20

Hercule Poirot stand auf den Klippen, sah hinunter zu den Felsen und beobachtete, wie sich die Wellen an ihnen brachen. Hier hatte man die beiden Leichen gefunden. Und hier war ein paar Wochen vorher die Schwester hinuntergestürzt.

»Warum ist es passiert?« hatte Chefsuperintendent Garroway gefragt.

Ja, warum? Was war das Motiv?

Ein Unfall - und ein paar Wochen später zwei Selbstmorde. Alte Sünden, die lange Schatten werfen ... Vor langer Zeit hatte alles begonnen, und Jahre später kam das tragische Ende.

Heute würden sich hier ein paar Menschen treffen: Ein junger Mann und ein Mädchen, die die Wahrheit wissen wollten. Und zwei Leute, die sie kannten.

Hercule Poirot wandte sich vom Meer ab und ging den schmalen Pfad zurück. Bis zum Haus war es nicht weit. Ein Wagen stand an der Gartenmauer, die Umrisse des Hauses hoben sich gegen den Himmel ab. Es war unbewohnt und mußte neu gestrichen werden. Das Schild eines Maklers hing am Tor, daß es zu verkaufen sei. Zwei Menschen kamen Poirot entgegen, Desmond Burton-Cox und Celia Ravenscroft.

»Ich habe vom Makler einen Brief bekommen«, sagte Desmond, »wir können uns das Haus anschauen. Ich habe den Schlüssel, falls wir hineingehen wollen. Es hat in den letzten fünf Jahren zweimal den Besitzer gewechselt ... Jetzt dürfte wohl kaum noch was zu finden sein, oder?«

»Ich kann's mir nicht vorstellen«, meinte Celia. »Schließlich hat es ja danach schon verschiedenen Leuten gehört. Sie fanden es alle zu einsam. Und jetzt verkauft es der Besitzer wieder. Vielleicht spukt es.«

»Glaubst du wirklich an so was?« fragte Desmond.

»Na ja, eigentlich nicht. Aber hier wär's möglich, nicht? Nach allem, was passiert ist, und so, wie es jetzt aussieht ... «

»Das finde ich nicht«, mischte sich Poirot ein. »Hier gab es Leid und Tod, aber auch Liebe.« Ein Taxi kam die Straße entlang.

»Das ist vermutlich Tante Ariadne«, sagte Celia. »Sie wollte mit dem Zug fahren und am Bahnhof ein Taxi nehmen.«

Zwei Frauen stiegen aus, Mrs. Oliver und eine große, elegante Person. Poirot, der von ihrem Kommen wußte, war nicht überrascht. Er beobachtete Celia.

Da lief Celia auf die Frau zu und rief mit strahlendem Gesicht: »Zelie! Ja, das ist tatsächlich Zelie! Aber ich - ich wußte gar nicht -«, sie schwieg, drehte sich um und sah Desmond an. »Desmond, warst du das?«

»Ja. Ich schrieb Mademoiselle Meauhourat - Zelie, wenn ich sie noch so nennen darf.«

»Ihr könnt mich immer so nennen, ihr beide«, meinte Zelie. »Ich bin mir nicht sicher, ob es klug von mir war, zu kommen, aber ich hoffe es.«

»Ich möchte die Wahrheit wissen«, erklärte Celia. »Wir beide möchten sie wissen. Desmond dachte, du könntest uns helfen.«

»Monsieur Poirot hat mich besucht«, sagte Zelie. »Er überredete mich, herzukommen.«

Celia hängte sich bei Mrs. Oliver ein. »Ich wollte, daß du auch dabei bist, Tante Ariadne, weil du die Sache ins Rollen brachtest, nicht wahr? Du hast Monsieur Poirot dazugekriegt, mitzumachen und selbst soviel unternommen.«

»Ja. Ein paar Leute haben mir was erzählt«, sagte Mrs. Oliver, »von denen ich dachte, sie erinnerten sich noch. Vieles stimmte, und vieles war falsch. Das war sehr verwirrend. Aber Monsieur Poirot meinte, das sei nicht wirklich wichtig.«

»Nun«, antwortete Poirot, »es ist genauso wichtig wie zwischen Hörensagen und Tatsachen unterscheiden zu können. Was Sie für mich herausbekommen haben, Madame, von den Elefanten ... « Er lächelte.

»Wieso Elefanten?« fragte Mademoiselle Zelie. »So nennt sie sie«, sagte Poirot.

»Elefanten vergessen nie«, erklärte Mrs. Oliver. »Das war die Idee, mit der alles anfing. Die Menschen können sich an Dinge erinnern, die weit zurückliegen, genau wie die Elefanten. Nicht alle Menschen selbstverständlich, aber normalerweise können sie sich wenigstens an etwas erinnern. Einen großen Teil von dem, was ich erfuhr, gab ich an Monsieur Poirot weiter, er hat eine Methode ... also, wenn er Arzt wäre, würde ich es als Diagnose bezeichnen.«

»Ich stellte eine Liste auf«, erklärte Poirot. »Über alle Punkte, die mir auf das hinzudeuten schienen, was damals tatsächlich geschah. Ich werde Ihnen die einzelnen Punkte vorlesen, damit Sie, die Beteiligten, feststellen können, ob sie von Bedeutung sind oder nicht. Vielleicht verstehen Sie den Sinn nicht, vielleicht jedoch begreifen Sie ihn genau.«

»Ich möchte wissen«, sagte Celia, »ob es Selbstmord war oder Mord. Hat jemand - ein Außenstehender - meinen Vater und meine Mutter aus einem uns unbekannten Grund getötet, aus einem bestimmten Motiv heraus? Ich werde immer glauben, daß es so war. Es ist schwierig, aber ... « »Wir wollen hier draußen bleiben«, sagte Poirot, »und noch nicht ins Haus gehen. Dort haben inzwischen andere Leute gewohnt, es hat jetzt eine veränderte Atmosphäre. Vielleicht entscheiden wir uns anders, wenn wir mit unserer Untersuchung fertig sind.«

»Es ist also eine Art Untersuchung?« fragte Desmond. »Ja. Über das, was damals tatsächlich geschah.«

Poirot ging auf ein paar Eisenstühle zu, die im Schatten einer Magnolie standen, und nahm einen beschriebenen Bogen Papier aus seiner Mappe.

»Sie wollen eine endgültige Antwort, Celia, ob es Selbstmord war oder Mord«, begann er. »Eins von beiden muß es ja gewesen sein«, antwortete Celia.

»Und ich sage Ihnen, daß es beides war und noch mehr. Wenn mein Verdacht stimmt, haben wir hier nicht nur einen Mord und einen Selbstmord, sondern noch etwas anderes, das ich einmal als Exekution bezeichnen möchte, und eine Tragödie. Die Tragödie zweier Menschen, die sich liebten und für ihre Liebe gestorben sind. Es gibt nicht nur bei Romeo und Julia eine Liebestragödie, nicht nur junge Menschen leiden an der Liebe und sind bereit, für sie zu sterben. Nein!«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Celia.

»Noch nicht! Am besten erzähle ich Ihnen jetzt, was meiner Meinung nach geschah und wie ich dahinterkam. Als erstes fiel mir auf, daß verschiedene, von der Polizei ermittelte Beweise nicht zu erklären waren. Manches ganz alltägliche Dinge, eigentlich überhaupt keine Beweise. Zum Beispiel die vier Perücken der toten Margarert Ravenscroft.« Poirot wiederholte: »Vier Perücken.« Er sah Zelie an.

»Sie trug nicht immer eine Perücke«, mischte Zelie sich ein. »Nur gelegentlich. Wenn sie verreiste, oder wenn sie nicht beim Friseur war und rasch wieder ordentlich aussehen wollte. Manchmal trug sie eine Abendperücke.«

»Jedenfalls«, sagte Poirot, »schienen mir vier Perücken reichlich viel. Ich überlegte, warum sie so viele brauchte. Laut Polizeiprotokoll hatte sie keine Glatze, sie hatte normales Hiar, es war in gutem Zustand. Eine der Perücken hatte eine graue Strähne, wie ich später erfuhr. Ihre Friseuse erzählte mir das. Eine andere Perücke bestand aus lauter kleinen Löckchen. Sie trug sie an ihrem Todestag.«

»Ist das von Bedeutung?« fragte Celia. »Sie könnte doch irgendeine aufgehabt haben.« »Möglich. Außerdem erfuhr ich, daß die Haushälterin der Polizei berichtet hatte, daß sie gerade diese Perücke die letzten Wochen vor ihrem Tod fast ständig getragen hatte. Offenbar mochte sie sie besonders.«

»Ich begreife einfach nicht ... «

»Dann das Sprichwort, das Chefsuperintendent Garroway erwähnte: Derselbe Mensch -anderer Hut. Es machte mich stutzig.«

»Ich verstehe wirklich nicht -«, protestierte Celia.

»Außerdem, der Hund«, fuhr Poirot unbeirrt fort. »Auch ein Beweis -«

»Ein Hund?«

»Der Hund hat sie gebissen. Der Hund soll sehr an seinem Frauchen gehangen haben - aber in den letzten Wochen ihres Lebens hat er sie mehrmals angefallen und ziemlich heftig gebissen.«

»Wollen Sie damit sagen, er wußte, daß sie Selbstmord begehen würde?« fragte Desmond erstaunt.

»Nein, viel einfacher -«

»Wieso ... «

»Nein«, sagte Poirot, »er wußte, was sonst niemand zu wissen schien. Er wußte, daß es nicht sein Frauchen war. Sie sah aus wie sie - die Haushälterin, die schlechte Augen hatte und schwerhörig war, beschrieb eine Frau, die Molly Ravenscrofts Kleider trug und die auffälligste Perücke, die mit den vielen Löckchen. Die Haushälterin sagte aus, daß Lady Ravenscroft in den letzten Wochen ihres Lebens ziemlich verändert gewesen sei ... >Gleicher Mann - anderer Hut<, wie Garroway sagte. Und plötzlich kam mir ein Gedanke: dieselbe Perücke, aber eine andere Frau. Der Hund wußte es, weil seine Nase es ihm verriet. Eine andere Frau, nicht die Frau, die er liebte, sondern verabscheute und fürchtete. Nun überlegte ich: angenommen, diese Frau war nicht Molly Ravenscroft - wer konnte sie dann sein? Etwa Dolly, die Zwillingsschwester?«

»Aber das ist doch unmöglich!« rief Celia.

»Nein, ganz und gar nicht. Schließlich waren sie eineiige Zwillinge. Nun muß ich auf die Punkte zu sprechen kommen, auf die mich Mrs. Oliver hinwies und die ihr ihre >Elefanten< erzählten oder andeuteten ... Daß Lady Ravenscroft im Krankenhaus gewesen war und geglaubt hatte, sie litte an Krebs. Der medizinische Befund spricht allerdings dagegen. Trotzdem kann sie es gedacht haben. Nach und nach erfuhr ich ihre Lebensgeschichte und die ihrer Zwillingsschwester. Sie hatten sich sehr gern gehabt, wie es bei Zwillingen häufig vorkommt. Sie trugen die gleichen Kleider, erlebten die gleichen Dinge, waren zur gleichen Zeit krank, heirateten ungefähr zur gleichen Zeit. Aber wie bei vielen Zwillingen, wollten sie schließlich nicht mehr gleich sein, im Gegenteil. Sie wollten sich so unähnlich sein wie möglich. Und zwischen ihnen entstand eine gewisse Abneigung. Mehr noch. Es gab einen wichtigen Grund. Als junger Mann verliebte sich Alistair Ravenscroft in Dorothea Preston-Grey, den älteren Zwilling. Aber dann wandte er sich der Schwester zu, Margaret, und heiratete sie. Zweifellos kam da die Eifersucht ins Spiel, die zu einer Entfremdung zwischen den Schwestern führte. Margaret mochte ihre Schwester nach wie vor sehr gern, aber Dorothea empfand nichts mehr für sie. Das scheint mir viele Dinge zu erklären. Dorothea war eine tragische Gestalt. Nicht aus eigenem Verschulden, sondern aus Gründen der Vererbung, der Geburt, sie war nie geistig ganz normal gewesen. Aus bisher ungeklärten Gründen hatte sie eine Abneigung gegen Kinder. Es spricht alles dafür, daß ein Kind durch sie den Tod fand. Die Beweise waren nicht definitiv, genügten aber, um sie in psychiatrische Behandlung zu geben. Sie war jahrelang in einer Irrenanstalt. Als man sie als gesund entließ, nahm sie ihr normales Leben wieder auf, besuchte häufig ihre Schwester und reiste auch nach Indien, als die Ravenscrofts dort stationiert waren. Und dort ereignete sich wieder ein Unfall. Ein Nachbarskind. Und wieder scheint es, obwohl die Beweise fehlten, als ob Dorothea dafür verantwortlich gewesen war. Sie kehrte nach England zurück und kam wieder in ärztliche Obhut. Und wieder schien sie geheilt und wurde entlassen. Margaret glaubte, daß diesmal alles in Ordnung war. Aber ich vermute, General Ravenscroft war überzeugt, daß sie weiterhin geisteskrank war und diese Geisteskrankheit von Zeit zu Zeit wieder aufflackern konnte und sie laufend überwacht werden mußte, damit nicht noch mehr passierte.«

»Wollen Sie damit sagen«, fragte Desmond, »daß sie es war, die die Ravenscrofts erschoß?« »Nein«, antwortete Poirot, »das ist nicht die Lösung. Ich glaube aber, daß Dorothea ihre Schwester tötete. Als sie auf den Klippen spazierengingen, stieß Dorothea Margaret hinunter. Die latente Besessenheit von Haß und Abneigung gegen die Schwester, die, obwohl ihr so ähnlich, geistig und körperlich gesund war, ertrug sie nicht mehr. Haß, Eifersucht, das Verlangen zu töten, kamen an die Oberfläche und beherrschten sie. Ich glaube, es gab einen Außenstehenden, der das alles wußte, der zur Zeit des Geschehens bei den Ravenscrofts war. Sie wußten Bescheid, Mademoiselle Zelie!«

»Ja«, gab Zelie Meauhourat zu, »ich wußte Bescheid. Ich war damals hier. Die Ravenscrofts machten sich ihretwegen Sorgen. Das begann, als sie versuchte, dem kleinen Edward zu schaden. Edward wurde auf die Schule zurückgeschickt, und ich und Celia fuhren in die Schweiz. Nachdem ich Celia im Pensionat untergebracht hatte, kehrte ich zurück. Bis auf General Ravenscroft, Dorothea, Margaret und mich war niemand im Haus, niemand hatte mehr Angst. Und dann passierte es. Die Schwestern gingen gemeinsam weg, aber Dolly kam allein zurück. Sie war in einer sehr merkwürdigen, nervösen Verfassung. Sie kam ins Zimmer und setzte sich an den Teetisch. Da entdeckte General Ravenscroft daß ihre rechte Hand voll Blut war. Er fragte sie, ob sie gestürzt sei. Sie antwortete: >Nein, nein. Ich habe mich nur an einem Rosenstrauch gekratzt.< Aber in den Hügeln gab es keine Rosen. Es war eine völlig verrückte Erklärung, und wir waren beunruhigt. Wenn sie gesagt hätte, ein Ginsterstrauch, hätten wir es vielleicht geglaubt. General Ravenscroft ging hinaus, und ich folgte ihm. Er wiederholte immerzu: >Margaret ist etwas zugestoßen. Ich bin sicher, daß Molly etwas zugestoßen ist.< Wir fanden sie auf einem Felsvorsprung, unterhalb vom Klippenpfad. Man hatte mit einem Felsbrocken und Steinen auf sie eingeschlagen. Sie war noch nicht tot, blutete aber sehr. Im ersten Moment wußten wir nicht, was wir tun sollten. Wir wagten nicht, sie zu bewegen. Wir hätten sofort einen Arzt holen müssen, aber da klammerte sie sich an ihren Mann und sagte, nach Atem ringend: >Ja, es war Dolly! Sie wußte nicht, was sie tat, oder warum. Sie kann nichts dafür. Du mußt es mir versprechen, Alistair ... Nein, nein, wir haben keine Zeit mehr, einen Arzt zu holen, und er könnte mir doch nicht mehr helfen. Versprich mir, daß du sie schützt! Versprich mir, daß die Polizei sie nicht verhaftet! Versprich mir, daß sie nicht wegen Mordes verurteilt und ihr ganzes Leben als Mörderin eingesperrt wird! Bitte, es ist das letzte, um was ich dich bitte! Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt ... Und du, Zelie, du hast mich geliebt und du hast die Kinder geliebt. Darum mußt du Dolly retten! Du mußt der armen Dolly helfen! Bitte! Um aller Liebe willen, die wir füreinander haben, muß Dolly beschützt werden.<«

»Und dann«, sagte Poirot, »was taten Sie dann?«

»Sie starb. Sie starb nach zehn Minuten, und ich half ihm, die Leiche zu verstecken, an einer etwas entfernteren Stelle, am Fuß der Klippen. Wir trugen sie über Felsbrocken und Steine und deckten ihren Körper zu, so gut wir konnten. Alistair Ravenscroft sagte wieder und wieder: >Ich habe es ihr versprochen. Ich muß mein Wort hatten.< Nun, wir haben es getan . .. Dolly war zu Hause. Sie hatte Angst, sie war verrückt vor Angst, aber gleichzeitig trug sie eine schreckliche Genugtuung zur Schau. Sie sagte, >Ich hab's immer gewußt, ich wußte seit Jahren, daß Molly richtig böse war. Sie hat dich mir weggenommen, Alistair. Du gehörtest mir - aber sie hat dich mir weggenommen, und du mußtest sie heiraten. Ich hab' immer gewußt, daß ich es ihr eines Tages heimzahlen würde. Jetzt habe ich Angst. Was werden sie mit mir tun? Was werden sie sagen? Ich lasse mich nicht wieder einsperren. Das halte ich nicht aus! Ich würde verrückt. Du wirst mich nicht einsperren lassen, Alistair. Sie werden mich abholen und behaupten, es wäre Mord. Aber es war kein Mord. Ich hab' es einfach tun müssen. Ich muß manchmal seltsame Dinge tun. Ich wollte das Blut sehen, weißt du. Aber ich hielt es nicht aus zu warten, bis Molly starb. Ich lief w?g. Aber ich wußte, daß sie sterben würde. Ich hoffte nur, du würdest sie nicht finden. Sie fiel einfach über die Klippen. Die Leute werden sagen, es war ein Unfall«

»Was für eine schreckliche Geschichte«, sagte Desmond.

»Ja«, meinte Celia, »eine schreckliche Geschichte. Aber es ist besser, daß wir die Wahrheit wissen. Viel besser. Sie tut mir nicht einmal leid. Meine Mutter, meine ich. Ich weiß, sie war liebenswert. Ich weiß, daß nie auch nur eine Spur Böses in ihr war - sie war durch und durch gut -, und ich kann verstehen, warum mein Vater Dolly nicht heiraten wollte. Er heiratete meine Mutter, weil er sie liebte und entdeckt hatte, daß mit Dolly etwas nicht stimmte. Daß etwas Böses in ihr war. Aber wie - wie habt ihr es vertuscht?«

»Wir haben viele Lügen erzählt«, erwiderte Zelie. »Wir hoff-ten, daß ihre Leiche nicht gleich gefunden würde, so daß man sie später - vielleicht nachts - wegbringen konnte. Es sollte so aussehen, als sei sie ins Meer gestürzt. Aber dann fiel uns ein, daß Dolly schlafwandelte. Was wir zu tun hatten, war eigentlich ganz einfach. Alistair Ravenscroft sagte: >Es ist entsetzlich. Aber ich hab's versprochen - ich schwor es Molly, als sie starb. Ich schwor, daß ich ihre Bitte erfüllen würde. Es gibt einen Weg, Dolly zu retten, wenn sie nur ihre Rolle richtig spielt. Ich weiß nicht, ob sie dazu imstande ist. Als ich fragte, was Dolly denn tun sollte, antwortete er: >Molly spielen und behaupten, daß es Dorothea war, die im Schlaf fortlief und hinunterstürzte.<

Wir schafften es. Wir brachten Dolly in eine leerstehende Hütte, ich blieb einige Tage bei ihr. Alistair Ravenscroft erzählte den Leuten, Molly sei ins Krankenhaus gekommen, um sich von dem Schock über den Tod ihrer Schwester zu erholen. Dann brachten wir Dolly zurück - als Molly - in einem Kleid von Molly und mit ihrer Perücke. Ich besorgte zusätzlich noch Perücken - die mit den Löckchen, in der sie wirklich ganz echt wirkte. Die gute alte Janet, die Haushälterin, sah sehr schlecht. Dolly und Molly waren sich sehr ähnlich, wissen Sie, auch in ihrer Stimme. Jeder akzeptierte ohne weiteres, daß Molly sich ab und zu etwas merkwürdig benahm, schließlich stand sie noch unter dem Schock. Es wirkte alles ganz echt. Das war die schrecklichste Seite an der ganzen Sache ... «

»Aber wie hielt sie durch?« fragte Celia. »Es muß doch entsetzlich schwierig gewesen sein.« »Nein, sie fand es nicht, denn sie hatte ja, was sie wollte, was sie immer gewollt hatte: Alistair ... «

»Aber wie konnte Alistair Ravenscroft das ertragen?«

»Er sagte mir, warum und wie - an dem Tag, als er meine Rückkehr in die Schweiz beschlossen hatte. Er erklärte mir, was ich zu tun hatte und was er tun wollte. Er sagte: >Für mich gibt es nur eins. Ich habe Margaret versprochen, daß ich Dolly nicht der Polizei übergebe und es nie herauskommt, daß sie eine Mörderin ist, und daß die Kinder es nie erfahren. Niemand braucht zu wissen, daß Dolly einen Mord beging. Sie lief eben im Schlaf weg und stürzte über die Klippen - einfach ein trauriger Unfall. Molly wird hier auf dem Friedhof und unter Dollys Namen beigesetzt.<

>Wie können Sie das zulassen?< fragte ich. Es war beinahe nicht mehr zu ertragen.

Er sagte: >Verstehen Sie doch, Dolly darf nicht länger leben. Wenn sie unter Kindern ist, wird sie noch mehr Leben vernichten ... die arme Seele, sie ist so hilflos. Und ich werde meine Tat mit meinem eigenen Leben bezahlen. Ein paar Wochen werden wir hier noch ruhig leben, Dolly spielt die Rolle von Molly, und dann ereignet sich noch eine Tragödie.<

Ich verstand nicht, was er meinte. Er erklärte es mir: >Die Welt erfährt nur, daß Molly und ich, daß wir beide Selbstmord begingen. Ich glaube nicht, daß die Ursache jemals bekannt wird. Man wird vermuten, sie sei krebskrank gewesen - oder, daß ich es glaubte ... alles mögliche. Sie müssen mir helfen, Zelie! Sie liebten Molly und die Kinder. Wenn Dolly sterben muß, bin ich der einzige, der es tun kann. Sie wird nichts spüren oder Angst haben. Ich erschieße sie, und dann töte ich mich selbst. Man wird ihre Fingerabdrücke auf dem Revolver finden, weil sie ihn vor kurzem in der Hand hatte. Und meine werden auch darauf sein. Die Gerechtigkeit muß ihren Lauf nehmen. Ich habe beide geliebt - und liebe sie noch immer. Molly liebte ich mehr als mein Leben. Dolly tat mir so leid.< Er fügte noch hinzu: >Vergessen Sie das nie...«<

Zelie stand auf und trat auf Celia zu. »Nun kennst du die Wahrheit«, sagte sie. »Ich versprach deinem Vater, daß du sie nie erfahren würdest - ich habe mein Wort gebrochen. Ich wollte sie nie verraten, weder dir noch irgend jemand anderem. Aber Monsieur überzeugte mich. Es ist eine so schreckliche Geschichte ... «

»Ich verstehe gut, was du gefühlt hast«, antwortete Celia. »Vielleicht hattest du von deinem Standpunkt aus recht, aber ich - ich bin froh, daß ich die Wahrheit weiß. Mir ist ein großer Stein vom Herzen gefallen ... « ,

»Weil«, sagte Desmond, »wir jetzt beide die Wahrheit kennen. Und dieses Wissen wird uns nie belasten. Es war eine Tragödie. Wie Monsieur Poirot sagte, die Tragödie zweier Menschen, die sich liebten. Aber sie töteten sich nicht gegenseitig aus Liebe. Der eine wurde ermordet, und der andere richtete die Mörderin. Man muß ihm vergeben, wenn er falsch gehandelt hat, aber ich glaube, daß es nicht falsch war.«

»Sie war eine böse Frau«, bemerkte Celia. »Sogar als Kind hab' ich mich vor ihr gefürchtet, nur wußte ich nicht, warum. Jetzt weiß ich es! Ich glaube, mein Vater war ein tapferer Mann. Er tat, worum ihn meine Mutter mit ihrem letzten Atemzug gebeten hatte. Er rettete ihre Zwillingsschwester, die sie immer sehr geliebt hatte. Ich möchte gern glauben - ach, sicher ist es dumm von mir, so was zu sagen ... « Sie sah Hercule Poirot zweifelnd an. »Vielleicht denken Sie anders. Es steht auf ihrem Grabstein: >Im Tode wurden sie nicht getrennt.< Natürlich bedeutet es nicht, daß sie zusammen starben, aber ich glaube, daß sie jetzt zusammen sind. Zwei Menschen, die sich zärtlich liebten ... und meine arme Tante, über die ich nun anders denke - sie mußte nicht für eine Tat leiden, für die sie nichts konnte. Offen gestanden«, fuhr Celia, nun wieder mit ihrer Alltagsstimme fort, »sie war keine nette Person. Man kann nichts dafür, wenn man Leute nicht mag, weil sie einem nicht sympathisch sind. Vielleicht hätte sie sich ändern können, wenn sie wirklich gewollt hätte, vielleicht konnte sie es auch nicht. Und wenn das stimmt, dann muß man sie als eine unheilbar Kranke ansehen -wie zum Beispiel einen Menschen, der in einem Dorf wohnt und die Pest hat, und die Leute wollen ihn nicht rauslassen oder ihm zu essen geben, und er kann nicht unter Menschen gehen, weil dann das ganze Dorf gestorben wäre. Irgend so etwas ... Ich werde versuchen, Mitleid mit ihr zu haben. Ober meine Eltern brauche ich nicht länger nachzugrübeln. Sie haben sich sehr geliebt, und auch die arme, unglückliche, haßerfüllte Dolly haben sie geliebt.« »Ich finde, Celia«, sagte Desmond, »wir sollten so rasch wie möglich heiraten. Und ich möchte dir noch eines sagen: Meine Mutter wird kein Wort von der Geschichte erfahren. Sie ist nicht meine richtige Mutter und auch nicht der Mensch, dem ich ein solches Geheimnis anvertrauen möchte.«

»Ihre Adoptivmutter, Desmond«, mischte sich Poirot ein, »versuchte - und für diese Behauptung habe ich gute Gründe -, sich zwischen Sie und Celia zu drängen und Sie in dem Gedanken zu bestärken, daß sie von ihren Eltern irgendwelche schrecklichen Veranlagungen geerbt hätte. Aber wie Sie wissen - oder vielleicht wissen Sie es nicht, doch ich sehe keinen Grund, es Ihnen nicht zu sagen -, vermachte Ihnen Ihre leibliche Mutter, die vor nicht allzulanger Zeit starb, ihr ganzes Geld. Sie erhalten eine sehr große Summe, wenn Sie fünfundzwanzig sind.«

»Wenn wir heiraten, brauchen wir natürlich welches«, meinte Desmond. »Ich weiß, daß meine Adoptivmutter sehr hinter dem Geld her ist. Neulich schlug sie vor, daß ich einen Anwalt aufsuchen sollte. Jetzt, da ich über einundzwanzig bin, müßte ich ein Testament machen. Sicher glaubte sie, sie würde das Geld bekommen. Aber wenn Celia und ich heiraten, werde ich es natürlich Celia vermachen. Es hat mir gar nicht gefallen, wie meine Mutter mich gegen Celia auszuspielen versuchte.«

»Ich glaube, Ihr Verdacht stimmt genau«, meinte Poirot. »Wahrscheinlich redete sie sich ein, daß sie nur das Beste wollte, daß Sie über Celias Herkunft Bescheid wissen müßten, ob es ein Risiko für Sie wäre. Aber -«

»Na schön«, unterbrach ihn Desmond, »ich weiß, daß ich undankbar bin. Schließlich hat sie mich adoptiert und aufgezogen. Wenn genug Geld da ist, kann sie ja was kriegen. Celia und ich werden auch mit dem Rest glücklich sein. Von Zeit zu Zeit werden wir ein bißchen traurig sein, wegen allem, was passiert ist, aber wir brauchen nun nicht mehr darüber nachzugrübeln, nicht wahr, Celia?«

»Ja«, sagte Celia, »nie mehr. Ich finde, mein Vater und meine Mutter waren großartige Menschen. Ihr Leben lang versuchte meine Mutter, für ihre Schwester zu sorgen, aber es war wohl einfach zu hoffnungslos. Man kann die Menschen nicht ändern.«

»Meine lieben Kinder«, sagte Zelie. »Entschuldigt, wenn ich euch so nenne, denn ihr seid ja längst erwachsen. Ich bin so froh, euch wiedergesehen zu haben und zu wissen, daß ich mit meinem Verhalten niemand geschadet habe.«

»Es war so nett, dich wiedergesehen, liebe Zelie.« Celia umarmte sie. »Ich habe dich immer schrecklich gern gehabt.«

»Und ich dich auch«, sagte Desmond. »Du hast so wunderschön mit uns gespielt.« Er wandte sich an Mrs. Oliver. »Bei Ihnen möchte ich mich auch bedanken, Mrs. Oliver. Sie waren sehr freundlich zu uns und haben soviel für uns getan. Und vielen Dank, Monsieur Poirot!«

»Ja, herzlichen Dank«, sagte auch Celia. »Ich bin Ihnen so dankbar.«

Celia und Desmond verabschiedeten sich. Die anderen sahen ihnen nach, bis ihr Auto verschwunden war.

»Monsieur Poirot«, sagte Zelie dann, »müssen Sie irgend jemandem den wahren Sachverhalt berichten?«

»Es gibt nur einen Menschen, den ich ins Vertrauen ziehen möchte. Einen pensionierten Polizeibeamten. Er ist nicht mehr aktiv. Ich glaube nicht, daß er es für seine Pflicht halten wird, sich einzumischen. Die Zeit ist darüber hinweggegangen. Wenn er noch im Dienst wäre, wäre es vielleicht etwas anderes.«

»Eine schreckliche Geschichte«, sagte Mrs. Oliver, »schrecklich. Und die vielen Leute, mit denen ich sprach ... ja, sie haben sich alle an etwas erinnert. Etwas, das uns bei der Suche nach der Wahrheit nützlich war, obwohl es schwierig war, die Einzelheiten zusammenzusetzen. Außer natürlich für Monsieur Poirot, der noch bei den ausgefallensten Sachen Rückschlüsse ziehen kann. Wie bei Perücken und Zwillingen, zum Beispiel.« Poirot fragte Zelie, die über das Meer in die Ferne schaute. »Sie sind mir nicht böse, daß ich Sie besuchte und überredete, die Wahrheit zu verraten?«

»Nein. Ich bin froh darüber. Sie hatten recht. Sie sind ganz reizend, die beiden. Sie passen gut zusammen und werden glücklich miteinander sein. Hier haben einmal zwei Liebende gelebt, hier sind zwei Liebende gestorben, ich mache ihm keinen Vorwurf. Vielleicht war es falsch, was er tat - ich nehme es fast an -, aber ich kann ihm keine Vorwürfe machen. Er war mutig und tapfer.«

»Sie haben ihn auch geliebt, nicht wahr?« fragte Poirot.

»Ja. Immer. Schon als ich in ihr Haus kam. Ich habe ihn geliebt. Ich glaube nicht, daß er es wußte. Zwischen uns hat es nie etwas gegeben. Er vertraute mir und hatte mich gern. Ich liebte sie beide. Ihn und Margaret.«

»Noch etwas wollte ich Sie fragen. Hat er Dolly genauso geliebt wie Molly?«

»Bis zum Schluß. Er liebte sie beide. Und das war auch der Grund, warum er Dolly retten wollte und Molly ihn darum bat. Welche Schwester er wohl mehr geliebt haben mag? Das frage ich mich von Zeit zu Zeit immer wieder. Die Antwort darauf werde ich wohl nie erfahren«, schloß Zelie. »Ich habe sie nie gewußt und werde sie sicher auch nie erfahren.« Poirot sah sie einen Augenblick schweigend an, dann meinte er zu Mrs. Oliver:

»Wir müssen nach London zurückfahren. Zurück in den Alltag und diese Tragödie, diese Liebesgeschichte vergessen.« »Elefanten vergessen nie«, sagte Mrs. Oliver, »aber wir sind Menschen, und Menschen können gottlob vergessen.«

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