9

»Da war ein Anruf für Sie«, meldete Hercule Poirots Diener George. »Von Mrs. Oliver.« »Danke, George. Und was hat sie gesagt?«

»Sie fragte, ob sie heute abend nach dem Essen kommen kann.«

»Das wäre großartig«, rief Poirot. »Ganz großartig. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir, Mrs. Olivers Besuch wird eine Erholung sein. Sie ist so amüsant und sagt die unglaublichsten Dinge. Hat sie die Elefanten erwähnt?«

»Elefanten, Sir? Nein, ich glaube nicht.«

»Aha. Das bedeutet sicher, daß die Elefanten ein Reinfall waren.«

George sah seinen Herrn zweifelnd an. Es gab Zeiten, da begriff er die Bedeutung seiner Bemerkungen nicht ganz.

»Wir rufen zurück!« sagte Poirot. »Ich bin entzückt, sie zu sehen.«

George verschwand und kehrte kurz darauf zurück, um zu sagen, daß Mrs. Oliver gegen Viertel vor neun Uhr erscheinen würde.

»Kaffee«, meinte Poirot. »Es gibt Kaffee und Petits fours. Ich habe mir kürzlich welche von Fortnum and Mason schicken lassen.«

»Likör, Sir?«

»Nein, ich glaube nicht. Ich selbst trinke einen Sirop de Cassis.«

Mrs. Oliver war pünktlich. Poirot begrüßte sie hocherfreut. »Wie geht es Ihnen, chere Madame?«

»Ich bin erschöpft«, erwiderte Mrs. Oliver und sank in den angebotenen Lehnsessel. »Vollkommen erschöpft.«

»Ah! Qui va ä la chasse ... hm, ich kann mich an das Sprichwort nicht mehr erinnern.«

»Aber ich«, erklärte Mrs. Oliver. »Ich hab's als Kind gelernt: Qui va ä la chasse, perd sa place.«

»Das trifft aber sicher auf Ihre Jagd nicht zu. Ich meine Ihre Elefantenjagd, falls das nicht nur so eine Redensart war.« »Absolut nicht«, antwortete Mrs. Oliver. »Ich habe wie eine Verrückte Elefanten gejagt, überall. Das viele Benzin, das ich verfahren habe, die Züge, in denen ich gesessen bin, die vielen Briefe, die ich schrieb, die Telegramme! Sie glauben nicht, wie anstrengend so eine Sache ist.«

»Dann ruhen Sie sich aus. Trinken Sie einen Kaffee.«

»Schönen, starken schwarzen Kaffee - danke, gern. Genau, was ich brauche.«

»Haben Sie Erfolg gehabt, wenn man fragen darf?«

»Eine Menge«, erwiderte Mrs. Oliver. »Die Frage ist nur, ob es etwas taugt.«

»Sie haben Tatsachen herausgekriegt?«

»Nein. Eigentlich nicht. Ich habe von Dingen gehört, die mir die Leute als Tatsachen erzählten, aber ich bezweifle sehr, ob es alles wirklich Tatsachen sind.« »Also alles nur vom Hörensagen?«

»Nein. Es kam, wie ich vermutet hatte. Es waren Erinnerungen. Ein Haufen Leute, die sich erinnerten. Die Sache ist nur die, daß man sich, wenn man sich erinnert, nicht immer richtig erinnert, nicht wahr?«

»Ja. Aber man könnte es doch immerhin als einen Erfolg bezeichnen, meinen Sie nicht?«

»Und was haben Sie gemacht?« fragte Mrs. Oliver.

»Sie sind immer so direkt, Madame«, antwortete Poirot. »Sie verlangen von mir, daß ich herumrenne und was unternehme.«

»Also, sind Sie herumgerannt?«

»Nein, aber ich hatte Besprechungen mit ein paar Kollegen.«

»Das klingt viel friedlicher als meine Abenteuer«, sagte Mrs. Oliver. »Ach, ist der Kaffee gut. Schön stark. Sie glauben nicht, wie müde ich bin. Und wie durcheinander.«

»Na, na. Wir wollen das Beste hoffen. Sie haben etwas erreicht. Ich bin überzeugt.«

»Ich habe einen Haufen Meinungen und Geschichten gehört. Ich weiß nicht, ob was Wahres dran ist.«

»Vielleicht sind sie nicht wahr, aber nützlich«, bemerkte Poirot.

»Ich weiß schon, was Sie meinen«, antwortete Mrs. Oliver. »Ich glaube das auch. Aber wenn Leute von der Vergangenheit erzählen, dann berichten sie oft nicht, was wirklich passiert ist, sondern bilden sich nur ein, daß es so passiert ist.«

»Aber sie müssen doch etwas haben, wovon sie ausgehen«, erklärte Poirot.

»Ich hab' Ihnen eine Liste gemacht«, sagte Mrs. Oliver. »Ich brauche nicht ins Detail zu gehen, wo ich überall war oder was ich wen fragte; ich war auf Informationen scharf, die man vielleicht nicht von jedem Beliebigen bekommt. Sie stammen alle von Leuten, die über die Ravenscrofts etwas Bescheid wußten, auch wenn sie sie persönlich nicht sehr gut kannten.« »Informationen aus fremden Ländern, meinen Sie?«

»Ziemlich viele. Und von Leuten, die die Ravenscrofts hier oberflächlich kannten oder deren Tanten, Vettern oder Freunde sie vor langer Zeit gekannt hatten.«

»Und jeder, dessen Namen Sie notierten, hatte etwas zu berichten, das sich auf die Tragödie oder die daran Beteiligten bezog.«

»So ist es«, sagte Mrs. Oliver. »Soll ich's Ihnen kurz erzählen?«

»Ja. Nehmen Sie doch von den Petits fours.«

»Danke.« Mrs. Oliver nahm ein besonders süß und gallenfeindlich aussehendes Stück und kaute energisch. »Süßigkeiten«, sagte sie, »geben einem eine Menge Kraft und Vitalität, finde ich. Tja, also, ich habe folgende Anhaltspunkte ... Die Leute fingen ihre Erzählung gewöhnlich immer an mit einem >O ja, natürlich !< oder >Wie traurig das war, die ganze Geschichte!< oder >Natürlich, alle wissen doch, was passiert ist!< So ähnlich begann es jedesmal.«

»Ja.«

»Also: Die Leute glauben alle zu wissen, was geschah. Aber einen wirklich triftigen Grund haben sie dafür nicht. Jemand hat ihnen etwas erzählt, Freunde oder das Personal oder so. Natürlich waren alle Hinweise so, daß sie zutreffen konnten. General Ravenscroft soll seine Memoiren über seine Zeit in Indien geschrieben und eine junge Frau als Sekretärin eingestellt haben, der er diktierte. Sie war hübsch, zwischen ihnen soll etwas gewesen sein. Man glaubt, daß er seine Frau erschoß, weil er dieses Mädchen heiraten wollte, und danach so entsetzt über seine Tat war, daß er sich selbst umbrachte ... « »Also«, warf Poirot ein, »eine romantische Erklärung.« »Andererseits wohnte ein Privatlehrer im Haus, der dem Jungen, der krank gewesen und sechs Monate der Schule ferngeblieben war, Unterricht erteilte - ein gutaussehender junger Mann.«

»Aha. Und die Frau verliebte sich in den jungen Mann und hatte eine Affäre mit ihm?«

»Auch das vermutete man«, antwortete Mrs. Oliver. »Wieder keine Beweise. Nur romantische Ideen.« »Und?«

»Deshalb soll nun der General seine Frau erschossen und dann - auch wieder in einem Anfall von Reue - sich selbst umgebracht haben. Doch da gibt's noch eine Geschichte: Der General hatte eine Affäre, seine Frau fand's raus und erschoß ihn und dann sich selbst. Alles in allem weiß niemand was Genaues. Jede Geschichte könnte wahr sein, nichts Definitives oder irgendeinen Beweis. Einfach Klatsch, den man sich damals, vor zwölf oder dreizehn Jahren, erzählte. Heute ist er fast vergessen. Aber die Leute erinnern sich doch noch etwas - an ein paar Namen - und bringen die Dinge nur mäßig durcheinander. Da war ein Gärtner und eine nette ältere Haushälterin, fast taub, aber niemand glaubt, daß sie etwas damit zu tun hatten. Und so weiter. Ich habe Ihnen alle Möglichkeiten und Namen aufgeschrieben. Alles ist so schwierig. Seine Frau soll eine Zeitlang krank gewesen sein. Die Haare müssen ihr ausgefallen sein, denn sie besaß viele Perücken.«

»Ja, das habe ich auch gehört«, sagte Poirot. »Von wem denn?«

»Von einem Freund bei der Polizei. Er hat die Untersuchungsprotokolle nachgelesen. Es waren vier Perücken! Ich würde gern Ihre Ansicht darüber hören, Madame! Finden Sie nicht, daß vier Perücken ein wenig übertrieben ist?«

»Das finde ich wirklich«, antwortete Mrs. Oliver. »Ich hatte mal eine Tante, die trug eine Perücke. Außerdem besaß sie noch eine extra. Die eine schickte sie immer zum Auffrischen und trug solange die andere. Ich kenne niemand, der vier Perücken hat.«

Mrs. Oliver holte ein kleines Notizbuch aus ihrer Tasche und blätterte suchend darin herum. »Da ist Mrs. Carstairs, siebenundsiebzig und ziemlich gaga. Sie erinnerte sich sehr gut an die Ravenscrofts. >Ein nettes Paar<, sagte sie. >Es war Krebs.< Ich fragte, wer denn Krebs gehabt hätte, aber das hatte sie ganz vergessen. Sie erzählte, Mrs. Ravenscroft hätte in London einen Arzt konsultiert, sie wäre operiert worden und dann sehr elend gewesen. Ihr Mann war beunruhigt, erschoß sie und sich dann auch.«

»Wußte sie denn das genau?«

»Reine Theorie. Soweit ich bei meinen Nachforschungen feststellen konnte«, sagte Mrs. Oliver betont, »denken alle Leute meist an Krebs, wenn irgendwelche Freunde, die man nicht allzugut kennt, plötzlich krank werden oder zum Arzt gehen. Jemand anders - ich kann den Namen hier nicht richtig lesen - meint, daß der Mann Krebs gehabt hätte. Er sei sehr unglücklich gewesen und seine Frau auch. Und sie hätten es gemeinsam besprochen und hätten den Gedanken daran nicht ertragen können und beschlossen, sich umzubringen.« »Traurig und romantisch«, sagte Poirot.

»ja, und sicher stimmt es nicht«, antwortete Mrs. Oliver. »Schlimm, nicht wahr? Ich meine, daß die Leute sich an so vieles erinnern, und dann haben sie das meiste davon erfunden.« »Die Leute ziehen einfach eine Schlußfolgerung«, erwiderte Poirot. »Zum Beispiel: Sie hören, daß jemand nach London gefahren ist, um - sagen wir mal - einen Arzt aufzusuchen, oder daß jemand zwei oder drei Monate im Krankenhaus war. Das ist eine Tatsache.«

»Ja, und wenn sie dann später darauf zu sprechen kommen, haben sie eine Lösung parat, die sie sich selbst zurechtgelegt haben. Das ist nicht gerade hilfreich, oder?«

»Doch«, protestierte Poirot. »Sie hatten recht, wissen Sie, mit dem, was Sie sagten.«

»Ober Elefanten?« fragte Mrs. Oliver zweifelnd.

»Ober Elefanten«, bestätigte Poirot. »Es ist wichtig, bestimmte Tatsachen zu kennen, die sich in der Erinnerung der Leute gehalten haben, wenn sie auch nicht mehr genau wissen, um was es sich eigentlich handelte, warum es geschah oder was die Ursache war. Aber sie könnten doch etwas wissen, was wir nicht wissen und nicht erfahren würden. So haben die Erinnerungen zu Vermutungen geführt - Theorien über Untreue, Krankheit, Doppelselbstmord, Eifersucht. Man könnte natürlich nachforschen, ob sie wirklich zutreffen.« »Die Leute sprechen gern über die ferne Vergangenheit«, meinte Mrs. Oliver. »Viel lieber als über das, was gerade passiert oder was letztes Jahr passiert ist. Es bringt ihnen manches zurück. Natürlich erzählen sie einem zuerst von allen möglichen Leuten, über die man gar nichts wissen will, und dann kriegen Sie zu hören, was diese Leute wieder über andere erfahren haben. Und General und Lady Ravenscroft sind auf einmal ganz vergessen. Aber ich fürchte doch, ich konnte nicht sehr behilflich sein.«

»Glauben Sie das nicht«, rief Poirot. »Ich bin sicher, daß einige der Notizen in Ihrem hübschen kleinen, purpurroten Notizbuch mit der Tragödie wirklich etwas zu tun haben. Ich kann Ihnen sagen, daß meine eigenen Nachforschungen in den offiziellen Untersuchungsprotokollen über diese beiden Todesfälle ergeben haben, daß die Sache nach wie vor ein Geheimnis ist. Jedenfalls in der Sicht der Polizei. Das Eiepaar war sich sehr zugetan; es gab keinen Klatsch oder Gerede über sexuelle Probleme, keine Krankheit, die einen Selbstmord gerechtfertigt hätte. Ich spreche jetzt nur von der Zeit, die der Tragödie unmittelbar voranging. Aber da sind noch die Jahre, die weiter zurückliegen.«

»Ich weiß«, sagte Mrs. Oliver, »darüber habe ich was von meiner alten Kinderfrau gehört. Sie ist jetzt - ich weiß nicht, sie sieht wie hundert aus, aber sicher ist sie nur achtzig. Sie war schon in meiner Kindheit nicht mehr jung. Sie hat mir immer Geschichten erzählt, von Leuten, die im Kolonialdienst waren - in Indien, Ägypten, Siam, Hongkong ... «

»War es interessant?«

»Ja«, antwortete Mrs. Oliver, »sie erzählte von einem tragischen Ereignis. So genau wußte sie nicht mehr, was eigentlich passiert war. Ich bin nicht sicher, ob es sich auf die Ravenscrofts bezog, es könnte auch mit anderen Leuten dort zu tun gehabt haben, sie erinnerte sich nicht genau an die Namen. Es handelte sich um Geisteskrankheit. Irgend jemandes Schwägerin war geisteskrank, entweder die Schwester des Generals oder die Schwester seiner Frau. Sie war jahrelang in einer Heilanstalt. Soviel ich verstand, hat sie ihre Kinder getötet oder versucht, sie zu töten, und dann dachte man, sie wäre geheilt, und sie kam nach Ägypten oder Indien oder wo das war, um bei ihren Verwandten zu leben. Da scheint sich noch eine Tragödie ereignet zu haben, auch im Zusammenhang mit Kindern. Jedenfalls wurde es vertuscht. Aber ich überlege, ob in der Familie von Lady Ravenscroft oder der ihres Mannes jemand geisteskrank gewesen sein könnte. Es braucht ja keine nahe Verwandte, wie zum Beispiel eine Schwester, gewesen zu sein. Vielleicht war es eine Cousine? Aber es schien mir des Nachdenkens wert.«

»ja«, sagte Poirot, »oft schlummert alles Mögliche viele Jahre lang, und plötzlich taucht es aus der Vergangenheit auf und existiert einfach. Wie mal jemand zu mir sagte: Alte Sünden werfen lange Schatten.«

»Nicht, daß es wahrscheinlich ist«, sagte Mrs. Oliver, »daß die gute Mrs. Matcham sich richtig erinnert, aber es könnte zu dem passen, was dieses schreckliche Weib auf dem Literatenessen zu mir sagte . . .«

». . . als sie wissen wollte ... «

»Ja. Als sie mich bat, mein Patenkind zu fragen, ob ihre Mutter ihren Vater oder ihr Vater ihre Mutter tötete.«

»Und sie dachte, das Mädchen müßte etwas wissen?« Poirot runzelte die Stirn.

»Nun, das ist doch sehr wahrscheinlich. Nicht zum Zeitpunkt der Tat - man könnte es ihr verschwiegen haben -, aber sie könnte später Dinge erfahren haben, die ihr verrieten, wie das Leben ihrer Eltern war und wer wen tötete, wenn sie's auch wahrscheinlich niemals erwähnen oder überhaupt darüber sprechen würde.«

»Und Sie meinen, daß diese Mrs.... «

»Ja. - Ich hab' ihren Namen vergessen. Mrs. Burton-Soundso. Sie erzählte mir, daß ihr Sohn eine Freundin hätte und sie heiraten wollten. Ich kann schon verstehen, daß man da wissen möchte, ob der Vater oder die Mutter Kriminelle oder Geisteskranke in der Familie hatte. Wahrscheinlich dachte sie, daß, wenn die Mutter den Vater getötet hatte, es sehr unklug von dem jungen wäre, die Tochter zu heiraten. Wenn dagegen der Vater die Mutter umbrachte, hätte ihr das wohl nicht soviel ausgemacht.«

»Sie meinen, sie glaubte, es würde sich nur in der weiblichen Linie vererben?« »Nun, sie ist nicht gerade der Typ einer besonders klugen Frau. Tyrannisch«, fügte Mrs. Oliver hinzu. »Sie glaubt, eine Menge zu wissen, aber das stimmt nicht. Eine Frau könnte jedoch so denken.«

»Ein interessanter Gesichtspunkt, und sehr gut möglich«, antwortete Poirot. Er seufzte. »Wir haben noch viel zu tun.«

»Ich hab' noch eine andere Ansicht zu dem Fall. Aus zweiter Hand. Sie wissen schon. Jemand sagt )Die Ravenscrofts? War das nicht das Ehepaar, das ein Kind adoptierte? Und dann, als die Sache perfekt war, wollte die richtige Mutter es zurück haben und es kam zu einer Gerichtsverhandlung. Das Gericht sprach ihnen das Sorgerecht für das Kind zu, und die Mutter versuchte, es zu entführen.<«.

»Da gibt es plausiblere Anhaltspunkte«, sagte Poirot, »die sich aus Ihrem Bericht ergeben. Und die mir lieber sind.« »Zum Beispiel?«

»Perücken. Vier Perücken!«

»ja«, sagte Mrs. Oliver, »ich dachte mir schon, daß Sie das interessiert, wenn ich auch nicht weiß, warum. Es scheint keine besondere Bedeutung zu haben. Bei der anderen Geschichte ging es nur um einen Fall von Geisteskrankheit. Es gibt Leute, die in ein Sanatorium oder eine Klapsmühle kommen, weil sie ihre eigenen Kinder oder ein fremdes umgebracht haben, einfach aus Verrücktheit, ohne jeden Grund. Ich kann nicht einsehen, warum das General und Lady Ravenscroft veranlaßt haben sollte, sich umzubringen.«

»Wenn nicht einer von beiden darin verwickelt war«, überlegte Poirot.

»Sie meinen, General Ravenscroft könnte jemanden umgebracht haben - vielleicht ein uneheliches Kind seiner Frau oder von ihm selbst? Oder umgekehrt? Nein, ich finde, wir werden hier ein bißchen zu melodramatisch.«

»Trotzdem«, sagte Poirot. »Die Leute sind für gewöhnlich auch das, was sie zu sein scheinen.«

»Sie meinen ... ?«

»Sie liebten sich doch! Ein Paar, das ohne Streit glücklich zusammen lebte. Es scheint keinen Krankheitsfall gegeben zu haben - außer der angeblichen Operation -, nichts, was auf Krebs oder Leukämie hinweist, keine Sorgen, denen sie vielleicht nicht gewachsen waren. Und doch, irgendwie stoßen wir immer nur auf Dinge, die möglich, nicht aber wahrscheinlich scheinen. Meine Freunde bei der Polizei, die damals die Untersuchungen durchführten, erklären, daß alle Aussagen mit den Tatsachen übereinstimmten. Aus irgendeinem Grund wollten die beiden nicht mehr weiterleben. Warum?«

»Ich kannte mal ein Ehepaar«, sagte Mrs. Oliver, »das beischlossen hatte, sich umzubringen, wenn die Deutschen in England landen würden. Im Zweiten Weltkrieg. Ich fand das sehr dumm. Sie meinten, sie könnten dann unmöglich weiterleben. Ich überlege ... «

»Was überlegen Sie?«

»... ob General und Lady Ravenscrofts Tod etwa irgend jemandem genutzt hat.«

»Weil jemand Geld von ihnen erbte?«

»Nun, vielleicht nicht ganz so kraß. Aber jemand hätte dadurch bessere Chancen im Leben haben können. Vielleicht gab es einen Punkt in ihrem Leben, den ihre Kinder nicht erfahren sollten.«

Poirot seufzte. »Das Schwierige ist«, erklärte er, »Ihnen fällt soviel ein, was sich ereignet haben könnte, was so gewesen sein könnte. Sie bringen mich auf Ideen, auf mögliche Ideen. Wenn sie doch auch wahrscheinlich wären! - Warum? Warum mußten die beiden sterben? Sie hatten keine Schmerzen, sie waren nicht krank, sie waren offenbar nicht unglücklich. Warum machten sie dann eines Abends einen Spaziergang in die Klippen, mit dem Hund ... «

»Was hat denn der Hund damit zu tun?«

»Nun, ich überlege nur. Nahmen sie den Hund mit oder lief er ihnen nach? Wie kommt der Hund ins Spiel?« »Ich glaube, es ist wie mit den Perücken. Einfach noch ein Punkt, den man nicht erklären kann und der keinen Sinn zu haben scheint. Einer meiner Elefanten berichtete, daß der Hund besonders an Lady Ravenscroft hing, aber ein anderer erzählte, daß er sie gebissen hätte.«

»Es läuft immer wieder auf dasselbe hinaus.« Poirot seufzte erneut. »Man möchte mehr wissen. Man möchte mehr über seine Mitmenschen wissen, aber wie kann man das, wenn so viele Jahre dazwischenliegen?«

»Nun, ein- oder zweimal haben Sie's doch geschafft, nicht wahr?« meinte Mrs. Oliver. »Erinnern Sie sich - eine Geschichte mit einem Maler, der erschossen oder vergiftet wurde. Irgendwo am Meer in einer Art Burg oder so was. Sie fanden heraus, wer es getan hatte, obwohl Sie von den Leuten überhaupt niemanden kannten.«

»Stimmt. Ich kannte niemanden, aber ich erfuhr von den Leuten, die dort wohnten, genaue Einzelheiten über sie.«[4]

»Eben das versuche ich ja auch«, antwortete Mrs. Oliver. »Nur komm ich nicht nahe genug ran. Ich kann niemanden finden, der wirklich Bescheid weiß, der dabei war. Meinen Sie wirklich, wir sollten aufgeben?«

»Das wäre wohl das vernünftigste.« Poirot nickte. »Aber es gibt einen Moment, wo man einfach nicht mehr vernünftig sein will. Man will mehr herausfinden. Jetzt interessiert mich dieses Paar, mit den beiden netten, Kindern. Ich nehme doch an, daß es nette Kinder sind?« »Den Jungen kenne ich nicht«, erwiderte Mrs. Oliver. »Ich habe ihn nie gesehen. Möchten Sie meine Patentochter kennenlernen? Ich könnte sie bitten, Sie zu besuchen, wenn Sie wollen.« »Ja, das wäre nett. Vielleicht möchte sie nicht gern hierherkommen, wir könnten uns auch woanders treffen. Und noch jemanden würde ich gern sehen.«

»Wen denn?«

»Die Frau von der Party. Das tyrannische Weib. Ihre tyrannische Freundin.«

»Sie ist nicht meine Freundin«, protestierte Mrs. Oliver. »Sie kam einfach und sprach mich an, das ist alles.«

»Könnten Sie die Bekanntschaft mit ihr wieder aufnehmen?« »Aber ja, ganz leicht. Sicher ist sie geradezu erpicht darauf.« »Ich möchte zu gern herausbringen, warum sie es so genau wissen will.«

»Ja. Das könnte nützlich sein. Jedenfalls -« Mrs. Oliver seufzte, »ich werde froh sein, mich von den Elefanten einmal erholen zu können. Nanny - Sie wissen schon, die alte Kinderfrau, von der ich erzählte -, Nanny sprach von Elefanten, weil Elefanten nicht vergessen. Dieser alberne Satz verfolgt mich allmählich. Na ja, jetzt sind Sie dran, nach neuen Elefanten zu suchen.«

»Und was ist mit Ihnen?«

»Vielleicht suche ich nach Schwänen.«

»Mon dieu. Wo kommen jetzt Schwäne ins Spiel?«

»Nur eine Erinnerung. Das Kindermädchen rief es mir wieder ins Gedächtnis. Als Kind spielte ich immer mit zwei kleinen jungen, der eine nannte mich Lady Elefant und der andere Lady Schwan. Wenn ich Lady Schwan war, tat ich, als könne ich auf dem Teppich schwimmen. Wenn ich Lady Elefant spielte, ritten sie auf mir. Hier in dieser Geschichte gibt es keine Schwäne.«

»Das ist auch gut so«, stellte Poirot fest. »Elefanten reichen vollständig.«

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