XVII

WIE VON SCHWESTER FIDELMA ANGE-

fordert hatten sie sich alle in dem Zimmer einge-fanden, das superista Marinus als officium diente. Bischof Gelasius thronte auf einem Stuhl vor dem reichverzierten Kamin. Er hatte die Ellenbogen auf die Armlehnen gestützt, die Hände wie in Gebetshaltung an den Fingerspitzen zusammengelegt und das Kinn darauf gesenkt. Sein finsteres Gesicht erinnerte an einen Raubvogel, der mit wachen, schwarzen Augen seine Beute belauert. Auf der anderen Seite des Kamins hatte Marinus Platz genommen. Er wirkte ausgesprochen ungeduldig und gereizt. Marinus war eindeutig ein Mann der Tat - müßig herumzusitzen war nicht seine Art. Schräg hinter ihm stand tesserarius Furius Licinius mit verschränkten Armen und undurchdringlichem Blick.

Für Äbtissin Wulfrun, Schwester Eafa und die Brüder Sebbi und Ine hatte man Stühle bereitgestellt. Die Äbtissin wirkte unruhig. Sie tat so, als langweile sie sich, und zupfte ständig an ihrem Schal. Neben ihr saß Schwester Eafa und sah sich blinzelnd um, als wüßte sie nicht, warum sie zu dieser Versammlung gerufen worden war.

Bruder Ine machte einen noch stilleren und gedrückteren Eindruck als sonst und hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet, während Bruder Sebbi neben ihm die übliche Selbstgefälligkeit ausstrahlte. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. Fidelma erinnerte er an eine satte, schnurrende Katze.

Zweifellos glaubte Sebbi, der Erfüllung seiner ehrgeizigen Pläne nahe zu sein, denn er hielt sich offenbar für den einzigen geeigneten Nachfolger des verstorbenen, aber nicht sonderlich betrauerten Abts von Stanggrund.

Eadulf, der mit Fidelma ins Zimmer getreten war, bezog an der Tür des officium Posten. Er blickte ein wenig finster drein, denn es wunderte ihn, daß Fidelma seit Bruder Eanreds Tod keine Rücksprache mit ihm gehalten hatte. Außerdem war er verärgert, weil sie sich einfach weigerte, der Wahrheit ins Auge zu sehen: Eanred war der Mörder von Wighard, Ronan Ragallach und Abt Puttoc. Allerdings hatte ihn Fidelmas Aussage, sie habe nur eine Vermutung, die sich bisher lediglich auf Indizien stütze, ein wenig besänftigt. Einen Beweis habe sie erst dann, wenn sie die verdächtige Person durch eine Zusammenfassung der Tatsachen zu einem Geständnis zwingen könne. Doch sie hatte sich geweigert, Eadulf den Namen dieser Person anzuvertrauen. Zwar war sie ebenfalls der Meinung, daß Wighards Mörder auch Ronan und Puttoc auf dem Gewissen hatte, aber sie beharr-te weiterhin darauf, daß es sich bei dieser Person nicht um den toten Bruder Eanred handelte.

Als sie das officium betrat, hob Bischof Gelasius grüßend die Hand und schenkte ihr ein müdes Lächeln. Der nomenclator des Lateranpalasts wirkte erschöpft.

«Nun, Schwester», begann der Bischof und ließ die Hand wieder sinken, als er bemerkte, daß sie mehrere Schritte vor seinem Stuhl stehenblieb. Inzwischen hatte er sich fast daran gewöhnt, daß sie die römische Sitte, seinen Amtsring zu küssen, standhaft mißachtete. «Ich glaube, wir können uns die ausführlichen Erklärungen sparen, denn Ean-reds Tod scheint all unsere Fragen zu beantworten. Also bleibt uns nur noch, Euch und Bruder Eadulf zu Eurem Scharfsinn zu beglückwünschen.»

Marinus, Sebbi und Ine murmelten zustimmend, während Wulfrun und Eafa keinerlei Regung zeigten.

Mit einem kühlen Lächeln sah Fidelma sich in der Runde um.

«Und uns bleibt die Aufgabe, Bischof Gelasius», sagte sie und wählte sorgfältig ihre Worte, «den Mord an Wighard aufzuklären, indem wir die Person benennen, die ihn getötet hat. Denn die gleiche Peron hat auch Bruder Ronan Ragallach und Abt Puttoc auf dem Gewissen.»

In Marinus’ officium herrschte auf einmal Anspannung, und alle Augen richteten sich aufmerksam auf Fidelma. Die Anwesenden blickten erstaunt und fragend drein. Hinter einem dieser Gesichter verbarg sich eine gequälte Seele, auf der schwer die Schuld lastete. Fidelma hoffte, daß ihre Schlußfolgerungen zutrafen, aber sie mußte den Sprung ins kalte Wasser wagen.

Schwester Fidelma stellte sich mit dem Rücken zum Kamin zwischen Gelasius und Marinus und faltete bescheiden die Hände.

Bischof Gelasius, der bestürzt schien, betrachtete sie schweigend, dann räusperte er sich. «Das verstehe ich nicht ganz, Schwester. Habt Ihr Bruder Eanred nicht auf frischer Tat ertappt? Ich habe Li-cinius so verstanden, daß Eanred sich noch über die Leiche seines Opfers beugte, als Ihr und Bruder Eanred in Puttocs Zimmer kamt. Oder hat es sich anders zugetragen?»

«Bitte schenkt mir ein wenig von Eurer kostbaren Zeit», sagte Fidelma, ohne auf seine Frage einzugehen. «Wighards Tod hat uns zahlreiche Rätsel aufgegeben. Und es ist vieles geschehen, das uns den Blick auf die Wirklichkeit verstellte. Das alles müssen wir nun prüfen und dabei die Spreu vom Weizen trennen.»

Hilfesuchend sah Gelasius den Superista an, doch Marinus verzog keine Miene. Offenbar wollte er sich seine Ungeduld nicht anmerken lassen. Mit einer Handbewegung, die zugleich auch seine Verwirrung zum Ausdruck brachte, forderte Gela-sius die irische Nonne auf weiterzusprechen.

«Nun gut», sagte Fidelma. «Wie Ihr sicherlich bereits wißt, gab es im Grunde zwei Fälle zu lösen. Diese Tatsache hat zu Beginn unserer Ermittlungen Bruder Eadulf und mir viel Kopfzerbrechen bereitet, denn wie alle anderen auch hielten wir sie für zwei Gesichtspunkte ein und desselben Falles. In Wirklichkeit hatten sie jedoch nichts miteinander zu tun, sondern fielen nur zufällig zeitlich zusammen.»

Die anderen sahen sie verdutzt an. Fidelma begann zu erklären: «Der erste Fall war eindeutig. Wighard war ermordet worden. Von wem? Erst der zweite Fall machte den ersten so verworren. Wig-hard war auch bestohlen worden. Die kostbaren Geschenke, die er für Seine Heiligkeit mitgebracht hatte, und die Kelche aus den sächsischen Königreichen, die der Bischof von Rom segnen sollte, waren verschwunden. Wer war der Dieb? Zuerst gingen wir von einem einzigen Täter aus: Der Mörder hatte Wighard bestohlen - oder besser: Der Dieb hatte Wighard umgebracht. In Wirklichkeit brachte uns diese Annahme der Lösung kein bißchen näher. Wie sich herausstellte, handelte es sich um zwei völlig eigenständige Verbrechen.»

«Ihr wollt uns sagen, daß die Person, die Wig-hards Schätze an sich genommen hat, mit dem Mord an Wighard nichts zu tun hatte?» fragte Ge-lasius erstaunt.

Fidelma nickte. «Ja. Allerdings war uns das anfangs nicht klar, und die irrtümliche Verknüpfung von Raub und Mord stand uns im Wege. In Wirklichkeit hatten sich nämlich Bruder Ronan Ragallach und Bruder Osimo Lando verschworen, um die Schätze, die Wighard von Canterbury nach Rom gebracht hatte, zu stehlen. Sie wollten sie gegen einige sehr wertvolle Bücher eintauschen, die früher einmal in der Bibliothek in Alexandria standen. Wir wissen, daß die Anhänger Mohammeds die alexandrinische Bibliothek und mit ihr einige der kostbarsten Bücher der alten Welt vor etwas mehr als zwanzig Jahren gestürmt und zerstört haben.

Vor etwa einer Woche kam nun ein arabischer Kaufmann nach Rom. Er befand sich im Besitz einiger seltener medizinischer Werke, die auf wundersame Weise vor der Vernichtung gerettet wurden - Werke von Hippokrates, Galen von Pergamon und anderen, Bücher von unschätzbarem Wert, wie es sie nur in Alexandria gegeben hatte. Dieser findige Kaufmann wandte sich an den kundigsten Chirurgus in Rom, einen Mann, der in Alexandria gelebt, studiert und gelehrt hatte und die Stadt hatte verlassen müssen, als sie an die Anhänger Mohammeds fiel. Dieser Mann, wußte der Kaufmann, würde den Wert der Bücher zu schätzen wissen - und natürlich handelte es sich bei diesem Mann um keinen anderen als Cornelius von Alexandria.»

Sie hielt inne. Die anderen schwiegen. Die Kunde von Cornelius’ Verhaftung hatte sich im Lateranpalast bereits herumgesprochen.

«Als Vitalians Leibarzt genoß Cornelius viele Vergünstigungen. Dennoch war er bei weitem nicht wohlhabend genug, um den von dem Araber geforderten Preis zu zahlen. Die Summe, die der arabische Händler von ihm verlangte, überstieg seine Möglichkeiten um ein Vielfaches. Und doch wollte er die Bücher unbedingt haben. Er kannte den Wert dieser großen Werke, die für die zivilisierte Welt für immer verloren gewesen wären, wenn er nicht die Mittel gefunden hätte, sie dem arabischen Kaufmann abzukaufen.»

«Warum ist er mit seinem Anliegen nicht zu uns gekommen?» warf Gelasius ein. «Der Himmel weiß, wir sind immer knapp bei Kasse. Aber irgendwie hätten wir es schon geschafft, diese Werke für die Christenheit zu retten.»

Es war Eadulf, der ihm die Erklärung lieferte. Ohne sich von seinem Platz neben der Tür zu lösen, sagte er mit langsamer, gesetzter Stimme: «Dafür gibt es nur einen Grund - Habgier. Cornelius wollte die Bücher selbst besitzen. Er träumte von unermeßlichem Reichtum, wenn ihm diese Werke erst einmal gehörten. Dabei ging es ihm nicht um Geld, sondern um die kostbaren Werke an sich. Er mußte sie haben, ohne sie mit jemandem zu teilen.»

Fidelma nickte anerkennend und fuhr fort: «Deshalb zog er einen Landsmann, den Alexandriner Osimo Lando, ins Vertrauen. Cornelius spielte bereits mit dem Gedanken, einen reichen Mann zu bestehlen, um die Bücher kaufen zu können. Osimo, der als sub-praetor im Amt für ausländische Angelegenheiten tätig war, erfuhr aus erster Hand, welche ausländischen Würdenträger nach Rom kamen und welche Schätze sie bei sich führten.

Der Zufall wollte es, daß Wighard wenige Tage zuvor mit seinem Gefolge angekommen war und wertvolle Geschenke mitgebracht hatte, welche die Forderungen des arabischen Kaufmanns mit Sicherheit hätten befriedigen können. Gemeinsam beschlossen sie, diese Geschenke in ihren Besitz zu bringen. Vielleicht handelte Osimo in der Überzeugung, daß es gottgefällig sei, die wertvollen Bücher vor den Ungläubigen zu retten. Und wahrscheinlich hatte ihm Cornelius auch nicht erzählt, daß er die Bücher als seinen persönlichen Besitz betrachten würde.»

Als sie ihre verblüfften Gesichter sah, hielt sie lächelnd inne und fuhr nach kurzem Schweigen fort: «Osimo Lando hatte einen engen Freund, Bruder Ronan Ragallach. Osimo überredete Cornelius, seinen Freund in ihr Vorhaben einzuweihen. Drei Köpfe seien klüger als einer oder zwei. Sie beschlossen, Wighard im Schlaf auszurauben, und Ronan erklärte sich bereit, das domus hospitale auszukundschaften und einen entsprechenden Plan zu schmieden ...»

«Das war an dem Abend vor Wighards Tod», ergriff Furius Licinius das Wort. «Fast hätte ich ihn erwischt, wie er im Innenhof vor dem domus hospitale herumschlich.» Er lächelte verlegen. «Doch er täuschte mich und entkam.»

Fidelma nickte. «Ronan hat die Örtlichkeiten sehr genau in Augenschein genommen. Wie Ihr alle wißt, gibt es hinter dem domus hospitale einen weiteren, kleineren Innenhof. Unmittelbar unter den Fenstern des Gästehauses verläuft ein schmaler Sims. Doch an dem neueren Gebäude, das an das Gästehaus grenzt, führt ein sehr viel breiterer Sims fast bis zu der Kammer, in der man Bruder Eanred untergebracht hatte. Das Glück war auf der Seite der Verschwörer, denn in diesem neueren Gebäude, von dem ich spreche, befand sich ausgerechnet das munera peregrinitatis, in dem Osimo und Ronan ihr officium hatten. Der Sims bot ihnen die Gelegenheit, ins domus hospitale zu gelangen, ohne dabei die Aufmerksamkeit der auf den Treppen und in den Innenhöfen postierten custodes auf sich zu ziehen.

Um ungestört eindringen zu können, mußte allerdings Bruder Eanred rechtzeitig aus seinem Zimmer verschwinden. Cornelius überredete daher Eanred, an dem fraglichen Abend mit in seine Villa zu kommen, und lud ihn zum Wein ein, während seine Komplizen über Eanreds Kammer in Wighards Gemächer eindrangen. Alles lief wie geplant, bis ...»

Fidelma hielt inne und betrachtete aufmerksam die Gesichter der Anwesenden.

Marinus starrte noch immer mit steinernem Gesicht ins Leere, doch bei Gelasius regte sich offenbar Neugier.

«Bis was?» fragte er. «Ist etwas dazwischengekommen?»

«Der Plan sah vor, daß Ronan sich in Wighards Gemächer schlich. Osimo sollte in Eanreds cubicu-lum warten. Ronan hatte die Aufgabe, einen Sack mit den kostbaren Geschenken zu füllen und ihn Osimo zu bringen, der ihn dann über den Sims zurück ins munera peregrinitatis schaffte. Ronan würde dann einen zweiten Sack füllen und ihm folgen», erklärte Eadulf.

«Doch als Ronan in Wighards Schlafgemach kam, fand er den zukünftigen Erzbischof tot auf seinem Bett», ergriff Fidelma wieder das Wort. «Zuerst wollte Ronan fliehen, doch dann fiel ihm ein, daß Wighards Tod ihrem ursprünglichen Plan nicht entgegenstand. Er öffnete die hölzerne Truhe, füllte einen Sack, versteckte die Sachen, von denen er annahm, daß sie sich nicht in klingende Münze verwandeln ließen, und eilte zu Osimo. Dieser kehrte über den Sims ins andere Gebäude zurück, während Ronan noch einmal in Wighards Gemächer schlich, um den Rest der Beute zu holen.

Er wollte gerade mit dem zweiten Sack durch Eanreds Kammer hinausklettern, als ihm voller Schreck einfiel, daß er die Tür zu Wighards Gemächern nicht verschlossen hatte. Er traf die folgenschwere Entscheidung, ein drittes Mal auf den Flur hinauszuschleichen. Er ließ den zweiten Sack am offenen Fenster stehen, ging hinaus - und stieß auf decurion Marcus Narses, der die offene Tür bereits gesehen hatte. Wie Ronan befürchtet hatte, hatte Narses Wighards Leiche entdeckt, ehe er und Osimo ihre Beute fortschaffen konnten. Ronan saß in der Falle. Geistesgegenwärtig versuchte er, über die Treppe zu fliehen und den decurion damit von seinem Freund Osimo und dem Diebesgut abzulenken.»

Fidelma hielt inne und lächelte matt. «Marcus Narses selbst gab mir unwissentlich den entscheidenden Hinweis darauf, daß Ronan den Tatort nicht unmittelbar nach dem Mord verlassen haben konnte. Der decurion sagte, als er Wighard gefunden habe, sei die Leiche bereits kalt gewesen. Hätte Ronan Wighard erst kurze Zeit davor ermordet, hätte sie noch warm sein müssen. Wighard war zu diesem Zeitpunkt jedoch mindestens schon eine Stunde oder länger tot.»

Gelasius räusperte sich. «Warum wurde der zweite Sack bei der Durchsuchung des Gebäudes nicht gefunden?»

«Weil Osimo, nachdem er eine Weile auf Ronan gewartet hatte, besorgt war und zurück in Eanreds cubiculum schlich. Er fand den verlassenen Sack und hörte die Geräusche draußen im Flur. Als ihm klar wurde, daß Ronan gefaßt worden war, beschloß er, den zweiten Sack an sich zu nehmen und ihn in sein officium zu bringen. Anschließend versteckte er beide Säcke in seiner Unterkunft, wo Cornelius sie abholen sollte, um sie gegen die Bücher einzutauschen.»

Kurz ließ Fidelma schweigend den Blick von einem zum anderen schweifen, dann faßte sie das bisher Gesagte zusammen: «Der Diebstahl fand also rein zufällig in der gleichen Nacht statt wie der Mord. Beide Verbrechen haben nichts miteinander zu tun.»

«Aber wer hat Wighard dann ermordet?» ergriff Marinus zum ersten Mal das Wort. «Ihr sagt uns, daß Ronan Ragallach nicht schuldig ist. Und nach Eurer Schilderung war auch Bruder Eanred nicht der Mörder. Aber irgend jemand muß es doch gewesen sein!»

Fidelma sah den superista lächelnd an. «Habt Ihr etwas Wasser? Meine Kehle ist furchtbar trocken.»

Furius Licinius ging eilig zum Tisch, auf dem ein Tonkrug und einige Trinkgefäße bereitstanden. Er schenkte etwas Wasser ein und brachte es Fidelma, die dem jungen custos dankbar zunickte und an dem Becher nippte. Die anderen warteten ungeduldig.

«Den entscheidenden Hinweis verdanke ich dem toten Bruder Ronan Ragallach», sagte sie endlich.

Selbst Eadulf beugte sich erstaunt vor, ging stirnrunzelnd sämtliche Ermittlungsergebnisse durch und fragte sich, was ihm entgangen war.

«Wie Cornelius uns erzählte, war Ronan Ragal-lach nur allzu bereit, bei dem Diebstahl mitzumachen, weil er Wighard verabscheute.» Fidelma stellte das Trinkgefäß auf einen kleinen Tisch. «Ronan erzählte Osimo in diesem Zusammenhang eine Geschichte, die Osimo später an Cornelius weitergab.»

Gelasius seufzte so laut, daß die anderen erschrocken zusammenfahren. «Können wir nicht zum Wesentlichen kommen? Der eine erzählt dem anderen eine Geschichte, der sie wiederum einem dritten erzählt .»

Fidelma sah ihn strafend an, und er verstummte. «Ich kann nur auf meine Weise zum Wesentlichen kommen, Bischof Gelasius.»

Ihr scharfer Ton ließ Gelasius zusammenzuk-ken. Nach kurzem Zögern hob er schicksalsergeben die Hand. «Also gut. Aber fahrt bitte fort, so rasch Ihr könnt.»

Fidelma wandte sich wieder an die Runde. «Ronan war dem Namen Wighard schon einmal begegnet. Er hatte Irland vor vielen Jahren verlassen und war auf seinen Reisen schließlich ins Königreich Kent gekommen, wo er an der Kirche des heiligen Martin in Canterbury predigte. Vor etwa sieben Jahren kam eines Abends ein Sterbender in die Kirche, um die Beichte abzulegen. Dieser Mann war ein Dieb und ein gedungener Mörder. Doch ein Verbrechen belastete sein Gewissen mehr als jedes andere: Vor Jahren war ein Geistlicher zu ihm gekommen und hatte ihn für den Mord an dessen Frau und Kindern bezahlt.»

Gelasius beugte sich vor. «Warum sollte ein Geistlicher so etwas tun?» fragte er.

«Weil dieser Geistliche sehr ehrgeizig war», erklärte Fidelma. «Doch als Familienvater wäre er in Eurer römischen Kirche niemals zum Abt oder zum Bischof ernannt worden. Der Ehrgeiz dieses Geistlichen war stärker als seine Moral.»

Äbtissin Wulfrun lief rot an.

«Ich weigere mich, hier zu sitzen und seelenruhig zuzuhören, wie ein kentischer Geistlicher von einer Fremden verunglimpft wird!» platzte sie heraus und stand wütend auf, die Hand wie immer an ihrem Schal.

Fidelma hielt dem empörten Blick der Äbtissin stand. «Der Mörder führte die Befehle des Geistlichen aus», fuhr sie unbeirrt fort, ohne Äbtissin Wulfrun aus den Augen zu lassen. «Er kam eines Nachts, während der Geistliche unterwegs war, um seinen Pflichten nachzugehen, erschlug die Frau und ließ es aussehen wie einen Überfall der Pikten. Als er auch die Kinder niedermetzeln sollte, gewann seine Habgier die Oberhand. Er beschloß, sie zu Geld zu machen . Die Sachsen haben die barbarische Sitte, ungewollte Kinder in die Sklaverei zu verkaufen», fügte sie, an Gelasius gewandt, erklärend hinzu. «Der Mörder nahm die Kinder und ruderte mit ihnen über den großen Fluß Tamesis ins Königreich der Ostsachsen, wo er sich als armer Mann in Geldnot ausgab und sie an einen Bauern verschacherte. Es waren zwei Geschwister, ein Junge und ein Mädchen.»

Sie hielt inne, um die Enthüllung wirken zu lassen, dann fügte sie mit leiser Stimme hinzu: «Der Name des Geistlichen, der für den Mord an seiner Frau, seiner Tochter und seinem Sohn zahlte, war kein anderer als Wighard von Canterbury.»

Die anderen schrien erschrocken auf.

Äbtissin Wulfruns Gesicht verzerrte sich vor Wut. «Wie könnt Ihr zulassen, daß ein fremdes Mädchen einen so ungeheuren Vorwurf gegen einen gottesfürchtigen Bischof von Kent erhebt?» ereiferte sie sich. «Bischof Gelasius, wir sind Gäste in Rom. Es ist Eure Pflicht, uns vor solchen Anfeindungen zu schützen. Vergeßt nicht, daß ich mit dem Könighaus von Kent verwandt bin. Also hütet Euch, damit diese Bosheiten nicht den Zorn unseres Volkes gegen Rom anstacheln. Ich bin eine sächsische Prinzessin von königlichem Geblüt, und ich fordere .»

Gelasius hob besänftigend die Hand. «Ihr müßt Euch etwas taktvoller ausdrücken, Fidelma», sagte er.

«Soll das ein ausreichender Tadel sein?» kreischte Wulfrun empört. «Wer auf so freche Weise das Andenken eines gottesfürchtigen Erzbischofs besudelt, verdient es, ausgepeitscht zu werden. Es ist eine Beleidigung des Königshauses ...»

Fidelma sah sie lächelnd an. «Io saturnalia!» murmelte sie leise.

Die Äbtissin verstummte schlagartig. «Was habt Ihr gesagt?» fragte sie.

Auch Eadulf wußte nicht, was Fidelma damit meinte. Er versuchte, sich zu erinnern, warum sie sich so eingehend nach den Saturnalien erkundigt hatte.

«Es war einmal eine sächsische Prinzessin, die hatte eine ihrer Sklavinnen ins Herz geschlossen», begann Fidelma in harmlosem Plauderton, als wolle sie das Thema wechseln. «Als die Prinzessin mit dem König eines Nachbarreichs vermählt wurde, zog sie mit ihm in sein Königreich. Die Prinzessin war sehr fromm und wollte der Christenheit in ihrer neuen Heimat einen gottgefälligen Dienst erweisen. Sie gründete deshalb auf einer kleinen Insel, die man die Insel der Schafe nennt, ein Kloster, schenkte ihrer Sklavin die Freiheit und setzte sie als Äbtissin ein. Sie hatte dieser Sklavin einmal sehr nahe gestanden ... fast so nahe wie einer leiblichen Schwester.»

Wulfruns Gesicht war jetzt kreidebleich. Eine Hand umklammerte den Schal um ihren Hals. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Fidelma an und saß da wie ein Standbild.

Der Bann wurde von Gelasius gebrochen, der wie die meisten anderen nicht begriff, wovon Fidelma eigentlich sprach. Nur Bruder Ine lächelte verschmitzt vor sich hin.

«Das ist eine äußerst lobenswerte Geschichte», sagte Gelasius in gereiztem Ton. «Doch was hat das alles mit unserem Fall zu tun? Haben es nicht viele ehemaligen Sklaven in unserer Kirche zu hohem Ansehen gebracht? Ich denke, das brauchen wir nicht eigens zu erwähnen, vor allem nicht mitten in unseren Beratungen über Wighards gewaltsamen Tod.»

«Nun gut», entgegnete Fidelma und schürzte die Lippen, ohne den Blick auch nur eine Sekunde lang von den unergründlichen Augen der Äbtissin abzuwenden. «Nur eines möchte ich noch hinzufügen, nämlich daß die Sünde des Stolzes die besten Absichten zerstören kann. Bei den Saturnalien, einem römischen Fest aus heidnischer Zeit, war es, wie man mir sagte, Sitte, daß die Sklaven die Kleider ihrer Herrinnen und Herren trugen. Die befreite Sklavin, von der ich Euch berichtet habe, wurde von ihrer Herrin großzügigerweise genannt, und weil sie sich ihrer Herkunft schämte, versuchte sie, diese Bezeichnung zur Wirklichkeit werden zu lassen. Das Ergebnis war jedoch, daß sie alle um sich herum wie Sklaven behandelte und so tat, als sei sie tatsächlich von königlichem Geblüt, anstatt sich in Gerechtigkeit und Bescheidenheit zu üben.»

Eadulf, dem allmählich dämmerte, was die zunächst unerklärliche Abschweifung zu bedeuten hatte, betrachtete die hochmütige Äbtissin mit neuen Augen.

Wulfrun war früher also Sklavin gewesen? Fingerte sie nicht ständig an ihrem Schal herum? Verbargen sich unter diesem Schal die Narben, die ein eiserner Halsreif dort hinterlassen hatte? Eadulf sah Fidelma an und fragte sich, was aus ihrer Enthüllung folgern würde, doch es schien, als habe keiner von den anderen verstanden, was Fidelma gemeint hatte. Vor allem Gelasius wirkte gänzlich verwirrt.

«Ich muß gestehen, es fallt mir schwer, Euch zu folgen», sagte er schließlich. «Können wir nicht zu dem Mörder zurückkehren, dem Ronan Ragallach die Beichte abgenommen hat?»

Fidelma nickte mit Nachdruck. «Nur allzu gerne! Ronan begrub den Mann, verließ kurze Zeit später das Königreich Kent und reiste nach Rom. Er verletzte das Beichtgeheimnis nicht und gab auch den Namen des Geistlichen, der durch die Ermordung seiner Familie zu hohen kirchlichen Weihen gelangen wollte, nicht preis. Bis er Wighard hier in Rom sah, und zwar nicht nur als gewöhnlichen Pilger, sondern als einen Ehrengast des Heiligen Vaters, der in Kürze von ihm zum Erzbischof von Canterbury geweiht werden sollte. Ronan hatte das Gefühl, das schreckliche Geheimnis nun nicht länger für sich behalten zu können. Also erzählte er Osimo Lando davon, der sein anam chara oder war, wie wir dies in unserer Heimat nennen, wahrscheinlich aber auch mehr. In jedem Fall führte dieses Gespräch letztlich zu dem schrecklichen Racheakt, der Wighard das Leben kostete.»

Fidelma hielt inne, nahm noch einen Schluck Wasser und fuhr fort: «Der Stein kam dadurch zum Rollen, daß Cornelius sich an Osimo wandte und ihm um Hilfe bei der Rettung der wertvollen Bücher bat. Osimo schlug vor, Ronan in die Sache einzuweihen. Er sagte, Ronan habe sicherlich keine Skrupel, Wighard um seinen Schatz zu bringen. Als Cornelius ihn nach dem Grund fragte, konnte Osimo das Geheimnis seines Freundes nicht länger für sich behalten und erzählte Cornelius, warum Ronan Ragallach auf Wighard alles andere als gut zu sprechen war.»

«Und Cornelius fühlte sich verpflichtet, Puttoc davon zu berichten», warf Eadulf erklärend ein. «Cornelius hielt es für ein Sakrileg, daß ein Mann mit einer solchen Vergangenheit ein hohes Kirchenamt bekleiden sollte, und drängte Puttoc, beim Heiligen Vater Beschwerde einzulegen. Wozu es bei Puttoc allerdings keiner allzu großen Ermutigung bedurfte. Puttoc hatte es nämlich selbst auf den Bischofsthron von Canterbury abgesehen.»

Sie wandte sich an Bischof Gelasius. «Ihr selbst, Gelasius, habt uns erzählt, daß Puttoc Euch von Wighards Familie berichtet hat.»

Gelasius nickte. «Abt Puttoc sagte mir, Wighard sei verheiratet gewesen und habe zwei Kinder gehabt. Er tat so, als stünde dies Wighards Bischofsweihe entgegen. Als ich Wighard darauf ansprach, versicherte er mir jedoch, seine Familie sei vor vielen Jahren bei einem Überfall der Pikten ums Leben gekommen.»

«Darauf hätte Puttoc die Sache allerdings nicht beruhen lassen. Er hätte nach und nach mehr von der Geschichte preisgegeben», sagte Eadulf.

«Aber die Ereignisse kamen ihm zuvor», erklärte Fidelma. «Wir haben es mit einem jener Zufälle zu tun, die im Leben öfter geschehen, als wir uns dies eingestehen möchten.»

Ihre Augen ruhten auf Sebbi. Als ihm dämmerte, worauf sie anspielte, begann er zu kichern. Seine plötzliche Heiterkeit zog die erstaunten Blicke der anderen auf sich.

«Ihr wollt doch nicht etwa sagen, daß Puttoc Wighards Sohn vor dem Erhängen gerettet hat?» gluckste er.

Fidelma sah ihn mit ernster Miene an. «Der Mörder, der Wighards Kinder in die Sklaverei verkauft hatte, kehrte nach Kent zurück. Die Kinder wuchsen als Sklaven auf einem Bauernhof in Ostsachsen auf. In seiner Beichte nannte der Mörder auch den Namen des Mannes, dem dieser Bauernhof gehörte. Diesen Namen werde ich jetzt aufschreiben und superista Marinus’ sicherem Gewahrsam übergeben.»

Sie hatte Eadulf gebeten, Tontafeln und Stifte mitzubringen. Er reichte ihr eine Tafel, sie schrieb etwas darauf und reichte sie Marinus mit der Bitte, das Geschriebene noch nicht zu lesen. Dann wandte sie sich an Sebbi.

«Bruder Sebbi, da Ihr selbst dabeigewesen seid, möchte ich Euch bitten, die anderen darüber aufzuklären, unter welchen Umständen Puttoc seinen Diener Eanred aus der Sklaverei freikaufte. Eanred hatte nämlich seinen Herrn erdrosselt und sollte dafür gehängt werden.»

Bruder Sebbi gab die Geschehnisse auf ähnliche Weise wieder, wie er sie auch Fidelma und Eadulf erzählt hatte.

«Eanred war also seit seinem vierten Lebensjahr gemeinsam mit seiner Schwester auf einem Bauernhof aufgewachsen. Als Eanreds Schwester zur Frau wurde und ihr Herr sie vergewaltigte, tötete ihn Eanred. Nur Puttocs Eingreifen rettete ihn vor der unausweichlichen Strafe nach sächsischem Gesetz. Eadulf wird Euch jetzt eine Tontafel reichen, Bruder Sebbi. Ich möchte, daß Ihr den Namen des ermordeten Bauern aufschreibt und die Tafel anschließend Marinus gebt.»

Sebbi nickte und tat, worum er gebeten wurde.

«Hat dieses alberne Spielchen irgendwann ein Ende?» fragte Marinus, als er die zweite Tontafel entgegennahm.

«Wir werden in Kürze zu klaren Schlüssen kommen», versicherte ihm Fidelma.

«Wenn ich Euch richtig verstehe, wird einer dieser Schlüsse lauten, daß Eanred der Sohn Wig-hards war», sagte Gelasius. «Dann wird er wohl sicherlich auch Wighards Mörder gewesen sein.»

Seine voreiligen Worte waren Fidelma gar nicht recht. «Ja, die Namen auf den Tontafeln werden zeigen, daß es sich bei dem Bauern, der Wighards Kinder kaufte, und dem Bauern, den Eanred erdrosselte, um ein und denselben Mann handelte. Eanred war also tatsächlich Wighards Sohn. Das bedeutet jedoch nicht, daß er auch seinen Vater ermordet hat.»

«Dann verstehe ich nicht .» Gelasius hob ratlos die Hände.

«Geduld, Bischof», beruhigte ihn Fidelma. «Wir haben es fast geschafft.»

Sie wandte sich an Äbtissin Wulfrun und sah ihr unverwandt in das hagere, bleiche Gesicht. «Seid Ihr auch der Meinung, daß es sich um ein und denselben Namen handelt, Äbtissin von Sheppey?» fragte sie in scheinbar harmlosem Ton.

«Woher soll ich das wissen?» knurrte die Frau. Sie wirkte verhärmt. All ihr Stolz und Hochmut waren dahin.

«Ja, woher?» gab Fidelma zurück. «Ihr seid doch im Königreich Ostsachsen aufgewachsen.»

Alle Augen wandten sich jetzt neugierig der Äbtissin zu.

«Ja. Ich bin ... ich war ...»

Plötzlich erkannte Eadulf, was Fidelma mit ihren Anspielungen auf die Saturnalien bezwecken wollte. Er musterte Wulfrun aufmerksam. Wulfrun . eine frühere Sklavin? Wulfrun . die verlorene Schwester Eanreds?

«Wollt Ihr damit sagen, daß Wulfrun ...?» begann er.

«Wie ich bereits erwähnte, hatte Wighard zwei Kinder», erklärte Fidelma. «Einen Sohn und eine Tochter.»

«Aber ich bin nicht ...» rief Wulfrun und streckte wütend beide Hände nach Fidelma aus. Dabei fiel ihr Schal herunter und gab den Blick auf eine verräterische Narbe frei - die Spuren des eisernen Rings, den sie einst um den Hals getragen hatte.

Ohne sie weiter zu beobachten, wandte Fidelma sich Schwester Eafa zu.

«Auch Ihr seid als Sklavin auf einem Bauernhof aufgewachsen, nicht wahr, Eafa?»

Das Mädchen blinzelte, ohne jedoch eine Antwort zu geben.

«Ich werde nicht darauf bestehen, daß Ihr Eure Kopfbedeckung abnehmt. Wir wissen, was dort zu sehen ist. Wie Wulfrun tragt ihr die Spuren eines Eisenrings am Hals, habe ich recht?»

Die hellbraunen Augen des Mädchens funkelten vor Zorn. «Wenn Ihr es längst wißt, warum fragt Ihr dann? Ja, ich bin als Sklavin auf einem Bauernhof in Ostsachsen aufgewachsen.»

«Und auf diesem Bauernhof hat Äbtissin Wul-frun Euch dann gefunden, Euch die Freiheit erkauft und Euch als Dienerin mit in ihr Kloster genommen.»

Die Nonne zuckte gleichgültig die Achseln.

«Würdet Ihr uns den Namen des Bauern und seines Hofs aufschreiben?» fragte Fidelma. «Oder sollen wir Äbtissin Wulfrun danach fragen?»

Schwester Eafa biß sich auf die Lippe, dann sagte sie ruhig: «Es ... war Fobbas Bauernhof in Fob-ba’s Tun.»

Fidelma lächelte zufrieden. «Marinus, würdet Ihr uns jetzt bitte die Namen auf den beiden Tontafeln vorlesen?»

Der superista nahm die beiden Tafeln zur Hand und las mit fester Stimme: «Fobba in Fobba’s Tun.»

«Daß sie auf Fobbas Bauernhof aufgewachsen ist, läßt nicht unbedingt auf ihre Herkunft schließen», warf Wulfrun ein, offenbar in dem Versuch, etwas von ihrem verlorenen Respekt wiederzugewinnen.

«In diesem Fall schon. Denn Eafa hat uns während ihrer Befragung selbst erzählt, daß sie ursprünglich aus Kent stammt und als Kind nach Ostsachsen verschleppt worden ist. Sie ist Eanreds Schwester und Wighards Tochter.»

Das Mädchen hob den Kopf und sah Fidelma wütend an. «Es ist kein Verbrechen, Eanreds Schwester gewesen zu sein.»

Fidelma lächelte traurig. «Nein, das ist es nicht. Und wenn die Ähnlichkeit Eurer hellbraunen Augen nicht ausgereicht hätte, wäre mir die Gewißheit, daß Ihr Bruder und Schwester seid, spätestens bei Eurem vertraulichen Gespräch in der Kapelle der heiligen Helena gekommen. Die Art, wie Ihr Euch umarmt habt .»

«Eafa war die Frau in der Kapelle?» rief Furius Licinius erstaunt. «Aber Ihr habt uns verschwiegen, daß Ihr sie erkannt habt.»

«Ihr wart es doch, Eafa, oder?» fragte Fidelma.

Wieder zuckte Eafa die Achseln. Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß Fidelma die Wahrheit sagte.

«Ich hatte es vermutet, aber ich war mir nicht ganz sicher», seufzte Fidelma. «Wenn sich Bruder und Schwester küssen, ist das etwas anderes als ein Kuß zwischen Liebenden. Eanred wollte Euch beschützen. Er war stets auf Eure Sicherheit bedacht. Als Eure Mutter ermordet wurde und Ihr beide als Sklaven in ein fremdes Land kamt, hat er die Rolle Eures Beschützers angenommen. Ihr standet Euch sehr nahe, und als Ihr beide von Kindern zu Erwachsenen wurdet und Fobba Euch Gewalt antat, war er sofort bereit, Euch zu rächen. Nur Puttocs Eingreifen rettete ihn vor dem Galgen, und er wurde nach Stanggrund gebracht. Bis zu Eurer Ankunft in Rom saht ihr ihn nicht mehr wieder.»

«Das ist wahr. Ich will es nicht verbergen», gestand das Mädchen mit stiller Würde. «Aber ich verstehe immer noch nicht, was daran ein Verbrechen sein soll?»

«Ihr habt weiter für Fobbas Erben gearbeitet, bis das Schicksal es wollte, daß Äbtissin Wulfrun auf der Suche nach einer ebenso tüchtigen wie gehorsamen Sklavin dort vorbeikam, Euch die Freiheit erkaufte und mit nach Sheppey nahm.»

Fidelma sah Äbtissin Wulfrun an, die verwirrt zu Boden blickte. «Ich hatte keine Ahnung, daß Eafa die Tochter Wighards war», erklärte diese.

«Natürlich nicht», erwiderte Fidelma. «Aber das wußte Eafa zu diesem Zeitpunkt ja selbst noch nicht. Eanred und Eafa hatten nur verschwommene Erinnerungen an ihre frühe Kindheit. Keiner von den beiden ahnte, daß Wighard ihr Vater war und einen Mörder gedungen hatte, der sie und ihre Mutter aus dem Weg schaffen sollte, um sein Fortkommen zu sichern.»

«Und wie .?» wandte Marinus ein.

Fidelma schnitt dem superista das Wort ab. «Wollt Ihr uns selbst sagen, wann und durch wen Ihr von Eurer dunklen Vergangenheit erfahren habt, Eafa?»

Die junge Nonne streckte trotzig das Kinn und schwieg. Nach einer Weile fuhr Fidelma fort: «Abt Puttoc war ein sehr kluger und fähiger Mann, aber er hatte einen großen Fehler: Er frönte dem, was man in Rom die Sünde des Fleisches nennt. Und seine größte Sünde bestand darin, Frauen seine Aufmerksamkeiten aufzuzwingen.»

Eafa rang mühsam um Beherrschung.

«Er wußte, daß Eanred seinen Herrn ermordet hatte, um seine Schwester zu schützen. Er wußte, daß dieser Herr Fobba von Fobba’s Tun war. In einem Gespräch mit Wulfrun hatte er außerdem erfahren, daß auch Eafa in Fobba’s Tun aufgewachsen war, und er schloß daraus, daß Eafa und Eanred Geschwister waren.»

«Aber wie ist er auf diesen Gedanken gekommen?» warf Bruder Sebbi ein.

«Ganz einfach», sagte Fidelma. «Ronan Ragal-lach kannte den Namen des Bauern, der Wighards Kinder gekauft hatte. Er erzählte es Osimo, der erzählte es Cornelius, und Cornelius wiederum ...»

«... erzählte es Puttoc!» schloß Eadulf triumphierend.

«Und Puttoc erzählte es Euch, nicht wahr, Ea-fa?» fragte Fidelma. «Soll ich Euch sagen, warum?»

Das Mädchen wurde von wildem Zorn ergriffen. Wie eine Furie schrie sie Fidelma an: «Danke, das ist nicht nötig. Er hat versucht, mich zu verführen, und als ich ihn zurückwies, wurde das Schwein ausfallend und erzählte mir alles von ... meinem Vater!» Die letzten Worte spuckte sie aus wie fauliges Gift.

«Ihr wußtet also, daß Wighard Euer Vater war?» fragte Gelasius erstaunt.

«Ich habe Wighard noch am gleichen Abend nach dem cena darauf angesprochen. Ich wartete, bis er allein im Garten spazierenging, warf ihm an den Kopf, was Puttoc mir gesagt hatte, und hoffte, er würde alles abstreiten .»

«Ich habe Euch zusammen im Garten gesehen», meinte Bruder Sebbi. «Aber ich habe bloß Wighard erkannt.»

«Und was hat er gesagt?» drängte Fidelma. «Hat er es geleugnet?»

«Im ersten Augenblick war er fassungslos. Aber dann faßte er sich und bat mich, später am Abend zu ihm zu kommen. Er hat sich nicht näher dazu geäußert.»

«Aber Ihr wußtet, daß Wighard Euer Vater war, und Ihr habt es Eanred erzählt. Es war nicht das erste Mal, daß Eanred jemanden für Euch erdrosselt hat. Und Eanred hat sein Wort gehalten, nicht wahr? Er ist in Wighards Schlafgemach eingedrungen und hat ihn getötet, ehe er ins Colosseum ging.»

Selbstsicher wandte sie sich an Bischof Gelasius. «So wie er Fobba erdrosselt hat, erdrosselte Eanred jetzt seinen eigenen Vater, um Rache für das zu nehmen, was Wighard ihm, seiner Mutter und Eafa angetan hatte.»

«Und anschließend nahm er Ronan Ragallach auf genau die gleiche Weise das Leben», griff Ea-dulf den Faden auf. «Puttoc hatte Eafa erzählt, daß Ronan Ragallach durch die Beichte des Mörders Kenntnis von der ganzen Sache hatte, dabei aber nicht erwähnt, daß er sein Wissen Osimo und Cornelius verdankte. Daher dachte Eafa, daß sonst niemand im Bilde war, und stiftete ihren Bruder an, auch Ronan und Puttoc zu töten!»

Er schloß mit einem triumphierenden Lächeln. Eine ganz einfache Lösung also! Dann jedoch erkannte er die Schwachstelle: Eanred war nach dem Abendessen ins Colosseum gegangen und hatte anschließend mit Cornelius in dessen Villa geplaudert und Wein getrunken. Ine hatte Wighard später noch lebend gesehen. Eanred hätte deshalb gar nicht .

Als er Fidelmas spöttischen Blick auffing, dämmerte ihm, daß es sich um eine Falle handelte.

«Nein! Das ist nicht wahr!»

Eafa hatte so laut geschrien, daß sich alle zu ihr umdrehten. Sie war von ihrem Stuhl aufgesprungen und zitterte am ganzen Leibe.

«Mein Bruder Eanred war ein grundgütiger Mensch. Sein Gemüt war schlicht, und er hätte keiner Fliege etwas zuleide tun können. Er liebte Tiere und Pflanzen und opferte sich für andere Menschen auf. Er war immer für mich da .»

«Hätte er auch für Euch getötet?» fragte Licinius verächtlich. Er wandte sich an Gelasius. «Ich glaube, Bischof, was Ihr gehört habt, ist die Wahrheit .»

«Halt!» Äbtissin Wulfruns schrille Stimme ließ die Anwesenden erschrocken zusammenfahren. Doch schon im nächsten Moment wandten sich alle Blicke wieder Eafa zu, die langsam zu Boden sank. Auf der Vorderseite ihrer stola erschien ein roter Fleck.

Rasch fing Fidelma das Mädchen auf.

Das Messer, das in Eafas Brust steckte, sagte mehr als tausend Worte.

Wulfrun stöhnte entsetzt auf.

«Warum habt Ihr das getan?» fragte Fidelma, während sich die anderen in einem Halbkreis um die beiden versammelten.

Eafa schlug mühsam die Augen auf. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

«Segnet mich . denn ich habe gesündigt .»

«Warum habt Ihr das getan?» wiederholte Fidelma.

«Um Eanreds Seele zu retten», stöhnte das Mädchen.

«Erklärt Euch», drängte Fidelma sanft.

Blut quoll über Eafas Lippen.

«Ich habe keine Angst ...», flüsterte sie. Dann sah sie Fidelma unverwandt an. «Ihr habt Euch geirrt, Fidelma. Ich bin an jenem Abend in sein Zimmer gegangen.»

«Das war also der Besuch, den er erwartete», murmelte Ine im Hintergrund. «Deshalb wollte er nicht, daß ich ihm helfe, sich für die Nachtruhe fertig zu machen.»

Allen war klar, daß Eafa nicht mehr viel Zeit blieb.

«Ihr seid zu ihm gegangen?» griff Fidelma ihre Worte auf. «Ihr habt Wighard aufgesucht?»

Das Mädchen hustete wieder. Blut lief ihr aus dem Mund. «Ja ... Und ich habe ihm noch einmal erzählt, was ich erfahren hatte. Ich sagte ihm, daß Eanred und ich seine Kinder seien. Außerdem wüßten wir, daß er einen Mörder gedungen hat, um uns und unsere Mutter töten zu lassen.»

«Und er hat es abgestritten?»

«Das . das hätte ich . vielleicht noch ertragen. Statt dessen hat er alles gestanden. Er brach in Tränen aus, wandte sich von mir ab und kniete vor seinem Bett nieder. Ach ...» Sie rang nach Atem. «Wenn er doch mich oder Eanred oder unsere arme Mutter um Verzeihung gebeten hätte! Aber nein. Er flehte Gott um Vergebung an. Während ich, seine leibliche Tochter, die er so lange verleugnet hatte, dort neben ihm stand, fiel ihm nichts anderes ein als zu beten! Er hatte mir den Rücken zugewandt. Es schien ...» Ein quälendes Husten unterbrach ihre Rede. «Es kam mir vor wie eine göttliche Eingebung. Ich nahm seine Gebetsschnur. Er war tot, ehe er wußte, wie ihm geschah.»

Selbst im Sterben war ihrer Stimme eine bittere Genugtuung anzuhören.

Gelasius sah sie ungläubig an. «Wie konnte ein zartes Mädchen wie Ihr einen ausgewachsenen Mann erwürgen?»

Eafas Blick verschleierte sich. Blut sickerte aus ihrer Wunde. Dennoch spielte der Anflug eines boshaften Lächelns um ihre Lippen.

«Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und habe von Kind auf gelernt, wie man Tiere schlachtet. Wer mit zwölf einem Schwein die Gurgel abdrücken kann, hat mit einem ausgewachsenen Mann keine Schwierigkeiten.»

Ihr Körper bebte, und sie hustete wieder.

Fidelma beugte sich tiefer über sie. «Schwester, die Zeit rinnt davon. Habt Ihr auch Ronan Ragal-lach getötet?»

Das Mädchen nickte. «Ihr habt die Gründe schon genannt. Puttoc erwähnte nur, daß Ronan Ragallach eingeweiht war. Ich tötete den irischen Mönch in dem Glauben, daß außer ihm und Put-toc niemand das grausige Geheimnis meines Vaters kannte.»

«Aber woher wußtet Ihr, wo sich Ronan Ragal-lach aufhielt? Schließlich haben die custodes vergeblich nach ihm gesucht», fragte Licinius.

Eafa stöhnte vor Schmerz und verzog ein wenig spöttisch das Gesicht.

Fidelma sprach für sie. «Ihr wart auf dem Friedhof, nicht wahr, Eafa? Ihr wart mit der Äbtissin dort. Ich glaubte, ihre Stimme zu hören, als ich wieder zu Bewußtsein kam.»

Eafa nickte. «Es war reiner Zufall. Die Äbtissin wollte Wighards Grab mit Blumen schmücken. Ich begleitete sie, erkannte den irischen Mönch und folgte ihm.»

«Woran konntet Ihr ihn erkennen?» erkundigte sich Licinius. «Ihr hattet ihn doch bestimmt noch nie gesehen?»

Eadulf beantwortete seine Frage. «Sie erkannte ihn als den Mann wieder, der sie am Morgen vor dem Mord in der Nähe des domus hospitale angesprochen und sie über Wighard ausgehorcht hatte. Daß es sich dabei um Ronan Ragallach handelte, wußte sie, seitdem er gesucht wurde und man ihn ihr beschrieben hatte.»

«Es war ein Fehler von Eafa, uns von ihrer ersten Begegnung mit Ronan zu erzählen», sagte Fidelma. «Jedenfalls ist sie Ronan in die Katakomben gefolgt und .» Sie zuckte die Achseln.

«Ihr habt recht, Fidelma ...», bestätigte Eafa. Ihr Satz endete mit einem Hustenanfall.

«Und Puttoc?» drängte Fidelma.

Eafas Augen loderten auf. «Ja, Puttoc habe ich auch getötet. Puttoc war ein Schwein. Er hat versucht, mich zu vergewaltigen, genau wie Fobba. Schon dafür hatte er den Tod verdient. Außerdem wußte er von dem Geheimnis meines Vaters. Ich glaube, als ich heute nachmittag in sein cubiculum kam, ahnte er bereits .»

«Wenn Ihr Puttoc getötet habt, warum war dann Eanred in seinem Zimmer, als Fidelma und ich kamen, um mit dem Abt zu sprechen? Er sah ganz so aus, als habe er die Tat begangen. Und wenn nicht, warum ist er dann geflohen?» fragte Eadulf verblüfft.

Fidelma sah ihn an. «Als Eafa Puttoc tötete, klammerte sich der Abt an ihrem Gewand fest und riß eine Brosche ab, die sie hier in Rom gekauft hatte», erklärte Fidelma. «Erst als sie in ihre Kammer zurückkehrte, bemerkte sie, daß die Brosche fehlte. Da ihr klar war, daß dies den Verdacht auf sie lenken würde, bat sie ihren Bruder Eanred, hinzugehen und die Brosche aus Puttocs Zimmer zu holen, ehe die Leiche entdeckt wurde. Aber Eanred hatte Pech, wir kamen herein und ertappten ihn auf frischer Tat - allerdings nicht beim Mord an Put-toc, sondern bei dem Versuch, die Schuld seiner Schwester zu vertuschen.»

Eadulf sah sie entgeistert an.

«Das wußtet Ihr alles?» sagte er vorwurfsvoll. «Ihr wußtet schon die ganze Zeit über, daß Eafa die Mörderin war?»

«Ich vermutete schon seit einiger Zeit, daß Eafa in den Mordfall verwickelt ist. Als Eanred Eafa bei unserer ersten Begegnung nannte, dachte ich noch, er habe sich versprochen und damit seine Glaubensschwester gemeint. Dann dämmerte mir, daß die beiden leibliche Geschwister sein könnten.»

Eadulf war sichtlich verärgert darüber, daß sie ihn nicht daran gehindert hatte, eine falsche Fährte zu verfolgen.

«Immerhin hätte es ebensogut Eanred sein können», rechtfertigte er sich. «Schließlich hatte Eanred schon einmal für seine Schwester gemordet. Vergeßt nicht, daß er Fobba erdrosselt hat.»

Ein tiefer Seufzer erschütterte den Körper des sterbenden Mädchens.

«Ich . nicht Eanred . Ich . habe Fobba erdrosselt . Fobba hat mir Gewalt angetan . Ich habe den Mistkerl getötet . habe ihn wie ein Schwein abgeschlachtet ... An Eanreds Händen klebt kein Blut.»

Eafas Haut hatte rote Flecken, und ihre Lippen zuckten wild. Noch ein paar schwere, rasselnde Atemzüge, dann lag sie reglos da. Die anderen konnten sehen, wie die Flecken verblaßten und ihre Haut gelb und wächsern wurde.

Fidelma beugte sich über die Tote und drückte ihr die Augen zu. Dann kniete sie nieder.

«Requiem aeternam dona ea, domine ...», begann sie feierlich. Einer nach dem anderen stimmten sie in das Totengebet ein und vereinigten sich zu einem vielstimmigen Sprechgesang.

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