XIV

«SELBSTMORD?» ZWEIFELND SAH FI-

delma den jungen Furius Licinius an. «Seid Ihr sicher?»

«Einwandfrei», bestätigte Licinius. «Osimo Lan-do wurde von mehreren Leuten beobachtet, wie er auf den Aquädukt kletterte und auf die Straße sprang.»

Mit nachdenklich gesenktem Kopf saß Fidelma da. Bruder Osimo Landos Tod warf weitere Fragen auf und ließ alles noch rätselhafter erscheinen.

Fidelma und Eadulf befanden sich im munera peregrinitatis, wo Osimo und Ronan gearbeitet hatten. Sie hatten Licinius ausgeschickt, um weitere Einzelheiten über Osimos Tod in Erfahrung zu bringen, während sie selbst gründlich die Räume durchsuchten. Doch nichts wies auf eine Verbindung zwischen Ronan Ragallach und Arabern hin. Auf seinem Schreibtisch lagen einige unverständliche Aufzeichnungen und ein altes griechisches Buch mit medizinischen Traktaten. Das Werk war offenbar sehr wertvoll, denn Ronan hatte es sorgfältig in Sackleinen eingeschlagen und unter einem Stapel von Papieren versteckt. Abgesehen davon entdeckten sie nur verschiedene Briefe von nordafrikanischen Kirchen, die sich auf ihrer Suche nach geistiger Führung an Rom gewendet hatten.

Eadulf machte ein finsteres Gesicht. «Könnte Osimo Lando sich in einem Anfall von Reue das Leben genommen haben, weil er Ronan Ragallach ermordet hat?» Seine Stimme klang wenig überzeugend.

Fidelma sparte sich die Mühe, darauf zu antworten. «Wir sollten Bruder Osimo Landos Unterkunft in Augenschein nehmen. War er im Palast untergebracht?»

Licinius schüttelte den Kopf. «Er wohnte in der gleichen Herberge wie Ronan Ragallach. Im Haus von Diakon Bieda.»

«Ah, natürlich», seufzte Fidelma. «Ich hätte es mir denken können. Laßt uns gleich hingehen. Vielleicht finden wir dort des Rätsels Lösung.»

Furius Licinius zeigte ihnen eine Abkürzung durch den Lateranpalast. Die Räume des munera peregrinitatis befanden sich im oberen Stockwerk eines zweistöckigen Hauses. Anstatt die Marmortreppe in den Innenhof zu nehmen, brachte Licini-us sie zu einer Holzbrücke. Diese führte zu dem Gebäude, das die scala sancta barg - jene heilige Treppe, die Christus einst nach der Verurteilung durch Pilatus hinuntergeschritten war.

Zu Eadulfs Erstaunen erkundigte sich Fidelma trotz der vielen drängenden Fragen in aller Seelenruhe bei Furius Licinius nach dem Gebäude. Ihre Einstellung zur Zeit hatte ihn schon öfter verwundert, denn wie viele ihrer Landsleute sah sie nur selten einen Grund zur Eile.

«Das eigentliche sancta sanctorum befindet sich in der Mitte», erklärte Licinius, als Fidelma stehenblieb, um sich das Gebäude näher anzuschauen.

«Der Weg ist uns durch ein Tor versperrt. Ich werde Euch deshalb auf anderem Wege in die Kapelle der heiligen Helena geleiten. Von dort aus können wir das Palastgelände in unmittelbarer Nähe des Aquädukts verlassen. Das ist der schnellste Weg zu Biedas Haus.»

«Warum ist uns dieser heilige Ort versperrt?» fragte sie.

«Es befindet sich dort ein dunkler Raum mit einem Eisengitter als Fenster. Frauen werden nicht eingelassen. Und es gibt sogar einen Altar, an dem noch nicht einmal der Heilige Vater die Messe lesen darf.»

Fidelma lächelte matt. «Tatsächlich? Wozu sollte so ein Altar denn gut sein?»

Im ersten Augenblick war Furius Licinius empört, dann sah er ein, daß sie recht hatte. Ein Altar, an dem nicht einmal Seine Heiligkeit eine Messe lesen durfte, war im Grunde nutzlos. Schweigend führte er sie weiter über die Holzbrücke. Diese ging im rechten Winkel von dem Gebäude mit dem sancta sanctorum ab und brachte sie über einen weiteren Innenhof direkt in den oberen Stock einer kleinen Kapelle.

«Das ist die Kapelle der heiligen Helena, der Mutter Konstantins. Ihr haben wir es zu verdanken, daß die Pilger hier in Rom all die heiligen Reliquien bewundern können», erklärte Furius Licinius.

Die Kapelle wurde von einem gelangweilten Soldaten der custodes bewacht, der vor Licinius salutierte, die Tür entriegelte und sie einließ.

Sie standen auf der hölzernen Empore hoch über dem Mosaikfußboden des runden Gebäudes. Eindringliches Flüstern hallte in dem dunklen Gewölbe wider. Es klang so verschwörerisch, daß Fidelma den Arm des jungen Offiziers ergriff. Sie sah ihn und Eadulf an und legte einen Finger auf die Lippen. Dann schlich sie zum Rand der Empore und spähte über das Geländer hinweg ins Erdgeschoß der Kapelle hinunter.

Unmittelbar unter ihnen standen zwei Gestalten, eine junge Nonne in gebeugter Körperhaltung und die aufrechte Gestalt eines Klostermönchs. Die beiden waren in ein angeregtes, vertrauliches Gespräch vertieft. Die Frau redete am meisten, während der Mann nur zustimmend nickte. Fidelma wußte nicht, weshalb sie ihre Begleiter zur Ruhe gemahnt hatte, damit niemand sie bemerkte. Doch die flüsternden Stimmen hatten etwas Geheimnisvolles, das durch das Verhalten der beiden Geistlichen noch verstärkt wurde. Neugierig blickte Fidelma nach unten und versuchte, ein paar Worte aufzuschnappen, aber das Echo verzerrte alles, so daß sie nichts verstand.

Dann hob die Nonne plötzlich beide Hände, umarmte den Mönch und küßte ihn auf die Wange, ehe sie eilig die Kapelle verließ.

Durch die offene Tür fiel das Licht auf das Gesicht des Mönches. Es war der sanftmütige, einfältige Bruder Eanred.

Als auch er gegangen war, wandte sich Licinius an Fidelma. «Eine Liaison zwischen einer Nonne und einem Mönch wird zwar nicht gern gesehen, ist aber auch nicht verboten, Schwester», bemerkte er spöttisch.

Fidelma verkniff sich die Antwort und folgte ihm und Bruder Eadulf über eine Wendeltreppe ins Erdgeschoß. Stolz zeigte Licinius ihnen die in verschiedenen Schreinen ausgestellten Reliquien.

«Dort seht ihr eine Haarlocke der Jungfrau Maria und ein Stück von ihrem Unterrock», erklärte er. «Und das ist ein Gewand Christi, mit seinem Blut befleckt. Dieses Fläschchen hier enthält mehrere Tropfen seines Blutes, in dem anderen ist etwas von dem Wasser, das aus seinen Wunden floß.»

Fidelma musterte mißtrauisch die ausgestellten Gegenstände. «Und der alte Schwamm?» Sie deutete auf einen dunklen, löchrigen Klumpen auf einem goldenen Sockel.

«Das ist der Schwamm, den man in Essig tauchte und dem am Kreuz hängenden Jesus reichte», sagte Licinius ehrfürchtig. «Und hier ist der Tisch, an dem unser Heiland das letzte Abendmahl zu sich nahm .»

Fidelma lächelte spöttisch.

«Dann war das letzte Abendmahl tatsächlich ein größeres Wunder, als ich es mir bisher vorgestellt habe. An diesem Tisch konnten doch höchstens zwei Leute sitzen, von Jesus und den zwölf Aposteln ganz zu schweigen.»

Licinius war für ihre Zweifel unempfänglich.

«Und was sind das für Steine?» fragte Fidelma und zeigte auf den kleinen, von zwei behauenen Felsbrocken flankierten Altar.

«Der linke Stein stammt aus dem Heiligen Grab», erklärte Licinius eifrig, «und auf dem rechten hat der Hahn gekräht, nachdem Petrus unseren Herrn dreimal verleugnet hat.»

«Und all diese Dinge hat die heilige Helena gesammelt und nach Rom gebracht?» fragte Fidelma ungläubig.

Licinius nickte und deutete auf den nächsten Schrein: «Diese Tücher hat sie allerdings hier in der Stadt gefunden. Es sind die Tücher, mit denen die Engel das Gesicht des heiligen Laurentius abtupften, als er auf dem glühenden Rost zu Tode gemartert wurde. Und dies sind Moses’ und Aarons Wanderstäbe ...»

«Woher wußte Helena, daß die Reliquien echt sind?» unterbrach ihn Fidelma, verärgert darüber, daß diese mit Inbrunst verehrten Gegenstände, die Pilger aus der ganzen Welt anlockten, nur geschickte Fälschungen geschäftstüchtiger Kaufleute waren.

Licinius sah sie entgeistert an. Bisher hatte noch niemand gewagt, eine solche Frage zu stellen.

«Ich habe mir nur gerade vorgestellt», fuhr Fidelma fort, «wie Helena als Pilgerin in ein fremdes Land kam, um nach heiligen Reliquien zu suchen. Als die Kaufleute dieses Landes davon hörten, haben sie ihr die passenden Dinge angeboten - natürlich erst, nachdem sie sich vergewissert hatten, daß sie auch gut dafür zahlen wollte.»

«Aber das ist Gotteslästerung!» rief Licinius empört. «Der Herr war mit ihr, um sie vor solchen Scharlatanen zu schützen! Ihr wollt doch nicht etwa behaupten, daß Helena betrogen wurde und diese Gegenstände wertlos sind?»

«Ich bin jetzt seit über einer Woche in Rom und habe mit eigenen Augen gesehen, wie dutzendweise ähnliche Reliquien an gläubige Pilger verkauft wurden, die sich bereitwillig von ihrem sauer ersparten Geld trennten, um ein Stück von der echten Fußfessel des heiligen Petrus mit nach Hause zu nehmen! Und all diese Reliquien, versichert man uns, seien echt. Ich sage Euch, Licinius, wenn man all das Holz vom wahren Kreuz Jesu, das derzeit in Rom verhökert wird, zusammensetzen würde, entstünde daraus das wunderbarste und größte Kreuz, das die Welt je gesehen hat.»

Eadulf faßte sie am Arm und mahnte sie mit einem stummen Blick, mit ihren Äußerungen vorsichtiger zu sein.

Licinius war zutiefst entrüstet. «Die heilige Helena hat die Echtheit all dieser Reliquien höchstpersönlich bestätigt», widersprach er.

«Das bezweifle ich nicht», entgegnete Fidelma lächelnd.

«Ich fürchte, wir haben jetzt nicht genug Zeit, um diese Fragen ausführlich zu erörtern», unterbrach sie Eadulf besorgt. «Wir können ja später noch einmal zurückkehren und über Helenas Reise ins Heilige Land debattieren.»

Der junge tesserarius biß sich auf die Lippe, schluckte seinen Ärger hinunter und führte sie weiter zu einem Seitentor in der Mauer, die das gesamte, zum Lateranpalast gehörende Gelände umgab. Von dort aus waren es nur noch wenige Schritte bis zum Aquädukt und zu Biedas Herberge.

Wie bei ihrem letzten Besuch wurden sie auch diesmal von der Herbergsmutter mit wütenden Be-schimpfüngen empfangen.

«Wie soll ich überleben, wenn alle meine Gäste auf geheimnisvolle Weise ums Leben kommen und Ihr mir verbietet, ihre Zimmer weiterzuvermieten? Wo bleibt meine Miete? Wo bleibt mein Lebensunterhalt?»

Furius Licinius wies sie mit grober Stimme zurecht, und nachdem die Frau ihnen den Weg zu Osimo Landos Kammer gewiesen hatte, zog sie sich fluchend in ein Seitenzimmer zurück. Fidelma war nicht überrascht, als sie erfuhr, daß Osimo gleich gegenüber von Ronan gewohnt hatte. Sein Zimmer wirkte sehr viel ordentlicher als das des irischen Mönchs. Es war zwar ebenfalls dunkel und schmuddelig, aber Osimo Lando hatte versucht, das Beste daraus zu machen. In einer Ecke stand sogar eine Vase mit welkenden Blumen, und über dem Bett hingen einige hübsch gerahmte griechische Worte, die Fidelma zum Schmunzeln brachten. Offenbar hatte Osimo Lando Humor gehabt. Die Zeilen stammten aus dem 84. Psalm: «Wohl denen, die in deinem Hause wohnen; sie loben dich immerdar.»

Sie fragte sich, was es angesichts der Verwahrlosung und der schlampigen Haushaltsführung der Herbergsmutter hier wohl zu loben gab.

«Wonach suchen wir?» fragte Licinius, der auf der Schwelle stehengeblieben war.

«Das weiß ich auch nicht so genau», räumte Fidelma ein.

«Osimo muß sehr belesen gewesen sein», sagte Eadulf, der einen kleinen Wandschrank geöffnet hatte. «Schaut her.»

Fidelmas Augen weiteten sich beim Anblick der beiden Bücher und mehrerer beschriebener Blätter.

«Das sind sehr alte Texte», stellte sie fest, nahm eines der Bücher heraus und las den Titel. «Seht Euch das an. De Acerba Tuens. Das hat Erasistratus von Ceos geschrieben.»

«Ich dachte immer, das Buch sei beim großen Brand in der Bibliothek von Alexandria vernichtet worden», sagte Eadulf.

«Diese Bücher sollten unbedingt an einem sicheren Ort aufbewahrt werden», meinte Fidelma.

«Ich werde mich darum kümmern», erwiderte Licinius steif. Offenbar grollte er ihr noch immer wegen ihrer Zweifel an der Echtheit des Vermächtnisses der heiligen Helena.

Fidelma blätterte die beschriebenen Seiten durch. Es lag auf der Hand, daß Osimo und Ronan eine sehr enge Freundschaft verbunden hatte. Es waren Gedichte, die von Liebe und Treue handelten, die meisten von Osimo verfaßt und Ronan gewidmet. Anscheinend hatte Osimo nach dem Tod des Freundes keinen Sinn mehr im Leben gesehen. Fidelma verspürte Trauer um sie beide.

«Beginnt alles, was ihr tut, in Liebe», flüsterte sie beim Lesen eines der Gedichte.

Eadulf runzelte die Stirn. «Was habt Ihr gesagt?»

Fidelma lächelte. «Ich dachte nur an eine Zeile aus Paulus’ Brief an die Korinther.»

Verwirrt sah Eadulf sie an, dann durchsuchte er weiter Osimos Zimmer. «Sehr viel mehr gibt es hier nicht, Fidelma», sagte er. «Jedenfalls nichts, was uns bei der Lösung unseres Rätsels helfen könnte.»

«War Osimo vielleicht in den Mord an Ronan verwickelt gewesen?» fragte Furius Licinius.

«Nicht als Täter», erwiderte Fidelma. Sie wollte gerade zum Aufbruch mahnen, als ihr plötzlich etwas ins Auge stach.

«Was ist das, Eadulf?» wollte sie wissen und zeigte auf den Boden.

Der Sachse folgte ihrem Blick. Von dem groben Holzbett halb verborgen, entdeckte er einen Gegenstand. Er bückte sich, um ihn aufzuheben.

«Das ist der abgebrochene Fuß eines goldenen Kelchs», rief er überrascht aus, nachdem er ihn untersucht hatte. «Ich erkenne ihn wieder. Er stammt von dem Kelch, den Cenewealh von Westsachsen gestiftet hat, um ihn von Seiner Heiligkeit segnen zu lassen. Seht Ihr die Inschrift auf dem Boden?»

«», las Fidelma. «

«Cenewealh bat Wighard, eine passende Inschrift auszuwählen und eingravieren zu lassen. Obwohl der obere Teil fehlt, erkenne ich ihn wieder.»

Licinius sah ihn ratlos an. «Also wurden Wig-hards Schätze in diesem Zimmer aufbewahrt? Und Osimo und Ronan waren Komplizen?»

Fidelma kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe, eine schlechte Angewohnheit, die sie einfach nicht ablegen konnte. «Auf jeden Fall hatten die beiden Zugriff zu der Diebesbeute», räumte sie ein.

«Also müssen sie auch an dem Mord beteiligt gewesen sein», folgerte Eadulf.

«Aber eines ist seltsam ...» Fidelma schien noch immer tief in Gedanken versunken. Endlich richtete sie sich auf. «Wir können hier nichts mehr ausrichten. Licinius, nehmt diese Bücher mit. Und, Eadulf, Ihr steckt den abgebrochenen Fuß des Kelches ein. Wir müssen einige Überlegungen anstellen.»

Eadulf und Licinius sahen einander fragend an und folgten ihr schweigend die Treppe hinunter.

Unten wartete schon die schimpfende Herbergsmutter. «Wann kann ich die Zimmer weitervermieten? Es ist nicht meine Schuld, daß die beiden ums Leben gekommen sind. Warum soll ich dafür bestraft werden?»

«Ein, zwei Tage müßt Ihr Euch schon noch gedulden», versuchte Furius Licinius, sie zu beruhigen.

Die Frau grunzte verächtlich. «Ich sehe, daß Ihr Sachen wegtragt, die nach Recht und Gesetz mir zustehen, als bonorum veditio sozusagen», keifte sie.

Beim unerwarteten Gebrauch dieses lateinischen Rechtsbegriffes merkte Fidelma auf.

«Hattet Ihr denn viele Gäste, deren Eigentum Ihr als Ausgleich für ausstehende Mietzahlungen beschlagnahmen mußtet?» fragte sie.

Nur mit Mühe verstand die Frau Fidelmas korrektes, aber fremdländisch klingendes Latein. Sie schürzte die schmalen Lippen und schüttelte den Kopf. «Nein. Meine Gäste zahlen immer pünktlich.»

«Und wo habt Ihr dann diesen Ausdruck ... bonorum veditio . her?»

Die Frau runzelte die Stirn. «Was geht Euch das an? Ich kenne eben meine Rechte.»

«Ich habt nicht mehr Rechte, als ich sie Euch zugestehe», fuhr Licinius sie unfreundlich an. «Benehmt Euch, Frau, und beantwortet die Frage. Wo habt Ihr diesen Fachbegriff aufgeschnappt?»

Die Frau duckte sich ängstlich.

«Was soll daran denn verwerflich sein?» jammerte sie. «Der Grieche hat gesagt, das sei mein gutes Recht. Immerhin war er so anständig, mir eine Münze zu geben, als er den Sack aus dem Zimmer des toten Bruders geholt hat.»

Fidelma sah sie eindringlich an. «Ein Grieche? Aus welchem Zimmer hat er einen Sack geholt?»

Die Frau blinzelte. Offenbar wurde ihr klar, daß sie zuviel gesagt hatte.

«Heraus damit, Frau», herrschte Licinius sie an. «Oder ich stecke Euch in eine Zelle. Dort könnt Ihr dann schmoren und Euch über Eure Rechte Gedanken machen.»

Die Frau zitterte. «Na schön ... er hat Osimo Landos Zimmer durchsucht und ist mit einem Sack fortgegangen.»

«Ein Grieche, sagt Ihr?» drängte Licinius. «Der Besitzer der Herberge? Der Grieche Diakon Bieda? Habt Ihr ihm nicht von dem strengen Befehl erzählt, ohne unsere Erlaubnis nichts aus den beiden Zimmern zu entfernen?»

«Nein, nein», widersprach die Frau kopfschüttelnd. «Ich meine nicht diesen Dreckskerl Bieda, sondern den griechischen Medikus aus dem Lateranpalast. Den kennt doch jeder.»

Fidelma zuckte erstaunt zusammen. «Der griechische Medikus aus dem Lateranpalast? Cornelius? Cornelius von Alexandria?»

«Genau der», bestätigte die Frau mit finsterem Blick. «Er hat mich über meine Rechte aufgeklärt.»

«Und wann war das?» fragte Fidelma.

«Vielleicht vor einer Stunde.»

«Sobald er von Osimos Selbstmord gehört hatte, schätze ich», sagte Eadulf.

«Und als er das Zimmer verließ, hatte er einen Sack dabei?»

Die Frau nickte zerknirscht.

«Was war das für ein Sack? War er groß oder klein?»

«Mittelgroß. Ich glaube, es war Metall drin, jedenfalls hat es bei jedem Schritt geklirrt», erklärte die Frau, offenbar darauf bedacht, ihre Verfehlungen wieder wettzumachen. «Er versprach mir für jedes der fünf Bücher in Osimos Schrank einen se-stertius, wenn ich sie in meiner Kammer verstecken würde, bis er sie abholt. Drei hatte ich schon hinübergetragen, als Ihr kamt. Die anderen beiden haltet Ihr in Händen.»

«Warum hat er das wohl getan?» wollte Fidelma wissen.

«Weil er die Bücher und den Sack nicht gleichzeitig tragen konnte», antwortete die Frau, die ihre Frage mißverstanden hatte.

Fidelma wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als Eadulf sie triumphierend unterbrach: «Cornelius war also die ganze Zeit über an der Tat beteiligt!»

«Das werden wir noch sehen», erwiderte Fidelma. «Holt die drei Bücher, die Ihr aus Osimo Landos Zimmer genommen habt, Frau.»

Widerwillig folgte die Herbergsmutter ihrem Befehl. Es waren alte griechische Bücher, unschwer als medizinische Traktate zu erkennen. Fidelma schüttelte erstaunt den Kopf. Der Weg zu Wig-hards Mörder schien mit alten medizinischen Texten gepflastert zu sein.

«Wißt Ihr, wo Cornelius wohnt?» wandte sich Fidelma an Licinius.

«Ja. Er besitzt eine kleine Villa beim Dolabella-und Silanus-Bogen. Soll ich die custodes rufen?»

«Nein. Wir sind noch immer weit von einer Lösung unseres Rätsels entfernt, Licinius. Nachdem wir unsere Funde sicher in unserem officium verstaut haben, werden wir zu Cornelius’ Villa gehen und hören, was er zu der Sache zu sagen hat.»

Die Frau sah von einem zum anderen und versuchte, den Sinn ihrer Worte zu verstehen.

«Und was ist mit mir?» fragte sie ein wenig selbstbewußter, da die Gefahr einer Haftstrafe abgewendet war.

«Ihr hütet Eure Zunge», antwortete Licinius streng. «Und wenn ich zurückkomme und feststelle, daß Ihr in den beiden Zimmern sonst noch irgend etwas angerührt habt - wenn auch nur ein Faden von einer Wolldecke oder einer Kakerlake auf dem Fußboden fehlt -, werde ich dafür sorgen, daß Ihr Euch nie wieder Sorgen um Eure Mieten zu machen braucht. Ihr werdet für den Rest Eures Lebens mietfrei in dem schlimmsten Gefängnis wohnen, das ich für Euch auftreiben kann. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?»

Die Frau murmelte etwas Unverständliches und zog sich in ihre Kammer zurück.

Draußen tadelte ihn Fidelma sanft: «Ihr seid unnötig hart mit ihr ins Gericht gegangen.»

Licinius verzog finster das Gesicht. «Leute wie sie muß man so behandeln. Diese Bauerntölpel haben nichts anderes im Sinn, als so schnell wie möglich an Geld zu kommen.»

«Wahrscheinlich ist das ihre einzige Möglichkeit, der Armut zu entfliehen», entgegnete Fidelma. «Ihre Herrscher führen ihnen Tag für Tag vor, daß sich die Erlösung nur durch weltlichen Ruhm erlangen läßt. Warum ihnen die Schuld dafür geben, daß sie diesem Beispiel folgen, solange sie keine besseren Vorbilder haben?»

«Ich habe schon von Euren eigenwilligen Ansichten gehört», brummte Licinius. «Sind das nicht die Lehren des Ketzers Pelagius?»

«Wir halten uns einzig und allein an die Lehren Jesu Christi. Das ist das Wort unseres Herrn, wie Lukas es uns überliefert hat.»

Licinius errötete. Eadulf, der seine Verlegenheit spürte, sprang für ihn in die Bresche.

«Wir sollten uns besser beeilen und die Bücher rasch ins officium bringen. Dann suchen wir nach Cornelius.»

«Ja. Wir müssen die Bücher unbedingt an einem sicheren Ort aufbewahren», stimmte Fidelma zu. «Ich habe das Gefühl, daß sie für unseren Fall von allergrößter Bedeutung sind.»

Eadulf und Licinius sahen sie fragend an, aber sie gab ihnen keine weitere Erklärung.

Cornelius von Alexandrias Villa lag nicht weit entfernt auf dem Celius-Hügel, wo Kaiser Nero einst den alten, Dolabella und Silanus geweihten Triumphbogen in einen Aquädukt zum nahegelegenen Palatin hatte umwandeln lassen. Von der Nordseite des Hügels hatte man einen großartigen Blick auf das Colosseum, und von Cornelius’ Villa sah man über ein kleines Tal zum Palatin mit seinen alten, einzigartigen Bauwerken. Eadulf hatte Fidelma erzählt, daß die Geschichte der Stadt Rom mit der Besiedlung des Palatin begonnen hatte. Dort hatten all die bedeutenden Bürger der römischen Republik gewohnt und später die despotischen Cäsaren ihre überladenen Paläste erbaut. Auch die ostgotischen Könige hatten vom Palatin aus geherrscht, und erst nach und nach hatten christliche Kirchen ihre heidnischen Tempel ersetzt.

«Was meint Ihr, wie wir vorgehen sollten?» fragte Eadulf, als der noch immer ein wenig verstimmte Furius Licinius ihnen die Villa gezeigt hatte.

Fidelma zögerte. Sie wußte es nicht. Ja, insgeheim bedauerte sie ihren raschen Entschluß, sich zu Cornelius’ Villa zu begeben. Vielleicht hätte sie Licinius’ Vorschlag annehmen und eine decuria der Palastwachen herbeirufen sollen. Schon legte die Abenddämmerung sich über die Stadt. Warum hatte sie Cornelius nicht von den custodes zur Befragung in ihr officium bringen lassen? Aber es gab noch immer so vieles, was sie nicht verstand. Jede Antwort warf ein halbes Dutzend neuer Fragen auf.

«Nun?» fragte Eadulf.

Doch noch ehe sie Gelegenheit zu einer Antwort erhielt, geschah etwas, das weiteres Nachgrübeln überflüssig machte.

Sie standen auf der anderen Straßenseite, gegenüber den Holztoren, die zum Park der Villa führten. Offenbar war Cornelius von Alexandria ein wohlhabender Mann. Plötzlich gingen die Tore auf, und zwei Träger mit einer lecticula kamen heraus. Unwillkürlich duckten sich Fidelma, Eadulf und Licinius in den Schatten. Cornelius lehnte sich bequem in der Sänfte zurück. Auf seinem Schoß hielt er deutlich sichtbar einen Leinensack.

Die Träger liefen in westlicher Richtung den Hügel hinunter auf eine prächtige Kirche zu.

«Er will den Sack wegschaffen», stellte Fidelma fest. «Kommt, wir folgen ihm!»

Sie mußten sich sputen und gelegentlich selbst in einen ihres Standes unwürdigen Trab verfallen, um die Träger nicht aus den Augen zu verlieren. Trotz der halsbrecherischen Fahrt nach Marmorata wünschte Fidelma sich sehnlich den Einspänner herbei. Sie überquerten den kleinen Platz vor der Kirche und erreichten den Fuß des Palatin.

Cornelius’ Träger liefen im Tal an einem riesigen Bauwerk entlang, das gar nicht mehr zu enden schien.

«Der Circus Maximus», keuchte Licinius. «In der Zeit der Cäsaren haben dort unzählige Märtyrer ihr Leben gelassen.»

Außer Atem von der wilden Verfolgungsjagd, verzichteten sie auf ein weiteres Gespräch. Die Träger der lecticula eilten erst in nördlicher Richtung zum Tiber und wandten sich dann nach Südwesten. Fidelma wunderte sich, wie zwei Männer mit dem Gewicht eines schweren Holzgestells und ihres nicht gerade schmächtigen Herrn so rasch und mühelos vorankommen konnten, denn sie hatten Schwierigkeiten, mit den drahtigen Trägern Schritt zu halten. Fidelma beobachtete, daß sie immer abwechselnd eine Weile gingen und dann auf Anweisung des Hintermannes zu laufen begannen. So eilten sie das Flußufer und die Kais entlang, wo Holzhütten und Lagerhäuser standen.

Plötzlich geriet Furius Licinius in der Dunkelheit ins Stolpern und stieß einen Fluch aus.

Eadulf blieb stehen und half dem jungen tesserarius wieder auf die Beine.

«Ihr könnt einen Augenblick ausruhen», keuchte Fidelma. «Die Träger sind stehengeblieben.»

«Ausgerechnet hier», stöhnte Licinius. «Wir sind wieder in Marmorata.»

Fidelma hatte bereits gemerkt, daß sie Cornelius’ Trägern tatsächlich in die gleiche Gegend gefolgt waren wie wenige Stunden zuvor Puttocs lec-ticula. In der Dunkelheit wirkte das Elendsviertel noch unheimlicher.

Fidelma rümpfte angewidert die Nase, als sie die fauligen Abwässer roch. Es war eine düstere und bedrohliche Gegend mit baufälligen Häusern. Hunde und Katzen streunten durch die Straßen und durchwühlten die Abfälle nach Essensresten.

Cornelius’ lecticula stand vor einem alten Lagerhaus, hinter dem ein grobgezimmerter Holzsteg in den Fluß ragte. Die Träger hatten die Sänfte abgesetzt. Offenbar war auch ihnen diese Gegend nicht ganz geheuer, denn ihre Hände ruhten auf den Messern, die sie an ihren Gürteln trugen.

Es dauerte eine Weile, bis Fidelma, Eadulf und Licinius zu ihrem Ärger bemerkten, daß Cornelius die Sänfte bereits verlassen hatte.

«Er muß ins Lagerhaus gegangen sein», flüsterte Eadulf.

«Aber seine Träger scheinen auf ihn zu warten», bemerkte Licinius.

Wieder ertappte Fidelma sich dabei, wie sie auf ihrer Lippe kaute. «Offenbar findet das Treffen im Lagerhaus statt.» Sie faßte einen raschen Entschluß. «Licinius, Ihr geht zur Vordertür und wartet dort. Werden die Träger Euch Schwierigkeiten machen?»

Licinius schüttelte den Kopf. «Meine Uniform wird ihnen Respekt einflößen.»

«Sehr gut. Wenn Ihr mich nach Hilfe rufen hört, kommt Ihr sofort. Und falls die Träger versuchen, Euch zurückzuhalten, macht Ihr von der Waffe Gebrauch. Eadulf, Ihr begleitet mich.»

«Wohin?» fragte Eadulf verwirrt.

«Zur Rückseite des Lagerhauses. Am Flußufer gibt es einen Holzsteg. Seht Ihr ihn? Er ist im Mondlicht gerade noch zu erkennen. Wir werden versuchen, von dort aus ins Lagerhaus einzudringen. Ich will unbedingt in Erfahrung bringen, was Cornelius dort zu suchen hat.»

Fidelma eilte, gefolgt von Eadulf, zum Fluß hinunter. Licinius, der den beiden nachsah, staunte, wie bereitwillig Eadulf den Anweisungen einer Frau gehorchte. Dann zog er sein gladius und schlenderte auf die lecticula zu.

Als die Träger ihn kommen sahen, zuckten sie erschrocken zusammen. Einer von ihnen hatte für den Rückweg bereits eine Laterne angezündet. Beim Anblick seiner Uniform atmeten sie erleichtert auf. Offenbar waren sie sich keiner Schuld bewußt.

Unterdessen schlichen Fidelma und Eadulf vorsichtig zum Steg. Schon aus einiger Entfernung vernahmen sie aufgebrachte Männerstimmen. Dankbar für das Rauschen des Wassers, das laut gegen die hölzernen Pfosten schlug und ihre Schritte übertönte, näherten sie sich über die Planken des Stegs der Hintertür.

Zu ihrer Überraschung war sie bloß angelehnt. Von drinnen war ein heftiger Wortwechsel in einer fremden Sprache zu hören. Mit einem fragenden Blick wandte sie sich an Eadulf, der ihr durch ein Achselzucken zu verstehen gab, daß auch er diese Sprache nicht kannte.

Vorsichtig schob Fidelma die Tür ein Stückchen weiter auf. Dahinter lag ein großer, fast leerer Raum.

In einer Ecke saßen drei Männer an einem Tisch, auf dem eine zischende Lampe einen schwachen Schein verbreitete. Eine amphora, offenbar mit Wein gefüllt, und einige Tongefäße standen daneben. Cornelius nippte ungeduldig an dem Gefäß in seiner Hand. Die anderen beiden Männer tranken nichts. Trotz des trüben, flackernden Lichts hatte Fidelma auf Anhieb das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben.

Dennoch brauchte sie einen Augenblick, bis sie die beiden Araber an ihren wallenden Gewändern und dunklen Gesichtszügen erkannte.

Die Sprache, in der sie miteinander stritten, war also Arabisch, das Cornelius anscheinend fließend beherrschte.

Plötzlich legte einer der Araber einen in ein Tuch gewickelten Gegenstand auf den Tisch und forderte Cornelius mit einer einladenden Geste auf, ihn näher zu betrachten. Der griechische Chirurgus folgte seiner Aufforderung. Fidelma stellte fest, daß es ein Buch war. Cornelius griff nach dem Sack, den er an seinen Stuhl gelehnt hatte, und zog einen Kelch heraus.

Fidelma lächelte finster.

Es lag auf der Hand, daß hier ein Tauschhandel stattfand. Allmählich fügten sich die Mosaikstein-chen zu einem Bild zusammen.

Während Cornelius das Buch prüfte, untersuchte einer der Araber den Kelch.

Eadulf, der hinter Fidelma stand, stöhnte erschrocken auf, als sie plötzlich die Tür aufschob und das Lagerhaus betrat.

«Keine Bewegung!» rief sie.

Blinzelnd stolperte Eadulf hinter ihr in den großen Raum und schaute sich um.

Cornelius von Alexandria erstarrte. Als ihm klar wurde, daß er entdeckt worden war, erbleichte er vor Entsetzen.

«Tauba!» rief einer der Araber, sprang auf und griff nach dem großen, krummen Messer, das er am Gürtel trug.

«Keine Bewegung!» wiederholte Fidelma. «Das Haus ist umstellt. Licinius!»

Von der Vorderseite des Lagerhauses war Licinius’ Antwort zu vernehmen.

Die beiden Araber wechselten einen raschen Blick. Wie auf ein Zeichen stieß einer von ihnen die Lampe vom Tisch, während der andere nach dem Sack griff. Fidelma hörte, wie der Tisch umfiel. Im Lagerhaus herrschte jetzt völlige Dunkelheit. Ein fahles Licht schien herein, als die Vordertür aufging. Kurz darauf schrie Furius Licinius vor Schmerzen auf.

«Eadulf, ein Licht! Schnell, beeilt Euch!»

Ein Feuerstein wurde angeschlagen, und im nächsten Moment hielt Eadulf eine brennende Kerze in der Hand.

Die Araber waren verschwunden, aber Cornelius saß noch immer mit hängenden Schultern auf seinem Platz und umklammerte das Buch mit beiden Händen. Der Tisch war tatsächlich umgefallen, von dem Sack fehlte allerdings jede Spur.

Fidelma nahm dem zitternden Cornelius das Buch ab. Wie erwartet handelte es sich um ein altes, medizinisches Traktat.

«Schaut nach, ob Licinius verletzt ist, Eadulf», sagte Fidelma und stellte den Tisch wieder auf.

Eadulf warf einen fragenden Blick auf Cornelius.

«Von Cornelius habe ich nichts zu befürchten», versicherte sie ihm. «Aber es könnte sein, daß der junge Licinius in Schwierigkeiten geraten ist.»

Eadulf eilte hinaus. Sie hörte ihn mit den beiden Trägern sprechen, die offenbar keine Ahnung hatten, was vorgefallen war. Schweigend betrachtete sie den auf seinem Stuhl völlig in sich zusammengesunkenen Chirurgus aus Alexandria. Eadulf befahl den Trägern, draußen zu warten.

«Er kann nicht schwer verletzt sein. Die Träger sagen, er sei den beiden Flüchtigen nachgelaufen», berichtete Eadulf, als er kurz darauf ins Lagerhaus zurückkehrte.

«Nun, Cornelius von Alexandria», sagte Fidelma mit betont ruhiger Stimme, «ich denke, Ihr seid uns eine Erklärung schuldig.»

Seufzend ließ der Chirurgus das Kinn noch tiefer auf seine Brust sacken.

Wenig später kam Licinius herein.

«Sie sind wie vom Erdboden verschluckt», sagte er ärgerlich.

«Seid Ihr verletzt?»

«Nein. Bei ihrer Flucht haben sie mir die Tür gegen den Kopf gestoßen und mich fast umgerannt. Wenn dieser Mann nicht redet, werden wir sie wahrscheinlich nicht mehr einfangen können.»

Er richtete die Spitze seines gladius auf den Griechen.

«Das ist nicht nötig, tesserarius», murmelte Cornelius. «Ich habe keine Ahnung, wo sie sich aufhalten. Das ist die reine Wahrheit. Ihr müßt mir glauben!»

«Warum sollten wir das?» fragte Furius Licinius und traktierte ihn wieder mit seinem Schwert.

«Beim Heiligen Kreuz, es ist die Wahrheit, auch wenn ich es nicht beweisen kann. Sie haben mir jedesmal einen anderen Treffpunkt genannt. Ich habe keine Ahnung, woher sie kommen.»

Fidelma sah, daß der Mann nicht log. Er war viel zu bestürzt, weil er ertappt worden war. Sein üblicher Hochmut war wie weggeblasen.

Eadulf hob die Lampe auf, bemerkte, daß nicht alles Öl ausgelaufen war und entzündete sie mit Hilfe seiner Kerze.

«Eadulf, gebt dem guten Chirurgus etwas Wein, um seine Lebensgeister zu wecken», bat ihn Fidelma.

Wortlos goß Eadulf etwas Wein aus der Amphore, die den Sturz vom Tisch unbeschadet überstanden hatte, in einen Becher und reichte ihn dem Griechen. Mit einem spöttischen Lächeln hob Cornelius das Gefäß. «Bene vobis!» rief er aus und kippte den Wein in einem Schluck hinunter.

Fidelma bückte sich und hob einen Kelch auf, der offenbar aus dem Sack gefallen war. Bis auf dieses eine Stück hatten sich die geflüchteten Araber der gesamten Beute bemächtigt. Fidelma nahm auf einem der Stühle Platz. Eadulf stellte sich neben sie, während Furius Licinius mit gezücktem Schwert an der Tür Posten bezog.

Eine Weile lang drehte Fidelma schweigend den Kelch in der Hand. «Ihr leugnet nicht, daß dieser Kelch aus Wighards Schatztruhe stammt? Ich bin sicher, Eadulf würde ihn sofort wiedererkennen.»

Cornelius schüttelte ängstlich den Kopf. «Nein, ich leugne es nicht. Es ist einer der Kelche, den Wighard aus Kent mitgebracht hat, um sie von Seiner Heiligkeit segnen zu lassen.»

Fidelma antwortete nicht gleich, um den Medi-cus ein wenig schmoren zu lassen.

«Verstehe», sagte sie dann. «Ihr habt die gestohlenen Schätze dazu benutzt, Bücher zu kaufen, die Euch diese Araber angeboten haben?»

«Das wußtet Ihr? Ja, es sind Bücher aus der alexandrinischen Bibliothek», gab Cornelius bereitwillig zu. Eine Spur von Trotz mischte sich in seine Stimme. «Seltene medizinische Texte von unschätzbarem Wert, die sonst für die zivilisierte Welt für immer verloren gegangen wären.»

Fidelma stellte den Kelch auf den Tisch. «Einen Teil Eurer Geschichte kenne ich», sagte sie und erntete dafür erstaunte Blicke von Licinius und Bruder Eadulf. «Am besten erzählt Ihr mir jetzt den Rest.»

«Tja, das kann jetzt wohl auch nichts mehr schaden», stimmte Cornelius niedergeschlagen zu. «Der junge Osimo und sein Freund Ronan sind tot. Ich wurde ertappt, habe aber zumindest einige Bücher gerettet.»

«Allerdings», bestätigte Fidelma. «Fünf habt Ihr in Osimo Landos Zimmer zurückgelassen, eins hat Ronan an seinem Arbeitsplatz versteckt, und eins halte ich hier in meiner Hand. Aber was ist mit den Kostbarkeiten, die Wighard gehörten? Was ist von denen geblieben?»

Cornelius zuckte die Achseln. «Die letzten Stücke befanden sich in dem Sack, den die Araber mitgenommen haben.»

«Und im Tausch dafür habt Ihr nichts anderes bekommen als ein paar alte Bücher?» fragte Furius Licinius ungläubig.

Cornelius’ Augen leuchteten auf.

«Von einem Soldaten wie Euch erwarte ich dafür kein Verständnis. Die Bücher sind viel mehr wert als alles Gold und Silber der Welt. Ich habe Erasistratus von Ceos’ Werk über den Ursprung der Krankheiten, Galens Physiologie und mehrere Werke von Hippokrates wie Die heilige Krankheit, Epidemien, seine Aphorismen und außerdem He-rophilus’ Kommentare zu Hippokrates gerettet.» In seiner Stimme schwang tiefe Genugtuung mit. «Die großen Schätze der medizinischen Literatur! Wie sollte ich erwarten, daß Ihr ihren Wert erkennt, der doch sehr viel höher ist als der Wert all dessen, was ich dafür eingetauscht habe.»

Fidelma lächelte sanft. «Aber das, was Ihr dafür eingetauscht habt, gehörte nicht Euch, Cornelius von Alexandria, sondern Wighard, der nach Rom gekommen war, um sich zum nächsten Erzbischof von Canterbury weihen zu lassen. Sagt uns, wie es in Euren Besitz gekommen ist!»

Cornelius sah erst sie, dann Eadulf und schließlich Licinius an und sagte schlicht: «Ich habe Wighard nicht umgebracht.»

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