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Hercule Poirot stieg aus dem Taxi, zahlte und gab dem Fahrer ein Trinkgeld. Er überzeugte sich, daß die Adresse mit der in seinem kleinen Notizbuch übereinstimmte, holte vorsichtig den an Dr. Willoughby adressierten Brief aus seiner Jackentasche, stieg die Stufen zur Haustür hinauf und läutete. Ein Diener öffnete. Poirot nannte seinen Namen. Dr. Willoughby erwartete ihn bereits.

Der Diener führte Poirot in ein kleines, gemütliches Zimmer, mit Bücherregalen an einer Wand und zwei Armsesseln vor dem Kamin. Auf einem Tischchen standen ein Tablett mit Gläsern und zwei Karaffen. Dr. Willoughby erhob sich, um Poirot zu begrüßen. Er war zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt, groß und schlank, und hatte eine hohe Stirn, dunkle Haare und durchdringende, graue Augen. Er schüttelte Poirot die Hand und bat ihn, Platz zu nehmen. Poirot reichte Dr. Willoughby den Brief.

Der Arzt öffnete ihn, las ihn, legte ihn auf das Tischchen und sah Poirot interessiert an.

»Ich habe schon Näheres gehört«, sagte er, »von Chefsuperintendent Garroway und von einem Freund im Innenministerium, der mich ebenfalls bat, Ihnen in der Sache behilflich zu sein.«

»Ich weiß, daß ich sehr viel von Ihnen verlange«, sagte Poirot »aber es gibt gewichtige Gründe dafür.«

»Noch nach so vielen Jahren?«

»Ja. Natürlich kann ich sehr gut verstehen, wenn Sie sich an diese bestimmte Geschichte nicht mehr genau erinnern.«

»Ich glaube, doch. Ich bin, wie Sie vielleicht gehört haben, an ganz bestimmten Aspekten meines Berufs interessiert, und zwar schon seit vielen Jahren.«

»Ihr Vater war eine Kapazität auf dem Gebiet.«

»Ja, sein Beruf war seine Leidenschaft. Er hatte eine Menge Theorien, einige bestätigten sich glänzend, andere enttäuschten. Sie sind also nur an einem bestimmten Fall von Geisteskrankheit interessiert?«

»Ja, an Dorothea Preston-Grey.«

»Ich war damals noch ein junger Mann, aber schon sehr mit den Arbeiten meines Vaters vertraut. Allerdings, meine und seine Theorien deckten sich nicht immer. Ich verstehe nicht, was Ihnen an dem Fall Dorothea Preston-Grey oder Mrs. Jarrow, wie sie nach ihrer Verehelichung hieß, so besonders wichtig ist.«

»Sie ist ein Zwilling.«

»Allerdings. Das war damals gerade das spezielle Studiengebiet meines Vaters. Er hatte den Plan, das Leben von eineiigen Zwillingen zu beobachten, die entweder in gleicher Umgebung aufwuchsen oder dank besonderer Umstände in völlig verschiedener. Er wollte prüfen, inwieweit sie sich ähnlich blieben und ob sich ihr Lebenslauf glich. Zwei Brüder, die fast ihr ganzes Leben getrennt voneinander verbracht hatten, und doch schienen zur selben Zeit dieselben Dinge zu passieren ... außerordentlich aufschlußreich. Aber dieser Aspekt interessiert Sie nicht, soviel ich weiß.«

»Nein«, sagte Poirot, »mir geht es bei dieser Sache um einen anderen Punkt ... um den Unfall eines Kindes.«

»Es passierte in Surrey. Eine sehr hübsche Gegend. Mrs. Jarrow war gerade verwitwet und hatte zwei kleine Kinder. Ihr Gatte verunglückte tödlich. Als Folge davon war sie ... « »Geistig gestört?« fragte Poirot.

»Nein, das glaubte man nicht. Durch den Tod ihres Mannes hatte sie einen schweren Schock, sie litt sehr unter dem Verlust und erholte sich nach Ansicht ihres Hausarztes nicht zufriedenstellend. Er war mit den Fortschritten, die ihre Genesung machte, nicht recht einverstanden. Sie schien auch nicht so mit ihrer Trauer fertig zu werden, wie er es gern gesehen hätte. Sie reagierte sehr eigenartig. Jedenfalls wollte er einen Spezialisten zuziehen und holte meinen Vater, der fand, daß ihr Zustand gewisse Gefahren in sich berge, und empfahl, sie eine Zeitlang zur Beobachtung in eine geeignete Klinik zu bringen. Besonders, nachdem das Unglück mit dem Kind passiert war. Es waren zwei Kinder da, und nach allem, was Mrs. Jarrow über den Vorfall berichtete, war es das ältere, ein Mädchen, das den kleinen Bruder angriff und ihn mit einem Spaten oder einer Hacke schlug, so daß er in einen Gartenteich fiel und ertrank.

Nun, Sie wissen sicherlich, daß derartige Vorfälle bei Kindern häufiger passieren. Kinder werden manchmal mit dem Kinderwagen in einen Teich gestoßen, nur weil ein älteres - aus Eifersucht - glaubt, daß Mama es jetzt viel einfacher hat, wenn Edward oder Donald oder wie der Junge heißt, nicht mehr da ist. Oder das Kind denkt, daß es schöner für die Mutter wäre. Das Motiv ist immer Eifersucht. Allerdings schien in diesem speziellen Fall dafür kein Beweis vorzuliegen. Das Kind hatte sich nicht gegen die Ankunft des Brüderchens gewehrt. Andrerseits hatte Mrs. Jarrow dieses zweite Kind nicht gewollt. Obwohl sich ihr Gatte auf dieses zweite Kind gefreut hatte, wollte Mrs. Jarrow es nicht. Sie war wegen einer Abtreibung zweimal bei einem Arzt, aber sie fand keinen, der bereit gewesen wäre, diesen damals noch verbotenen Eingriff durchzuführen. Ein Hausmädchen und ein Telegrammbote sagten aus, daß es eine Frau gewesen sei, die den Kleinen geschlagen hätte, nicht daß ältere Kind. Ein andres Dienstmädchen behauptete ganz entschieden, sie habe vom Fenster aus gesehen, daß es Mrs. Jarrow gewesen wäre. Sie sagte: >Ich glaube, die Ärmste weiß gar nicht mehr, was sie tut. Seit ihr Mann gestorben ist, ist sie in einem seltsamen Zustand. So war sie noch nie.<

Man betrachtete die Geschichte als Unfall und nahm an, die Kinder hätten zusammen gespielt und einander gestoßen und so weiter. Dabei beließ man es, aber als mein Vater zugezogen wurde, war er nach verschiedenen Gesprächen und Tests mit Mrs. Jarrow ganz sicher, daß sie für das Geschehene verantwortlich war, und hielt eine psychiatrische Behandlung für angebracht.«

»Ihr Vater war überzeugt von ihrer Schuld?«

»Ja. Damals gab es eine sehr populäre Behandlungsmethode, die auch mein Vater vertrat. Die Idee war, daß nach einer ausreichenden Behandlung, die manchmal ziemlich lange dauerte -ein Jahr oder mehr -, die Patienten wieder ihr normales Alltagsleben leben konnten. Man schickte sie nach Hause, wo sie, bei entsprechender ärztlicher Betreuung und Rücksichtnahme in der Familie, ein normales Leben führen konnten. Ich darf bemerken, daß diese Methode in vielen Fällen zunächst Erfolg hatte, aber später änderte sich das. Es gab unglückselige Rückschläge. Anscheinend geheilte Patienten kehrten in ihre gewohnte Umgebung zurück, in die Familie, und wurden langsam rückfällig, so daß es mehrmals zu Tragödien kam oder beinahe gekommen wäre. Besonders in einem Fall wurde mein Vater bitter enttäuscht - er hatte eine Frau als geheilt zu ihrer Freundin zurückgeschickt, mit der sie früher zusammen gelebt hatte. Alles schien gutzugehen, aber nach fünf oder sechs Monaten ließ sie einen Arzt kommen und sagte zu ihm: >Ich weiß, Sie werden deswegen böse auf mich sein und die Polizei holen. Aber ich mußte es tun. Ich sah den Teufel in Hildas Augen und wußte, daß ich sie töten mußte.< Die Freundin lag erwürgt in einem Stuhl, mit zerstörten Augen. Die Mörderin starb im Irrenhaus, ohne sich je ihres Verbrechens bewußt zu werden. Sie wußte nur, daß man ihr befohlen hatte, den Teufel zu vernichten.«

Poirot schüttelte bedauernd den Kopf.

Dr. Willoughby fuhr fort: »Nun, ich bin der Ansicht, daß Dorothea Preston-Grey an einer verhältnismäßig leichten, aber trotzdem gefährlichen Form von Geisteskrankheit litt und Aufsicht brauchte. Das wurde damals, wenn ich das so sagen darf, nicht ganz eingesehen, mein Vater hielt es nicht für ratsam. Sie kam nur in ein sehr gutes Pflegeheim und verließ die Anstalt nach einigen Jahren, wie es schien, völlig geheilt. Sie führte ein ganz normales Leben, zusammen mit einer reizenden Krankenschwester, die nach außenhin als ihr Dienstmädchen galt. Sie reiste viel, war sehr kontaktfreudig und ging irgendwann ins Ausland.«

»Nach Indien«, ergänzte Poirot.

»Ja. Sie sind richtig informiert. Sie ging nach Indien, um dort bei ihrer Zwillingsschwester zu leben.«

»Und dann passierte wieder etwas?«

»Ja. Ein Nachbarskind wurde tätlich angegriffen. Zuerst glaubte man, von einer Amme, dann verdächtigte man einen eingeborenen Diener. Aber wieder schien es keinen Zweifel zu geben, daß Mrs. Jarrow, aus einem Grund, den nur sie kannte, der Täter war. Es gab keinen definitiven Beweis. Der Mann ihrer Zwillingsschwester, General ... «

»Ravenscroft?« half Poirot nach.

»Ja, richtig! General Ravenscroft war damit einverstanden, daß sie nach England zurückkehrte und sich wieder einer psychiatrischen Behandlung unterzog. Ist es das, was Sie wissen wollten?«

»Ja«, antwortete Poirot, »einen Teil der Geschichte wußte ich schon, aber nur vom Hörensagen, worauf man sich ja nicht verlassen kann. Ich wollte Sie fragen, da dies ja ein Fall von eineiigen Zwillingen ist, was mit dem anderen Zwilling los war? Margaret Preston-Grey, die Frau von General Ravenscroft. Könnte sie ebenfalls geistig nicht ganz normal gewesen sein?«

»Sie war nie ein medizinischer Fall. Sie war völlig gesund. Mein Vater hat sie ein- oder zweimal besucht und mit ihr gesprochen, weil er häufig Fälle fast gleichartiger Erkrankungen oder seelischer Störungen bei eineiigen Zwillingen festgestellt hatte, die sich einmal sehr zugetan gewesen waren.«

»Was meinen Sie damit?«

»Aus bestimmten Gründen kann sich zwischen eineiigen Zwillingen eine gewisse Animosität entwickeln. Sie folgt auf eine zunächst große, gegenseitige Liebe und kann zu etwas wie Haß degenerieren, wenn irgendein emotioneller Streß zwischen den beiden entsteht, oder eine Gefühlskrise.

Das könnte hier der Fall gewesen sein. Als junger Offizier verliebte sich General Ravenscroft in Dorothea Preston-Grey, die ein bildhübsches Mädchen war - die schönere der Schwestern -, und sie verliebte sich in ihn. Sie waren nicht offiziell verlobt. Kurz darauf änderte Captain Ravenscroft seine Meinung und wandte sich Margaret zu, der Schwester. Oder Molly, wie jeder sie nannte. Er bat um ihre Hand. Molly erwiderte seine Gefühle, und sie heirateten, sobald es seine Karriere zuließ. Mein Vater hatte keinen Zweifel, daß der andere Zwilling, Dolly, sehr eifersüchtig auf die Schwester war, Alistair Ravenscroft nach wie vor liebte und ihm seine Heirat übelnahm. Sie kam darüber jedoch hinweg und heiratete einen anderen Mann. Es schien eine durchaus glückliche Ehe zu sein. Danach besuchte sie die Ravenscrofts gelegentlich, nicht nur das eine Mal in Indien, und später auch zu Hause in England! Sie schien wieder ganz hergestellt zu sein. Jedenfalls erzählte mir mein Vater, daß Lady Ravenscroft - Molly - ihrer Schwester sehr zugetan war. Sie fühlte sich ihr gegenüber in der Beschützerrolle und liebte sie zärtlich. Sie hätte sie gerne öfter gesehen, aber General Ravenscroft paßte das nicht so ganz. Ich halte es für möglich, daß sich Dolly - Mrs. Jarrow -immer noch sehr zu General Ravenscroft hingezogen fühlte, was ihm unangenehm sein mußte. Seine Frau dagegen war überzeugt, daß ihre Schwester ihre Eifersucht und ihren Zorn überwunden hatte.«

»Mrs. Jarrow soll etwa drei Wochen vor dem traurigen Ereignis die Ravenscrofts besucht haben.«

»Ja, das stimmt. Damals kam sie selbst auf tragische Weise ums Leben. Sie war Schlafwandlerin. Eines Nachts lief sie im Schlaf hinaus und stürzte über die Klippen. Man fand sie erst am nächsten Tag, sie starb im Krankenhaus, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Ihre Schwester Molly war völlig außer sich und tief erschüttert. Aber ich möchte doch betonen - und das wollen Sie wahrscheinlich auch wissen -, daß dieser Unfall unmöglich zu dem darauffolgenden Selbstmord des Ehepaares, das so glücklich zusammen war, führen konnte. Trauer um den Tod einer Schwester oder Schwägerin ist kaum Anlaß zum Selbstmord. Und schon gar nicht zu zwei Selbstmorden.«

»Es sei denn«, wandte Hercule Poirot ein, »Margaret Ravenscroft war für den Tod ihrer Schwester verantwortlich.«

»Mein Gott!« rief Dr. Willoughby, »Sie wollen doch nicht andeuten -«

»Daß es Margaret war, die ihrer schlafwandelnden Schwester folgte, und daß es Margaret war, die Dorothea über die Klippe hinunterstieß?«

»Eine solche Vermutung lehne ich rundweg ab«, protestierte Dr. Willoughby.

»Die Menschen«, antwortete Poirot, »sind unberechenbar.«

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