19

»Mademoiselle Rouselle?« sagte Hercule Poirot und verbeugte sich.

Mademoiselle Rouselle reichte ihm die Hand. Ungefähr fünfzig, dachte Poirot. Eine ziemlich energische Person. Dürfte ihren Kopf durchsetzen. Intelligent, intellektuell, zufrieden mit ihrem Leben; hat die Freuden genossen und die Sorgen getragen, die das Leben so mit sich bringt.

»Ich habe schon von Ihnen gehört«, sagte sie. »Sie haben viele Freunde, wissen Sie, hier in der Schweiz wie auch in Frankreich. Ich weiß nicht recht, was ich für Sie tun kann. Sie schrieben es mir zwar in Ihrem Brief, aber ... Es betrifft eine Geschichte, die weit zurückliegt? Bitte, setzen Sie sich doch! Da ist Konfekt, und die Karaffe steht auf dem Tisch.«

Sie strahlte Ruhe und Gastfreundlichkeit aus, ohne jede Aufdringlichkeit. Sie war nicht nervös, einfach nur liebenswürdig. »Sie waren früher Erzieherin bei einer bestimmten Familie«, begann Poirot. »Den Ravenscrofts. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr?«

»O doch! Ich finde, man vergißt Dinge, die sich in der Jugendzeit ereignet haben, nicht so leicht. Sie hatten ein Mädchen und einen vier oder fünf Jahre jüngeren Jungen, reizende Kinder. Ihr Vater war General.«

»Es gab auch noch eine Schwester.«

»Ach ja, ich erinnere mich! Zuerst war sie nicht dort. Ich glaube, sie hatte eine zarte Gesundheit. Sie war irgendwo in einem Sanatorium.«

»Erinnern Sie sich an die Namen?«

»Die eine hieß Margaret, glaube ich. Den anderen weiß ich heute nicht mehr.«

»Dorothea.«

»Ach ja. Aber sie nannten sich Molly und Dolly. Es waren eineiige Zwillinge. Wie ähnlich sie sich sahen! Beides waren sehr hübsche junge Frauen.«

»Und sie hingen aneinander.«

»Ja, sehr. Dorothea heiratete einen Major - warten Sie - ach ja, einen Major Jarrow. Lhd Margaret ... «

»General Ravenscroft«, ergänzte Poirot.

»Ja, richtig. Komisch, wie schlecht man doch Namen behält. Margaret war hier in einem Pensionat. Als sie nach ihrer Heirat an Madame Benoit, die Pensionatsleiterin, schrieb, ob sie nicht eine geeignete Erzieherin für ihre beiden Kinder wüßte, wurde ich empfohlen. So kam ich in die Familie. Die Schwester war nur während eines Teils meiner Zeit bei den Kindern dort. Das eine Kind war ein Mädchen von etwa sechs oder sieben Jahren. Sie hatte einen Namen wie aus einem Stück von Shakespeare, erinnere ich mich. Rosalin oder Celia.«

»Celia.«

»Der Junge war erst drei oder vier Jahre alt. Er hieß Edward. Ein übermütiges, liebes Kind. Ich war glücklich bei ihnen.« »Und Sie liebten sie sehr, wie ich höre. Sie waren sehr liebevoll mit ihnen.«

»Mci, j'aime les enfants«, sagte Mademoiselle Rouselle. »Sie nannten Sie >Maddy<.«

Sie lachte. »Ach, das Wort höre ich gern. Es bringt vergangene Zeiten zurück.« »Kannten Sie auch einen Jungen mit Namen Desmond Burton-Cox?«

»O ja. Er wohnte irgendwo in der Nachbarschaft. Wir hatten mehrere Nachbarn, die Kinder kamen oft zum Spielen zu uns. Er hieß Desmond. Ja, ich erinnere mich.«

»Waren Sie lange dort, Mademoiselle?«

»Nein. Höchstens drei oder vier Jahre. Dann wurde ich zurückgeholt. Meine Mutter war sehr krank. Ich mußte zurückkommen und sie pflegen. Sie starb etwa eineinhalb Jahre später. Danach eröffnete ich hier ein kleines Pensionat, nur für größere Mädchen, die Sprachen lernen wollten. Seitdem habe ich England nicht mehr besucht, aber ein paar Jahre lang riß der Kontakt zu dem Lande nicht ab. Und die Kinder schickten mir immer Weihnachtsgrüße.« »Fanden Sie, daß General Ravenscroft und seine Frau glücklich zusammen waren?«

»Sehr glücklich. Und sie liebten ihre Kinder.«

»Sie paßten gut zusammen?«

»Ja, sie schienen alle Voraussetzungen für eine gute Ehe zu haben.«

»Sie sagten, Mrs. Ravenscroft mochte ihre Zwillingsschwester sehr, war das umgekehrt auch der Fall?«

»Nun, ich hatte wenig Gelegenheit, das zu beurteilen. Offengestanden, ich fand, daß die Schwester - Dolly, wie sie sie nannten - ein ausgesprochener Fall für den Psychiater war. Einoder zweimal benahm sie sich sehr merkwürdig. Sie war sehr eifersüchtig, und soviel ich weiß, stand sie mal kurz vor ihrer Verlobung mit Major Ravenscroft. Er hatte sich zuerst in sie verliebt, später aber doch die Schwester umworben, was ich für sehr gut hielt, denn Molly war eine ausgeglichene entzückende Frau. Was Dolly betrifft - manchmal dachte ich, sie bete ihre Schwester an, manchmal, daß sie sie haßte. Sie war wirklich eine sehr eifersüchtige Frau und fand, daß die Kinder zu sehr verwöhnt würden. Aber da gibt es jemanden, der darüber viel besser Bescheid weiß als ich. Mademoiselle Meauhourat. Sie wohnt jetzt in Lausanne. Sie kam ein oder zwei Jahre nach mir zu den Ravenscrofts. Und blieb einige Jahre bei ihnen. Später kehrte sie als Gesellschafterin für Mrs. Ravenscroft zurück, als Celia ins Pensionat kam.«

»Ich werde sie besuchen. Ich habe ihre Adresse«, warf Poirot ein.

»Sie weiß viel mehr als ich und ist eine reizende und zuverlässige Person. Eine tragische Geschichte, die sich dann ereignete. Wenn irgend jemand, kennt sie den Grund. Sie ist sehr diskret. Mir hat sie nie etwas erzählt. Ich weiß nicht, ob sie es Ihnen sagen wird. Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

Einen Augenblick stand Poirot da und sah Mademoiselle Meauhourat nur an. Er war schon von Mademoiselle Rouselle beeindruckt gewesen, und auch die Frau, die nun vor ihm stand, gefiel ihm sehr. Sie mußte mindestens zehn Jahre jünger sein, wirkte lebhaft, war attraktiv, hatte wache Augen und schien sich sehr gut ihr eigenes Urteil über andere Leute bilden zu können, ohne Sentimentalität. Sie ist, dachte Hercule Poirot, eine ausgesprochene Persönlichkeit.

»Ich bin Hercule Poirot, Mademoiselle.«

»Ich weiß. Ich habe Sie schon erwartet.«

»Haben Sie meinen Brief erhalten?«

»Nein. Er ist sicher noch bei der Post. Unser Briefträger ist ein bißchen unzuverlässig. Nein. Ich bekam von jemand anders einen Brief.«

»Von Celia Ravenscroft?«

»Nein. Aber der Schreiber steht Celia sehr nahe - ein junger Mann namens Desmond BurtonCox. Er bereitete mich auf Ihre Ankunft vor.«

»Ah. Jetzt verstehe ich. Ein intelligenter Bursche. Er verschwendet keine Zeit! Er hat mich sehr gedrängt, Sie zu besuchen.«

»Das schrieb er mir. Offenbar gibt es Schwierigkeiten. Probleme, die er bereinigen möchte, und Celia auch. Glauben Sie, daß Sie ihnen helfen können?«

»Ja, und die beiden glauben, daß Sie mir helfen können.« »Sie lieben sich und wollen heiraten?«

»Ja, aber man legt ihnen Schwierigkeiten in den Weg.«

»Desmonds Mutter vermutlich. Das hat er angedeutet.«

»Gewisse Vorfälle in Celias Leben haben seine Mutter gegen seine Heirat mit ihr eingenommen.«

»Es war eine tragische Geschichte.«

»Ja. Celia hat eine Patin, die von Desmonds Mutter gebeten wurde, Celia nach den genauen Umständen, unter denen dieser Selbstmord geschah, auszufragen.«

»Das hat keinen Zweck«, sagte Mademoiselle Meauhourat. Sie wies auf einen Sessel. »Bitte, setzen Sie sich doch! Ich glaube, wir werden ein bißchen Zeit für unsere Unterhaltung brauchen. Celia kann ihrer Patin nichts erzählen - es ist Mrs. Ariadne Oliver, die Schriftstellerin, nicht wahr? Ich erinnere mich! Celia konnte ihr die Information nicht geben, weil sie sie selber nicht hat.«

»Sie war nicht zu Hause, als es passierte, und niemand hat ihr Näheres erzählt. Ist das richtig?«

»Ja. Es schien nicht ratsam zu sein.«

»Aha! Und billigten Sie diese Entscheidung?«

»Das ist schwer zu sagen. Sehr schwer. Nach all den vielen Jahren, die seitdem vergangen sind, bin ich mir noch immer nicht klar darüber. Soweit ich weiß, war Celia nie beunruhigt über das >Warum< und >Weshalb<. Sie akzeptierte die Tatsachen, wie man ein Flugzeugunglück oder einen Autounfall akzeptiert. Sie war jahrelang im Ausland im Pensionat.«

»Welches Sie leiteten, Mademoiselle Meauhourat.«

»Das stimmt. Ich habe mich erst vor kurzem zurückgezogen. Eine Kollegin führt es weiter. Celia wurde zu mir geschickt. Man bat mich, ein gutes Pensionat für die Vervollständigung ihrer Erziehung zu suchen. Viele Mädchen kommen aus diesem Grund in die Schweiz. Ich hätte verschiedene Institutionen empfehlen können. Doch ich nahm sie in meinem eigenen Pensionat auf.«

»Celia hat Sie nicht gefragt und Aufklärung verlangt?«

»Nein. Das war ja, bevor sich diese Tragödie ereignete.«

»Ach so. Das hatte ich nicht richtig verstanden.«

»Celia kam ein paar Wochen vor dem tragischen Ereignis hier an. Ich selbst war damals noch bei General und Lady Ravenscroft. Ich sorgte für Lady Ravenscroft, war eigentlich mehr ihre Gesellschafterin als Celias Erzieherin, denn sie war damals noch im Internat. Aber man entschloß sich ganz plötzlich, daß Celia in die Schweiz fahren und ihre Erziehung dort abschließen sollte.«

»Lady Ravenscrofts Gesundheit war nicht die beste, nicht wahr?«

»Ja. Aber nichts Ernstes, wie sie befürchtet hatte. Sie hätte unter großen nervlichen Belastungen gelitten, unter einem Schock.«

»Sie sind bei ihr geblieben?«

»Meine in Lausanne lebende Schwester holte Celia ab und brachte sie in das Institut. Dort sollte sie ihre Studien beginnen und meine Rückkehr abwarten. Ich kam drei oder vier Wochen später.«

»Sie waren also in Overcliffe, als es geschah.«

»Ich war in Overcliffe. General und Lady Ravenscroft machten einen Spaziergang, wie so häufig. Sie gingen fort und kehrten nicht zurück. Sie hatten sich erschossen, die Waffe lag neben ihnen. Sie gehörte General Ravenscroft. Er hatte sie immer in einer Schreibtischschublade in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt. Auf dieser Waffe wurden Fingerabdrücke gefunden von beiden. Es gab keinen Hinweis, wer sie als letzter in der Hand gehabt hatte. Die naheliegende Lösung war: doppelter Selbstmord.«

»Sie hatten keinen Grund, das anzuzweifeln?« »Die Polizei fand keinen.«

»Aha.«

»Wie bitte?«

»Nichts, nichts. Ich überlege nur.«

Poirot sah sie an. Braunes Haar, kaum eine graue Strähne, festgeschlossene Lippen, graue Augen, ein Gesicht, das kein Gefühl verriet. Sie hatte sich vollkommen in der Gewalt. »Sonst können Sie mir nichts weiter erzählen?«

»Ich fürchte, rein. Es ist schon so lange her!«

»Sie erinnern sich aber noch recht gut.«

»Etwas so Trauriges kann man nicht vergessen.«

»Und Sie waren einverstanden, daß man Celia keine näheren Einzelheiten erzählte?«

»Habe ich Ihnen nicht gerade gesagt, daß ich keine zusätzlichen Informationen hatte?«

»Sie waren dort, Sie lebten schon eine ganze Zeit vor der Tragödie in Overcliffe, nicht wahr? Vier oder fünf Wochen, vielleicht sechs.«

»Sogar schon länger. Zwar war ich früher Celias Erzieherin, aber ich kam zurück, um Lady Ravenscroft zu unterstützen.«

»Lady Ravenscrofts Schwester wohnte damals auch gerade im Haus, nicht wahr?«

»Ja. Sie war einige Zeit zur Behandlung im Krankenhaus gewesen. Ihre Gesundheit hatte sich wesentlich gebessert, und die Ärzte meinten, daß es gut für sie wäre, ein normales Leben bei ihren Verwandten und in häuslicher Atmosphäre zu führen. Da Celia im Internat war, schien es Lady Ravenscroft der geeignete Zeitpunkt, um ihre Schwester einzuladen.«

»Mochten sich die beiden Schwestern gern?«

»Das war schwer zu sagen«, meinte Mademoiselle Meauhourat. Ihre Brauen zogen sich nachdenklich zusammen, als ob Poirots Frage ihr besonderes Interesse geweckt hätte. »Ich habe darüber nachgedacht, wissen Sie. Ich habe seitdem soviel überlegt. Es waren eineiige Zwillinge. Es bestand eine Bindung zwischen ihnen, aus gegenseitiger Abhängigkeit und Liebe, sie waren sich in vieler Hinsicht sehr ähnlich. Aber in manchen anderen Dingen waren sie sich gar nicht ähnlich.«

»Was wollen Sie damit sagen? Ich wäre sehr froh, wenn ich wüßte, was Sie meinen.«

»Ach, das hat nichts mit dem Ereignis zu tun. Aber da war ein gewisser - wie soll ich es sagen -, ein gewisser physischer oder psychischer Defekt - wie immer Sie das auch bezeichnen wollen ... Manche Leute vertreten heutzutage ja die Theorie, daß es für jede geistige Störung eine physische Ursache gibt. Ich glaube, daß die Medizin ziemlich klar erkannt hat, daß eineiige Zwillinge mit einer starken Bindung zueinander geboren werden, einer großen Charakterähnlichkeit, daß, auch wenn sie in verschiedener Umgebung aufwachsen, ihnen zur gleichen Zeit die gleichen Dinge zustoßen. Sie entwickeln sich ähnlich. Manche in der Medizin angeführten Beispiele sind ganz ungewöhnlich. Da sind zum Beispiel zwei Schwestern. Die eine lebt in England, die andre vielleicht in Frankreich. Sie haben den gleichen Hund, den sie sich ungefähr zur selben Zeit ausgesucht haben. Sie heiraten Männer, die sich ähnlich sind. Sie bringen ein Kind zur Welt, fast genau im selben Monat. Es ist, als hätten sie immer dem gleichen Plan zu folgen, egal, wo sie sind, und ohne zu wissen, was der andere tut. Und dann gibt es das genaue Gegenteil. Eine Art Ablehnung, fast Haß, so daß die eine Schwester die andere zurückstößt, oder ein Bruder den andern meidet, als ob sie vor der Gleichheit, der Ähnlichkeit, der Gemeinsamkeit fliehen wollten. Und das kann zu sehr eigenartigen Resultaten führen.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Poirot, »und es ein paarmal selbst erlebt. Liebe kann sehr leicht in Haß umschlagen. Es ist leichter zu hassen, wo man einmal geliebt hat, als gleichgültig zu werden.«

»Sie wissen gut Bescheid«, sagte Mademoiselle Meauhourat. »War Lady Ravenscrofts Schwester ihr sehr ähnlich?« »Im Aussehen waren sie sich sehr ähnlich, obwohl ihr Gesicht anders war. Sie befand sich in einem Spannungszustand, den Lady Ravenscroft nicht an sich kannte. Sie hatte eine starke Abneigung gegen Kinder. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht hatte sie früher einmal eine Fehlgeburt. Vielleicht hatte sie sich immer ein Kind gewünscht und nie eines bekommen. Aber irgendwie konnte sie Kinder nicht ausstehen. Sie mochte sie nicht.«

»Das hat auch ein- oder zweimal zu ernsten Schwierigkeiten geführt, nicht wahr?«

»Hat Ihnen das jemand erzählt?«

»Ich habe einiges von Leuten erfahren, die die beiden Schwestern kannten, als sie in Indien waren. Lady Ravenscroft lebte mit ihrem Mann dort, und ihre Schwester Dolly besuchte sie. Damals hatte ein Kind einen Unfall, und man sagte, daß Dol-ly zum Teil dafür verantwortlich war. Es gab keine definitiven Beweise, aber soviel ich hörte, ließ Mollys Gatte seine Schwägerin nach England bringen, wo sie wieder zur Behandlung in ein Sanatorium kam.« »Ja, so ähnlich muß es gewesen sein. Natürlich weiß ich das nicht aus eigener Anschauung.« »Ich sehe eigentlich auch keinen Grund, diese lang zurückliegende Geschichte wieder ins Bewußtsein zu rufen. Es ist wohl besser, die Dinge ruhen zu lassen, wenn man sie einmal akzeptiert hat. - Jene Tragödie in Overcliffe hätte verschiedenes sein können, Doppelselbstmord, Mord oder etwas anderes. Man hat Ihnen berichtet, was geschah, aber aus einer kleinen Bemerkung von Ihnen entnehme ich, daß Sie es schon wußten. Sie wissen, was damals passierte, und ich glaube, Sie wissen auch, was einige Zeit davor geschah - oder sagen wir besser, was da begann. Zu der Zeit, als Celia in die Schweiz fuhr und Sie noch in Overcliffe waren. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Wie waren Ihrer Meinung nach die Gefühle General Ravenscrofts gegenüber den beiden Schwestern?«

»Ich weiß, was Sie meinen.«

Zum ersten Mal änderte sich ihr Verhalten ein wenig. Sie war nicht länger auf der Hut, sie beugte sich vor und antwortete, als ob das Sprechen eine große Erleichterung für sie wäre. »Beide waren sehr hübsch«, begann sie. »Das habe ich von vielen Leuten gehört. General Ravenscroft verliebte sich in Dolly, die geistesgestörte Schwester. Wenn sie auch nicht ganz normal war, so war sie doch überaus attraktiv - sinnlich. Er liebte sie sehr, doch dann entdeckte er wohl irgend etwas, das ihn beunruhigt haben muß oder abstieß. Vielleicht erkannte er den beginnenden Wahnsinn, die damit verbundenen Gefahren. Er wandte sich ihrer Schwester zu. Er verliebte sich in sie und heiratete sie.«

»Sie meinen, er liebte sie beide. Nicht zur gleichen Zeit, aber jedesmal war es echte Liebe.« »Ja. Er war Molly sehr ergeben, verließ sich ganz auf sie. Er war ein sehr liebenswerter Mann.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Poirot, »aber ich glaube, auch Sie haben ihn geliebt.«

»Sie - wie können Sie es wagen, so etwas zu sagen?«

»Ich will damit nicht andeuten, daß Sie eine Affäre hatten, absolut nicht. Ich sage nur, daß Sie ihn geliebt haben.«

»Ja«, gab Zelie Meauhourat zu. »Ich habe ihn geliebt. In gewissem Sinn liebe ich ihn noch. Es ist nichts, weswegen ich mich schämen müßte. Er vertraute mir und verließ sich auf mich, aber er hat mich nie geliebt. Man kann lieben und dienen, und dabei glücklich sein. Mehr hab' ich nicht gewollt. Vertrauen, Sympathie ... «

»Und«, unterbrach sie Poirot, »Sie taten, was Sie konnten, um ihm in einer schrecklichen Krise seines Lebens zu helfen. Gewisse Dinge wollen Sie mir nicht verraten. Aber ich möchte Ihnen von meiner Theorie erzählen, die auf bestimmten Informationen basiert. Bevor ich Sie besuchte, habe ich manches gehört, von Leuten, die nicht Lady Ravenscroft allein, sondern auch Dolly kannten. Und ich weiß einiges von Dolly und der Tragödie ihres Lebens, von ihrem Kummer, ihrem Unglück und auch von dem Haß, dem Stückchen Bösen, dem Hang zur Zerstörung, die sich in einer Familie weitervererben können. Wenn sie den Mann liebte, mit dem sie verlobt war, muß sie, als er ihre Schwester heiratete, Haß gegen diese Schwester empfunden haben. Vielleicht hat sie ihr nie ganz verziehen. Aber was war mit Molly Ravenscroft? Stieß ihre Schwester sie ab? Haßte sie sie?«

»Aber nein«, antwortete Zelie Meauhourat, »sie liebte ihre Schwester, mit großer beschützender Liebe. Das weiß ich genau. Sie wollte immer, daß Dolly bei ihnen leben sollte. Sie wollte ihrer Schwester helfen, sie vor sich selbst retten. Sie hatte oft entsetzliche Wutanfälle. Manchmal hatte Molly Angst. Nun, Sie sagten ja schon, daß Dolly eine merkwürdige Abneigung gegen Kinder hatte.«

»Sie meinen, sie mochte Celia nicht?«

»Nein, nein, nicht Celia! Edward! Zweimal hatte Edward beinahe einen Unfall. Einmal hatte sie an einem Wagen herumgefingert, ein andermal hatte sie einen Wutausbruch. Ich weiß, daß Molly froh war, als Edward wieder zur Schule zurückmußte. Er war sehr jung, viel jünger als Celia. Höchstens acht oder neun. Und so sensibel. Molly hatte Angst um ihn.«

>Ja, das kann ich verstehen. Seltsam ist auch die Sache mit den Perücken. Vier Stück - das sind reichlich viele. Ich weiß, wie sie aussahen, daß eine Französin nach London fuhr und sie bestellte. Es gab auch einen Hund. Einen Hund, den General und Lady Ravenscroft an jenem Unglückstag auf den Spaziergang mitnahmen. Kurze Zeit vorher hatte dieser Hund sein Frauchen - Molly Ravenscroft - gebissen.«

»Hunde sind nun mal so«, meinte Zelie Meauhourat. »Man darf ihnen nie ganz trauen.«

»Ich werde Ihnen jetzt erzählen, was sich meiner Ansicht nach an jenem Tag ereignete und was sich vorher ereignete, einige Zeit vorher.«

»Und wenn ich Ihnen nicht zuhören möchte?«

»Sie werden mir zuhören. Danach können Sie mir sagen, daß meine Theorie falsch ist. Ja, dazu wären Sie vielleicht wirklich imstande, obwohl ich es nicht annehme. Glauben Sie mir, was wir brauchen, ist die Wahrheit! Keine Vermutungen oder Spekulationen. Celia und der junge Mann lieben sich und haben Angst vor der Zukunft, weil sie nicht wissen, was damals wirklich geschah, ob Celia durch ihren Vater oder ihre Mutter erblich belastet ist. Celia ist ein rebellisches Mädchen, begabt, vielleicht etwas schwierig, aber intelligent, vernünftig, gefühlvoll, mutig. Und sie braucht - wie manche Menschen - die Wahrheit. Weil sie die Wahrheit ertragen können. Sie nehmen die Wahrheit mit jener mutigen Bereitschaft an, die man braucht, wenn man ein gutes Leben will. Und der junge Mann, den sie liebt, ist ganz auf ihrer Seite. Wollen Sie mir zuhören?«

»Ja«, antwortete Zelie Meauhourat, »ich werde Ihnen zuhören. Sie sind sehr klug, glaube ich, und wissen mehr von der ganzen Tragödie, als ich ahnte. Sprechen Sie!«

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