2

Da Mrs. Oliver ihren Freund Hercule Poirot nicht zu Hause angetroffen hatte, mußte sie ihre Zuflucht zum Telefon nehmen.

»Sind Sie zufällig heute abend daheim?« fragte Mrs. Oliver und trommelte mit ihren Fingern ziemlich nervös auf die Tischplatte.

»Ist dort etwa -?«

»Ariadne Oliver«, sagte Mrs. Oliver, die immer von neuem überrascht war, wenn man sie nach ihrem Namen fragte, da sie glaubte, daß alle Freunde ihre Stimme sofort erkannten. »ja, ich bin den ganzen Abend hier. Bedeutet das, daß ich das Vergnügen Ihres Besuches haben werde?«

»Wie nett von Ihnen, es so zu sagen«, rief Mrs. Oliver. »Ich weiß nicht, ob es ein Vergnügen sein wird.«

»Sie zu sehen, ist immer ein Vergnügen, chere Madame.«

»Ich weiß nicht, vielleicht könnte ich Ihnen ziemlich lästig werden und viele Fragen stellen. Ich möchte erfahren, wie Sie über eine gewisse Sache denken!«

»Ich bin immer bereit, jedem meine Meinung zu sagen«, erklärte Poirot.

»Es ist ein Problem aufgetaucht«, sagte Mrs. Oliver. »Sehr schwierig, ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Und deshalb kommen Sie zu mir. Ich fühle mich geschmeichelt. Höchst geschmeichelt.« »Welche Zeit würde Ihnen passen?«

»Neun Uhr? Wir könnten zusammen Kaffee trinken, falls Sie nicht einen Grenadine oder einen Sirop de Cassis vorziehen. Aber nein, so etwas mögen Sie ja nicht. Ich erinnere mich.« »George«, sagte Poirot, nachdem er eingehängt hatte, zu seinem unschätzbaren Diener, »wir werden heute abend das Vergnügen eines Besuches von Mrs. Oliver haben. Ich denke, Kaffee und irgendeinen Likör. Ich bin nie ganz sicher, was sie gern trinkt.«

»Ich habe sie Kirsch trinken sehen, Sir.«

»Und Creme de Menthe glaube ich auch. Aber Kirsch hat sie, glaube ich, lieber.«

Mrs. Oliver kam pünktlich. Beim Abendessen hatte Poirot darüber nachgedacht, was Mrs. Oliver zu ihm trieb und warum sie so im Zweifel war, was sie tun sollte. Kam sie wegen eines schwierigen Problems zu ihm, oder würde sie ihm von einem Verbrechen erzählen? Poirot wußte genau, bei Mrs. Oliver war alles möglich. Die einfachsten und die ungewöhnlichsten Dinge. In ihren Augen waren sie alle gleich wichtig. Aber sie war beunruhigt. Nun, dachte Hercule Poirot, er würde mit Mrs. Oliver schon fertig werden. Er war immer mit ihr fertig geworden. Gelegentlich machte sie ihn wütend. Gleichzeitig war er ihr wirklich sehr zugetan. Sie hatten viele Erfahrungen und Experimente zusammen gemacht. Erst heute morgen hatte er irgend etwas über sie in der Zeitung gelesen - oder war es im Abendblatt gewesen? Er mußte versuchen, sich zu erinnern, bevor sie kam. Es war ihm gerade gelungen, als sein Diener Mrs. Oliver meldete.

Sie kam ins Zimmer, und Poirot schloß sofort, daß seine Diagnose zutraf. Sie war besorgt. Ihre Frisur, sonst immer sehr sorgfältig gelegt, war unordentlich, weil sie in ihrer fieberhaften und hastigen Art, die sie manchmal an sich hatte, mit den Fingern hindurchgefahren war. Er empfing sie mit allen Zeichen des Vergnügens, etablierte sie in einem Stuhl, schenkte ihr Kaffee ein und gab ihr ein Glas Kirsch.

»Ah!« sagte Mrs. Oliver mit einem Seufzer der Erleichterung. »Ich fürchte, Sie werden mich für schrecklich dumm halten, aber. ..«

»Ich lese, oder besser ich las in der Zeitung, daß Sie heute bei einem literarischen Essen waren. Berühmte Schriftstellerinnen. Ich dachte, so was würden Sie nie mitmachen.« »Gewöhnlich nicht«, antwortete Mrs. Oliver, »und ich werd's auch nie wieder tun.«

»Aha! War es so schlimm?« Poirot war ganz Mitgefühl.

Er wußte über Mrs. Olivers schwachen Punkt Bescheid. Übertriebenes Lob ihrer Bücher brachte sie immer aus der Fassung, hatte sie ihm einmal erzählt, weil sie nie die richtige Antwort darauf wußte.

»Es hat Ihnen nicht gefallen?«

»Bis zu einem bestimmten Punkt schon«, erwiderte Mrs. Oliver, »aber dann passierte was sehr Unangenehmes.«

»Aha. Und das ist der Grund, weshalb Sie zu mir kommen.«

»Ja, aber eigentlich weiß ich es wirklich nicht genau. Ich meine, die Sache hat nichts mit Ihnen zu tun, und ich glaube auch nicht, daß es die Art von Dingen ist, die Sie interessiert. Und ich selber bin auch nicht wirklich neugierig darauf. Aber irgendwie muß ich es doch sein, sonst wäre ich nicht zu Ihnen gekommen, um Ihre Ansicht darüber zu hören. Was - was Sie an meiner Stelle täten.«

»Die Frage ist schwierig«, sagte Poirot. »Ich weiß, wie ich - Hercule Poirot - reagiere, aber ich weiß nicht, wie Sie handeln würden, so gut ich Sie auch kenne.«

»Eigentlich müßten Sie das aber beurteilen können«, sagte Mrs. Oliver. »Wir kennen uns lange genug.«

»Ungefähr zwanzig Jahre?«

»Ich weiß nicht genau. Ich kann mich nie an Jahreszahlen oder Daten erinnern. Ich bringe alles durcheinander. Ich kenne 1939, da begann der Krieg, und ich erinnere mich an andere Daten, weil sich da merkwürdige Dinge ereigneten.«

»Jedenfalls gingen Sie zu dem Literatenessen. Es hat Ihnen nicht sehr gefallen.«

»Das Essen schmeckte ausgezeichnet, aber nachher ... «

»Hat man Ihnen gewisse Dinge erzählt«, sagte Poirot mit der Güte eines Arztes, der sich nach den Krankheitssymptomen erkundigt.

»Nun, wir hatten gerade angefangen, uns zu unterhalten. Plötzlich stürzte sich eines dieser großen, vollbusigen Weiber auf mich, die es immer fertigbringen, jeden zu beherrschen. Man fühlt sich schrecklich ungemütlich. Wissen Sie, als ob man einen Schmetterling fängt oder so, aber ohne Netz. Sie hat mich irgendwie eingekreist und auf eine Sitzbank geschubst und dann begann sie, auf mich einzureden. Mit einem meiner Patenkinder fing sie an.«

»Soso. Mit einem Patenkind. Haben Sie es gern?«

»Ich habe sie viele Jahre nicht gesehen«, erklärte Mrs. Oliver, »ich kann nicht mit ihnen allen in Kontakt bleiben. Und dann stellte sie mir eine höchst beunruhigende Frage. Sie wollte wissen - du meine Güte, es fällt mir wirklich sehr schwer, es zu erzählen ... «

»Nein, es ist nicht schwer«, warf Poirot freundlich ein. »Es ist ganz einfach. Jeder erzählt mir früher oder später alles. Ich bin ein Fremder, sehen Sie, da macht es nichts aus. Es ist einfach, weil ich ein Fremder bin.«

»Also«, sagte Mrs. Oliver, »sie fragte mich nach dem Vater und der Mutter meiner Patentochter. Sie fragte mich, ob ihre Mutter ihren Vater oder ihr- Vater ihre Mutter ermordet hätte.«

»Wie bitte?«

»Ja, ich weiß, es klingt verrückt. Ich fand es auch verrückt.«

»Ob die Mutter ihrer Patentochter ihren Vater oder ihr Vater ihre Mutter ermordet hätte?« »Genau!«

»Aber - war das eine Tatsache? Hatte ihr Vater die Mutter oder die Mutter den Vater tatsächlich ermordet?«

»Nun, sie wurden beide erschossen aufgefunden«, sagte Mrs. Oliver, »in den Klippen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es in Cornwall war oder auf Korsika. So was Ähnliches.« »Dann war es also wahr, was sie sagte?«

»Ja, dieser Punkt stimmte. Es passierte vor Jahren. Na schön, aber - warum kommt sie damit zu mir?«

»Weil Sie Kriminalschriftstellerin sind«, erklärte Poirot. »Sie sagte sicher, Sie wüßten alles über Verbrechen. Also, das ist wirklich passiert?«

»Ja. Ich glaube, ich erzähle Ihnen besser alles von Anfang an. Allerdings kann ich mich nicht mehr an alles erinnern. Es liegt ungefähr ... nun, ich glaube, es liegt jetzt mindestens zwanzig Jahre zurück. An die Namen der Leute erinnere ich mich, weil ich sie mal gut gekannt habe. Die Frau war mit mir zur Schule gegangen, wir mochten uns gern. Wir waren Freundinnen. Es war ein vielbesprochener Fall - wissen Sie, es stand in allen Zeitungen und so. Sir Alistair Ravenscroft und Lady Ravenscroft. Ein sehr glücklich verheiratetes Paar, er war Oberst oder General, sie reisten in der ganzen Welt herum. Dann kauften sie das Haus, irgendwo, ich glaube, im Ausland - ich kann mich nicht erinnern. Und auf einmal standen Berichte über den Fall in allen Zeitungen ... Ob jemand sie ermordet hatte oder sie überfallen worden waren oder so was, oder ob sie sich gegenseitig umgebracht hätten. Ich glaube, mit einem Revolver, der seit Urzeiten im Haus gelegen hatte. Also, ich erzähle Ihnen am besten alles, was ich noch weiß.«

Mrs. Oliver nahm sich zusammen und brachte es fertig, Poirot ein mehr oder weniger klares Resümee dessen zu geben, was man ihr erzählt hatte. Poirot hakte hier und da mit einer Rückfrage ein.

»Aber warum?« fragte er schließlich, »warum will diese Frau das so genau wissen?«

»Das ist es gerade, was ich herausbekommen möchte«, sagte Mrs. Oliver. »Ich glaube, ich könnte Celia ausfindig machen. Sicher lebt sie noch immer in London. Oder war es Cambridge oder Oxford? Ich glaube, sie hat ihren Doktor gemacht und hält hier Vorlesungen oder unterrichtet. Und - sie ist sehr modern, wissen Sie. Verkehrt mit langhaarigen Leuten in merkwürdiger Aufmachung. Daß sie Rauschgift nimmt, glaube ich nicht. Sie ist ganz in Ordnung und - ich hörte nur hin und wieder von ihr. Ich meine, sie schickt mir zu Weihnachten eine Karte und so. Nun, man denkt nicht die ganze Zeit an seine Patenkinder. Sie muß schon fünf- oder sechsundzwanzig sein.«

»Nicht verheiratet?«

»Nein. Anscheinend will sie heiraten - so habe ich es verstanden -, den Sohn von Mrs. - wie hieß die Frau noch? Ach ja, Mrs. Brittle - nein - Burton-Cox!«

»Und Mrs. Burton-Cox möchte nicht, daß ihr Sohn dieses Mädchen heiratet, weil ihr Vater ihre Mutter oder die Mutter den Vater umgebracht hat?«

»Vermutlich. Das ist der einzige Grund, den ich mir vorstellen kann. Denn wieso spielt es für diese Ehe eine Rolle, wie es genau war? Wieso ist es der künftigen Schwiegermutter wichtig zu erfahren, wer wen umbrachte?«

»Darüber sollte man nachdenken«, sagte Poirot. »Es ist ... also, wissen Sie, das ist wirklich interessant. Ich meine nicht bezüglich Sir Alistair Ravenscroft oder Lady Ravenscroft. Ich glaube, ich kann mich vage erinnern - an den Fall, oder war es nicht derselbe? Aber diese Mrs. Burton-Cox ist sehr merkwürdig. Vielleicht ist sie nicht ganz richtig im Kopf? Hat sie ihren Sohn gern?«

»Wahrscheinlich«, sagte Mrs. Oliver. »Wahrscheinlich möchte sie einfach nicht, daß er dieses Mädchen heiratet.«

»Weil sie vielleicht die Veranlagung, den Ehemann zu ermorden, geerbt hat - oder so was?« »Wie soll ich das wissen?« rief Mrs. Oliver. »Sie scheint anzunehmen, daß ich's ihr verraten kann, aber sie hat mir wirklich nicht genug erzählt! Was steckt dahinter? Was bedeutet das alles?«

»Es wäre fast interessant, es herauszufinden«, stellte Poirot fest.

»Also, das ist der Grund, weshalb ich sie besuche«, sagte Mrs. Oliver. »Sie finden gern Sachen heraus. Sachen, deren Ursache Sie anfangs nicht erkennen können. Die niemand erkennen kann.«

»Glauben Sie, daß Mrs. Burton-Cox eine bestimmte Lösung vorzöge?« fragte Poirot.

»Sie meinen, daß der Mann seine Frau getötet hätte oder die Frau ihren Mann? Ich glaube nicht.«

»Tja«, meinte Poirot. »Ich begreife Ihr Dilemma. Es reizt mich. Sie kommen also von einer Party. Man hat Sie gebeten, etwas sehr Schwieriges, fast Unmögliches zu unternehmen - und Sie, Sie überlegen, wie man so eine Sache am besten angeht.«

»Na, und was wäre nun das richtige?«

»Das ist für mich nicht so einfach zu entscheiden. Ich bin keine Frau. Eine Frau, die Sie nicht besonders gut kennen, die Sie nur auf einer Party getroffen haben, hat Sie mit diesem Problem konfrontiert, Sie gebeten, es zu lösen, ohne ein genaues Motiv zu nennen.«

»jawohl«, sagte Mrs. Oliver. »Und was tut Ariadne jetzt? In andern Worten, was tut A, wenn Sie diesen Fall als Rätsel in einer Zeitung zu lösen hätten?«

»Hm. Man könnte das Problem von drei Seiten angehen. A schreibt Mrs. Burton-Cox einen Brief, es täte einem leid, man könnte ihr in dieser Angelegenheit wirklich nicht behilflich sein oder ähnlich. Zweitens, Sie setzen sich mit Ihrer Patentochter in Verbindung und erzählen ihr, was die Mutter des jungen Mannes, den sie heiraten möchte, von Ihnen verlangt hat. Sie werden herausbekommen, ob sie wirklich daran denkt, diesen Mann zu heiraten, und ob sie eine Ahnung oder der junge Mann ihr erzählt hat, was seine Mutter eigentlich will. Da wären noch andere interessante Punkte: zum Beispiel, wie das Mädchen über ihre künftige Schwiegermutter denkt. Und drittens könnten Sie«, schloß Poirot, »und dazu rate ich Ihnen ... «

»Ich weiß«, unterbrach Mrs. Oliver, »ein Wort!«

»Nichts tun«, beendete Poirot seinen Satz.

»Genau! Das wäre das Einfachste und Vernünftigste. Nichts zu unternehmen. Ein starkes Stück, einfach hinzugehen und einem Mädchen, das noch dazu mein Patenkind ist, zu berichten, was ihre künftige Schwiegermutter herumerzählt und worüber sie die Leute ausfragt. Aber -«

»Ich weiß«, warf Poirot ein, »es ist die menschliche Neugier.« »Ich möchte wissen, warum dieses abscheuliche Weib zu mir kam und das sagte«, antwortete Mrs. Oliver. »Solange ... « »Ja«, sagte Poirot, »solange können Sie nicht ruhig schlafen. Sie würden nachts aufwachen und - wie ich Sie kenne - auf die verrücktesten und seltsamsten Ideen kommen, die Sie wahrscheinlich kurz darauf zu einer hochinteressanten Kriminalgeschichte verarbeiten würden. Zu einem Kriminalroman, zu einem Thriller. Zu allem möglichen.«

»So betrachtet, könnten Sie recht haben.« Mrs. Olivers Augen begannen zu blitzen.

»Lassen Sie es sein«, mahnte Poirot. »Es wäre ein sehr schwieriges Unternehmen. Es scheint mir keinen triftigen Grund dafür zu geben.«

»Aber ich würde mich gern überzeugen, daß es keinen triftigen Grund gibt!«

»Menschliche Neugierde«, sagte Poirot. »Ein interessantes Gebiet.« Er seufzte. »Wenn ich denke, was wir ihr im Lauf der Geschichte verdanken. Neugier! Ich weiß nicht, wer sie erfunden hat. Man sagt sie gewöhnlich den Katzen nach. Aber ich möchte behaupten, daß in Wirklichkeit die Griechen die Neugier erfanden. Sie wollten wissen. Vor ihnen wollte, soweit ich informiert bin, keiner viel wissen. Man wollte nur wissen, wie man sich in dem Lande, in dem man lebte, verhalten mußte, um nicht geköpft oder gerädert zu werden oder sonst etwas Unerfreuliches zu erleben. Aber man gehorchte, oder man gehorchte nicht. Sie wollten nicht wissen, warum. Seit damals wollen so viele Leute das Warum wissen, und deshalb ist soviel passiert. Heute gibt es Schiffe, Flugzeuge, Eisenbahnen und Atombomben, Penicillin und Mittel gegen alle möglichen Krankheiten. Ein kleiner Junge schaut zu, wie der Dampf den Deckel eines Wasserkessels auf dem Herd hebt, und schon haben wir die Eisenbahn, die in direkter Linie zu Eisenbahnerstreiks und Ähnlichem führt. Und so weiter und so weiter.« »Sagen Sie mir nur eins«, fragte Mrs. Oliver, »finden Sie, daß ich eine schreckliche Schnüfflerin bin?«

»Nein«, antwortete Poirot. »Im großen und ganzen halte ich Sie nicht für eine sehr neugierige Frau. Aber ich kann Sie mir gut vorstellen, wie Sie bei einer literarischen Party in Panik geraten, weil Sie sich gegen zuviel Liebenswürdigkeiten und Lob zur Wehr setzen müssen. Deshalb gerieten Sie in dieses Dilemma und entwickelten eine starke Abneigung gegen die Person, die Sie da hineinriß.«

»Ja. Ein schreckliches Weib. Sehr unangenehm!«

»Dieser lang zurückliegende Mord an einem Ehepaar, das angeblich gut miteinander auskam und sich nie stritt - man hat nie den Grund erfahren, sagen Sie?«

»Sie wurden erschossen. Ja, sie wurden erschossen. Es könnte ein Selbstmordabkommen gewesen sein. Ich glaube, die Polizei nahm das zunächst auch an. Natürlich kann man so viele Jahre danach nichts mehr feststellen.«

»O doch!« behauptete Poirot. »Ich meine, ich könnte was rausfinden.«

»Wirklich? Mit Hilfe all der aufregenden Freunde, die Sie haben?«

»Nun, ich würde nicht gerade sagen, durch sie. Natürlich gibt es Freunde, die etwas wissen, die bestimmte Berichte beschaffen könnten, die Niederschriften, die damals über den Fall gemacht wurden. Ich könnte Zutritt zu bestimmten Protokollen bekommen.«

»Sie finden was heraus«, rief Mrs. Oliver hoffnungsvoll, »und erzählen es mir dann.«

»Ja«, sagte Poirot, »jedenfalls könnte ich Ihnen alle Fakten zu dem Fall organisieren. Allerdings wird das ein bißchen Zeit beanspruchen.«

»Wenn Sie das tun - ich hätte wirklich gern, Sie täten's -, unternehme ich selbst auch etwas. Ich besuche das Mädchen. Ich finde heraus, ob sie irgend etwas weiß, ich frage sie, ob ich ihrer künftigen Schwiegermutter eine Abfuhr erteilen soll oder es sonst einen Weg gibt, ihr zu helfen. Ich möchte auch den jungen Mann kennenlernen, den sie heiraten will.«

»Sehr gut«, sagte Poirot. »Ausgezeichnet.«

»Und ich glaube«, sagte Mrs. Oliver, »da gibt es ein paar Leute ... « Nachdenklich runzelte sie die Stirn.

»Ich fürchte, daß uns die nicht viel helfen«, meinte Hercule Poirot. »Der Fall ruht längst in der Vergangenheit. Zur damaligen Zeit vielleicht eine cause celebre. Aber was ist eine cause celebre, wenn man es genau überlegt? Wenn es nicht zu einem überraschenden denouement kommt, was hier ja nicht zutrifft? Niemand erinnert sich.«

»Ja«, sagte Mrs. Oliver, »das stimmt. So viel wurde in den Zeitungen geschrieben, und eine Zeitlang wurde immer wieder darüber geredet, und dann ging die Sache einfach unter. Wie das eben heute so ist. Wie bei dem Mädchen damals, Sie wissen schon, die von zu Hause weglief. Sie wurde nie gefunden. Das war vor fünf oder sechs Jahren. Jetzt entdeckte plötzlich ein kleiner Junge, der in einem Sandhaufen oder einer Kiesgrube spielte, ihren toten Körper. Nach fünf oder sechs Jahren!«

»Wenn man feststellen kann, wie lange der Körper dort gelegen hat, und wenn man alle entsprechenden Polizeiprotokolle durchliest, könnte man den Mörder vielleicht finden. Aber Ihr Problem ist schwieriger, denn es gibt zwei mögliche Lösungen: daß der Gatte seine Frau nicht leiden konnte und sie loswerden wollte, oder daß die Frau ihren Mann haßte und einen Liebhaber hatte. Deshalb könnte es ein Verbrechen aus Leidenschaft gewesen sein. Oder doch etwas völlig andres. Jedenfalls wird man schwer etwas herausbringen. Wenn die Polizei damals nichts fand, muß das Motiv sehr schlecht zu erkennen sein und nicht auf der Hand liegen. Deshalb ist es ein Geheimnis geblieben. Ganz einfach!« »Ich finde, ich sollte doch zu Celia gehen. Vielleicht hat das dieses schreckliche Weib tatsächlich gewollt - daß ich hingehe. Sie dachte, die Tochter wüßte was - nun, sie könnte ja etwas wissen«, überlegte Mrs. Oliver. »Kinder sind so. Sie wissen die unglaublichsten Dinge.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie alt Ihre Patentochter damals war?«

»Nun, so aus dem Handgelenk kann ich's nicht sagen. Neun oder zehn vielleicht, oder auch älter. Ich glaube, sie war damals von zu Hause weg, im Pensionat. Aber das kann ich mir auch nur einbilden, oder ich habe es damals gelesen.«

»Sie glauben, es war Mrs. Burton-Cox' Wunsch, daß Sie aus der Tochter Informationen herausholen? Vielleicht weiß die Tochter etwas, vielleicht hat sie es dem Sohn erzählt und der seiner Mutter. Ich könnte mir vorstellen, daß Mrs. Burton-Cox versuchte, das Mädchen selbst zu fragen, und eine Abfuhr kriegte. Da dachte sie, die bekannte Mrs. Oliver ist ihre Patin und hat außerdem viel kriminalistische Sachkenntnis. Sie könnte die Informationen bekommen. -Trotzdem begreife ich immer noch nicht, warum sie das wissen will«, grübelte Poirot. »Ich glaube auch nicht, daß >die Leute<, wie Sie sie vage bezeichnen, Ihnen nach so langer Zeit helfen können. Würde sich überhaupt jemand erinnern?«

»Ich glaube doch«, behauptete Mrs. Oliver.

»Sie überraschen mich«, entgegnete Poirot und sah sie etwas verwirrt an. »Erinnern sich die Leute wirklich?«

»Ach«, sagte Mrs. Oliver, »ich dachte eigentlich an Elefanten.« »Elefanten?«

Wie so häufig fand Poirot, daß Mrs. Oliver wirklich sehr sprunghaft war. Wieso plötzlich Elefanten?

»Gestern, beim Essen, dachte ich an Elefanten«, sagte Mrs. Oliver.

»Warum, in aller Welt?« fragte Poirot neugierig.

»Also, genauer gesagt, ich dachte an Zähne. Sie wissen schon, man versucht, was zu essen, und wenn man falsche Zähne hat - dann geht es nicht so gut. Man muß wissen, was man essen darf und was nicht.«

»Ach, ja!« rief Poirot mit einem tiefen Seufzer. »Die Zahnärzte können viel für einen tun, aber eben nicht alles.«

»So ist es. Und dann überlegte ich, wissen Sie, daß unsere Zähne nur aus Bein sind und nicht so besonders gut, und wie schön es wäre, ein Hund zu sein, der richtige Elfenbeinzähne hat. Und ich dachte an Walrosse und - na ja, an Elefanten. Wenn Sie an Elfenbein denken, fallen Ihnen doch selbstverständlich sofort Elefanten ein, nicht wahr? Die riesengroßen Stoßzähne!« »Das ist wahr«, meinte Poirot, der noch immer nicht begriff, worauf Mrs. Oliver hinauswollte.

»So überlegte ich, daß wir uns eigentlich an die Leute wenden müßten, die wie die Elefanten sind. Denn Elefanten, so sagt man, vergessen nie.«

»Ja, das habe ich schon gehört«, pflichtete Poirot bei. »Elefanten vergessen nie«, wiederholte Mrs. Oliver. »Kennen Sie die Geschichte, die man den Kindern immer erzählt? Jemand, ein indischer Schneider, stach eine Nadel oder so was Ähnliches in den Stoßzahn eines Elefanten. Nein. Nicht in den Stoßzahn, in seinen Rüssel natürlich, in den Elefantenrüssel. Als der Elefant mal wieder vorbeikam, hatte er das Maul voll Wasser und spritzte den Schneider naß. Obwohl er ihn jahrelang nicht gesehen hatte! Er hatte nicht vergessen. Er erinnerte sich. Das ist es, sehen Sie! Elefanten erinnern sich. Was ich jetzt tun muß ... Ich muß auf Elefantensuche gehen.«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe«, warf Hercule Poirot ein. »Wen bezeichnen Sie als Elefanten? Es klingt, als ob Sie sich die Informationen aus dem Zoo holen wollten.« »Nun, das nicht gerade«, sagte Mrs. Oliver. »Ich meine nicht die Elefanten selbst, sondern die Art, wie manche Leute bis zu einem gewissen Grad Elefanten gleichen. Da gibt es Leute, die sich wirklich erinnern. - Man erinnert sich doch an die merkwürdigsten Sachen. Ich zum Beispiel erinnere mich an eine Menge Dinge sehr gut. Ich erinnere mich an mein Geburtstagsfest, als ich fünf wurde, und an den rosa Kuchen - einen wunderschönen rosa Kuchen. Es war ein Vogel aus Zucker drauf. Und ich erinnere mich an den Tag, an dem mein Kanarienvogel entflog und ich weinte. Und an einen andern Tag, als ich auf ein Feld lief, und da war ein Stier und jemand sagte, er würde mich aufspießen. Ich war außer mir vor Angst. Es war an einem Dienstag. Ich weiß nicht, wieso ich mich ausgerechnet daran erinnere, aber es war wirklich ein Dienstag! Da fällt mir ein herrliches Brombeeren-Picknick ein. Ich wurde furchtbar zerstochen, aber ich hatte mehr Brombeeren gesammelt als alle anderen. Es war herrlich! Damals war ich, glaube ich, neun Jahre alt. Aber man braucht gar nicht so weit zurückzugehen. Ich bin in meinem Leben auf vielen Hochzeiten gewesen, aber wenn ich so zurückdenke, dann erinnere ich mich nur an eine oder zwei genau. Bei einer war ich Brautjungfer. Sie fand in New Forest statt, ich weiß nicht mehr, wer alles da war. Ich glaube, eine meiner Cousinen heiratete. Ich kannte sie eigentlich nicht besonders gut, aber sie wollte viele Brautjungfern und, nun, ich kam ihnen eben gelegen. Da fällt mir noch eine andere Hochzeit ein. Von einem Freund bei der Marine. Er wäre beinahe mit einem Unterseeboot untergegangen, aber dann wurde er gerettet und die Eltern seiner Verlobten, die erst gegen die Heirat waren, waren danach einverstanden. Auch da war ich Brautjungfer. Ich will damit bloß sagen, daß es immer Dinge gibt, an die man sich erinnert.«

»Jetzt begreife ich, was Sie meinen«, erklärte Poirot. »Sehr interessant. Sie gehen also ä la recherche des elephants?«

»Richtig. Ich muß nur noch das genaue Datum wissen.«

»Da«, sagte Poirot, »kann ich Ihnen vielleicht helfen.«

»Außerdem muß ich überlegen, welche Leute ich damals kannte und welche die gleichen Freunde wie ich hatten und auch General Ravenscroft kannten. Leute, die sie vielleicht im Ausland trafen und die ich ebenfalls kannte, wenn ich sie auch lange Jahre nicht mehr gesehen habe. Die Menschen freuen sich immer, wenn plötzlich jemand aus der Vergangenheit auftaucht, auch wenn sie sich nicht besonders gut an ihn erinnern. Dann unterhält man sich über alte Zeiten, was damals geschah, und an was man sich noch erinnert.« »Sehr aufschlußreich«, sagte Poirot. »Ich finde, Sie sind gut gerüstet für Ihr Vorhaben. Es geht also um Leute, die in der Gegend wohnten, wo sich das tragische Ereignis abspielte, oder die dort gelebt haben könnten. Schwieriger ist es wohl, auf das Thema selbst zu sprechen zu kommen. Man müßte verschiedene Taktiken probieren. Zum Beispiel ein kleines Gespräch anfangen über das Geschehene, über ihre Vermutungen und über das, was damals geredet wurde. Ob der Mann oder die Frau möglicherweise eine Liebesaffäre hatten. Über Geld, das jemand geerbt hat. Ich glaube, Sie könnten eine ganze Menge zusammenkratzen.«

»Du meine Güte«, rief Mrs. Oliver. »Ich habe wirklich Angst, daß ich eine Schnüfflerin bin!« »Sie haben einen Auftrag bekommen«, erklärte Poirot, »zwar nicht von jemandem, den Sie mögen, oder dem Sie helfen wollen, sondern von jemandem, den Sie völlig ablehnen. Aber das spielt keine Rolle. Sie sind auf der Suche, der Suche nach Wissen. Sie gehen Ihren eigenen Weg. Es ist der Weg cfer Elefanten. Die Elefanten könnten sich erinnern. Bon voyage!«

»Wie bitte?« fragte Mrs. Oliver.

»Ich schicke Sie auf Ihre Entdeckungsreise«, erklärte Poirot. »A la recherche des elephants.« »Ich glaube, ich bin verrückt«, sagte Mrs. Oliver betrübt. Wieder fuhr sie sich mit den Händen durch das Haar, sie sah aus wie der Struwwelpeter persönlich. »Ich wollte gerade eine Geschichte über einen goldgelben Apportierhund schreiben. Aber es lief nicht richtig. Ich konnte einfach den Anfang nicht hinkriegen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ach, lassen Sie doch den goldgelben Apportierhund sein! Kümmern Sie sich nur um Elefanten!«

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