Ruhelos die ihm noch ungewohnten Möbelstücke betastend, wanderte Bolitho in der Kajüte umher. Um ihn und über ihm knarrten und stöhnten die siebzehnhundert Tonnen Planken und Spieren, Kanonen und Menschen unter dem Druck des auffrischenden Nordwestwindes.
Widerstrebend versagte er es sich, mit einem Blick aus dem Fenster zu kontrollieren, wie weit die anderen Schiffe des Geschwaders mit den Vorbereitungen zum Ankerlichten waren. Er hörte ab und zu einen Ruf, dem das Trappeln nackter Füße folgte — Matrosen rannten hierhin und dorthin, um im letzten Augenblick noch etwas in Ordnung zu bringen. Er konnte sich vorstellen, daß sich Herrick ebenso über jede Verzögerung ärgerte. Dennoch blieb ihm nichts weiter übrig, als ihn auf seinem Achterdeck in Ruhe zu lassen.
Als Kommandant war Bolitho mit Schiffen aller Art und unter den verschiedensten Bedingungen ankeraufgegangen. Von der flinken Schaluppe bis zum turmhohen Dreidecker Euryalus, auf dem er Flaggkapitän gewesen war, hatte er auf jedem Schiffstyp die spannungsgeladenen Minuten vor dem Loskommen des Ankers durchlebt.
Für Herrick mußte es ebenso schlimm sein, wenn nicht noch schlimmer. Wenn der Kommandant auf dem Achterdeck stand, hoch über dem ganzen Getriebe, vor jeder Kritik durch seine Autorität und seine glänzenden Epauletten geschützt, mochte ein unbeteiligter Zuschauer irrtümlicherweise glauben, er stünde über allen menschlichen Ängsten und Gefühlen.
So war es Bolitho als Midshipman vorgekommen, auch noch als jungem Leutnant: Ein Kommandant mußte ein gottähnliches Wesen sein. Er lebte unerreichbar in seiner Heck-Kajüte, und vor seinem Stirnrunzeln zitterte jeder gewöhnliche Offizier oder Matrose.
Aber jetzt wußte Bolitho es besser, genau wie Herrick. Je größer die Verantwortung, um so größer zwar die Ehre. Aber wenn etwas schiefging, dann fiel man um so tiefer, je höher man stand.
Allday kam herein, sich die großen Hände reibend. Auf seinem blauen Jackett glänzten Tropfen von Sprühwasser, und die Erregung leuchtete ihm aus den Augen. Bolitho spürte es auch selbst:
Endlich ließen sie das Land hinter sich — wie ein Jäger, der aufbricht, sich mit dem Unbekannten zu messen, weil er muß, der aber nie weiß, ob es nicht das letzte Mal ist.
«Die Mannschaft arbeitet ganz gut, Sir«, grinste der Bootsführer.»Ich war eben oben und habe Ihre Gig kontrolliert. Ganz nette Brise aus Nordwest. Großartig werden wir aussehen, wenn das Geschwader erst vom Felsen klarkommt.»
Nervös fuhr Bolitho zusammen und horchte mit schiefem Kopf: ein Rasseln oben an Deck, etwas schleifte über die Planken, und eine grobe Stimme brüllte:»Beleg die Leine da, du Saukerl!»
Er biß sich auf die Lippen. Da ging doch alles mögliche schief!
Allday musterte ihn nachdenklich.»Captain Herrick kommt schon klar, Sir.»
«Weiß ich. «Bolitho nickte, als wolle er seine Überzeugung besiegeln.»Das weiß ich doch.«»Auf ihn können Sie sich verlassen.»
Allday nahm den Degen von der Schottwand und wartete darauf, daß Bolitho die Arme hob, damit er ihm das Koppel umschnallen konnte.»Immer noch der alte«, sagte er leise und berührte den abgewetzten Griff.»Wir sind schon einige Meilen zusammen gesegelt.»
«Aye«, stimmte Bolitho ernst zu und ließ die Finger über die Parierstange gleiten.»Ich glaube, der macht's noch länger als wir beide.»
Allday grinste übers ganze Gesicht.»So ist's schon besser, Sir! Jetzt reden Sie wieder, wie es sich für einen Flaggoffizier gehört.»
Lautlos ging die Tür auf, und Herrick, Hut unterm Arm, trat ein.»Geschwader klar zum Ankerlichten, Sir. «Er sprach ganz gelassen.»Alle Anker sind kurzstag gehievt.»
«Danke, Captain Herrick«, antwortete Bolitho in dienstlichem Ton.»Ich komme gleich an Deck.»
Herrick eilte wieder hinaus; man hörte ihn die Leiter zur Kam-panje über der Achterkajüte hinaufsteigen. Er mußte den Schiffsverkehr in der Straße von Gibraltar in Betracht ziehen, der jedoch Gott sei Dank spärlich war; auch die Windstärke und die nahen Untiefen. Herrick mußte sich auch darüber klar sein, daß er an diesem Vormittag noch von anderen Augen als von Bolithos beobachtet wurde. Die Kommandanten, die am Vorabend beim Dinner so gelöst und kameradschaftlich getan hatten, würden seine Seemannschaft, den Ausbildungsstand der Lysander, die Schnelligkeit ihres Auslaufens sehr kritisch beurteilen. Auch auf den zur Garnison gehörigen Schiffen, sogar von der Festung im feindlichen Alge-ciras aus würden Teleskope auf die Lysander gerichtet sein.
«Wir wollen gehen, Allday«, sagte Bolitho gelassen.
Unter dem Skylight blieb Allday stehen und deutete nach oben.»Sehen Sie mal, Sir.»
Bolitho starrte hinauf in das schwarze Gewirr der Wanten, auf den himmelhohen Großmast dahinter, in dessen Topp der Kommodorestander peitschend auswehte.
«Ja, ich sehe ihn.»
Allday musterte Bolitho ernst und eingehend.»Der gehört Ihnen von rechtswegen, Sir. Mancher, der ihn dieser Tage sieht, möchte ihn runterholen, wenn er könnte. Aber solange er weht, werden sie Ihnen gehorchen. Also machen Sie sich keine Sorgen, überlassen Sie die anderen. Sie haben Besseres zu tun.»
Bolitho sah Allday überrascht an.»Admiral Beauchamp hat mir etwa dasselbe gesagt, wenn auch nicht mit den gleichen Worten. «Er schlug Allday auf den Arm.»Danke.»
Als er unter der Kampanje heraustrat und am großen Doppelrad vorbeikam, war er sich durchaus darüber klar, daß ihn alle in Sichtweite genau beobachteten. Draußen, vom Achterdeck aus, wo der Wind Gischtfetzen über Netze und Laufbrücken wehte, sah er, daß sich die Matrosen bereits an den Brassen und Fallen drängten; dahinter standen die Marine-Infanteristen in ihren scharlachroten Röcken, um die Matrosen zu unterstützen, wenn es so weit war.
«Achterdeck — Achtung!»
Das war Gilchrist, der Erste Offizier, Herricks rechte Hand. Lang und dürr, die Stirn ständig in Falten, sah er aus wie ein mißgelaunter Schulmeister. Hinter ihm standen einige Leutnants, der Mids-hipman der Wache und allerlei namenloses Schiffsvolk.
Bolitho tippte grüßend an seinen Hut, was dem Achterdeck im allgemeinen galt, und verglich, eigentlich gegen seine Absicht, das, was er sah, mit dem, was ihm als Kommandant selbst vertraut und lieb geworden war. Er hätte sich so schnell wie möglich Gesicht und Namen jedes einzelnen Offiziers eingeprägt und sich diesen Ersten Offizier besonders genau angesehen. Er warf einen raschen Blick auf Herricks untersetzte Gestalt an der Reling — ob auch er wohl jetzt Vergleiche anstellte?
Dicht neben sich hörte er eine rauhe Stimme:»Wunderschöner Tag, Sir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.»
Bolitho fuhr herum und sah einen mächtigen, rotgesichtigen Mann von, wie ihm schien, dreifacher Raumbeanspruchung, nicht so sehr in der Höhe wie in der Breite. Die dicken Beine gespreizt, um eine plötzliche Bö abzufangen, stand er da und starrte Bolitho aus schwerlidrigen, melancholischen Augen mit unverhohlener Neugier an.»Mein Name ist Grubb, Sir. Ich bin der Master.«[5]
«Danke, Mr. Grubb«, lächelte Bolitho. Das hätte er sich denken können. Über Ben Grubb, den Master der Lysander bei St. Vincent, existierten bereits viele Legenden. Er hatte, so wurde erzählt, persönlich die Querflöte geblasen, als der Vierundsiebziger die Feindformation durchbrach und alle Trommeljungen der MarineInfanterie von Schrapnellgeschossen niedergemäht worden waren.
Diesem mächtigen, unordentlich gekleideten Mann war das schon zuzutrauen, fand Bolitho. Eine merkwürdige Mischung. So wie das Gesicht war der ganze Mann: offenbar von schweren Stürmen gezeichnet; und ein schwerer Trinker war er auch, das sah man ihm an. Von jetzt an würde Grubb einer der wichtigsten Männer im Geschwader sein.
Grubb zog eine apfelgroße Taschenuhr, sah nach der Zeit und sagte:»Ungefähr jetzt, würde ich meinen, Sir.»
Bolitho nickte und drehte sich nach Herrick um. Pascoe stand mit einem Midshipman und den Signalgasten in der Nähe, ein Deckoffizier kritzelte etwas auf seine Tafel.
«Also bitte, Captain. Wir wollen auslaufen.»
Absichtlich langsam schritt Bolitho über das unaufgeklärte Deck und versuchte, nicht auf die vielen Blöcke und Taljen hinunterzu-blicken, an denen die Achterdeckwache seit Morgengrauen gearbeitet hatte. Das wäre ein schöner Anblick für die Crew der Lysander, wenn er mit dem Fuß hängenbliebe und der Länge nach auf die
Planken fiele! Seltsamerweise wurde er gerade bei dieser gräßlichen Vorstellung ruhiger und konnte sich auf die anderen Schiffe konzentrieren, auf denen nacheinander die Bestätigungen für Herricks Signal Anker auf hochgingen.
«Von allen bestätigt, Sir!«hörte er den Midshipman rufen.
Und dann ertönte Pascoes vor verhaltener Erregung zitternde Stimme:»Achterdeck — klar zum Manöver!»
Gilchrist rannte polternd über die Planken, und selbst noch durch die Sprechtrompete klang seine Stimme mißbilligend:»Mr. Yeo! Mehr Leute ans Gangspill! Verdammte Bummelei!»
Bolitho wandte sich nicht um. Yeo war der Bootsmann, er würde ihn schon noch kennenlernen. Drüben rollte die kleine Harebell wie betrunken, die Rahen voll geschäftiger Matrosen. Ihr Ankertau stand auf und nieder; er glaubte, Inchs vogelscheuchenähnliche Gestalt an der Achterdeckreling zu erkennen, wie er über die Reede deutete, die mit ihren zahllosen weißmützigen Wellen aussah wie ein Miniaturozean.
Bolitho nahm dem Midshipman der Wache das Teleskop aus der Hand, stellte es auf den anderen Zweidecker ein und fragte dabei:»Und wie heißen Sie?»
Der Midshipman starrte ihn perplex an.»Saxby, Sir.»
Auf den Decksgängen der Nicator rannten jetzt die Matrosen eilig nach achtern. Saxby war etwa dreizehn und hatte ein rundes, unschuldiges Gesicht. Sein sonst recht nettes Aussehen wurde beeinträchtigt, wenn er den Mund aufmachte, denn ihm fehlten zwei Vorderzähne.
Bolitho fixierte das Glas und versuchte, nicht auf Gilchrists blecherne Stimme zu achten. Es dauerte alles viel zu lange. Vorsicht — schön und gut, aber das hier war ein ängstliches Kriechen.
«Das geht zu langsam, Captain Herrick!«sagte er scharf.
«Sir?«Herrick hatte anscheinend nicht aufgepaßt.
«Setzen Sie Dringlichkeitssignal, bitte!«Es war ihm unangenehm, aber hier stand mehr auf dem Spiel als privates Gefühl.
Er hörte laute Befehle, die verwischten Rufe der Toppsgasten, die sich auf den Fußpferden der vibrierenden Rahen hinausarbeiteten.
Und dann wurde das alte Signal mit einem Ruck niedergeholt, und vom Vorschiff kam der Ruf:»Anker ist los!»
Schwer legte sich die Lysander auf die Seite, der Anker kam aus dem Wasser, der Wind füllte bereits die Marssegel; langsam drehte sie durch die kabbelige See.
«An die Brassen!»
Nackte Füße schlidderten über die nassen Planken; vom Ankerspill rannten Männer herbei.
Eins nach dem anderen, wie mächtige Tiere, gingen die drei Linienschiffe vor den Wind; weiter draußen setzten die Fregatte Buz-zard und Inchs Schaluppe bereits mehr Segel, um sich von den großen Schiffen freizuhalten.
Ein» Starter«, der kurze Tampen eines Maaten, klatschte auf einen nackten Rücken, und der Mann schrie auf. Hoch über Deck wetteiferten die Toppsgasten miteinander, um die anderen Schiffe des Geschwaders zu übertreffen.»Setzen Sie die Breitfock, Mr. Gilchrist!«befahl Herrick.»Und sagen Sie diesem Bootsmannsmaaten, er soll sparsamer mit seinem Tampen umgehen!»
Bolitho ging auf die andere Seite, wo soeben die Osiris das Kielwasser der Mcator kreuzte. Sie bot einen schönen Anblick mit ihren steif und voll stehenden Marssegeln, unter denen sie so stark überholte, daß die Bugsee beinahe über die unteren Stückpforten wusch. Fock und Großsegel schlugen einmal und füllten sich dann; hart glänzten sie im Sonnenlicht wie Silber.
«Die Nicator fällt zurück«, sagte Bolitho.»Signalisieren Sie ihr, mehr Segel zu setzen!»
Vielleicht hatte Kapitän Probyn so viel zu tun, daß er nicht merkte, wie sein Schiff bereits aus der Formation der Vierundsiebziger ausbrach. Es konnte aber auch sein, daß er testen wollte, ob sein Kommodore ein gutes Auge hatte und schnell in die Schiffsführung eingriff.
«Nicator bestätigt, Sir!«rief der Signalgast.
Probyns Leute setzten bereits das Vorbramsegel. Das ging fast zu schnell, fand Bolitho. Probyn hatte ihn also testen wollen.
Grubb sah nach oben in die Takelage, dann auf den Kompaß und nach seinen Rudergasten, ohne daß sich ein Muskel seines Gesichts bewegte. Nur die Augen huschten auf und nieder, nach vorn und nach achtern, wie zwei Leuchtfeuer auf einer verwitterten roten Steilküste.
Nach einer knappen Stunde war das Geschwader klar von den Ansteuerungstonnen, und die drei Linienschiffe boten unter etwas reduzierter Leinwand einen stolzen Anblick, als sie von Land we g-strebten. In Lee kreuzten Buzzard und Harebell hastig unter vollen Segeln, deren bleiche Pyramiden bereits im Dunst verschwammen, um ihre Stationen weit vor dem Geschwader einzunehmen.
«Also gut, Mr. Grubb«, rief Herrick,»Kurs Ostsüdost. «Dann kam er zu den Netzen hinüber, wo Bolitho stand, einen Fuß auf die Lafette eines Achterdeck-Neunpfünders gestützt.
Leise lächelnd blickte Bolitho ihm entgegen.»Na, Thomas, wie fühlen Sie sich?»
Die Falten in Herricks Gesicht glätteten sich etwas. Als ob eine Wolke abzieht, dachte Bolitho.
«Besser, Sir«, antwortete Herrick und atmete tief aus.»Ein ganzes Ende besser!»
Bolitho beschattete die Augen mit der Hand und sah zum Land hinüber. Wahrscheinlich ritten schon in dieser Minute Kuriere in gestrecktem Galopp über die Küstenstraßen. Aber es hätte keinen Sinn gehabt, wie Strauchdiebe im Schutz der Dunkelheit durch die Straße von Gibraltar zu schleichen. Zwar hatte er seine Befehle, doch der Earl of St. Vincent hatte ihm auch klargemacht, daß es seine Sache war, wie er sie interpretierte und ausführte. Es konnte gar nichts schaden, wenn der Feind wußte, daß wieder ein starker britischer Verband ins Mittelmeer segelte. Bolitho blickte zum Großmasttopp hinauf, zu dem langen, gespaltenen Wimpel, der jetzt steif wie ein Brett im steten Wind stand. Seine Flagge. Dann ließ er den Blick über das von Menschen wimmelnde Deck schwe ifen, über die emsigen Matrosen, die in großen Duchten aufgeschossenen Taue, die dem Binnenländer wie ein hoffnungsloses Gewirr vorkommen mußten. Und dann weiter vor zum Klüverbaum, unter dem er gerade noch eine der breiten Schultern des spartanischen Heerführers sehen konnte. Inchs Schaluppe, ihre ganze Vorhut, war nur noch ein we ißes Federchen an der dunstigen Kimm. Bolitho lächelte in sich hinein. Genauso hatte auch er damals mit seinem ersten Schiff operiert, in der Chesapeake Bay. Doch nun: ein anderes Schiff — ein anderer Krieg.[6]
«Irgendwelche Instruktionen, Sir?«fragte Herrick. Drüben an der Leereling stand Pascoe, eine Hand in die Hüfte gestützt, und sah zu ihnen herüber.
«Es ist Ihr Schiff, Thomas. Was haben Sie vor?»
Herrick versuchte, sich etwas zu lockern.»Ich würde gern Geschützexerzieren ansetzen. Mit der Segelausbildung bin ich soweit zufrieden.»
«Also bitte«, lächelte Bolitho. Da sich Gilchrist in der Nähe herumdrückte, sagte er abschließend:»Ich bin in meiner Kajüte.»
Unterwegs, beim Kompaß, hörte er Gilchrists kalte Meldung an den Kommandanten:»Zwei Mann zur Bestrafung, Sir. Nachlässigkeit im Dienst und Frechheit gegenüber einem Bootsmannsmaaten.»
Bolitho hielt inne. Eine Auspeitschung schon zu Beginn der Reise — das wäre auch unter normalen Umständen ein schlechter Anfang gewesen. Hier bei dem kleinen Geschwader, in feindlichen Gewässern, wo beinahe jedes auftauchende Segel ein Franzose oder Spanier sein mußte, vertrug es sich um so schlechter mit seiner heiklen Mission. Herrick sagte etwas zu Gilchrist, das Bolitho nicht verstand, aber der Leutnant erwiderte rasch: «Mir genügt seine Aussage, Sir.»
Bolitho schritt nach achtern unter die dicken Decksbalken. Er durfte sich nicht einmischen.
Am Abend des zweiten Tages auf See gab es nach dem zunächst schnellen Start zur Reise in den Golfe du Lyon einen Rückschlag. Unberechenbar wie immer, flaute der Wind zu einer schwachen Brise ab, so daß die Lysander auch unter Vollzeug nur knapp drei Knoten schaffte.
Das Geschwader segelte nicht mehr in seiner ursprünglichen Formation, sondern war zerstreut; und alle drei Zweidecker schlichen über ihrem eigenen Spiegelbild langsam und lustlos dahin.
Bolitho hatte die Fregatte losgeschickt, um weit voraus zu rekognoszieren; nun, bei seinem ruhelosen Auf- und Abgehen auf der Kampanje, war er froh, daß er wenigstens diese kleine Vorsichtsmaßnahme ergriffen hatte. Der Kommandant, Kapitän Javal, würde so den Landwind hoffentlich mit einigem Erfolg ausnutzen können.
Trotz seiner Ungeduld mußte Bolitho lächeln. Er selbst und auch Farquhar waren im Herzen immer noch Fregattenkapitäne; der Gedanke an Javals Unabhängigkeit, das Operieren außer Reichwe i-te jedes Signals, mußte den Neid eines Kommandanten erregen, der an einen gewichtigen Vierundsiebziger gebunden war.
Er hörte, daß Herrick mit seinem Ersten sprach, und dabei fiel ihm die Auspeitschung des Vortags wieder ein. Das wohlbekannte, gräßliche Ritual der körperlichen Züchtigung hatte bei der versammelten Mannschaft keine sonderliche Aufregung verursacht. Doch als Bolitho auf der Kampanje dem Verlesen der Kriegsartikel durch Herrick beiwohnte, hatte er so etwas wie Triumph auf Gilchrists schmalem Gesicht beobachtet. Er hatte eigentlich erwartet, daß Herrick Gilchrist beiseite nahm und ihn auf die Gefahren überflüssiger Bestrafungen hinwies. Gedankenlose Härte konnte Folgen haben, die schlimmer waren als eine unabsichtliche Disziplinlosigkeit. Die Meutereien vor Spithead und bei der Themseflotte hätten eigentlich genügend Warnung sogar für einen Blinden sein sollen. Doch als Bolitho auf das Achterdeck hinuntersah, konnte er an der Unterhaltung der beiden nichts ablesen. Sie sprachen ganz normal miteinander; dann tippte Gilchrist an den Hut und ging weiter nach Luv. Er hatte einen merkwürdig hüpfenden Gang, bei dem seine Sohlen laut auf die Planken schlugen.
Nach kurzer Überlegung stieg Bolitho leichtfüßig die Stufen hinunter und trat neben Herrick an die Luvnetze.»Ein Schnek-kentempo«, sagte er.»Der Himmel möge uns den Wind wiederfinden lassen.»
Herrick sah ihn mißtrauisch an.»Unser Unterwasserschiff ist sauber, Sir. Und ich habe jedes Segel persönlich kontrolliert — wir könnten auch beim besten Willen nicht einen halben Knoten mehr machen.»
Überrascht von seinem vorwurfsvollen Ton, wandte Bolitho sich um.»Das sollte keine Kritik sein, Thomas. Ich weiß, ein Kommandant kann allerhand, aber den Elementen befehlen kann er nicht.»
Herrick lächelte gezwungen.»Entschuldigung, Sir. Aber mich bedrückt das ziemlich. Von uns wird so viel erwartet. Wenn es schiefgeht, ehe wir richtig angefangen haben…«Er zuckte hilflos die Achseln.»Die ganze Flotte müßte vielleicht darunter leiden.»
Bolitho stieg auf einen Poller und hielt sich an den Netzen, während er nach achtern zur Nicator spähte, die lethargisch auf dem gleichen Bug lag. Ihre Marssegel waren kaum gefüllt, und ihr Masttoppwimpel hob sich nur gelegentlich in den leeren Himmel.
Von Land war nichts zu sehen, obwohl der Ausguck, der winzig wie ein Äffchen turmhoch über Deck hockte, es als purpurnen Dunststreifen erkennen mußte: die Südküste von Spanien. Bolitho schauerte trotz der feuchten Hitze, als er daran dachte, daß er diese Strecke schon einmal gesegelt war. Übrigens — warum stellte sich Herrick so an? Es sah ihm gar nicht ähnlich, über das» Vielleicht «nachzugrübeln. Wieder kamen Bolitho bohrende Zweifel. War diese Verantwortung eine zu schwere Bürde für Herrick? Ohne ihn anzusehen, fragte er:»Ihr Erster, Thomas — was wissen Sie von ihm?»
«Mr. Gilchrist?«erwiderte Herrick zurückhaltend.»Sehr tüchtig im Dienst. Bei St. Vincent war er Zweiter auf der Lysander.»
Bolitho biß sich auf die Lippe. Es ärgerte ihn, daß er bereits am zweiten Tag auf See den Mund nicht mehr halten konnte. Mehr noch: er war verletzt und wußte selbst nicht, warum. Thomas Herrick war sein Freund, und in all den Jahren, in denen sie Schulter an Schulter gegen den Tod gekämpft, Fieber und Durst gelitten, Angst und Verzweiflung durchgemacht hatten, wäre eine solche Kluft zwischen ihnen unvorstellbar gewesen.
«Ich habe nicht nach seiner Führung gefragt«, entgegnete er schroffer als beabsichtigt.»Ich will etwas über den Menschen Gil-christ wissen.»
«Kann nicht klagen, Sir. Er ist ein guter Seemann.»
«Und das genügt?»
«Es muß mir genügen, Sir. Sonst weiß ich nichts über ihn«, antwortete Herrick gepreßt.
Bolitho trat vom Poller herunter und zog seine Uhr.»Aha.»
«Sehen Sie, Sir«, sagte Herrick mit einer unsicheren Handbewegung,»die Dinge ändern sich eben. Ich fühle eine solche Distanz zu meinem Schiff und meinen Leuten, als lebte ich auf einer Insel. Immer wenn ich versuche, alles so zu machen wie früher, kommen mir Geschwaderangelegenheiten dazwischen. Meine Offiziere sind fast alle junge Leute; manche haben noch nie einen ernstgemeinten
Kanonenschuß gehört. Pascoe, der jüngste Leutnant an Bord, hat mehr Gefechtserfahrung als alle anderen zusammen. «Herrick sprach jetzt rasch, die Worte flossen unaufhaltsam.»Ich habe ausgezeichnete Deckoffiziere, zum Teil die besten, mit denen ich je gesegelt bin. Aber Sie wissen selbst, wie das ist, Sir: die Befehle müssen vom Achterdeck kommen.»
Bolitho durfte sich nichts anmerken lassen. Wie gern hätte er Herrick beiseite genommen, mit in seine Kajüte, aus dem Bannkreis der neugierigen Augen, ihm gesagt, wie gut er ihn verstand. Aber dann wäre alles genauso geworden wie früher: Bolitho hätte sich wieder mit dem Schiffsalltag und den gedrängt vollen unteren Decks befaßt, und Herrick hätte nur darauf gewartet, seine Gedanken in Handlungen umzusetzen: ganz der ausgezeichnete Untergebene, der er immer gewesen war.
«Ja«, sagte Bolitho endlich,»so soll es auch sein. Das Schiff verläßt sich auf seinen Kommandanten. Und ich auch.»
Herrick seufzte.»Ich mußte das einmal ansprechen.»
«Ich habe Ihre Ernennung zu meinem Flaggkapitän nicht aus alter Freundschaft befürwortet, sondern weil ich glaubte, daß Sie der richtige Mann sind. «Bolitho sah, daß seine Worte Herrick wie ein Schlag ins Gesicht trafen, und fuhr fort:»Und dieser Meinung bin ich immer noch.»
Aus dem Augenwinkel sah er die massige Gestalt des Masters die beflissenen Midshipmen mit ihren Sextanten für das tägliche Ritual der Standortbestimmung um sich versammeln. An der Reling stand Leutnant Fitz-Clarence, Offizier der Wache, und tat ziemlich überzeugend so, als beobachte er aufmerksam die im Großmast arbe i-tenden Matrosen; doch verrieten seine angespannten Schultern, daß er versuchte, der Unterhaltung seiner Vorgesetzten zu lauschen.
«Also wollen wir nicht mehr so düster in die Zukunft sehen, ja? Wenn wir erst Feindberührung bekommen, haben wir Sorgen genug. Daran hat sich bestimmt nichts geändert.»
Herrick trat einen Schritt zurück.»Aye, Sir. «Sein Gesicht war grimmig.»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschte. «Er sah Bolitho nach, der sich zur Kampanjeleiter gewandt hatte, und schloß:»Es wird nicht wieder vorkommen.»
Bolitho schritt zur Heckreling und packte verzweifelt das vergoldete Schnitzwerk. Er konnte versuchen, was er wollte, sie fanden nicht mehr zueinander; die Kluft zwischen ihnen war nicht zu überbrücken.
«An Deck!«hallte der heisere Ruf des Ausgucks, und Bolitho fuhr herum.»Die Harebell signalisiert!»
Bolitho wartete ungeduldig, bis Mr. Fitz-Clarence, Zweiter Offizier der Lysander, aus tiefem Sinnen erwachte und rief:»Mr. Faulkner! In die Wanten mit Ihrem Teleskop! Ich will wissen, was sie meldet, und zwar gleich!»
Der Midshipman der Wache, der eben noch bei den Netzen gedöst hatte, froh darüber, daß er sich Mr. Grubbs tiefschürfende Ausführungen über Navigation nicht mitanhören mußte, rannte zu den Leewanten und enterte rasch zum Großmast auf.
Fitz-Clarence sah ihm nach, Hände in die Hüften gestemmt, als erwarte er jeden Moment, daß der Junge abrutschte und fiel. Anscheinend hatte er eine Vorliebe für eindrucksvolle Posen. Er war ein eifriger, schneidiger Offizier, und was ihm an Körpergröße fehlte, pflegte er durch ständige Betonung seiner Autorität zu ersetzen.
Herrick stand dicht neben ihm, die Hände auf dem Rücken. Bo-litho bemerkte, daß er sie nicht stillhalten konnte, was seine äußerliche Ruhe Lügen strafte.
Endlich kam die schrille Knabenstimme von oben: «Harebell an Flagschiff, Sir: Buzzard im Nordosten gesichtet!»
Bolitho stieß die Hände in die Taschen und griff nach seiner Uhr, um seine plötzliche Erregung zu beherrschen. Kapitän Javal war also auf Gegenkurs gegangen und kam zum Geschwader zurück. Folglich hatte er entweder feindliche Kräfte gesichtet, die für ihn zu stark waren; oder er wollte seinem Kommodore melden, daß der Gegner bereits hinter ihm hersegelte.
Bolitho sah Herrick zur Leiter eilen, und im nächsten Moment stand er neben ihm an der Reling.
«Signal an Geschwader«, sagte Bolitho.»>Zum Flaggschiff auf-schließen!< Und wir kürzen Segel, damit sie es leichter haben.»
Herrick starrte mit seinen klaren blauen Augen nach achtern über die glitzernde See.»Die Osiris kommt bereits auf. Kapitän Farquhar muß Augen haben wie ein Luchs. «Das klang so bitter, daß
Bolitho ihn überrascht und wortlos von der Seite ansah. Er wußte, was Herrick dachte, so genau, als hätte er es herausgeschrien: Wäre Farquhar Bolithos Flaggkapitän gewesen, so hätte es keine Verzögerung gegeben. Ihm hätte der Kommodore nicht erst sagen müssen, was sich von selbst verstand.
Herrick faßte an den Hut und ging wieder zur Leiter. Doch Gil-christ war bereits auf dem Achterdeck, Sprechtrompete in der Hand, und blaffte:»Bootsmannsmaat! Pfeifen Sie >Alle Mann zum Segelkürzen!< Den letzten, der oben ist, schreiben Sie auf!»
Dann wandte er sich zu Herrick um.»Lagebesprechung, Sir?«Es klang irgendwie herausfordernd.
Herrick nickte.»Aye, Mr. Gilchrist. «Und nach kurzem Zögern:»Geben Sie Signal: >Kommandanten an Bord
Bolitho wandte den Blick ab. Herrick hätte Gilchrist zurechtstauchen sollen, um ihm seine Arroganz ein für allemal auszutreiben.
Eilig rannten die Matrosen von ihren Arbeiten an und unter Deck herbei und sahen sich kaum an, während sie auf ihre Stationen rannten. Bolitho sah Pascoe, der sich im Laufen den Rock zuknöpfte, aufs Achterdeck eilen und vor Gilchrist den Hut lüften. Dieser wies ihn an:»Seien Sie schärfer zu Ihren Leuten, Mr. Pascoe!»
Pascoe sah ihn fragend an, seine Augen glitzerten im Sonnenlicht. Schließlich nickte er.»Jawohl, Mr. Gilchrist, das will ich sein.»
«Das bitte ich mir auch aus, zum Donnerwetter!«sagte Gilchrist so laut, daß mehrere Matrosen stehenblieben und hinaufschauten.»Auf meinem Schiff gibt es keine Günstlinge!»
Pascoe blickte kurz zur Kampanje hinauf, wo Bolitho noch stand, und drehte sich dann auf dem Absatz um; seine Leute scharten sich um Pascoe wie ein Schutzwall. Bolitho sah sich nach Herrick um, doch der stand an der Luvseite, weit entfernt von allem.
Es dauerte eine Weile, bis die Spannung aus Bolitho wich. Gil-christ zeigte seine Absichten offen, aber zu früh. Er hatte seine Erwartung klar zum Ausdruck gebracht, daß der Kommodore die Autorität eines vorgesetzten Offiziers auch gegen den eigenen Neffen unterstützte. Gilchrist war ein bemerkenswerter Mann. In ihm steckte viel mehr, als der arglose Herrick sich träumen ließ. Normalerweise hätte kein Leutnant es gewagt, mit seinem Kommandanten, den er erst kurze Zeit kannte, so zu sprechen, wie Gil-christ vorhin. Und keine noch so wichtige private Beziehung konnte einen Leutnant vor einem Flaggoffizier retten, selbst vor einem Kommodore nicht, wenn der sich entschloß, in eigener Sache aufzutrumpfen. Bolitho war noch nie mit Gilchrist gefahren. Der Erste Offizier der Lysander wußte andererseits eine ganze Menge über seinen Kommodore. Offenbar auch genug, um davon überzeugt zu sein, daß Bolitho nie einen Verwandten oder persönlichen Freund begünstigen würde. Doch warum ließ er sich das alles anmerken?
Bolitho schritt zur anderen Seite des Decks und spürte eine Hitzewelle im Gesicht, als das Großsegel aufgegeit wurde und die Sonne sich wie eine erstickende Faust auf die Decksplanken senkte.
Was gab Gilchrist so viel Selbstvertrauen? Er schaute nach den beiden anderen Zweideckern aus, die in ungerader Formation, aber unaufhaltsam aufschlossen. Farquhar vielleicht? War der so wild auf die Beförderung zum Flaggkapitän, daß er sich einen Verbündeten gewonnen hatte? Farquhar besaß bestimmt Verbindungen und auch Geld genug, um einen Mann in Versuchung zu führen. Oder war es Probyn? Unwahrscheinlich. Danach sah Probyn nicht aus. Der konnte von Glück sagen, daß er überhaupt ein Schiff in diesem Geschwader bekommen hatte, und würde sich schwer hüten, mit einer Intrige seinen guten Namen zu riskieren. Herrick? Ausgeschlossen.
Allday erschien auf der Kampanje und tippte grüßend mit den Handknöcheln an die Stirn.»Es dauert mindestens noch eine Stunde, bis Buzzard beim Geschwader ist, Sir. «Bedeutsam blickte er zum offenen Skylight.»Ihr Steward hat Wein in der Bilge kalt gestellt.»
Bolitho hörte ihn kaum.»Hoffentlich bringt Javal gute Nachrichten.»
Allday musterte ihn betroffen. Es sah dem Kommodore gar nicht ähnlich, seine Gedanken so offen auszusprechen; also mußte er Sorgen haben. Der Grund dafür konnte Alldays Überzeugung nach keinesfalls beim Geschwader liegen, denn in seinen Augen war Bolitho beinahe allmächtig. Auch an dieser schwarzhäutigen Catherine Pareja in London konnte es nicht liegen. Es hatte zwar allerhand Gerede gegeben, aber das war vermutlich nur blasser Neid.
Sie war ja weiß Gott eine gutaussehende Frau und kümmerte sich einen Schmarren um das Gerede der Leute. Und eins stand fest: daß Bolitho seine letzte Verwundung überstanden hatte, war ihr Verdienst. Doch diese Affäre war aus und vorbei. Die beiden würden sich kaum wiedersehen.
Also woran lag es sonst? An Leutnant Pascoe? Allday grinste. Ein munterer junger Teufel. Seinem Onkel sehr ähnlich und auch manchem der Porträts, die Allday in dem alten Hause in Falmouth gesehen hatte.
Er fuhr zusammen, denn Bolitho sagte scharf:»Der Wein wird kochend heiß sein, bis Sie sich entschlossen haben, den Niedergang freizugeben!»
Etwas erleichtert trat Allday beiseite. Er wartete, bis er durch das offene Skylight hörte, wie Bolitho mit Ozzard, dem Kajütsteward, sprach, und schlenderte zum Achterdeck, wo die Wache nach dem Segeltrimmen dabei war, die Fallen und Brassen zu belegen.
Pascoe sah auf, als Allday vorbeiging.»Sie machen ja ein Gesicht wie ein Hund mit zwei Schwänzen.»
«Aber, Mr. Pascoe«, grinste Allday,»das ist unfair von Ihnen, daß Sie sich über einen armen Seeman amüsieren.»
Pascoe schüttelte den Kopf.»Über Sie amüsieren? An dem Tag, wenn das einer schafft, wird Bonaparte König von England!»
Gilchrists Schatten fiel zwischen sie.»Ich glaube, Mr. Pascoe«, sagte er von oben herab,»Sie haben Extradienst vom Kommandanten?»
«Jawohl, Sir. «Pascoes Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos.
«Dann sein Sie so gut und machen Sie Ihren Dienst, Mr. Pascoe«, sagte Gilchrist mit einem Blick auf Allday,»und vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit dem Bootsführer des Kommodore. «Er tippte mit dem Fuß aufs Deck.»Ein guter Seemann, zweifelsohne, aber kaum der richtige Umgang für einen Offizier des Königs, eh?»
Allday bemerkte den plötzlich in den Augen Pascoes aufblitzenden Zorn und sagte hastig:»Meine Schuld, Sir.»
Gilchrist verzog ein wenig den Mund.»In der Tat. Ich kann mich nicht erinnern, einen gewöhnlichen Matrosen um seine Meinung gebeten zu haben. Ich bin nicht gewohnt, meine Zeit zu verschwenden an — »
Sie fuhren herum, denn Bolitho stand neben dem Steuerrad.
«In diesem Falle, Mr. Gilchrist«, sagte er schroff,»wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie einen Blick auf die Luvbrassen werfen würden, statt Ihre Zeit mit eitlem Geschwätz zu — wie sagten Sie doch? — zu verschwenden!»
Gilchrist schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land.»Sofort, Sir«, sagte er schließlich.
Herrick erschien an der Reling.»Ist etwas nicht in Ordnung,
Sir?»
Böse sah Bolitho an ihnen vorbei.»Sehr richtig, Captain. Etwas ist sogar ganz erheblich in Unordnung. Und wenn ich erst herausbekommen habe, was, dann wird es mir eine Freude sein, es Sie wissen zu lassen. Sie alle!«schloß er mit einem wütenden Blick auf Gilchrist.
«Zeigen Sie es mir noch mal auf der Karte!»
Javal beugte sich über das Blatt, Bolitho stand neben ihm, stumm warteten die anderen Kommandanten und glichen mit den Knien die Bewegungen der Lysander aus, die beigedreht in den Wellen dümpelte.
«Habe sie im ersten Frühlicht gesichtet, Sir«, erläuterte Javal, und seine gebräunten Finger umschlossen die spanische Küstenlinie, als wollte er einfangen, was er gesehen hatte.»Kleines Fahrzeug, ein Schoner höchstwahrscheinlich. «Gelassen blickte er Bo-litho an; in seinen fettigen Haaren hingen noch Sprühwassertropfen, denn er hatte sich in höchster Eile zum Flaggschiff rudern lassen.»Ich nehme an, ihr Kapitän hat die Buzzard gesichtet und entschieden, daß Vorsicht besser sei als Tapferkeit.»
Farquhar versuchte nicht erst, seine Enttäuschung zu verbergen.»Ein Schoner, sagten Sie? Verdammt, Javal, und wegen so eines Spielzeugs kommen Sie zum Geschwader zurück? Das ist aber übertrieben, finde ich!»
Javal ignorierte ihn und sah Bolitho unverwandt aus dunklen Augen an.»Ich habe gute Männer im Ausguck. Ich belohne sie aus eigener Tasche, wenn sie aufpassen. Das scheint mir nützlicher, als sie wegen Unachtsamkeit auspeitschen zu lassen. «Flogen seine Augen dabei zum Kommandanten der Osiris!
«Wie manche andere Leute das tun.»
Herrick trat dazwischen, unreinen etwa aufflammenden Streit im Keim zu ersticken.»Dann berichten Sie, aber schnell, Javal. Mein Master meint, es wird gleich Wind aufkommen, und ich habe wenig Platz für Passagiere. Und schon gar nicht für Kommandanten unseres Geschwaders.»
Javal zeigte grinsend die Zähne; wie der ganze Mann waren sie dunkel und scharf.»Sie lief vorm Wind und hatte alle Segel gesetzt. Und trotzdem machte sie verdammt wenig Fahrt. «Er sah Bolitho an.»Ist doch seltsam bei einem Mittelmeer-Schoner, würde ich meinen, Sir?»
Bolitho beugte sich über die Karte und dachte über Javals Bericht nach. Da die Buzzard und die Harebell bisher ständig in Luv des Geschwaders rekognosziert hatten, hätten sie den Schoner kaum übersehen, wenn er sie längs der Küste überholt hatte.
Eben tippte Javals starker Finger auf einen Punkt der Karte. Wie im Selbstgespräch sagte Bolitho:»Sie meinen, daß der Schoner aus Malaga kommt?»
Javal nickte.»Ich bin fast sicher, Sir. Mit Ostkurs. Meiner Meinung nach wird er hier vor Anker bleiben — «, er tippte wieder auf die Karte — ,»bis es dunkel wird oder er glaubt, freie Bahn zu haben.»
Rasch trat Bolitho an die Heckfenster und sah zu, wie die Bö langsam über das blaue Wasser heranstrich. Grubb hatte recht — der Wind frischte wieder auf.
«Verdammter Schoner!«sagte Probyn mit seiner dumpfen Stimme.»Er kann alles mögliche sein — oder überhaupt nichts. Far-quhar hat recht, es war sinnlos, daß…»
Er fuhr herum, denn auf einmal stand Farquhar neben Bolitho, das gutgeschnittene Gesicht voller Eifer.
«Ich glaube, es hat doch einen Sinn. «Forschend sah er Bolitho von der Seite an.»Die Dons[7] haben doch ein Arsenal in Malaga? Und eine große Kanonengießerei?»
Bolitho lächelte flüchtig.»Ja. Ich kann mich irren, ebenso wie Captain Javals Ausguck: Aber ein Küstenschoner macht rasche Fahrt — es sei denn, er hat sehr schwer geladen.»
Er trat wieder an den Tisch, und die anderen drängten sich um ihn.»Die Dons werden ihren Verbündeten beweisen wollen, daß sie ihnen bei jeder Aktion gegen uns wertvolle Hilfe leisten können. Bonaparte braucht Waffen aller Art; und in den Gewässern um Malaga können nur kleine Schiffe zum Transport dieser Waffen eingesetzt werden. «Er richtete sich auf; die verletzte Schulter schmerzte unter der Uniform wie eine Brandwunde.»Es ist ein bescheidener Anfang, aber er kommt schneller, als ich dachte. Wir werden uns in der Dämmerung der Küste nähern und den Schoner nehmen. Wenn wir Glück haben, bringt uns das wertvolle Informationen ein. Mindestens aber ein weiteres Schiff für das Geschwader. «Er konnte ein Lächeln der Erregung nicht unterdrücken. Die Neuigkeit war wie Medizin.»Hat jemand einen Einwand?»
Probyn schüttelte den Kopf, immer noch verwirrt und nachdenklich über Farquhars Meinungsumschwung.
«Ich weiß, in welcher Bucht er ankert«, sagte Javal nachdenklich.»Wenn es dunkel ist, können wir ihn ohne allzugroße Schwierigkeiten kapern.»
Bolitho spürte, daß sie gespannt auf sein nächstes Wort warteten.»Sie übernehmen das, Captain Javal. Ich lasse der Harebell signalisieren, daß sie die Vorhut übernimmt, bis die Sache erledigt ist. «Er sah Herrick an.»Ich werde mit einer Anzahl unserer Leute auf die Buzzard umsteigen, sagen wir, mit zwanzig zuverlässigen Matrosen. Keine Seesoldaten — Stiefel und Musketen können wir dabei nicht gebrauchen. Mr. Javal, Sie sind doch damit einverstanden?»
Javal grinste wölfisch.»Aber gern!»
«Und das Geschwader, Sir?«fragte Herrick.
«Ich gebe Ihnen noch detaillierte Anweisungen. «Absichtlich wandte er sich damit nur an Herrick und zeigte damit Probyn und Farquhar, wem sein Vertrauen in erster Linie galt.»Sie können morgen näher unter Land gehen, wenn Sie es für richtig halten. Wenn nicht, werden wir einen Treffpunkt festlegen, der in Captain Javals Angriffsplan paßt.»
Mit einem raschen Blick musterte er ihre Gesichter. Farquhar: kalt und ausdruckslos; aber die nervös auf die Tischplatte klopfenden Finger verrieten seine wahren Gefühle. Vermutlich dachte er, daß er den Auftrag besser hätte ausführen können als Javal. Und besser auch als Herrick. Probyn, auf dessen schwammigem Gesicht der Zweifel stand, beobachtete Javal, als wolle er etwas entdecken. Vielleicht dachte er auch an das Prisengeld für Javal, wenn dieser den Schoner kaperte; passierte ihm dagegen etwas, dann würde sein Anteil dem Geschwader zufallen.
Und Herrick? Dem gelang es nie, seine Bedenken zu verbergen. Sorgenvoll studierte er die Karte, die Brauen so stark zusammengezogen, daß seine Augen beinahe verschwanden; er sah vielleicht das ganze Unternehmen schon in Blut und Unheil enden.
Aber Javal hatte solche Bedenken nicht.»Dann schlage ich vor, wir fangen gleich an, Sir, sonst ist der Vogel ausgeflogen«, sagte er händereibend. Falls es ihm nicht paßt, daß sein Kommodore mitkommt, dachte Bolitho, dann verbirgt er das ausgezeichnet.
«Ja«, antwortete er,»gehen Sie wieder auf Ihre Schiffe, Gentle-men. Mein Flaggkapitän signalisiert Ihnen die endgültigen Befehle. «Er senkte die Stimme.»Eins möchte ich klarstellen: das Geschwader wirkt zusammen. Ich wünsche nicht, daß sich jemand auf tollkühne Einzelaktionen einläßt; aber ich wünsche auch kein Zögern, wenn die Gelegenheit günstig ist.»
Während sie hinauseilten, wies er Herrick eindringlich an:»Geben Sie es durch, Thomas: zwanzig Freiwillige und ein Boot für mein Übersetzen auf die Buzzard, so schnell wie möglich. Lassen Sie Allday das machen, wenn Sie wollen. «Er sah auf: Herrick zog immer noch ein verzweifeltes Gesicht.»Nun?»
«Müssen Sie unbedingt mit, Sir? Lassen Sie doch mich die Sache übernehmen.»
Bolitho sah ihn forschend an. Herrick hatte wohl mehr Angst davor, das Geschwader befehligen zu müssen, als vor der Aktion, ja sogar vor der Todesgefahr.
«Nein. Javal ist ein harter Mann. Und zwei Kommandanten auf einem Schiff — das tut nie gut. Unbesorgt, alter Freund, ich habe nicht die Absicht, mich umbringen zu lassen oder in einem spanischen Gefängnis zu verfaulen. Aber wir müssen einen Anfang machen. Müssen unseren Leuten zeigen, daß wir nicht nur den täglichen Dienstbetrieb, sondern auch einen Sondereinsatz kommandieren können.»
Impulsiv faßte er Herricks Arm; der war starr wie ein Teakholzbrett.»Dies gilt für uns beide, das wissen Sie doch auch.»
Herrick seufzte tief auf.»Ich sage mir immer wieder, daß ich mich über Ihre Einfälle nicht wundern darf. Seit ich mich erinnern kann. «Er schüttelte den Kopf.»Ich gebe Allday sofort Bescheid. «Er wandte sich rasch um, und seine plötzliche Entschlossenheit wirkte beinahe rührend.»Aber ich werde sehr froh sein, wenn Sie wieder an Bord sind.»
Lächelnd ging Bolitho in seine Schlafkajüte und suchte dort in der großen Seekiste nach seinen Pistolen. Als er vor dem offenen Deckel kniete, holte das Schiff stark über; das scharfe Klappern von Blöcken und Taljen verriet, daß der Wind auffrischte. Er schaute auf und sah sich in dem kleinen Wandspiegel — rebellisch hing die schwarze Haarsträhne übers rechte Auge, wo die alte Narbe war. Und der dumpfe Schmerz in der rechten Schulter wurde auf einmal stechend. Es war tatsächlich, als solle er daran erinnert werden, was im Bruchteil einer Sekunde passieren konnte; an den kleinen Schritt zwischen dem Leben und dem Nichts.
Klirrend trat Allday in die Kajüte nebenan; der Griff des Entersäbels glitzerte unter seinem blauen Jackett. Er nahm bereits Boli-thos Degen vom Gestell.»Division angetreten, Sir«, grinste er.»Lauter alte Kämpfer. Hab sie selbst ausgesucht.»
Bolitho ließ sich den Degen umschnallen.»Keine Freiwilligen?«fragte er milde erstaunt.
Allday grinste nur um so breiter.»Aber natürlich, Sir. Hab ihnen nur vorher kurz meinen Standpunkt klargemacht, sozusagen.»
Bolitho schüttelte den Kopf und ging hinaus, ohne sich umzusehen.
Ein Kutter dümpelte bereits unter den Großrüsten, auf seinen Bänken drängten sich die ausgesuchten Matrosen mit ihren Waffen zwischen die Rudergasten.
Bolitho sah sich auf dem Achterdeck um, wo die Männer an den Brassen und oben auf den Rahen Vorbereitungen trafen, um sofort mehr Segel zu setzen, sobald der Kutter zurückkehrte.
Herrick stand bei der Ehrenwache an der Fallreepspforte. Er sah wieder ganz gelassen aus.
Bolitho wollte ihm noch etwas Tröstliches sagen, etwa daß er gut auf die Lysander aufpassen solle, bis er wieder zurück sei. Aber die Lysander war Herricks Schiff, nicht seins.
Also sagte er nur leichthin:»Bis bald, Captain Herrick. «Dann kletterte er durch die Pforte in das wartende Boot hinunter. Als er in der Flicht saß und wieder bei Atem war, hatte der Kutter schon abgelegt, die Riemen hatten ihren Takt gefunden und zogen gleichmäßig durch die kabbelige See.
Da erst bemerkte Bolitho, daß Pascoe ebenfalls im Boot saß. Seine dunklen Augen blitzten vor Erregung, und er winkte jemandem an Bord zu.
Wütend flüsterte Allday ihm ins Ohr:»Ich wußte, daß Sie ihn zurücklassen wollten, Sir. Hat ja keinen Sinn, alle Eier in einen Korb zu tun, sozusagen. «Er wandte sich um, so daß die Rudergasten sein Gesicht nicht sehen konnten.»Aber Mr. Gilchrist hat ihn eingeteilt.»
Bolitho nickte. Wenn er noch irgendwelche Zweifel über He r-ricks Ersten Offizier gehabt hatte — jetzt nicht mehr. Dadurch, daß er Pascoe zu dieser Aktion einteilte, hatte er zweierlei erreicht. Erstens konnte er behaupten, daß Bolitho seinen Neffen mitgenommen hätte, wäre eine Bevorzugung. Er würde seinen vollen Anteil am Ruhm ernten, wenn alles klappte. Und wenn nicht? Er sah den Jungen an. So aufgeregt war er selbst oft gewesen mit achtzehn Jahren. Wenn es aber nicht klappte, dann würde sich Alldays Kommentar als nur allzu treffend erweisen.
Er starrte über Pascoes Schulter auf die Fregatte, deren Maststengen im Winde kreisten.
«Bei Gott«, sagte Pascoe munter,»so ein Schiff wie die Buzzard möchte ich auch kommandieren!«Er sah Bolithos Miene und fügte hinzu:»Eines Tages, meine ich.»
«Wir wollen erst mal diese Sache hier erledigen, Mr. Pascoe«, erwiderte Bolitho;»aber ich kann Ihre Gefühle verstehen.»
Allday betastete seinen Entersäbel und blickte von einem zum anderen. Jetzt mußte er also auf zwei aufpassen. Und wenn einem der beiden etwas zustieß, dann würde er mit diesem verdammten Leutnant Gilchrist abrechnen, ganz egal, was daraus wurde.
Der letzte Matrose war kaum an Bord der Buzzard, da schrie Javal auch schon:»Aufentern und Segel setzen! Los, Mr. Mears, wir haben noch eine lange Fahrt vor uns, ehe es Nacht wird!»
Er sah Bolitho an und lüftete den Hut.»Herzlich willkommen an Bord, Sir. Ich fürchte nur, Sie werden mein Quartier ein bißchen eng finden.»
Bolitho erwiderte sein Lächeln und sagte gleichmütig:»Ich habe seinerzeit dreimal solche Schiffe kommandiert, Captain Javal; aber trotzdem vielen Dank für die Erinnerung.»
Pascoe stieß Allday in die Rippen.»Dem hat's mein Onkel aber gegeben, was?«murmelte er.
Allday grinste, auf einmal wieder erleichtert.»Da haben Sie bestimmt recht, Mr. Pascoe!»