XV

«ICH MUß BETONEN, DAß ICH IN ER-

st er Linie Alexandriner bin.» Der Chirurgus warf sich in die Brust, als könnte diese Aussage alles erklären. «Unsere Stadt ist vor neunhundert Jahren von dem großen Alexander von Mazedonien gegründet worden. Ptolemaios I. legte den Grundstein zu der berühmten Bibliothek, die laut Kalli-machos’ Katalog einst siebenhunderttausend Bände umfaßte. Als Julius Cäsar in Alexandria einfiel, brannte das Hauptgebäude ab, und viele Bücher wurden zerstört. Es konnte nie bewiesen werden, aber dem Gerücht nach ging die Zerstörung auf kleinliche römische Mißgunst zurück. Doch die Bibliothek ist wieder aufgebaut worden und galt in den letzten sechshundert Jahren auch weiterhin als eine der größten der Welt.»

«Was hat das alles mit Wighards Tod zu tun ...?» unterbrach ihn Eadulf ungeduldig, weniger an Cornelius als an Fidelma gewandt, die den Ausführungen des Griechen mit gespannter Aufmerksamkeit folgte.

Fidelma hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sichtlich verärgert über die Unterbrechung nahm der griechische Chirurgus seinen Faden wieder auf.

«Die Bibliothek in Alexandria war die größte der Welt», betonte er noch einmal, «und ich habe vor vielen Jahren in Alexandria an der großen, von Herophilus und Erasistratus fast zur gleichen Zeit wie die Bibliothek gegründeten Schule der Medizin studiert. Nachdem ich meine Studien beendet und einige Jahre in Alexandria praktiziert hatte, wurde ich als Lehrer an die Schule berufen. Dann brach die schreckliche Katastrophe über uns herein, und die Welt geriet aus den Fugen.»

«Was für eine Katastrophe meint Ihr, Cornelius?» fragte Fidelma.

«Die arabischen Anhänger der neuen Religion, die der Prophet Mohammed einige Jahrzehnte zuvor begründet hatte, zogen in Scharen von ihrer angestammten Halbinsel im Osten aus, um einen unerbitterlichen Eroberungskrieg anzuzetteln. Ihre Führer hatten sie zum dschihad, zum heiligen Krieg gegen all jene aufgerufen, die sie kafir nannten -, die sich nicht zu Mohammeds Religion bekennen wollten. Vor zwanzig Jahren kamen sie auch nach Ägypten, fielen in Alexandria ein und brannten alles nieder. Viele von uns mußten fliehen und anderswo auf der Welt Zuflucht suchen. Mir gelang es, eine Koje auf einem Schiff nach Rom zu ergattern, und das letzte, was ich von meiner Heimatstadt sah, waren die hohen, weißen Mauern der alexandrinischen Bibliothek, die gemeinsam mit den unermeßlichen geistigen Schätzen in Rauch und Flammen aufgingen.»

Cornelius verstummte und hielt Eadulf sein leeres Trinkgefäß hin.

Widerwillig goß der sächsische Mönch ihm aus der amphora noch etwas Wein nach, den Cornelius in großen Schlucken hinunterstürzte. Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, fuhr er fort: «Vor nicht allzu langer Zeit sprach mich dann hier in Rom ein arabischer Kaufmann an. Er sagte, er habe gehört, ich sei früher als Medikus in Alexandria tätig gewesen und ein guter Kenner der dortigen Bibliothek. Er habe etwas, das er mir zeigen wolle. Es war Era-sistratus’ Buch, von ihm eigenhändig niedergeschrieben. Ich konnte es kaum glauben. Der Kaufmann sagte, er würde mir das Werk und zwölf weitere Bücher aus der Alexandrinischen Bibliothek verkaufen. Die Summe, die er nannte, war lächerlich hoch - eine Summe jenseits meiner Möglichkeiten, obwohl ich nach römischen Maßstäben durchaus wohlhabend bin. Der Kaufmann gab mir Bedenkzeit und sagte, wenn ich seinen Preis bezahlen könne, wäre er zum Handel bereit.

Was sollte ich tun? Ich verbrachte eine ganze Nacht in schlafloser Grübelei. Schließlich vertraute ich mich Bruder Osimo Lando an, der ebenfalls aus Alexandria stammte. Er zögerte keinen Augenblick. Wenn wir das Geld nicht auf gesetzliche Weise zusammenbekommen könnten, müßten wir es eben anders versuchen. Wir schworen uns, die großen Zeugnisse griechischer Gelehrsamkeit für die Nachwelt zu retten.»

«Für die Nachwelt . oder für Euch selbst?» fragte Fidelma kühl.

Doch Cornelius ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Stolz schwang in seiner Stimme mit.

«Wer sonst außer mir, einem alexandrinischen Arzt, hätte den wahren Wert dieser Bücher schätzen können? Selbst Osimos Interesse war eher allgemeiner Natur, während ich die Gelegenheit sah, mit den großen Geistern meines Fachs in unmittelbare Zwiesprache zu treten.»

«Also habt Ihr Wighard getötet, um an seine Schätze und damit an die nötige Kaufkraft zu gelangen?» fragte Eadulf verächtlich.

Cornelius schüttelte den Kopf. «Nein, ganz so war es nicht», entgegnete er leise.

«Wie denn sonst?» fragte Furius Licinius ungeduldig.

«Es stimmt, daß wir Wighard bestohlen haben, getötet haben wir ihn aber nicht», beharrte Cornelius trotzig. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er tat sein möglichstes, um sie zu überzeugen.

«Laßt Euch Zeit», erwiderte Fidelma kühl, «und erklärt uns in aller Ruhe, wie sich alles abgespielt hat.»

«Osimo war ein enger Freund von Ronan Ragallach ...» Cornelius sah Fidelma an. «Ihr wißt, was ich damit meine? Ein sehr enger Freund», sagte er mit anzüglicher Betonung.

Fidelma nickte. Das Wesen dieser Freundschaft war ihr längst klar gewesen.

«Osimo beschloß daher, Ronan in die Sache einzuweihen. Wir hörten, daß Wighard nach Rom gekommen sei, um sich von Seiner Heiligkeit zum Erzbischof von Canterbury weihen zu lassen. Aber was viel wichtiger war: Wir wußten, daß Wighard kostbare Geschenke aus den sächsischen Königreichen mitgebracht hatte. Diese Schätze waren genau das, was wir brauchten. Und Ronan Ragallach, der diesem Wighard schon früher begegnet war und keine besondere Zuneigung für ihn hegte, schien es eine gewisse Schadenfreude zu bereiten, ausgerechnet ihn seiner Schätze zu berauben.»

Fidelma wollte etwas sagen, besann sich aber eines Besseren. «Sprecht weiter», forderte sie ihn auf.

«Es war alles ziemlich einfach. Ronan kundschaftete Wighards Gemächer aus. Allerdings wurde er in der Nacht fast von einem tesserarius geschnappt. Ronan sagte dem Mann auf Irisch, sein Name sei . Zum Glück hat der Soldat es ihm geglaubt.»

Verlegen sah Licinius zu Boden. «Dieser tesserarius war ich», gestand er. «Und ich muß Euch sagen, ich kann über diesen Witz bis heute nicht lachen.»

Cornelius ging nicht weiter darauf ein. «Er ist noch einmal davongekommen. Besser wäre es allerdings gewesen, er wäre gar nicht erwischt worden.»

«Und wenn ich ihm nicht geglaubt hätte, wäre Wighard vielleicht noch am Leben», sagte Licinius. «In der darauffolgenden Nacht ist er ermordet worden.»

«Uns ging es nur um seine Schätze», widersprach Cornelius. «Osimo und Ronan beschlossen, den Diebstahl gemeinsam auszuführen, da ich im Palast zu gut bekannt sei. Sie planten, durch die neben Abt Puttocs Zimmer liegende Kammer in das domus hospitale einzudringen ...»

«Durch Bruder Eanreds Kammer?» fragte Fidelma.

«Ja. Auf diese Weise konnten sie die Wachposten umgehen und gleich ins obere Stockwerk gelangen. Unter dem Fenster dieser Kammer beginnt ein breiter Sims, der bis zu den Fenstern des munera peregrinitatis verläuft.»

«Ich habe diesen Sims gesehen. Von Eanreds Zimmer aus ist er leicht zu erreichen.»

Cornelius nickte anerkennend. «Ihr habt ein scharfes Auge, Schwester. Ronan und Osimo konnten also unbeobachtet ins domus hospitale gelangen. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, den sächsischen Diener aus dem Verkehr zu ziehen.»

«Und das war Eure Aufgabe», meinte Fidelma mit einem zufriedenen Lächeln. «Deshalb habt Ihr den einfältigen Eanred in Eure Villa eingeladen und mit Wein und gelehrten Vorträgen bei Laune gehalten, bis ihr davon ausgehen konntet, daß Eure Komplizen die Beute an sich gebracht hatten.»

Cornelius nickte, erstaunt über Fidelmas Wissen.

«Während ich Eanred ablenkte - glaubt mir, es war keine leichte Aufgabe, diesen Einfaltspinsel zu beschäftigen -, machten Osimo und Ronan sich auf den Weg in seine Kammer. Osimo hielt Wache, und Ronan schlich sich in Wighards Gemächer, um zu sehen, ob er schon schlief.»

«Aber Wighard überraschte Ronan und mußte dafür mit seinem Leben bezahlen?» fragte Eadulf ungeduldig.

«Nein!» entgegnete Cornelius. «Ich sagte Euch doch schon: Weder Ronan noch Osimo haben Wighard getötet.»

Fidelma sah Eadulf stirnrunzelnd an. «Laßt Cornelius die Geschichte auf seine Weise erzählen», wies sie ihn sanft zurecht.

«Aus Wighards Gemächern war kein Geräusch zu hören, also trat Ronan ein. Er schlich als erstes ins Schlafzimmer, wo er den toten Wighard fand. Im ersten Augenblick des Entsetzens wollte Ronan fliehen, doch dann fiel ihm ein, daß der Diebstahl nun um so leichter auszuführen war. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und füllte die beiden Säcke, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte, mit den wertvollen Kelchen. Die Säcke waren sperrig und schwer, so daß er zunächst nur einen davon zu dem in Eanreds Kammer wartenden Osimo bringen konnte und noch einmal zurückkehren mußte, um den zweiten Sack zu holen.

Osimo kletterte mit dem ersten Sack zurück ins munera peregrinitatis, während Ronan den zweiten Sack in Eanreds Kammer schleppte .»

«Wobei ein Stück von dem Sackleinen am Türrahmen hängenblieb», murmelte Fidelma.

Cornelius fuhr fort: «Ronan war schon dabei, aus Eanreds Fenster zu klettern, als ihm voller Schreck einfiel, daß er Wighards Tür nicht geschlossen hatte. Aus Angst, die Leiche könnte entdeckt werden, ehe sie ihre Beute sicher verstaut hatten, ließ er den Sack am offenen Fenster stehen und kehrte noch einmal auf den Flur zurück. Es war ein törichter Entschluß, der geradewegs zu seiner Verhaftung führte, denn wie er uns später erzählte, hatte er Eanreds Kammer gerade verlassen, als plötzlich ein decurion der custodes vor ihm auftauchte und ihn aufforderte stehenzubleiben.

Ronan war so geistesgegenwärtig, nicht in Ean-reds Kammer zurückzukehren und damit den decurion auf die Fährte seines Komplizen Osimo zu lenken. Statt dessen versuchte er, über die Treppe am anderen Ende des Flurs zu flüchten. Dabei lief er jedoch geradewegs den beiden Soldaten unten im Innenhof in die Arme.»

«Die Flucht durch Eanreds Fenster wäre aussichtsreicher gewesen», bemerkte Eadulf.

Cornelius sah ihn mißmutig an. «Wie ich schon sagte, war Ronan klar, daß er den decurion damit unmittelbar zu dem zweiten Sack mit den wertvollen Kelchen und auf die Fährte seines Freundes Osimo geführt hätte. Deshalb hat er sich für die andere Möglichkeit entschieden.»

«Und was ist mit dem Sack geschehen, den er in Eanreds Kammer gelassen hatte?» fragte Fidelma. «Ich nehme an, Osimo ist noch einmal wiedergekommen, um ihn zu holen?»

«Richtig», entgegnete Cornelius nickend. «Nachdem Osimo den ersten Sack sicher verstaut und eine Weile lang vergeblich auf Ronan gewartet hatte, machte er sich große Sorgen um seinen Freund. Also kehrte er in Eanreds Kammer zurück. Er fand den zweiten Sack, erkannte an den lauten Stimmen draußen im Flur, daß Ronan gefaßt worden war, nahm den Sack und brachte ihn ins munera pere-grinitatis. Dort beschloß er, die Säcke in seinem Zimmer in Biedas Herberge zu verstecken, da eine Durchsuchung des Amtes zu befürchten war. Wir wußten nicht, was wir tun sollten. Am nächsten Morgen gelang es Ronan nun, aus seiner Zelle zu fliehen. Einer der Soldaten war unachtsam gewesen .»

«... und ist inzwischen dafür bestraft worden .», murmelte Furius Licinius.

«Ronan Ragallach hat sich sofort an Euch gewandt?» fragte Fidelma.

Cornelius nickte.

«Und Ihr habt ihn versteckt?»

«Wir hatten vor, ihn aus der Stadt zu schmuggeln und ihn auf einem Boot zu verstecken. Aber Ronan war ein Mann mit Grundsätzen, von denen er, wenn es um Mord ging, nicht abzubringen war», betonte Cornelius, als hätte ihm jemand widersprochen. «Er hörte davon, daß Ihr, Fidelma von Kildare, den ihm angelasteten Mord an Wighard untersuchen solltet. Für Ronan war Mord im Gegensatz zu Diebstahl eine schwerwiegende Angelegenheit. Außerdem sagte er uns, Ihr hättet in Eurer Heimat einen hervorragenden Ruf. Ronan hatte Euch vor einiger Zeit am Hof Eures Hochkönigs in Tara gesehen. Am Tag vor dem Diebstahl hat er Euch in der Via Merulana wiedererkannt und war Euch eine Weile gefolgt, um jeden Irrtum auszuschließen.»

Eadulf, der sich an den Vorfall erinnerte, nickte zur Bestätigung.

«Er sagte, Ihr wärt an den Gerichten Eures Landes als Advokatin tätig und dafür berühmt, selbst schwierige Fälle lösen zu können. Ja, Ronan erklärte uns, Ihr wärt ein Mensch, der allein der Suche nach der Wahrheit verpflichtet sei. Osimo und ich rieten ihm ab, aber er wollte unbedingt mit Euch sprechen, seinen Namen reinwaschen und Euch davon überzeugen, daß er an Wighards Tod keine Schuld trug.»

Furius Licinius lachte auf. «Und Ihr erwartet, daß wir Euch das glauben? Ihr habt bereits gestanden, daß Ihr Wighard beraubt habt. Wer ihn beraubt hat, muß ihn auch getötet haben.»

Cornelius sah Fidelma flehend an.

«Das ist nicht wahr. Wir haben mit dem Tod des Sachsen nichts zu tun. Wir haben ihn bestohlen, das gebe ich zu. Und zwar für einen Zweck, für den ich mich bis heute nicht schäme. Wenn Ihr der wahrheitsliebende Mensch seid, für den Ronan Euch gehalten hat, werdet Ihr das wissen.»

Fidelma mußte zugeben, daß Cornelius einen aufrichtigen Eindruck machte. «Deshalb wollte sich Ronan also in den Katakomben mit mir treffen.»

«Ja. Natürlich hätte er nicht offenbart, daß Osimo und ich in die Sache verstrickt waren. Ihm ging es nur darum, seinen Namen reinzuwaschen.»

«Und mußte dafür sein Leben lassen.»

Cornelius nickte. «Ich hätte ihm davon abgeraten, wußte aber nichts davon, bis Osimo es mir erzählte. Ich bin sofort zum Friedhof geeilt, um Ronan abzufangen.»

«Deshalb wart Ihr so rasch zur Stelle!»

«Ja. Ich wollte Ronan unbedingt daran hindern, Euch etwas anzuvertrauen, das den Verdacht auf Osimo und mich gelenkt und den Ankauf der Bücher gefährdet hätte. Stellt Euch mein Entsetzen vor, als ich den Friedhof betrat und den arabischen Kaufmann und seinen Gefährten aus den Katakomben fliehen sah. Sie sagten mir, sie hätten Ronan tot aufgefunden.»

«Wieso sind sie Ronan in die Katakomben gefolgt, obwohl Ihr doch offenbar ihr Verhandlungspartner wart?» fragte Fidelma.

«Am Abend vor seinem Tod hatte Ronan sich bereit erklärt, sich an meiner Stelle mit dem arabischen Kaufmann hier in Marmorata zu treffen und den ersten Tauschhandel vorzunehmen. Der Kaufmann hatte mir einen kurzen Brief mit Anweisungen geschickt, den ich Ronan gegeben habe. Nach der Unterredung sagte Ronan jedoch zu Osimo, er habe das Gefühl, die Araber seien ihm gefolgt. Vielleicht waren sie mißtrauisch geworden.

Als ich ihnen auf dem Friedhof begegnete, dachte ich natürlich, sie hätten Ronan umgebracht. Ehe ich sie weiter befragen konnte, wurde ich jedoch zur Hilfe gerufen. Es hieß, in den Katakomben habe sich jemand verletzt.

Ich nahm an, es ginge um Ronan, eilte zum Haupteingang und stieg die Treppe hinunter. Vielleicht könnt Ihr Euch meine Überraschung vorstellen, als ich ausgerechnet Euch auf mich zukommen sah. Zu meinem Entsetzen mußte ich dann noch erkennen, daß Ihr einen der gestohlenen Kelche bei Euch hattet. In diesem Moment kam etwas über mich. Ich holte aus und - vergebt mir, Schwester! - schlug Euch auf den Kopf. Den Kelch nahm ich an mich. Dann durchsuchte ich Euer marsupi-um, und das war ein Glück, denn ich fand den Brief des arabischen Kaufmanns, den ich Ronan gegeben hatte. Ich hatte ihn gerade eingesteckt, als ich jemanden die Treppe herunterlaufen hörte. Ich mußte so tun, als hätte ich Euch gerade erst ohnmächtig aufgefunden. Zum Glück zweifelte niemand meine Aussage an. Alle gingen davon aus, daß Ihr die verletzte Person wart, zu der man mich gerufen hatte.»

Fidelma sah ihn mit großen Augen an. «Ihr habt mich also niedergeschlagen?»

«Vergebt mir», wiederholte Cornelius ohne allzu große Zerknirschung.

«Ich hatte gleich das Gefühl, daß mir die Gestalt auf der Treppe irgendwie bekannt vorkam», murmelte Fidelma nachdenklich.

«Als Ihr Euer Bewußtsein wiedererlangtet, schient Ihr mich aber in keiner Weise zu verdächtigen.»

«Eines verstehe ich immer noch nicht: Ich hatte die Araber in den Katakomben hinter mir zurückgelassen. Wie konnten sie vor mir herauskommen und Euch von Ronans Tod erzählen, ehe wir uns auf der Treppe begegneten?»

Cornelius zuckte mit den Achseln. «Offenbar wißt Ihr nicht, wie viele Ein- und Ausgänge diese Katakomben haben. Nicht weit von der Grabkammer, in der Ronan getötet wurde, gibt es einen, der zum Friedhofstor führt. Hättet Ihr diesen Weg eingeschlagen, wärt Ihr innerhalb weniger Minuten im Freien gewesen. Daher auch der unbekannte Pilger, der sagte, in den Katakomben sei jemand verletzt worden.»

Licinius nickte. «Cornelius hat recht, Schwester. Auch der fremde Pilger muß einen anderen Weg benutzt und Euch auf dem Weg zurück zum Haupteingang überholt haben.»

«Und warum seid Ihr nicht gleich zu Ronan gegangen?» fragte Fidelma.

«Hätte ich die Abkürzung genommen, hätte das sofort Mißtrauen erregt. Ja, ich wäre am liebsten sofort zu ihm geeilt, aber es standen zu viele Leute herum, und ich mußte zuerst Euch in den Palast zurückbringen. Anschließend war es zu spät. Licinius wurde zu den Katakomben geschickt, um Ronans Leiche zu bergen.»

«Was habt Ihr mit dem Brief und dem Kelch gemacht?» fragte Fidelma.

«Ich habe beides in meiner Arzneitasche versteckt und Osimo aufgesucht, um ihm die traurige Nachricht zu übermitteln. Offenbar haben die Araber Ronan auf dem Gewissen. Aber warum haben sie ihn getötet? Dachten sie, er würde sie betrügen?»

«Es waren nicht die Araber», sagte Fidelma.

Cornelius’ Augen weiteten sich vor Erstaunen. «Das haben sie auch behauptet. Aber wer soll es sonst gewesen sein?»

«Das müssen wir noch herausfinden.»

«Nun, ich oder Osimo waren es jedenfalls nicht. Das schwöre ich beim lebendigen Gott!» verkündete Cornelius.

Fidelma lehnte sich zurück und sah den griechischen Chirurgus nachdenklich an. «Eine Sache verstehe ich nicht .», begann sie.

«Mehr nicht?» spöttelte Eadulf. «Ich finde, die Lage wird immer verworrener.»

Furius Licinius nickte zustimmend. Fidelma achtete nicht weiter darauf. «Ihr sagtet, Bruder Ronan habe Wighard von früher gekannt und sei nicht besonders gut auf ihn zu sprechen gewesen. Könnt Ihr das etwas genauer erklären?»

«Mein Wissen beruht allein auf Hörensagen, Schwester», antwortete Cornelius. «Ich habe die Geschichte nur so weitergegeben, wie Ronan sie Osimo und dieser wiederum mir erzählt hat.»

Er hielt einen Augenblick inne, um seine Gedanken zu ordnen, ehe er fortfohr: «Ronan Ragal-lach hat sein Heimatland vor vielen Jahren verlassen, um den Sachsen das Wort des Herrn zu bringen. Zuerst reiste er durch das Königreich der Westsachsen, dann kam er ins Königreich Kent. Eine Weile predigte er an einer Kirche in Canterbury, die dem heiligen Martin von Tours geweiht ist. Wie ich erfahren habe, soll es ein winziges Kirchlein sein.»

Eadulf nickte zustimmend. «Ich kenne die Kirche.»

«Vor etwa sieben Jahren erschien eines Nachts ein Sterbender in dieser Kirche. Er war an Geist und Körper gebrochen und litt offenbar an einer Lungenkrankheit. Er wußte, daß es mit ihm zu Ende ging und wollte seine Sünden beichten. Zufällig war in jener Nacht nur ein Geistlicher zugegen, der ihm die Beichte abnehmen konnte - ein reisender Mönch aus Irland.»

«Ronan Ragallach!» platzte tesserarius Licinius, der Cornelius’ Erzählung gebannt folgte, ungeduldig heraus.

«Genau», bestätigte Cornelius. «Bruder Ronan Ragallach. Er nahm dem Mann die Beichte ab, und es waren keine geringen Sünden, die er dabei zu hören bekam. Die schlimmste war, daß der Mann sich als Mörder hatte dingen lassen. Am meisten beunruhigte ihn dabei, daß er von einer großen Sünde wußte, die auf einem bedeutenden Mitglied der Kirche lastete. Er erzählte Ronan die Hintergründe des Verbrechens in allen Einzelheiten: Er hatte von einem Diakon der Kirche Geld erhalten, um dessen Familie zu töten, weil sie ihm bei seinem weiteren Fortkommen im Wege war. Nachdem er das Geld des Diakons angenommen und dessen Frau erschlagen hatte, sah er eine Möglichkeit, sich noch mehr zu bereichern, indem er die Kinder in ein benachbartes Königreich verschleppte und als Sklaven an einen Bauern verkaufte. Schließlich starb der Mann. Und mit seinem letzten Atemzug nannte er Ronan den Namen des Diakon, der ihn als Mörder gedungen hatte. Dieser war damals der Sekretär Deusdedits, des Erzbischofs von Canterbury ...»

«Wighard!» rief Eadulf entsetzt. «Wollt Ihr damit sagen, Wighard habe seine Frau und seine Kinder mit Hilfe eines gedungenen Mörders aus dem Weg geräumt?»

Cornelius nickte bloß und fuhr fort: «Durch das Beichtgeheimnis gebunden, segnete Bruder Ronan den toten Mann, den er von einem so abscheulichen Verbrechen nicht lossprechen konnte, und begrub ihn außerhalb der Friedhofsmauer. Sein Wissen belastete ihn, aber er fühlte sich nicht in der Lage, Wighard zur Rechenschaft zu ziehen oder irgend jemandem davon zu erzählen. Er beschloß, Canterbury zu verlassen, nach Rom zu reisen und ein neues Leben zu beginnen. Als er Wighard in Rom sah und hörte, daß er von Seiner Heiligkeit zum Erzbischof von Canterbury berufen werden sollte, war er so entsetzt, daß er Osimo seine Geschichte anvertraute. Osimo berichtete sie dann später mir.»

«War Ronans Wut auf Wighard so groß, daß er ihm womöglich nach dem Leben trachtete?» fragte Licinius.

«Und sich danach genau auf die gleiche Weise das Leben nahm?» erwiderte Fidelma zweifelnd. «Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Wann hat Osimo Euch diese Geschichte erzählt, Cornelius?»

«An dem Tag, als wir darüber sprachen, wie wir das Geld für den arabischen Kaufmann beschaffen könnten. Ronan sagte, es sei keine Sünde, Wighard zu berauben. Ich wußte diese Bemerkung nicht zu deuten, und als wir später allein waren, vertraute Osimo mir alles an. Für ihn war es der Grund, warum Ronan meinte, Wighard habe es verdient, um seinen Schatz erleichtert zu werden.»

Eine Weile lang herrschte nachdenkliches Schweigen, dann sagte Fidelma: «Ich glaube Euch, Cornelius von Alexandria. Eure Geschichte ist viel zu unwahrscheinlich, um erfunden zu sein, und Ihr habt einiges an Schuld zugegeben.»

«Ihr seid ein kenntnisreicher Mann, Cornelius. Wißt Ihr zufällig irgend etwas über die Saturnalien?» wechselte sie unvermittelt das Thema.

«Die Saturnalien?» fragte der Alexandriner erstaunt. Auch Eadulf und Licinius blickten überrascht drein.

Fidelma nickte stumm.

«Die Saturnalien waren ein heidnisches Fest, das zu Ehren des Saturn gegen Ende Dezember gefeiert wurde», erklärte Cornelius. «Es war eine Zeit der Freude, des gegenseitigen Wohlwollens und der Geschenke. Alle Geschäfte ruhten, man kleidete sich festlich und ließ es sich Wohlergehen.»

«Und gab es während des Festes irgendwelche besonderen Bräuche?» hakte Fidelma nach.

Cornelius zuckte die Achseln. «Soweit ich weiß, begannen die Saturnalien mit einem Opfer im Tempel und einem öffentlichen Festessen für jedermann. Selbst das Glücksspiel war während des Festes erlaubt. Ach ja, und dann wurden die Standesunterschiede aufgehoben. Die Sklaven zogen die Kleider ihrer Herren an und wurden von allen Pflichten befreit, während ihre Herren sie bedienen mußten.»

Fidelmas Augen leuchteten auf, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. «Danke, Cornelius», meinte sie und stand auf.

«Und was wird aus mir?» fragte Cornelius und erhob sich ebenfalls schwerfällig von seinem Platz.

«Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen», räumte Fidelma ein. «Ich werde dem superista Bericht erstatten, und ich nehme an, er wird die Angelegenheit dem Magistrat der Stadt übergeben. Was die Gesetze Roms betrifft, kenne ich mich nicht so gut aus.»

«In der Zwischenzeit», erklärte Furius Licinius nicht ohne Genugtuung, «wird man Euch in einer Zelle der custodes Obdach gewähren, und es wird Euch nicht so leicht fallen, von dort zu fliehen wie Eurem Spießgesellen Ronan Ragallach. Darauf habt Ihr mein Wort.»

Cornelius zuckte trotzig die Achseln. «Zumindest habe ich der Nachwelt einige große Werke erhalten, die sonst für immer verloren gewesen wären. Das ist meine Entschädigung.»

Licinius führte ihn zur Tür.

Da hatte Fidelma noch einen Einfall. «Wartet!»

Cornelius drehte sich um.

«Haben Ronan oder Osimo noch jemandem von dem angeblichen Mord an Wighards Frau und dem Verkauf der Kinder erzählt?»

Cornelius schüttelte den Kopf. «Nein. Ronan erzählte es Osimo unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und Osimo berichtete mir aus den bereits genannten Gründen davon.»

Dann huschte ein neuer Ausdruck über sein Gesicht. Anscheinend erinnerte er sich an etwas.

«Aber Ihr habt Euer Wissen weitergegeben?» hakte Fidelma sofort nach.

Cornelius sah verlegen zu Boden. «Ich hielt es für eine so gottlose Tat, ein so abscheuliches Verbrechen, daß ich mehrere Tage lang nicht mehr zur Ruhe kam. Ein Mann, der in Kürze von Seiner Heiligkeit zum Erzbischof geweiht werden sollte, war von einem Sterbenden in seiner letzten Beichte als Mörder seiner Frau und seiner eigenen Kinder bezichtigt worden! Ich konnte es nicht für mich behalten, auch wenn ich damit das Vertrauen meines Freundes Osimo brach. Also wandte ich mich an einen Kirchenmann von Rang und Ehren.»

Fidelma überlief es heiß und kalt. «Ihr konntet also nicht schweigen. Das ist verständlich», stimmte sie ungeduldig zu. «Wem habt Ihr Euch anvertraut?»

«Ich hielt es für ratsam, mich an jemanden aus Wighards Gefolge zu wenden, um herauszufinden, ob andere etwas davon wußten und welche Möglichkeiten es gab, die Sache weiter zu verfolgen . Außerdem brauchte ich den Rat eines Mannes, der genügend Einfluß besaß, um die Angelegenheit möglichst noch vor der Weihe des zukünftigen Bischofs Seiner Heiligkeit zu Gehör zu bringen. Deshalb beschloß ich am Tag vor Wighards Tod, einen sächsischen Prälaten einzuweihen.»

Fidelma schloß die Augen und versuchte, ihre Unrast zu bezähmen. Eadulf, dem das Gewicht dieser Aussage nur allzu bewußt war, wartete mit bleichem, angespanntem Gesicht.

«Wem habt Ihr es erzählt?» fragte Fidelma noch einmal in scharfem Ton.

«Nun, dem sächsischen Abt natürlich. Abt Put-toc.»

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