IX

FURIUS LICINIUS FÜHRTE SIE DURCH

die vielen Innenhöfe und Gärten des Lateranpalasts, bis sie schließlich auf dem Celius-Hügel durch ein Seitentor nach draußen traten. Selbst Fidelma war von den ausgedehnten Anlagen beeindruckt, und Licinius genoß es, sein Wissen unter Beweis stellen zu können.

«Das ist das Sancta Sanctorum», sagte er und zeigte auf einen kleinen, aber hoch aufragenden Kirchenbau, «die private Kapelle des Heiligen Vaters mit der Scala Santa, der Treppe, die unser Herr Jesus Christus nach seiner Verurteilung im Haus des Statthalters Pilatus hinunterging.»

Fidelma sah in zweifelnd an. «Aber Pilatus’ Haus stand doch in Jerusalem», entgegnete sie.

Licinius grinste zufrieden: Er wußte etwas, wovon Fidelma offenbar keine Ahnung hatte.

«Die heilige Helena, die Mutter des großen Konstantin, hat die Treppe von Jerusalem nach Rom gebracht. Sie besteht aus achtundzwanzig Stufen aus tyrianischem Marmor, die selbst der Heilige Vater nur auf Knien erklimmen darf. Helena fand die Treppe zur gleichen Zeit wie das wahre Kreuz, das in Golgatha vergraben war - das Kreuz, an dem der Erlöser gelitten hat.»

Fidelma hatte die Geschichte von dem dreihundert Jahre zurückliegenden Fund des echten Kreuzes schon vorher gehört. Sie bezweifelte, daß ein einfaches Holzkreuz sich so eindeutig zuordnen ließ, wagte aber nicht, ihre Einwände zu äußern. «Ich habe gehört, daß die fromme Helena ganze Schiffsladungen mit Reliquien aus dem heiligen Land nach Rom geschickt hat, darunter sogar Holzreste aus der Bundeslade», sagte sie statt dessen. Licinius blickte ernst. «Wenn Ihr möchtet, kann ich sie Euch gerne zeigen, Schwester. Wir sind sehr stolz auf die heiligen Reliquien, die hier im Lateranpalast aufbewahrt werden.»

In seinem Eifer wäre er am liebsten sofort umgedreht, um ihr die wertvollen Schätze vorzuführen. Fidelma legte eine Hand auf seine Schulter. «Später vielleicht, Furius Licinius. Alles der Reihe nach. Jetzt nehmen wir erst einmal Ronan Ragal-lachs Unterkunft unter die Lupe.»

Licinius errötete heftig, als er erkannte, daß er sich von seiner jugendlichen Begeisterung hatte hinreißen lassen. Er deutete auf einen Bogen des Aquädukts auf der anderen Seite des Platzes.

«Dort steht die Herberge, die Bieda gehört.»

Das kleine Haus im Schatten einer der eindrucksvollen Steinbögen des großen Aquädukts wirkte schäbig und heruntergekommen.

Ein einsamer custos hielt Wache vor Biedas Haus.

«Er paßt auf, falls Ronan Ragallach versucht zurückzukehren», erklärte Furius Licinius, während er sie in das schmuddelige Gebäude führte.

Fidelma schnaubte verächtlich. «Ich glaube kaum, daß Bruder Ronan so dumm sein wird. Bestimmt weiß er, daß man ihn hier als erstes suchen wird.»

Licinius reckte trotzig sein Kinn. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, daß eine Frau ihn tadelte oder ihm Befehle erteilte. Zwar hatte er schon vorher von den Frauen in Irland, Gallien und Britannien gehört, die soviel mehr Befugnisse und Rechte besaßen als die römischen Frauen, die sich in Bescheidenheit übten und sich hauptsächlich im Haus aufhielten. Und doch empfand er es als erniedrigend, von einer Frau, dazu noch von einer Fremden, herumkommandiert zu werden. Aber superista Marinus, sein oberster Dienstherr, hatte seinen Standpunkt klargemacht: Furius mußte dieser Frau und dem gutmütigen sächsischen Geistlichen gehorchen.

Als sie gerade die Stufen im dunklen Hausflur emporsteigen wollten, stürmte eine Frau mittleren Alters aus einem Zimmer im Erdgeschoß. Beim Anblick von Licinius’ Uniform stieß sie einen Schwall wüster Beschimpfungen aus. Da sie in dem seltsam kehligen Akzent der römischen Straßen sprach, verstand Fidelma kaum ein Wort. Doch es gab keinen Zweifel daran, daß es sich nicht um Schmeicheleien handelte. beendete die Frau ihren zornigen Wortschwall.

«Warum ist sie so erbost?» wollte Fidelma wissen.

Doch ehe Licinius antworten konnte, hatte sich die Frau schon an ihm vorbeigedrängt und sprach nun direkt Fidelma an, wobei sie ihr Sprechtempo etwas verlangsamte, damit der Fremden auch keine Silbe entging.

«Und wer bezahlt mir das leere Zimmer? Der fremde Bruder kommt nicht wieder, und seine Schulden wird er mir wohl auch nicht bezahlen. Es ist einen Monat her, daß ich die letzte Miete von ihm erhalten habe. Und das bei den Scharen von Pilgern in Rom! Ich habe ein leeres Zimmer und kann es nicht vermieten, bloß weil dieser catalus vulpinus es so befohlen hat!»

Fidelma lächelte spöttisch. «Beruhigt Euch. Ich bin sicher, Ihr werdet für den Mietausfall entschädigt. Wenn wir mit unserer Untersuchung fertig sind und Bruder Ronan nicht zurückkehrt, werdet Ihr die Sachen, die er zurückgelassen hat, doch sicherlich verkaufen können.»

Fidelmas höhnischer Tonfall schien der Frau nicht zu gefallen.

«Soll das Euer Ernst sein?» keifte sie. «Ich habe noch nie einem irischen Pilger ein Zimmer vermietet, der mehr besessen hätte als die Kleider, die er am Leibe trug. Der Mann hatte kein Geld, und in seinem Zimmer gibt es nichts, das sich verkaufen ließe. Seinetwegen werde ich noch am Hungertuch nagen!»

«Wahrscheinlich habt Ihr bereits dafür gesorgt, daß es in seinem Zimmer nichts Lohnendes mehr gibt?» fragt Fidelma mit drohendem Unterton.

«Natürlich habe ich ...»

Die Frau hielt erschrocken inne.

Furius Licinius runzelte die Stirn. «Euch wurde befohlen, das Zimmer nicht zu betreten», tadelte er.

Die Frau reckte trotzig das Kinn. «Ihr habt es leicht, solche Befehle zu erteilen. Ich wette, Ihr habt noch nie eine Mahlzeit ausfallen lassen müssen.»

«Habt Ihr nun etwas aus Bruder Ronan Ragal-lachs Zimmer entfernt oder nicht?» hakte Fidelma nach. «Sprecht die Wahrheit. Alles andere würdet Ihr ohnehin nur bereuen.»

Erschrocken sah die Frau Fidelma an. «Ich habe nichts angerührt .»

Ihre Stimme erstarb unter Fidelmas strengen Blick, und sie senkte die Augen.

«Auch ich will überleben, Schwester. Die Zeiten sind schlecht. Ich muß an mein Auskommen denken.»

«Bruder Eadulf, begleitet diese Frau, und laßt Euch alles geben, was sie aus Ronan Ragallachs Zimmer entwendet hat. Und Ihr, Frau, denkt daran, wenn Ihr nicht ehrlich seid, wird dies früher oder später ans Tageslicht kommen, und Lügen haben nicht nur in dieser Welt harte Strafen zur Folge.»

Die Frau ließ mißmutig den Kopf hängen.

Bruder Eadulf streifte Fidelma mit einem verschmitzten Seitenblick. Er wußte, daß ihr rauher Ton oft vorgetäuscht war. Er nickte kurz und wandte sich dann an die verstörte Hauswirtin.

«Kommt», sagte er streng. «Zeigt mir, was Ihr an Euch genommen habt. Und daß Ihr mir ja ganz genaue Angaben macht!»

Furius Licinius und Fidelma stiegen weiter die Treppe hinauf.

«Diese verdammten Bauerntölpel!» murmelte Licinius. «Sie würden auch noch einen kranken Mann auf seinem Totenbett ausrauben. Ich habe es satt, mich mit ihnen herumzuärgern.»

Fidelma beschloß, nicht darauf einzugehen, und folgte ihm stumm in eine kleine Kammer im ersten Stock. Sie war dunkel und trist und roch nach Küchendünsten und abgestandenem Schweiß.

«Ich frage mich, wieviel sie für dieses Loch verlangt», sagte Licinius, der Fidelma die Tür aufgehalten hatte. «Leider gibt es in dieser Stadt genug Halsabschneider, die ahnungslosen Pilgern zu völlig überhöhten Preisen Zimmer vermieten und sich damit eine goldene Nase verdienen.»

«Ihr sagtet, daß diese Herberge nicht unter Aufsicht der Kirche steht», sagte Fidelma. «Trotzdem muß die Kirche, was die Mieten in der Stadt angeht, doch etwas mitzureden haben?»

Licinius lächelte verkniffen. «Bieda ist ein wohlgenährter Geschäftsmann, der mit einer ganzen Reihe solcher Häuser ein Vermögen macht. Er heuert einfach für jedes seiner Häuser eine quae res domestic dispensat an ...»

«Eine was?»

«Jemanden, der das Haus für ihn führt. So wie die Frau da unten. Wahrscheinlich zieht der gute Bieda die Kosten für das leere Zimmer von ihrem Lohn ab.»

«Natürlich war es falsch von der Frau, die Sachen aus dem Zimmer an sich zu nehmen, aber ich möchte natürlich auch nicht, daß sie leidet, weil ihr Einkommen von der ständigen Vermietung aller Zimmer abhängt.»

Furius Licinius schnaubte verächtlich. «Macht Euch keine Sorgen: Unkraut vergeht nicht! Was wollt Ihr Euch ansehen?»

Fidelma blickte in die düstere Kammer. Obgleich die Läden nicht geschlossen waren, ließ das winzige Fenster nur wenig Licht in den Raum, weil der hohe Aquädukt draußen die Sicht versperrte.

«Als erstes würde ich gern überhaupt irgend etwas sehen», beklagte sie sich. «Gibt es hier keine Kerze?»

Licinius fand einen Kerzenstummel neben dem Bett und zündete ihn an.

Außer einem großem Holzbett mit einer nach Schweiß stinkenden Decke und einem Kissen, einem kleinem Tisch und einem Stuhl gab es in Ronans Kammer keine Möbel. Ein großer sacculus hing an einem in die Wand geschlagenen Haken. Fidelma schüttete den Inhalt aufs Bett: einige alte Kleider und ein Paar Sandalen. Ronans Rasierzeug stand auf dem Tisch.

«Bruder Ronan führte offenbar ein einfaches Leben.» Licinius gönnte sich einen Moment der Schadenfreude angesichts der Enttäuschung in Fidelmas Gesicht.

Wortlos stopfte Fidelma die Kleider wieder in den sacculus und hängte ihn an den Haken. Dann ließ sie ihren prüfenden Blick durchs Zimmer schweifen. Im Grunde deutete nichts daraufhin, daß ein Mensch mehrere Monate lang hier gewohnt hatte. Sie ging zum Bett und unterzog Decken, Matratzen und Gestell einer eingehenden Prüfung. Zehn Minuten später hatte sie noch immer keinen Lohn für ihre Mühe.

Furius Licinius lehnte gegen den Türpfosten und beobachtete sie aufmerksam.

«Ich sagte Euch doch schon, daß man hier nichts gefunden hat», meinte er. Nach der Demütigung in Wighards Schlafgemach war seine Erleichterung unüberhörbar.

«Ich weiß.»

Fidelma bückte sich und begutachtete den Boden. Nichts als Staub. Sie erschrak, als sie ganze Scharen kleiner schwarzer Käfer davonhuschen sah. Was war das für häßliches Getier?

«Scarabaeus», erklärte Furius Licinius. «Kakerlaken. In diesen alten Häusern wimmelt es nur so davon.»

Fidelma wollte sich schon voller Ekel abwenden, als sie unter dem Bett etwas bemerkte. Sie überwand ihre Abscheu, beugte sich vor, um danach zu greifen, und hielt kurz darauf ein kleines Stück Papyrus in der Hand, das mit Fußabdrücken übersät und deshalb vom schmutzigen Boden kaum zu unterscheiden gewesen war.

Fidelma hob den Kerzenstummel und betrachtete es etwas genauer.

Das kaum mehr als ein paar Zoll große Stück war offenbar von einem größeren Papyrus abgerissen worden und mit seltsamen Hieroglyphen bedeckt, wie sie Fidelma noch nie zuvor gesehen hatte. Es waren weder griechische noch lateinische Buchstaben, und sie hatten auch mit der alten Ogham-Schrift ihres Heimatlandes keinerlei Ähnlichkeit.

Lächelnd hielt Fidelma dem beschämten Furius Licinius ihr Fundstück hin.

«Was haltet Ihr von diesen Schriftzeichen? Könnt Ihr sie entziffern?»

Furius Licinius betrachtete den Papyrus und schüttelte den Kopf.

«Nein, solche Schriftzeichen sind mir unbekannt», sagte er und fügte aus Furcht, die custodes könnten von der selbstbewußten Irin noch einmal gedemütigt werden, eilig hinzu: «Meint Ihr, es könnte wichtig sein?»

«Wer weiß?» Fidelma verstaute das Papyrusstück in ihrem marsupium. «Wir werden sehen. Aber Ihr hattet recht, Furius Licinius: In diesem Zimmer gibt es nichts, was uns unmittelbar weiterhelfen könnte.»

Sie hörten Schritte auf der Treppe. Eadulf kam herein, den Arm voller verschiedener Gegenstände.

«Ich fürchte, es hat eine Weile gedauert, bis sie alles zusammengesucht hatte. Zumindest glaube ich, daß das alles ist. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, um den Verkauf von Ronans Habseligkeiten zu verhindern.»

Er legte die Gegenstände vorsichtig aufs Bett: einen Rosenkranz; ein nicht sehr aufwendig gearbeitetes, aber sicherlich recht wertvolles Kruzifix aus rotem irischen Gold; einen leeren crumena oder Geldbeutel; mehrere kleine Andenken an römische Heiligtümer; und zwei kleine Bücher, das Lukas- und das Matthäus-Evangelium.

Furius Licinius lachte empört.

«Die Miete eines Monats? Das hätte für drei Monate oder mehr in diesem Loch gereicht. Die aus dem crumena verschwundenen Münzen nicht mitgezählt.»

Fidelma untersuchte sorgsam die beiden griechischen Evangelien und blätterte Seite für Seite um, als erwartete sie, es könnte etwas herausfallen. Seufzend gab sie schließlich ihre Suche auf.

«Ihr habt nichts gefunden?» fragte Eadulf und schaute sich im Zimmer um.

Fidelma, die meinte, er spreche von den Evangelien, schüttelte den Kopf.

«Irgendwelche Geheimverstecke?»

Erst jetzt wurde Fidelma klar, daß er Bruder Ronans Zimmer meinte.

Furius Licinius lächelte nachsichtig. «Diese Möglichkeit hat decurion Marcus Narses schon ausgeschlossen.»

«Trotzdem», erwiderte Eadulf und klopfte mit dem Knöchel Wände und Boden auf mögliche Hohlräume ab.

«Decurion Marcus Narses hatte recht», sagte er zu Licinius. «Es scheint kein Geheimversteck zu geben, in dem Bruder Ronan die gestohlenen Gegenstände aus Wighards Schatztruhe hätte verbergen können.»

Fidelma sammelte Ronan Ragallachs Habseligkeiten zusammen und steckte sie zu den Kleidern in seinem sacculus.

«Wir nehmen Ronans sacculus in Gewahrsam. Furius Licinius, sagt seiner Zimmerwirtin, daß die ausstehende Miete aus dem Erlös von Ronans Eigentum beglichen werden kann, wenn wir unsere Untersuchungen abgeschlossen haben. Allerdings muß Diakon Bieda persönlich kommen, um seine Ansprüche geltend zu machen, und gleichzeitig eine Rechnung für das Zimmer vorlegen.»

Der junge tesserarius nickte lächelnd.

«Es sei, wie Ihr es sagt, Schwester.»

«Gut. Ich hatte gehofft, Bruder Sebbi und vielleicht auch Abtissin Wulfrun und Schwester Eafa noch vor dem Abendessen befragen zu können. Doch ich fürchte, dazu ist es jetzt wohl zu spät.»

«Sollten wir nicht versuchen, mehr über diesen Ronan Ragallach herauszufinden?» meinte Eadulf. «Bisher haben wir uns vor allem mit Wighards Gefolge, aber kaum mit dem Mann befaßt, dem vorgeworfen wird, ihn getötet zu haben.»

«Da Ronan Ragallach aus seinem Gefängnis geflohen ist, wäre das wohl auch schlecht möglich», erwiderte Fidelma trocken.

«Mir geht es nicht darum, Ronan zu befragen», sagte Eadulf. «Ich dachte eher, es wäre an der Zeit, uns den Ort anzusehen, wo er gearbeitet hat, und mit den Leuten dort zu sprechen.»

Fidelma war klar, daß Eadulf vollkommen recht hatte. Diesen Gesichtspunkt hatte sie übersehen.

«Soweit ich weiß, bekleidete er eine untergeordnete Stellung im munera peregrinitatis - dem Amt für fremdländische Angelegenheiten», warf Licinius erklärend ein.

Fidelma machte sich im stillen Vorwürfe. Sie hätte Ronan Ragallachs Arbeitsplatz längst berücksichtigen müssen.

«Dann», sagte sie mit betont ruhiger Stimme, «sollten wir uns dieses Amt mal etwas genauer anschauen.»

In dem officium, das der superista ihnen zur Verfügung gestellt hatte, hielt Eadulf auf seinen Tontafeln die wichtigsten Punkte der Befragung von Abt Puttoc und Bruder Eanred fest. Bei ihrer Rückkehr in den Palast hatten sie erfahren, daß das munera peregrinitatis, in dem Ronan Ragallach als scriptor beschäftigt gewesen war, zur Zeit geschlossen war und der Vorsteher beim cena, dem Abendessen, weilte.

Zu ihrem Verdruß hörte Fidelma, daß man für sie im Refektorium des Palasts keine Abendmahlzeit vorgesehen hatte, und so wurde Furius Licini-us ausgeschickt, um ihnen etwas zu essen und zu trinken zu besorgen, während Fidelma und Eadulf in ihr officium gingen. Fidelma verstaute die Sachen, die sie aus Ronans Zimmer mitgebracht hatte. Dann setzte sie sich und legte zwei kleine Gegenstände vor sich auf den Tisch, um sie voller Neugier zu betrachten: das Stück Sackleinen von dem Splitter an Eanreds Zimmertür und das abgerissene Stück Papyrus aus Ronans Kammer.

«Was sind das für Sachen?» wollte Eadulf wissen.

«Ich wünschte, ich könnte es Euch sagen», erwiderte Fidelma. «Wahrscheinlich haben sie mit unseren Ermittlungen gar nichts zu tun.»

«Ach, das Sackleinen.» Eadulf verzog das Gesicht. «Und das andere?»

Fidelma sah ihn entschuldigend an. «Tut mir leid, ich habe vergessen, es zu erwähnen. Ein Stück Papyrus, das ich in Ronans Zimmer auf dem Boden gefunden habe. Ich kann mir keinen Reim darauf machen.»

Sie reichte es Eadulf.

«Es ist Schrift drauf», bemerkte er.

«Ja. Ziemlich seltsame Hieroglyphen», seufzte Fidelma. «Ich habe keine Ahnung, was das für Zeichen sind.»

Eadulf lächelte breit. «Da kann ich Euch weiterhelfen. Das ist die Schrift der Araber - der Anhänger des Propheten Mohammed.»

Erstaunt sah Fidelma ihn an. «Woher wißt Ihr das?» fragte sie. «Seid Ihr dieser Sprache etwa kundig?»

Eadulf grinste selbstzufrieden. «Das kann ich leider nicht behaupten. Aber ich habe die Schriftzeichen schon bei meinem früheren Aufenthalt in Rom gesehen. Sie sind unverwechselbar, und ihre Formen haben sich mir tief eingeprägt. Es könnte sich höchstens um eine andere Sprache handeln, die sich der gleichen Schriftzeichen bedient, meiner Meinung nach steckt jedoch die Sprache der Araber dahinter.»

Nachdenklich betrachtete Fidelma das Papyrusstück. «Wo könnten wir jemanden finden, der in der Lage wäre, diese Sprache zu entziffern?»

«Im munera peregrinitatis vielleicht?»

Fidelma bedachte ihn mit einem raschen Seitenblick. Erst jetzt dämmerte Eadulf, was er gesagt hatte.

«Das Amt, in dem unser Freund Ronan Ragal-lach gearbeitet hat», stellte er fest. Dann zuckte er die Achseln. «Aber ob das eine Rolle spielt.»

Es klopfte leise an die Tür.

Fidelma ließ Papyrus und Sackleinen in ihr mar-supium gleiten.

«Das werden wir noch sehen», sagte sie, dann rief sie laut: «Ja, bitte? Herein!»

Ein dünner, drahtiger Mann mit dunklem Haar und fahlem Gesicht trat ins Zimmer. Er schielte ein wenig auf einem Auge, so daß Fidelma unsicher war, wie sie ihn anschauen sollte. Das Gesicht kam ihr bekannt vor, obwohl sie es zunächst nicht einordnen konnte.

Eadulf dagegen erkannte den Geistlichen sofort. «Bruder Sebbi!»

Der Mann lächelte. «Von den custodes hörte ich, daß Ihr mich sprechen wollt, und da ich gerade mit dem Abendessen fertig bin, fragte ich, wo ich Euch finden könnte.»

«Kommt und setzt Euch, Bruder Sebbi», forderte Fidelma ihn auf. «Ihr habt uns die Mühe erspart, nach Euch schicken zu lassen. Ich bin Fidelma ...»

«... von Kildare. Ich weiß. Ich war in Witebia, als Ihr und Bruder Eadulf den Mord von Äbtissin Etain aufklärtet.» Er hielt inne und sah betreten zu Boden. «Eine schlimme Sache. Sehr, sehr schlimm.»

«Dann wißt Ihr also, womit wir diesmal befaßt sind, Bruder Sebbi?» fragte Fidelma.

Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. «Im ganzen Lateranpalast wird kaum noch über etwas anderes gesprochen, Schwester. Bischof Gelasius hat Euch und Bruder Eadulf beauftragt, die Hintergründe von Wighards Tod aufzuklären, so wie König Oswiu Euch in Witebia gebeten hat, Äbtissin Etains Mörderin dingfest zu machen.»

«Wir wüßten gern, wo Ihr Euch zur Tatzeit aufgehalten habt», schaltete sich Eadulf ein.

Sebbis Grinsen wurde noch breiter. «Im Bett, wie jeder vernünftige Mensch.»

Fidelma betrachtete ihn mit ernster Miene.

«Und seid Ihr ein vernünftiger Mensch, Bruder Sebbi?»

Einen Augenblick lang wurde Sebbi ernst, dann kehrte sein Grinsen zurück. «Ich sehe, Ihr habt Sinn für Humor, Schwester. Ja, ich lag in meinem Bett und schlief. Ein Geräusch im Korridor hat mich geweckt. Ich ging hinaus und sah mehrere custodes vor Wighards Tür. Ich fragte, was los sei, und sie sagten es mir.»

«War sonst noch jemand da? Abt Puttoc zum Beispiel?»

Sebbi schüttelte den Kopf.

«Aber Euch hat das Geräusch geweckt?»

«Ja.»

«Es war also ziemlich laut?»

«Natürlich. Es wurde gerufen, und die Soldaten liefen hin und her.»

«Hat es Euch nicht überrascht, daß Abt Puttoc, der in dem Zimmer gleich neben Eurem cubiculum schlief, sich durch all dies in seinem Schlaf nicht stören ließ?»

Eadulf streifte Fidelma mit einem besorgten Seitenblick. Hegte sie Zweifel an Puttocs Aussage, bloß weil der Abt sie anmaßend behandelt hatte?

«Nein.» Sebbi beugte sich über den Tisch. «Der Abt ist dafür bekannt, daß er Abend für Abend einen Schlaftrunk nimmt, weil er an Schlaflosigkeit leidet. Er stopft sich mit Arzneien voll wie andere Menschen mit Lebensmitteln.»

«Wißt Ihr das nur vom Hörensagen, Sebbi, oder ist das eine Tatsache?» fragte Fidelma.

Sebbi machte eine wegwerfende Handbewegung. «Ich habe fünfzehn Jahre lang in Stang-grund unter Abt Puttoc gedient. Ich kenne ihn in-und auswendig. Fragt Eanred, seinen Diener. Es ist eine Tatsache. Eanred hat immer eine Tasche mit Arzneien dabei. Und jeden Abend muß er Puttoc ein Gebräu aus Maulbeerblättern, Schlüsselblume und Königskerze in seinen Wein mischen.»

Fidelma schaute Eadulf an. Der sächsische Bruder nickte. «Ein Schlaftrunk, wie er nicht selten zur Anwendung kommt.»

Sebbi fuhr fort: «Ohne seine Arzneien könnte Puttoc nicht leben. Das war auch der Grund, warum er Eanred gekauft hat. Nur Eanred ist in der Lage, das richtige Heilmittel für Puttocs Schlaflosigkeit anzumischen. Deshalb würde Puttoc auch nie ohne seinen Diener auf Reisen gehen.»

Fidelmas Neugier war geweckt. «Puttoc hat Eanred gekauft?»

«Ja, Eanred war Sklave, und Puttoc hat einen ziemlich hohen Preis für ihn bezahlt. Anschließend hat er ihm in Übereinstimmung mit den Lehren der Heiligen Kirche die Freiheit geschenkt. Aber Eanred betrachtet sich immer noch als Puttocs Leibeigener, auch wenn er im Grunde ein freier Mann ist.»

«Wißt Ihr Näheres darüber, wie es zu diesem Kauf gekommen ist, Sebbi?» fragte Fidelma.

«Ja, ich war selbst zugegen. Es war zu der Zeit, als Swithhelm über die Ostsachsen herrschte und sich nur wenige in seinem Königreich an den Glauben hielten. Es ist inzwischen wohl sieben Jahre her, daß Puttoc beschloß, das Land zu bereisen und die verlorenen Schafe an den einen, wahren Gott zu gemahnen. Da ich in Ostsachsen aufgewachsen bin - ja, ich bin sogar nach Prinz Sebbi benannt, der heute das Land regiert -, wählte Abt Puttoc mich zu seinem Reisegefährten. Als wir Swithhelms Hof erreichten, wurde gerade Eanreds Hinrichtung vorbereitet.»

Sebbi hielt inne. Als er sah, daß sie ihm gebannt lauschten, fuhr er fort: «Im Gespräch mit Swithhelm stellte sich heraus, daß der König den bevorstehenden Tod des Sklaven sehr bedauerte, denn Eanred genoß einen hervorragenden Ruf als kräuterkundiger Heiler. Wenn jedoch ein Sklave seinen Herrn tötet, gibt es keine andere Wahl. Er muß die Tat mit seinem Tod sühnen, es sei denn, jemand anders entschädigt die Familie des Ermordeten, indem er das wergild bezahlt und den Sklaven dadurch erwirbt. Wer will allerdings einen Sklaven kaufen, der seinen früheren Herrn ermordet hat?»

«Eanred war Swithhelms Sklave?» fragte Fidelma.

«Oh, nein. Eanred gehörte einem Bauern namens Fobba vom Nordufer des Flusses Tamesis.»

«Und wie ist Eanred in die Sklaverei geraten?» fragte Eadulf «Wurde er gefangengenommen oder schon als Sklave geboren?»

«Seine Eltern haben ihn während einer der großen Hungersnöte in die Sklaverei verkauft, um das eigene Überleben zu sichern», erklärte Sebbi. «In unserem Land wird ein Sklave behandelt wie jede andere Ware, mit der sich ein gewinnbringender Handel treiben läßt.» Er grinste, als er Fidelmas angewiderten Gesichtsausdruck sah. «Ich weiß, der Glaube verabscheut die Sklaverei, aber das Gesetz der Sachsen ist älter als der Glaube, und der Kirche bleibt nichts anderes übrig, als billigend in Kauf zu nehmen ...»

Fidelma machte eine ungeduldige Handbewegung. Sie hatte oft genug von den Schwierigkeiten gehört, mit denen die irischen Missionare bei der Bekehrung der heidnischen Sachsen zu kämpfen hatten. Es war erst siebzig Jahre her, daß die Sachsen begonnen hatten, sich von ihren kriegerischen Göttern abzuwenden und sich zum Christentum zu bekennen. Viele klammerten sich noch an ihre alten Überzeugungen, und vielerorts vermischten sich christliche und heidnische Sitten.

«Eanred ist also als Sklave aufgewachsen und hat später seinen Herrn umgebracht?»

«So war es. Puttoc, der, was seine Gesundheit betraf, schon immer sehr empfindlich war und stets nach neuen Mitteln gegen seine zahlreichen Beschwerden suchte, wurde sofort hellhörig. Eanred, scheinbar begriffsstutzig und von schlichtem Gemüt, sei, so sagte man uns, ein Genie, wenn es um heilende Kräuter und Pflanzen ging. Aus dem gesamten Königreich seien die Menschen zu Fobbas tun geströmt und hätten Fobba für Eanreds Arzneien die höchsten Preise bezahlt.

Puttoc machte dem König der Ostssachsen daraufhin einen Vorschlag: Der König sollte die Hinrichtung um einen Tag verschieben. Wenn es Ean-red gelänge, ihm am Abend einen Trunk zu mischen, der ihm einen ungestörten Nachtschlaf brächte, wäre er, Puttoc, bereit, Eanred zu kaufen und das wergild zu bezahlen.»

«Was ist dieses wergild, von dem Ihr da sprecht?» fragte Fidelma.

«Das ist der Geldwert, der mit dem Rang eines Menschen verbunden ist», erklärte Eadulf, der frühere gerefa, oder Friedensrichter. «Mit Hilfe dieses Wertes kann der gerefa, die Höhe der Entschädigung festsetzen, die der Familie eines Ermordeten zu zahlen ist. Einem adligen eorlcund zum Beispiel steht ein wergild von dreihundert Schillingen zu.»

«Verstehe. In Irland haben wir etwas Ähnliches. Die Strafe, die wir eric nennen, entspricht dem ene-clann, dem mit einem bestimmten Rang verbundenen . Wird jemand eines Verbrechens oder Vergehens für schuldig befunden, sinkt dieser Preis. Ja, ich glaube, ich verstehe jetzt, worum es bei diesem wergild geht. Ihr könnt fortfahren, Bruder Sebbi.»

Zufrieden über ihr neues Wissen, lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück.

«Nun», griff Sebbi seinen Faden wieder auf, «der König war mit Puttocs Vorschlag nur allzu einverstanden. Zweifellos rechnete er sich aus, daß bei diesem Handel, wenn er denn zustande käme, auch für ihn ein hübsches Sümmchen abfallen würde. Eanred wurde aus seiner Zelle geholt und angewiesen, Abt Puttoc einen Schlaftrunk zu bereiten. Am nächsten Morgen trat Puttoc voller Begeisterung vor den Thron des Königs. Der Schlaftrunk hatte gewirkt. Fobbas Familie wurden gerufen und forderte ein wergild von einhundert Schillingen. Zusätzlich mußte Puttoc fünfzig Schillinge als Kaufpreis für Eanred zahlen.»

Eadulf pfiff leise durch die Zähne. «Einhundertfünfzig Schillinge! Das ist eine hohe Summe», bemerkte er. «Woher hatte Abt Puttoc das Geld?»

Mit einem vertraulichem Augenzwinkern beugte Sebbi sich vor.

«Die Kirche tritt für die Befreiung von Sklaven und das Ende des Sklavenhandels ein. Sie braucht Sklaven, deren Freilassung sie als öffentlichen Akt der Nächstenliebe preisen kann. Dieser Akt der Nächstenliebe wurde vom Kloster bezahlt, und Eanreds Name wurde in die Liste der vom Kloster freigekauften Sklaven aufgenommen.»

«Trotzdem ist das eine hohe Summe.»

«Die Summe entspricht dem Gesetz», erwiderte Sebbi. «Das wergild ist festgelegt.»

«Aber wer einen Sklaven kauft, braucht normalerweise kein wergild zu bezahlen», wandte Eadulf ein.

«Puttoc hat Eanreds Wert eben sehr hoch angesetzt.»

«Eanred wurde also von Puttoc gekauft und befreit», faßte Fidelma zusammen, «wenn auch keineswegs aus christlicher Nächstenliebe, sondern weil Eanred ein kundiger Heiler ist, der dem Abt zu einem ruhigen Nachtschlafverhelfen kann.»

«Ihr habt es erfaßt, Schwester», bestätigte Sebbi in gönnerhaftem Ton.

«Und wann hat sich das alles abgespielt?»

«Vor etwa sieben Jahren, wie ich schon sagte.»

«Und Eanred war Puttoc so dankbar für seine Befreiung, daß er zum christlichen Glauben übergetreten und Euch beiden ins Kloster Stanggrund gefolgt ist?»

Sebbi grinste über Fidelmas spöttischen Unterton. «Das trifft es nicht ganz, Schwester. Wie Ihr wißt, ist Eanred ein einfacher Mann und hat seit seiner Kindheit als Sklave gelebt. Puttoc seinerseits hat sich nicht viel Mühe gegeben, Eanred die Vorzüge der Freiheit zu erläutern. Er ließ Eanred in dem Glauben, der Preis für seine Errettung vom Galgen bestehe darin, daß er von nun an Puttoc dienen müsse. Und was Eanreds Bekehrung zum Christentum betrifft, bin ich mir nicht sicher, wieviel der arme Mann davon wirklich verstanden hat. Mag sein, daß Christus für ihn nichts anderes ist als eine weitere Gottheit, wie Wotan, Freya oder Thor.»

Fidelma bemühte sich, ihre Verblüffung darüber, wie offen Sebbi seinen Abt zu tadeln wagte, hinter einer undurchdringlichen Miene zu verstek-ken.

«Das klingt, als wärt Ihr kein Freund des Abtes?» bemerkte sie.

Sebbi legte den Kopf in den Nacken und brach in brüllendes Gelächter aus. «Könnt Ihr mir auch nur einen einzigen Freund des Abtes nennen?» fragte er. «Es gibt niemanden, der Puttoc nahesteht. Außer gewissen Frauen natürlich ...»

«Wollt Ihr damit sagen, daß der Abt Beziehungen zu Frauen hat?» Fidelma sah ihn ungläubig an.

«Puttoc glaubt mit ganzem Herzen an das Reich des Geistes, aber das heißt nicht, daß er das Reich des Fleisches missen will. Die Selbstverleugnung der Asketen wäre nichts für ihn.»

«Obgleich von einem Abt erwartet wird, daß er keusch bleibt, sagt Ihr, daß Puttoc gegen diese Regel verstößt?» Eadulf war bestürzt.

Sebbi kicherte. «Hat nicht schon der heilige Augustinus von Hippo über die Keuschheit gespottet? Dieser Philosophie fühlt sich, glaube ich, auch der Abt verpflichtet.»

«Puttoc unterhält also Beziehungen zu Frauen, obwohl er sich öffentlich zum Zölibat bekennt, den Rom von jedem fordert, der zum Abt oder Bischof geweiht werden will?»

«Puttoc meint, dafür sei er noch nicht alt genug. Für einen alten Abt oder Bischof sei es leicht, dem Gebot der Keuschheit zu folgen, eine allzu keusche Jugend dagegen sei schlicht und einfach gegen die Natur.» Beim Anblick ihrer entsetzten Gesichter fügte Sebbi rasch hinzu: «Das ist natürlich seine Meinung. Nicht daß Ihr denkt, ich würde ihm zustimmen.»

«Und warum folgt Ihr ihm dann?» Eadulfs verächtlicher Tonfall machte deutlich, daß er für Sebbi wenig übrig hatte.

«Einem aufsteigenden Stern sollte man immer folgen», erwiderte Sebbi spöttisch grinsend.

«Und Ihr habt das Gefühl, daß es sich bei Put-toc um einen aufsteigenden Stern handelt?» fragte Fidelma. «Wieso das?»

«Puttoc hat ein Auge auf Canterbury geworfen

- und ich ein Auge auf Stanggrund. Wenn er Bischof wird, kann ich zum Abt aufrücken.»

Fidelma war verblüfft über Sebbis Offenheit. «Und wie lange liebäugelt Puttoc schon mit Can-terbury?»

«Seitdem Stanggrund sich vor Jahren zu Rom bekannte und mit Wilfrid von Ripon verbündete, hat er an nichts anderes mehr gedacht als an den Thron des Erzbischofs von Canterbury. Puttoc ist ein ehrgeiziger Mann.»

Fidelma blickte ihn zweifelnd an. «Ehrgeizig genug, um jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen?»

Sebbi lächelte vielsagend und zuckte die Achseln.

«Nun gut, Sebbi», meinte Fidelma nach einer Weile des Schweigens und warf Eadulf einen kurzen Seitenblick zu. «Laßt uns zu dem Tag zurückkehren, an dem Wighard gestorben ist. Wann habt Ihr ihn das letzte Mal lebend gesehen?»

«Kurz nach dem Abendessen, das wir gemeinsam im Refektorium des Gästehauses eingenommen hatten. Bischof Gelasius hatte sich zu den Gästen gesellt und begleitete sie zur Abendandacht in die Kapelle. Anschließend zogen sich alle in ihre Unterkünfte zurück.»

«Wer war außer Wighard noch da?»

«Alle, die ihm nach Rom gefolgt sind, außer Bruder Eadulf»

«Und Ihr seid nach der Andacht ebenfalls in Euer cubiculum gegangen?»

«Nein. Es war an dem Abend noch sehr heiß, deshalb bin ich noch ein wenig durch die Gärten spaziert. Dort sah ich Wighard dann zum letzten Mal.»

Fidelma beugte sich vor. Das war etwas Neues. Es bot sich ihnen die Gelegenheit, etwas mehr über Wighards letzten Abend zu erfahren.

«Um wieviel Uhr war das?»

«Eine Stunde nach dem Abendessen, etwa drei Stunden vor Mitternacht.»

«Und um die Mitternachtsstunde wurde sein Tod entdeckt», warf Eadulf ein.

Fidelma streifte ihn mit einem warnenden Seitenblick.

«Sagt mir, was Ihr gesehen habt», forderte sie Sebbi auf.

«Ich war in einem der größeren Gärten in der Nähe der Südmauer des Palasts, hinter der Basilika. Ich erkannte Wighard sofort, denn er hatte sich angewöhnt, vor der Nachtruhe noch eine Weile zu lustwandeln. Er haßte die Hitze des Tages und zog es vor, erst am Abend ins Freie zu treten. Ich wollte mich ihm gerade nähern, als ich sah, wie sich eine Gestalt aus den Schatten der Bäume löste und ihn ansprach.»

«Was meint Ihr mit ?» unterbrach Fidelma.

Sebbi zuckte die Achseln. «Jedenfalls antwortete Wighard der geheimnisvollen Gestalt, die daraufhin zornig die Stimme erhob, sich umdrehte und ebenso plötzlich wieder verschwand, wie sie gekommen war, wahrscheinlich durch den Kreuzgang hinter der Basilika.»

«Habt Ihr die Person erkannt?»

«Nein. Sie trug ein geistliches Gewand und hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen. Ich würde sie nicht wiedererkennen.»

«Habt Ihr vielleicht hören können, in welcher Sprache sie sich mit Wighard unterhielt?» fragte Eadulf.

«In welcher Sprache?» Sebbi dachte nach. «Das kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich weiß nur, daß die unbekannte Person nach einem kurzen Wortwechsel so stark die Stimme erhob, daß es mich an das Heulen eines Hundes erinnerte.»

«Seid Ihr anschließend noch auf Wighard zugegangen?»

«Nein. Ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Ich dachte, es sei vielleicht etwas Persönliches. Ich verließ den Garten und begab mich in mein Zimmer. Danach habe ich Wighard nicht mehr gesehen.»

«Und habt Ihr später, als Ihr hörtet, daß Wig-hard ermordet wurde, mit irgend jemandem über diese Begegnung gesprochen?»

Sebbi schüttelte den Kopf. «Warum hätte ich das tun sollen? Wighard ist in seinen Gemächern, nicht im Garten ermordet worden. Und jedermann weiß, daß ein verrückter irischer Mönch ihn getötet und die wertvollen Geschenke für den Heiligen Vater gestohlen hat. Was sollte diese Begegnung im Garten da für eine Rolle spielen?»

«Das zu entscheiden, sind wir hier, Bruder Sebbi», erwiderte Fidelma ernst.

«Wenn Ihr den irischen Mönch im Garten erkannt hättet ...», begann Eadulf.

Ein scharfes Zischen von Fidelma ließ ihn innehalten. Sie strafte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. Es war nicht ihre Art, Zeugen Worte in den Mund zu legen.

«Nun», fuhr Sebbi fort, ohne das kurze Zwischenspiel weiter zu beachten, «ich habe die Gestalt nicht erkennen können, und erst heute morgen beim Frühstück habe ich die anderen von diesem Ronan Ragallach erzählen hören.»

«Gut, gut», sagte Fidelma. «Ich glaube, das war es fürs erste, Bruder Sebbi. Kann sein, daß wir noch einmal auf Euch zurückkommen werden.»

«Ich werde mich bereithalten», entgegnete Sebbi lächelnd, erhob sich und ging zur Tür.

Er hatte sie schon geöffnet, als Fidelma plötzlich etwas einfiel.

«Übrigens, nur aus Neugier ... Warum hat Eanred seinen früheren Herrn umgebracht?»

Sebbi wandte sich um. «Soweit ich mich erinnern kann, ist Eanred von seinen Eltern zusammen mit seiner jüngeren Schwester an den gleichen Herrn verkauft worden. Als die Schwester zu einem hübschen, jungen Mädchen herangereift war, hat Fobba sie offenbar mit Gewalt in sein Bett gezwungen. Am Tag danach hat Eanred sich an ihm gerächt.»

«Und wie hat er ihn umgebracht?» fragte Fidelma weiter.

Sebbi zögerte einen Augenblick, als müsse er sich erst mühsam an die Einzelheiten erinnern.

«Ich glaube, er hat den Mann erdrosselt.» Er nickte grinsend. «Ja, genau so war es. Er hat den Mann mit dessen eigenem Gürtel erwürgt.»

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