, ihm bei der Vorbereitung auf die Nachtruhe zu helfen?»

«Ja.»

«Was an jenem Abend aber nicht der Fall war?»

Bruder Ine runzelte die Stirn. Kurz huschte Mißtrauen über sein Gesicht.

«Woher ...?» begann er.

Mit einer ungeduldigen Handbewegung unterbrach ihn Fidelma. «Sein Bett war nicht gemacht, die Überdecke nicht zurückgeschlagen. Eine ganz einfache Schlußfolgerung also. Sagt mir doch bitte, wann Ihr Wighard das letzte Mal lebend gesehen habt.»

Bruder Ine lehnte sich seufzend zurück, als müsse er seine Gedanken ordnen.

«Zwei Stunden vor dem Mitternachtsangelus bin ich zu ihm gegangen.»

«Und wo befindet sich Eure eigene Kammer?» fragte Fidelma.

«Neben der von Bruder Eadulf, schräg gegenüber von Wighards Gemächern.»

Damit bestätigte er nur, was Eadulf ihr bereits erzählt hatte, aber Fidelma hielt es stets für besser, sich nicht aufs Hörensagen zu verlassen.

«Ihr brauchtet also bloß den Korridor zu überqueren, um zu Wighard zu kommen?»

«Genau.»

«Und wie ging es weiter?» Fidelma lehnte sich zurück und betrachtete den sächsischen Mönch aufmerksam.

Bruder Ine zögerte.

«Ich begab mich zu Wighard, wie ich es um diese Stunde immer tat. Ihr sagtet ja schon, daß es zu meinen Pflichten gehörte, ihm das Bett aufzudek-ken und alles für die Nachtruhe bereitzustellen.»

«Zwei Stunden vor dem Mitternachtsangelus? Ist das nicht ein wenig früh, um zu Bett zu gehen? Hat sich Wighard immer so zeitig zurückgezogen?»

«Er vertrug das Klima nicht, daher stand er am liebsten vor Sonnenaufgang auf und erledigte noch vor dem Frühstück einen Großteil seiner Arbeit. Jedenfalls hat er es seit unserer Ankunft in Rom so gehalten, ist stets früh zu Bett gegangen und früh wieder aufgestanden.»

Fidelma sah zu Eadulf, der Ines Worte durch ein Nicken bestätigte.

«Ihr seid also hinübergegangen, um ihm das Bett aufzudecken?» fragte Fidelma weiter.

«Ja, aber der zukünftige Erzbischof schien ...», Bruder Ine zögerte und wog seine Worte sorgfältig ab, «... beschäftigt. Er sagte mir, er würde meine Dienste an diesem Abend nicht mehr benötigen.»

«Hat er Euch dafür eine Erklärung gegeben?»

«Er sagte nur, da . » Ine zögerte wieder und blinzelte heftig, als habe er Schwierigkeiten, sich zu erinnern. «Er sagte, er habe zu tun, müsse noch jemanden empfangen und würde sein Bett später selbst richten.»

Fidelma blickte fragend auf. «Er wollte noch jemanden empfangen? Fandet Ihr das nicht merkwürdig, wo er doch sonst, wie Ihr sagtet, stets sehr früh zu Bett ging?»

«Nein. Ich vermutete, daß er für die bevorstehende Audienz bei Seiner Heiligkeit noch etwas mit seinem Sekretär, Bruder Eadulf, zu besprechen hatte. Wighard war im Grunde genommen ein einfacher Mensch, es machte ihm nichts aus, niedere Arbeiten gelegentlich auch einmal selbst zu erledigen.»

«Also hat Wighard trotz der vorgerückten Stunde und seiner sonstigen Angewohnheit, früh zu Bett zu gehen, noch einen Besucher erwartet?»

Bruder Ine wandte sich zu Eadulf um.

«Hat er Euch nicht ebenfalls davon erzählt, Bruder?»

Eadulf schüttelte den Kopf.

«Davon weiß ich nichts. Und mit Sicherheit war damit auch nicht ich gemeint. Als ich spät in der Nacht in den Palast zurückkehrte, war Wighard schon nicht mehr am Leben.»

«Und nachdem Wighard Euch fortgeschickt hatte, seid Ihr in Eure Kammer gegangen?» fragte Fidelma weiter.

«Ja. Ich wurde erst nach Mitternacht von lauten Geräuschen geweckt. Als ich hinaus auf den Flur sah, wimmelt es dort nur so von custodes, die mir mitteilten, Wighard sei ermordet worden.»

«Nachdem Ihr Wighard verlassen habt, seid Ihr sofort eingeschlafen?» fragte Eadulf.

«Ja. Und es muß ein ziemlich tiefer Schlaf gewesen sein.»

«Scheint ganz so, als wärt Ihr der letzte gewesen, der Wighard noch lebend gesehen hat», sagte Eadulf nachdenklich.

Bruder Ine reckte trotzig das Kinn. «Außer seinem Mörder», sagte er nachdrücklich.

Fidelma lächelte besänftigend. «Natürlich. Außer seinem Mörder. Und Ihr habt wirklich keine Ahnung, wer dieser nächtliche Besucher war?»

Bruder Ine zuckte die Achseln. «Das habe ich doch schon gesagt», brummte er. Dann schien ihm etwas einzufallen. «Ich dachte, die custodes hätten einen Iren aus Wighards Gemächern fliehen sehen und verhaftet? Spricht das nicht dafür, daß er der Besucher war?»

«Bruder Ine», fuhr Fidelma fort, ohne darauf einzugehen, «gehörte es, da Ihr Wighards persönlicher Diener wart, auch zu Euren Aufgaben, die wertvollen Geschenke aus den sächsischen Königreichen zu hüten, die er Seiner Heiligkeit mitgebracht hatte?»

Wieder huschte Mißtrauen über das Gesicht des Mönchs. «Ja. Warum fragt Ihr danach?»

«Wann habt Ihr diese Geschenke das letzte Mal gesehen?»

Ine dachte nach. «Gestern. Wighard bat mich, dafür zu sorgen, daß alles auf Hochglanz poliert und für die heutige Übergabe an den Heiligen Vater vorbereitet ist.»

«Ah!» Fidelmas Atem ging rascher. «Wighards Audienz bei Seiner Heiligkeit sollte also der Übergabe der mitgebrachten Geschenke dienen?»

«Und der Segnung der Kelche aus den fünf Königreichen», ergänzte Eadulf. «Das war allgemein bekannt.»

Fidelma wandte sich an Eadulf. «Wenn Habgier also in diesem Mordfall tatsächlich eine Rolle spielt, bleibt festzuhalten, daß die wertvollen Geschenke heute der strengen Obhut des Schatzmeisters Seiner Heiligkeit übergeben werden sollten und viele von dieser Tatsache wußten?»

«Aber sie wußten auch», warf Eadulf ein, «daß Wighard die Kelche nach der Segnung zurückerhalten würde, um sie nach Canterbury mitzunehmen.»

«Der größte Teil des Schatzes sollte jedoch hinter den gutbewachten Türen der päpstlichen Schatzkammer verschwinden?»

«So ist es», räumte Eadulf ein.

Bruder Ine sah sie bestürzt an. «Wollt Ihr damit sagen, daß die Geschenke nicht mehr da sind?» fragte er.

«Das wißt Ihr noch nicht?» fragte Fidelma erstaunt zurück. Ines Erstaunen war offenbar echt.

«Nein. Das hat mir noch niemand gesagt.»

Der sächsische Mönch wirkte empört. Wahrscheinlich, mutmaßte Fidelma, fühlte er sich als Vertrauter Wighards in seinem Stolz gekränkt. Doch die Entrüstung machte bald wieder seiner üblichen Schwermut Platz.

«Ist das alles?» fragte er mit Trauermiene.

«Nein», entgegnete Fidelma. «Ihr habt die Geschenke also gestern noch einmal auf Hochglanz gebracht . Um welche Stunde war das?»

«Kurz vor dem Abendessen.»

«Und zu der Zeit war noch alles da?»

Ine reckte trotzig das Kinn. «Aber gewiß doch. Es war alles da.»

«Und als Ihr am Abend zu Wighard gegangen seid», mischte sich Eadulf ein, «war die Truhe da offen oder geschlossen?»

«Geschlossen», lautete die prompte Antwort des sächsischen Mönchs.

«Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?» fragte Fidelma nach.

«Weil der Blick sofort auf die Truhe fiel, wenn man Wighards Gemächer betrat.»

«Wurde der wertvolle Schatz von irgend jemandem bewacht?»

«Nur von den custodes des päpstlichen Palasts. Einer der Soldaten patrouillierte ständig auf den Treppen.»

Fidelma dachte nach. «Auf den Treppen? Nicht auf dem Korridor?»

«Ja. Außerdem waren an den Eingängen zum Gästehaus Wachen postiert. Wir waren im dritten Stockwerk des Gebäudes untergebracht, dorthin konnte man nur über die beiden Treppen gelangen.»

«Aber die Wachen waren nicht ständig im Korridor. Es hätte also jemand den Schatz fortschaffen können, ohne dabei gesehen zu werden.»

«Doch niemand konnte aus dem Gebäude gelangen, ohne den custodes in die Arme zu laufen.» Ines Miene erhellte sich. «Natürlich! So haben sie ja auch den irischen Mönch gefangen! Dann müßte der Schatz doch längst geborgen sein.»

Fidelma warf Eadulf einen bedeutungsvollen Blick zu und wandte sich dann wieder an Bruder Ine.

«Eures Wissens nach gab es also keine ständige Bewachung für den Schatz? Keiner der Soldaten hat ständig vor Wighards Gemächern Dienst getan?»

«So ist es.»

Fidelma seufzte tief und lehnte sich zurück. «Danke, das wäre alles. Vielleicht werden wir Euch später noch einmal rufen lassen.»

Mit dem gleichen Widerwillen, den er beim Betreten des officiums an den Tag gelegt hatte, erhob sich Bruder Ine von seinem Stuhl und ging hinaus. Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, drehte Fidelma sich zu Eadulf um.

«Wir wissen jetzt, daß der gestohlene Schatz kurz vor dem Abendessen zum letzten Mal gesehen wurde und Wighard zwei Stunden vor Mitternacht noch gesund und munter war. Außerdem wissen wir, daß Wighard in den letzten Stunden seines Lebens einen Besucher erwartete. Kurz nach Mitternacht wurde dann Bruder Ronan Ragallach im Korridor vor Wighards Gemächern gesehen und im hinteren Innenhof festgenommen. Bruder Ronan hatte jedoch keinen der wertvollen Gegenstände bei sich, die - mit Ausnahme der Reliquien, die keinen unmittelbaren Geldwert besitzen - spurlos verschwunden sind.»

«Das ist nicht viel mehr, als wir bereits vorher wußten.»

«Licinius!» rief Fidelma und erhob sich von ihrem Stuhl.

Der junge Soldat öffnete die Tür. «Mit wem wünscht Ihr als nächstes zu sprechen, Schwester?» fragte er steif.

«Mit Euch, tesserarius. Auf einen Augenblick.»

Überrascht trat der junge Offizier ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

«Furius Licinius, wie lange seid Ihr schon bei der Wache des Lateranpalasts?»

«Ich bin seit vier Jahren bei den custodes», antwortete Licinius prompt. «In den letzten beiden Jahren habe ich eine decuria kommandiert, und vor kurzem bin ich zum Wachoffizier oder tesserarius ernannt worden.»

«Man könnte also behaupten, daß Ihr den Palast recht gut kennt?»

«So gut ihn jemand kennen kann», antwortete der junge Mann, wobei er lieber nicht daran dachte, wie leicht er sich noch vor wenigen Nächten von dem irischen Geistlichen über dessen angebliche Studierstube hatte täuschen lassen.

«Hat decurion Marcus Narses nach unserem heutigen Gespräch eine weitere Durchsuchung der Räume im Gästehaus veranlaßt?»

Licinius lächelte, da ihm einfiel, welche Blamage die Entdeckung eines Teils des Schatzes unter Wighards Bett für seinen Kameraden gewesen war.

«Ja, Schwester, aber die Suche hat nichts ergeben.»

«Laßt uns ein wenig spekulieren. Nehmen wir einmal an, Ihr hättet Wighard getötet und stündet nun vor der Aufgabe, einen großen Schatz fortzuschaffen, der aus mindestens zwei großen Säcken voller schwerer Metallgegenstände besteht. Wie würdet Ihr das bewerkstelligen?»

Der tesserarius sah sie mit großen Augen an, dachte aber angestrengt nach, ehe er antwortete. «Ich wüßte, daß die beiden Treppen, die zum dritten Stock führen, von Patrouillen bewacht werden. Deshalb würde ich den Schatz auf dem gleichen Stockwerk verstecken und später wiederkommen, um ihn zu bergen, denn auch ohne die schweren Säcke wäre es schon schwer genug, das Gebäude zu verlassen, ohne den Wachen in die Arme zu laufen. Aber Marcus Narses hat die Räume auf diesem Stockwerk bereits durchsucht, und außer den beiden Lagerräumen waren zur Tatzeit alle Räume bewohnt. Es gibt in diesem Gebäude keine verborgenen Kammern oder Nischen.»

«Hm», erwiderte Fidelma. «Und trotzdem sollen wir glauben, daß es Bruder Ronan Ragallach gelang, Wighard zu töten und mit dem sperrigen Schatz zu verschwinden ... und daß er gleichzeitig von Eurem Freund, decurion Marcus Narses, entdeckt und festgenommen wurde, während er vom Tatort floh. Ist Ronan Ragallach ein Zauberer, der einen großen Schatz zum Verschwinden bringen kann? Nach der Aussage des decurion trug er nichts Verdächtiges bei sich. Könnt Ihr mir das erklären, Furius Licinius?»

Zu ihrem Erstaunen zögerte der tesserarius keine Sekunde. «Aber das ist doch ganz einfach, Schwester. Entweder hatte Bruder Ronan den Schatz bereits versteckt, als Marcus ihn sah und verfolgte, oder er hatte einen Komplizen, der den Schatz verschwinden ließ, während Ronan gefangengenommen wurde.»

Fidelma schüttelte zweifelnd den Kopf. «Ein Komplize? An sich ist das ein ausgezeichneter Gedanke! Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, daß dieser Komplize den Wachen aus dem Weg gehen konnte. Stellt Euch vor, Furius Licinius, Ihr habt jemanden getötet und wartet anschließend in dessen Zimmer, während Euer Komplize mindestens zweimal mit einem großen Sack die Treppe hinuntergehen muß, ohne dabei den Wachen zu begegnen. Dann harrt Ihr so lange aus, bis Euer Komplize sich aus dem Staub gemacht hat, verlaßt mit leeren Händen das Mordzimmer und . werdet verhaftet.»

«Dann muß die erste Lösung zutreffen: Dieser Ronan hatte den Schatz bereits versteckt, als er gefangengenommen wurde», stellte Eadulf fest und fügte nachdenklich hinzu: «Wenn Ronan den Schatz schon versteckt hätte, wäre er anschließend sicherlich nicht noch einmal in Wighards Gemächer zurückgekehrt. Schließlich mußte er sich so schnell wie möglich vom Tatort entfernen.»

«Wer sagt denn, daß Ronan Ragallach aus Wig-hards Gemächern kam, als er von decurion Marcus entdeckt wurde?» warf Fidelma ein.

Eadulf und Licinius sahen sie fragend an.

«Etwas, das Furius Licinius vorhin sagte, bringt mich ins Grübeln .»

«Was könnte das gewesen sein?» Der junge Offizier war verwirrt.

Fidelma nickte. «Nehmen wir an, Ronan hätte Wighard tatsächlich wegen des Schatzes ermordet. Wighard ist tot. Ronan muß den Schatz in mindestens zwei Säcken verstauen. Wie soll er diese Säcke fortschaffen? Er muß auf jeden Fall zweimal gehen. Erst nach der zweiten Fuhre wird er dann von Marcus Narses ertappt, und zwar nicht, als er Wig-hards Gemächer verläßt, sondern wie er aus einem Versteck auf dem gleichen Stockwerk kommt, an dem er die Beute verschwinden ließ.»

«Aber wo hätte er sie verschwinden lassen können?» gab Licinius zu bedenken. «Ich sagte Euch doch schon, es gibt keine geheimen Kammern, Nischen oder Wandschränke, und Marcus Narses hat alle Zimmer, die in der fraglichen Nacht leer waren, zweimal durchsucht.»

«Ja, das habt Ihr gesagt, und die custodes haben . » Fidelma hielt inne und starrte Licinius eindringlich an.

«Marcus Narses hat ... was?» Ihre Stimme klang wie ein Peitschenschlag.

Der junge custodes war überrascht von der heftigen Reaktion, die seine Worte ausgelöst hatten.

«Ich habe nur gesagt, daß Marcus Narses Eure Anweisungen befolgt hat und alle Zimmer, die in der fraglichen Nacht leer waren, zweimal gründlich durchsuchen ließ.»

«Ich dachte, es seien alle Räume durchsucht worden?»

Licinius sah sie mit großen Augen an.

«Aber Bruder Ronan Ragallach hätte doch unmöglich versucht, den gestohlenen Schatz in einem Zimmer zu verstecken, das von Wighards Gefolgsleuten bewohnt wurde? Wir dachten natürlich, daß .»

Fidelma stöhnte leise. «Alle Räume, leer oder bewohnt, hätten unbedingt durchsucht werden müssen.»

«Aber .»

«Ist Marcus Narses zum Beispiel in Bruder Ea-dulfs Kammer gewesen?» fragte Fidelma.

Licinius starrte die beiden an, als hätte sie den Verstand verloren. «Natürlich nicht», erwiderte er.

«Aber meine Kammer war zur Mordzeit leer», sagte Eadulf so betont ruhig, als könne er sich nur mit Mühe beherrschen.

«Dann laßt uns sofort gehen!» Fidelma sprang von ihrem Stuhl auf und schnippte so laut mit den Fingern, daß der tesserarius erschrocken zusammenfuhr.

«Wohin?» fragte er in verständnislosem Ton.

Fidelma streifte ihn mit einem verächtlichen Blick. «Eadulfs Kammer war leer, weil er um Mitternacht bei der Messe für Aidan von Lindisfarne in der Basilika der Heiligen Maria war.»

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