Arkadij und Boris Strugatzki Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein

Prolog

In jenen Tagen war es, als ich erkannte, was es bedeutet, zu leiden; was es bedeutet, sich zu schämen; was es bedeutet, zu verzweifeln.

Pierre Abelard

Ich muß euch folgendes einschärfen.

Während unseres Einsatzes werdet ihr

zur Aufrechterhaltung der Autorität

bei den Geschützen stehen.

Von den Waffen Gebrauch zu machen

ist euch aber unter keinen Umständen erlaubt.

Unter keinen Umständen.

Habt ihr mich verstanden?

Ernest Hemingway

Der Kolben von Ankas Armbrust war aus schwarzem Kunststoff. Die Sehne war aus Chromstahl und wurde durch einen lautlos schnappenden Hebel bewegt. Anton hielt nicht viel von solchen Neuerungen. Er besaß eine solide Kampfausrüstung im Stil des Marschalls Totz, König Pitz des Ersten. Sie war mit schwarzem Kupfer beschlagen, und an kleinen Rädchen lief eine Schnur aus Stiersehnen. Paschka dagegen hatte ein Luftgewehr. Armbrüste hielt er für kindisch, denn er war von Natur aus faul und unbegabt für Bastelarbeiten.

Sie legten am Nordufer an, dort, wo aus dem gelben Sandabhang die knorrig verwachsenen Wurzeln von mächtigen Kiefern herausragten. Anka ließ das Steuerruder fahren und blickte um sich. Die Sonne stand schon über dem Wald. Ein blauer Nebel hing über dem See. Die Föhren leuchteten dunkelgrün, in der Ferne zog sich ein gelber Sandstrand hin. Über allem lag ein hellblauer Himmel. Die Kinder saßen im Boot, beugten sich über Bord und schauten ins Wasser.

»Nichts zu sehen«, sagte Paschka.

»Ein riesiger Hecht«, sagte Anton mit übertriebener Sicherheit. »Mit solchen Flossen, was?« sagte Paschka.

Anton gab keine Antwort. Auch Anka blickte ins Wasser, sah aber nur ihr eigenes Spiegelbild.

»Baden könnte man«, sagte Paschka und steckte seine Hand bis zum Ellbogen ins Wasser. »Kalt«, meldete er.

Anton kletterte auf den Bug und sprang ans Ufer. Das Boot schaukelte. Anton faßte das Boot und blickte Paschka fragend an. Da erhob sich Paschka, legte sich das Ruder wie einen Tragbalken über den Hals, ging ein wenig in die Knie und sang aus voller Kehle:

Alter Seebär Witzliputzli!

Bist du, Freundchen, auf der Hut?

Da! Ein Schwarm gekochter Haie

Nähert sich dir in der Flut!

Anton rüttelte das Boot. »He, he!« schrie Paschka und hielt sich fest. »Wieso gekocht?«,fragte Anka.

»Weiß ich nicht«, antwortete Paschka. Sie kletterten aus dem Boot. »Ist aber gut, nicht? Ein Schwarm gekochter Haie!« Sie zogen das Boot ans Ufer. Die Füße glitten aus auf dem feuchten Sandboden, der mit vertrockneten Nadeln und Föhrenzapfen übersät war. Das Boot war schwer und schlüpfrig, aber sie zogen es bis zum Heck ans Land. Dann blieben sie stehen und verschnauften ein wenig.

»Beinah meinen Fuß zerquetscht«, sagte Paschka und machte sich daran, seinen roten Fes zurechtzurücken. Er achtete sehr darauf, daß die Troddel genau über dem rechten Ohr saß – wie bei den breitnasigen irukanischen Piraten. »Das Leben ist keinen Pfifferling wert, oh, he!« deklamierte er. Anka saugte angestrengt an einem Finger. »Ein Splitter?« fragte Anton.

»Nein. Aufgeratscht. Einer von euch hat so lange Nägel …«

»Na, zeig her.« Sie zeigte ihm den Finger.

»Ja«, sagte Anton. »Ein Kratzer. – Also, was unternehmen wir?«

»Gewehr über – und das Ufer entlang«, schlug Paschka vor.

»Da hätten wir nicht an Land zu krabbeln brauchen«, sagte Anton. »Im Boot kann das jedes Huhn«, erklärte Paschka. »Aber am Ufer da gibt es: erstens – Schilfrohr, zweitens – Schluchten und drittens – Strudel an den Ufern, mit Aalen. Und Welse gibt es auch.«

»Ein Schwarm gekochter Welse«, sagte Anton. »Na du, hast du schon mal in einem Wasserstrudel getaucht?«

»Na freilich.«

»Ich hab nicht zugeschaut. Komisch, daß ich es nicht gesehen habe.«

»Du hast vieles noch nicht gesehen.«

Anka kehrte ihnen den Rücken zu, erhob ihre Armbrust und schoß aus zwanzig Schritt Entfernung auf eine Kiefer. Rinde splitterte ab.

»Allerhand«, sagte Paschka und schoß gleich mit seinem Luftgewehr nach. Er zielte in Ankas Einschußstelle, schoß aber daneben. »Ich hab die Luft nicht angehalten«, sagte er.

»Und wenn du sie angehalten hättest?« fragte Anton. Er blickte auf Anka.

Anka zog mit einer kräftigen Bewegung den Hebel mit der Bogensehne zurück. Sie hatte prächtige Muskeln, und Anton beobachtete mit Vergnügen, wie unter der gebräunten Haut die harte Kugel des Bizeps rollte.

Anka zielte sorgfältig und schoß noch einmal. Der zweite Pfeil blieb im Stamm stecken, ein wenig tiefer als der erste. »Das hat keinen Sinn«, sagte Anka und ließ die Armbrust sinken. »Was?« fragte Anton.

»Wir schaden nur den Bäumen, das ist alles. Gestern hat so ein Knirps mit einem Pfeil auf einen Baum geschossen, und ich hab ihn gezwungen, den Pfeil mit den Zähnen herauszuziehen.«

»Paschka wäre davongelaufen«, sagte Anton. »Du hast gute Zähne.«

»Und ich kann durch die Zähne pfeifen«, sagte Paschka. »Also«, sagte Anka, »unternehmen wir was!«

»Ich hab keine Lust, Schluchten hinauf und hinunter zu klettern«, sagte Anton.

»Ich auch nicht. Gehen wir geradeaus.«

»Wohin?« fragte Paschka. »Immer der Nase nach.«

»Also?« sagte Anton.

»Also in den Wald«, sagte Paschka. »Toschka, gehen wir auf die Vergessene Straße. Kannst du dich erinnern?«

»Natürlich!«

»Weißt du, Anetschka …«, sagte Paschka.

»Ich bin keine Anetschka für dich«, unterbrach ihn Anka ziemlich schroff. Sie konnte es nicht leiden, wenn man sie anders nannte als Anka.

Anton konnte sich sehr gut daran erinnern, sie hatte es nicht gern. Er sagte rasch: »Ja, die Vergessene Straße. Da fährt schon ewig keiner mehr drauf. Auf der Karte ist sie auch nicht eingezeichnet, und wohin sie führt, ist völlig unbekannt.«

»Und ihr wart schon dort?«

»Ja. Aber wir haben sie noch nicht erforscht.«

»Eine Straße von irgendwoher nach irgendwohin«, konstatierte Paschka, der seine frühere Sicherheit wiedergefunden hatte. »Das ist gut!« sagte Anka. Ihre Augen wurden zu schwarzen Schlitzen. »Gehen wir. Sind wir bis zum Abend dort?«

»Aber was denn! Um zwölf sind wir dort.«

Sie kletterten das Steilufer hinauf. Als sie ganz oben waren, drehte sich Paschka um. Unten lag der blaue See mit gelblich gefleckten Sandbänken, dann war dort das Boot im Sand und große, auseinandergehende Kreise im ölig glatten Uferwasser – wahrscheinlich sprang dort der Hecht von vorhin. Und der Junge fühlte wie immer jene unbestimmte Freude, wie immer, wenn er mit Toschka aus dem Internat entwischte und vor ihnen ein Tag in völliger Freiheit lag – mit unerforschten Plätzen, mit Erdbeeren, mit sonnenverbrannten, menschenleeren Wiesen, mit Eidechsen und eiskaltem Wasser aus unerwarteten Quellen. Und wie immer war es ihm, als müsse er lauthals schreien und hoch in die Luft springen, was er auch gleich tat. Anton schaute ihm lachend zu. Paschka spürte in seinen Augen volles Verständnis. Anka legte zwei Finger in den Mund und ließ einen lauten Pfiff erschallen. Und dann betraten sie den Wald. Es war ein schütterer Föhrenwald. Die Füße schlitterten über den schlüpfrigen Nadelboden. Die schrägen Sonnenstrahlen fielen zwischen die gerade gewachsenen Stämme, und der Boden war ganz von goldgelben Flecken bedeckt. Es roch nach Harz, Seewasser und Erdbeeren. Irgendwo hoch oben trällerte unsichtbar eine Lerche. Anka ging voraus. In der einen Hand trug sie ihre Armbrust, mit der anderen langte sie ab und zu nach einer Erdbeere, die blutrot aus dem Blattwerk hervorleuchtete. Anton ging hinter ihr mit der soliden Kampfausrüstung des Marschall Totz über der Schulter. Der Köcher mit den starken Kampfpfeilen klopfte ihm beim Gehen schwer auf den Hosenboden. Er betrachtete Ankas Hals: Er war sonnenverbrannt, braunschwarz, und man sah die Wirbel herausragen. Manchmal blickte er sich um und suchte Paschka, aber der war nicht zu sehen. Nur von Zeit zu Zeit tauchte sein roter Fes einmal da, einmal dort in der Sonne auf. Anton malte sich aus, wie Paschka, das Luftgewehr im Anschlag, lautlos zwischen den Kiefern dahinkroch, sein mageres Raubtiergesicht mit der Hakennase nach vorn gestreckt. Paschka, wie er durchs Unterholz schlich. Aber der Wald kennt keine Gnade. Das Unterholz fragt – und man muß sofort antworten, dachte Anton und wollte sich schon ducken, aber vor ihm war ja Anka, und sie hätte sich umdrehen können. Und wie würde er dann dastehen! Anka drehte sich um und fragte: »Habt ihr euch leise davongeschlichen?« Anton zuckte mit den Schultern. »Wer schleicht sich schon laut und mit Lärm davon?«

»Ich zum Beispiel. Ich habe anscheinend doch Krach gemacht«, sagte Anka mit besorgter Miene. »Ich habe eine Tasse fallen gelassen – und plötzlich höre ich Schritte im Gang. Wahrscheinlich die alte Jungfer Katja, sie hat heut Dienst. So mußte ich durchs Fenster hinaus in ein Beet springen. Was meinst du, was für Blumen in diesem Beet wachsen, Toschka?« Anton runzelte die Stirn.

»Bei dir unterm Fenster? Ich weiß nicht. Welche denn?«

»Ziemlich widerspenstige Blumen. >Kein Wind, der sie wiegt, kein Sturm, der sie bricht.< Jahrelang kannst du daraufspringen, und es macht ihnen nichts aus.«

»Interessant«, sagte Anton tiefsinnig. Er dachte daran, daß unter seinem Fenster auch ein Beet mit Blumen war, die >kein Wind wiegte und kein Sturm brach<. Aber er hatte das eigentlich nie beachtet.

Anka blieb stehen, wartete, bis er nachgekommen war, und streckte ihm eine Hand voll Erdbeeren entgegen. Anton faßte mit den Fingerspitzen genau drei Stück. »Nimm dir doch«, sagte Anka.

»Danke«, sagte Anton. »Ich zupfe sie gern einzeln ab. – Aber die alte Jungfer Katja, mit der kann man doch ganz gut auskommen, oder?«

»Wie man’s nimmt«, sagte Anka. »Wenn einem jeden Abend jemand sagt: deine Füße sind schmutzig, und dann wieder staubig …«

Sie verstummte. Es tat außerordentlich gut, mit ihr Schulter an Schulter durch den Wald zu gehen, und die nackten Ellbogen berührten sich hie und da. Und es tat auch gut, sie zu betrachten, wie schön sie war, wie flink und so freundlich, und was sie doch für große graue Augen hatte, und was für schwarze Wimpern. »Ja«, sagte Anton und streckte die Hand aus, um nach einer Spinnwebe zu fassen, die in der Sonne glänzte, »die hat freilich keine schmutzigen Füße. Wenn dich einer auf den Händen durch jede Pfütze trägt, dann wirst du nicht schmutzig, verstehst du …?«

»Wer trägt sie denn?«

»Der Heinrich von der Wetterstation. So ein kräftiger Kerl, weißt du, ein blonder.«

»So!«

»Das weißt du nicht? Alle Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß die zwei verliebt sind.«

Sie schwiegen wieder. Anton blickte Anka an. Ihre Augen waren wie schwarze Höhlen.

»Und wann soll das gewesen sein?« fragte sie. »In einer Mondnacht halt«, antwortete Anton ohne besonderen Eifer. »Paß nur auf, daß du es nicht weitersagst.« Anka lachte auf.

»Es hat dich niemand an der Zunge gezogen, Toschka«, sagte sie. »Willst du Erdbeeren?«

Anton nahm ganz automatisch ein paar Beeren aus ihrer rotgefleckten Hand und steckte sie in den Mund. Ich mag keine Schwätzer, dachte er. Klatschmäuler kann ich nicht ausstehen. Plötzlich fiel ihm etwas ein.

»Dich wird man auch einmal auf den Armen herumtragen. Wird es dir angenehm sein, wenn dann darüber geredet wird?«

»Woher willst du wissen, daß ich dann rede«, sagte Anka zerstreut. »Ich mag Klatsch überhaupt nicht.«

»Hör mal, hast du dir was einfallen lassen?«

»Nichts Besonderes.« Anka zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie in vertraulichem Ton: »Weißt du, ich hab es richtig satt, mir jeden Abend zweimal die Füße zu waschen.«

Arme alte Jungfer Katja, dachte Anton. Gegen den Wald kommst du nicht auf.

Sie kamen auf einen engen Pfad. Der Pfad führte bergab, und der Wald wurde immer dunkler. Farnkraut wucherte hier und hohes saures Gras. Die Stämme der Föhren waren mit Moos bedeckt und mit einem weißen Schaum von Flechten.

Aber der Wald kennt keine Gnade: Eine heisere, schrille Stimme, in der nichts Menschliches war, brüllte plötzlich: »Halt! Werft die Waffen weg – du, edler Don, und du, Dona!« Wenn der Wald fragt, muß man sofort antworten. Mit einer genau berechneten Bewegung warf Anton Anka in das Farnkraut links vom Weg, und er selber sprang nach rechts ins Farnkraut, rutschte ein wenig aus und versteckte sich hinter dem faulen Flechtenschaum. Das heisere Echo tönte noch von den Föhrenstämmen, aber der Pfad war schon leer. Mit einem Mal war es ganz still. Anton drehte sich auf die Seite und spannte seinen Bogen. Da schlug ein Pfeil auf, und auf Anton rieselte allerhand Dreck herab. Die heisere unmenschliche Stimme meldete: »Der Don ist in die Ferse getroffen!« Anton stöhnte auf und zog ein Bein an.

»Aber doch nicht in die, in die rechte!« korrigierte die Stimme. Man hörte Paschka kichern. Anton lugte vorsichtig aus dem Farnkraut hervor, aber es war nichts zu sehen in dem dämmrigen, grünen Dschungel.

Im selben Augenblick ertönte ein durchdringendes Pfeifen und ein Lärm, als ob ein Baum umfiele.

»Uauuh …!« brüllte Paschka mit gequälter Stimme. »Schonung! Schonung! Bringt mich nicht um!« Anton sprang sofort auf. Aus dem Farnkraut kam ihm schwankend Paschka entgegen. Er hatte die Hände über dem Kopf erhoben. Die Stimme Ankas fragte:

»Toschka, siehst du ihn?«

»Ganz genau«, sagte Anton aufmunternd. »Nicht von der Stelle rühren!« schrie er zu Paschka hin. »Hände hinter den Kopf!«

Paschka verschränkte gehorsam die Hände hinter dem Kopf und erklärte:

»Ich werde nichts verraten.«

»Was soll mit ihm geschehen, Toschka?« fragte Anka.

»Wirst du gleich sehen«, sagte Anton, setzte sich gemütlich zurecht und hob die Armbrust auf seine Knie.

»Name!« quakte er mit der Stimme der Hexe von Irukan.

Paschka krümmte nur den Rücken und machte eine verächtliche Geste. Er wollte sich nicht unterwerfen. Anton feuerte. Der schwere Pfeil drang mit Krachen in das Geäst oberhalb von Paschkas Kopf ein.

»Oho!« sagte die Stimme Ankas.

»Man nennt mich Don Sarandia«, gestand Paschka unwillig. Und dann deklamierte er: »Und hier liegt er, wie man sieht, einer von seinen Komplizen.«

»Ein berüchtigter Gewalttäter und Mörder«, stellte Anton klar.

»Aber er tut nie etwas umsonst. In wessen Auftrag treibst du dich hier herum?«

»Don Satarina, der Erbarmungslose, hat mich geschickt«, log Paschka.

Anton sagte verächtlich:

»Diese Hand hier zerriß vor zwei Jahren am Platz der Schweren Schwerter den Faden des stinkenden Lebens von Don Satarina.«

»Soll ich ihn mit einem Pfeil durchbohren?« schlug Anka vor.

»Ich habe ganz vergessen«, sagte Paschka eilig. »In Wirklichkeit schickte mich Arata, der Schöne. Er hat mir hundert Golddukaten für eure Köpfe versprochen.«

Anton schlug sich auf die Knie.

»So ein Lügner!« schrie er. »Ja, glaubst du denn, Arata läßt sich mit so einem Gauner wie dir ein?!«

»Vielleicht soll ich ihn doch mit einem Pfeil durchbohren?« fragte Anka blutgierig.

Anton lachte dämonisch.

»Übrigens«, sagte Paschka, »du hast einen Schuß in der rechten Ferse. Du mußt schon längst vor lauter Blutverlust umgefallen sein!«

»Quatsch!« entgegnete Anton. »Erstens kaue ich ständig die Rinde des Weißen Baumes, und zweitens haben mir zwei schöne Barbarinnen die Wunde verbunden.«

Das Farnkraut bewegte sich, Anka trat auf den Pfad heraus. Auf der Wange hatte sie einen Kratzer, und ihre Knie waren mit Erde und Flechtenschaum verschmiert.

»Es ist Zeit, daß wir ihn in den Sumpf werfen«, erklärte sie. »Wenn sich der Feind nicht ergibt, wird er vernichtet.« Paschka ließ die Hände sinken.

»Du hältst dich überhaupt nicht an die Spielregeln«, sagte er zu Anton. »Bei dir kommt immer heraus, daß die Hexe ein guter Mensch ist.«

»Was weißt denn du schon!« sagte Anton und trat auch auf den Pfad heraus. »Der Wald kennt keine Gnade, du schmutziger Söldner.«

Anka gab Paschka sein Gewehr zurück.

»Schießt ihr zwei immer so scharf aufeinander?« fragte sie neiderfüllt.

»Na was denn sonst!« wunderte sich Paschka. »Sollen wir vielleicht schreien krach, krach! Piff, paff! – Was? Im Spiel muß immer ein Risiko dabei sein.« Anton sagte nachlässig:

»Wir spielen zum Beispiel häufig Wilhelm Tell.«

»Abwechselnd«, ereiferte sich Paschka. »Heute stelle ich mich mit dem Apfel auf dem Kopf hin, und morgen er.«

»So, so«, sagte sie gedehnt. »Ich würde da gern mal zuschauen.«

»Mit Vergnügen würden wir es dir gleich vorführen«, sagte Anton bissig. »Nur leider ist kein Apfel da!«

Paschka verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Da riß ihm Anka seinen Piratenfes vom Kopf und drehte daraus rasch eine lange Tüte.

»Ein Apfel, das gilt nur bedingt«, sagte sie. »Das hier ist eine herrliche Zielscheibe. Spielen wir Wilhelm Tell!«

Anton nahm die rote Tüte und betrachtete sie aufmerksam. Er blickte auf Anka, ihre Augen waren wie dunkle Höhlen. Paschka tanzte herum, er fühlte sich großartig. Anton hielt ihm die Tüte hin.

»Aus dreißig Schritt Entfernung treffe ich eine Karte ins Herz«, sagte er mit flacher Stimme. »Mit einer Pistole, die ich gut kenne, natürlich.«

»Wirklich?« sagte Anka und wandte sich an Paschka: »Und du, mein Freund, triffst du eine Karte auf dreißig Schritt?«

»Einmal probieren wir es«, deklamierte er grinsend. »Zu meiner Zeit schoß ich nicht übel.«

Anton drehte sich um, ging den Pfad entlang und zählte laut: »Fünfzehn … sechzehn … siebzehn …«

Paschka sagte etwas, Anton verstand es nicht, und Anka lachte laut. Irgendwie viel zu laut. »Dreißig«, sagte Anton und drehte sich um.

Auf dreißig Schritt sah Paschka recht klein aus. Das rote Dreieck der Tüte ragte von seinem Kopf in die Höhe wie eine Narrenkappe. Paschka grinste. Er spielte noch immer. Anton beugte sich vor und spannte ohne Eile seinen Bogen.

»Ich segne dich, mein Vater Wilhelm!« schrie Paschka. »Und ich danke dir für alles, was immer auch geschehe!« Anton legte einen Bolzen ein und richtete sich auf. Paschka und Anka blickten auf ihn. Sie standen nebeneinander. Der Pfad lag da wie ein dunkler, feuchter Gang zwischen hohen grünen Mauern. Anton hob die Armbrust. Die Kampfausrüstung des Marschall Totz wurde mit einem Mal ungewöhnlich schwer. Meine Hände zittern, dachte Anton. Das ist schlecht. Ach, Quatsch. Er erinnerte sich, wie er letzten Winter zusammen mit Paschka eine ganze Stunde lang mit Schneebällen auf einen Eisenzapfen an einem Zaunpfahl gezielt hatte. Sie warfen von zwanzig Schritt Entfernung, von fünfzehn und dann von zehn – und hatten noch immer nicht getroffen. Und dann, als es ihnen schon langweilig war und sie am Weggehen waren, warf Paschka den letzten Schneeball, ohne zu zielen, und traf.

Anton drückte den Kolben mit aller Kraft gegen seine Schulter. Anka steht viel zu nahe, dachte er. Er wollte ihr schon zurufen, sie solle ein Stück weggehen, aber da fiel ihm ein, daß das dumm wäre. Höher. Noch höher … Höher … Er war plötzlich felsenfest davon überzeugt, daß der pfundschwere Bolzen, selbst wenn er ihnen den Rücken kehrte, sich in die Nasenwurzel Paschkas bohren würde, mitten zwischen die fröhlichen grünen Augen. Er öffnete die Augen und blickte auf Paschka. Paschkas Grinsen war verschwunden. Anka hob langsam, ganz langsam die Hand, mit gespreizten Fingern, und ihr Gesicht sah angespannt und sehr erwachsen aus. Da hob Anton seine Armbrust noch höher und drückte den Abzug. Er sah nicht, wohin der Pfeil geflogen war. »Daneben«, sagte er sehr laut.

Er ging weiter auf dem Pfad, aber seine Beine wollten nicht so recht gehorchen. Paschka fuhr sich mit der roten Tüte übers Gesicht, schüttelte sich ein wenig, nahm die Tüte auseinander und machte wieder seinen Fes daraus. Anka bückte sich und hob ihre Armbrust auf. Wenn sie mich damit auf den Kopf schlägt, dachte Anton, sage ich ihr dankeschön dafür. Aber Anka schaute ihn nicht einmal an.

Sie wandte sich zu Paschka und fragte: »Gehen wir?«

»Gleich«, sagte Paschka.

Er blickte auf Anton und tippte sich mit dem gekrümmten Finger gegen die Stirn.

»Und du hast doch Angst gehabt«, sagte Anton. Paschka tippte noch einmal mit dem Finger gegen die Stirn und folgte dann Anka. Anton schlenderte hinterher und versuchte, mit seinen Zweifeln fertigzuwerden.

Was habe ich denn eigentlich getan, dachte er. Der Kopf war ihm plötzlich sehr schwer. Wieso spielen sie die Beleidigten? Paschka, na schön, der hat Angst gehabt. Bloß ist noch nicht geklärt, wer sich mehr fürchtete: Tell-Papa oder Tell-Sohn. Aber was ist mit Anka los? Vielleicht hat sie Angst gehabt um Paschka. Aber was hätte ich denn tun sollen? Jetzt gehe ich hinter ihnen her wie ein Ausgestoßener. Ich kann ja fortlaufen. Gleich werde ich nach links abbiegen, dort ist ein schöner Tümpel. Vielleicht fange ich sogar eine Eule. – Aber er verlangsamte nicht einmal seinen Schritt. Das heißt also »für immer«, dachte er. Er hatte gelesen, daß das häufig vorkam.

Sie erreichten die Vergessene Straße sogar früher, als sie gedacht hatten. Die Sonne stand schon hoch, es war sehr heiß. Die Föhrennadeln stachen im Genick. Es war eine Betonstraße, und sie bestand aus zwei Reihen geborstener, rötlichgrauer Blöcke. In den Fugen wuchs ein dichtes, vertrocknetes Gras. Die Bankette zu beiden Seiten waren voll von staubigen Kletten. Über der Straße flogen dicke Schmeißfliegen mit Gebrumm dahin, und eine freche bumste Anton genau gegen die Stirn. Es war still und schwül. »Schaut!« sagte Paschka.

Über der Straßenmitte hing an einem rostigen, quergespannten Draht eine runde Eisentafel, von der die Farbe abgeblättert war. Mit Mühe war noch zu erkennen, daß es ein heller Querstrich auf rotem Hintergrund war.

»Was ist das?« fragte Anka ohne besonderes Interesse. »Ein Verkehrszeichen«, sagte Paschka. »Einfahrt verboten.«

»Negative Einbahn«, erläuterte Anton näher. »Wozu ist das gut?« fragte Anka.

»Das heißt, man darf dort nicht hineinfahren«, sagte Paschka. »Aber wozu ist dann eine Straße da?« Paschka zuckte mit den Schultern. »Das ist ein sehr alter Weg«, sagte er.

»Ein anisotroper Weg«, erklärte Anton. Anka stand mit dem Rücken zu ihm. »Der Verkehr geht nur in eine Richtung.«

»Wie weise waren doch unsere Vorfahren«, sagte Paschka nachdenklich. »Da fährst du so zweihundert Kilometer gemütlich dahin, und auf einmal – bumms! – Einfahrt verboten! Und du darfst nicht mehr weiterfahren, und fragen kann man auch niemanden.«

»Stellt euch nur vor, was da hinter diesem Verkehrszeichen alles sein kann!« sagte Anka. Sie blickte um sich. Ringsum war auf viele Kilometer nichts als menschenleerer Wald, und man konnte niemanden fragen, was da wohl hinter dem Verkehrszeichen lag. »Aber vielleicht ist es gar kein negatives Einbahnschild«, sagte Anka. »Die Farbe ist ja schon ganz abgeblättert …«

Da legte Anton an, zielte sorgfältig und schoß. Es wäre zu schön, wenn der Pfeil den Draht durchschlagen und das Verkehrsschild genau Anka vor die Füße fallen würde. Aber der Pfeil traf in die obere Hälfte des Schildes, durchschlug das rostige Eisen, und herunter rieselte nur vertrocknete Farbe.

»Esel!« sagte Anka, ohne sich umzudrehen.

Das war das erste Wort, mit dem sie ihn bedachte, nachdem sie Wilhelm Tell gespielt hatten. Anton lächelte schief. »And enterprises of great pitch and moment«, deklamierte er, »with this regard their current turn away and lose the name of action.«

Der treue Paschka schrie:

»Kinder, hier ist ein Auto gefahren! Nach dem Gewitter! Da ist das Gras noch niedergedrückt! Und hier …«

Paschka hat Glück, dachte Anton. Aufmerksam betrachtete er die Spuren auf der Straße. Auch er sah das zusammengedrückte Gras und einen schwarzen Streifen an jener Stelle, wo das Auto vor einem Schlagloch im Beton gebremst haben mußte. »Aha!« sagte Paschka. »Der ist von hinter dem Schild gekommen.« Das war ganz klar, aber Anton sagte: »Quatsch, er ist von der andern Seite gekommen!« Paschka schaute ihn mit erstaunten Augen an: »Was ist mit dir los? Bist du blind geworden?«

»Er ist von der andern Seite gekommen«, behauptete Anton hartnäckig. »Gehen wir der Spur nach.«

»Unsinn!« ereiferte sich Paschka. »Erstens fährt kein anständiger Fahrer gegen die Einbahn. Und zweitens, schau: hier ist das Schlagloch und dort die Bremsspur … Also, woher ist er gekommen?«

»Was gehen mich deine anständigen Fahrer an? Ich bin selber keiner von der Sorte, und ich geh jetzt in diese Richtung, gegen die Einbahn.«

Paschka wurde ganz weiß im Gesicht. »Geh, wohin du willst!« sagte er zornig. Er bekam einen leichten Schluckauf. »So ein Blödsinn. In der Hitze ist dir wohl das Hirn verraucht, was?« Anton drehte sich um, blickte gerade vor sich hin, bückte sich unter dem Verkehrsschild durch und ging davon. Er wünschte sich nur eines: auf eine eingefallene Brücke zu stoßen und sich auf die andere Seite hinüberarbeiten zu müssen. Was habe ich mit diesen Anständigen zu tun, dachte er. Sollen sie doch gehen, wohin sie wollen … Mit ihrem kleinen Paschka. Da fiel ihm ein, wie Anka Paschka das Wort abgeschnitten hatte, als er sie Anetschka genannt hatte, und es wurde ihm ein wenig leichter. Er blickte sich um.

Paschka entdeckte er gleich. Don Sarancha ging, vornübergebeugt wie ein Fährtenhund, der Spur des geheimnisvollen Autos nach. Die rostige Tafel über der Straße schaukelte leicht im Wind, und durch das Loch blitzte das Blau des Himmels. Anka saß am Bankett. Sie hatte ihre Ellbogen auf die nackten Knie gestützt, und ihr Kinn ruhte auf den kleinen geballten Fäusten.

Als sie zurückkehrten, dämmerte es schon. Die beiden Jungen ruderten, Anka saß am Steuer. Über dem dunklen Wald stand ein roter Mond, und unermüdlich quakten die Frösche. »Es war alles so schön geplant«, sagte Anka traurig. »Ach, ihr …!« Die Jungen schwiegen. Dann fragte Paschka mit gedämpfter Stimme:

»Toschka, was ist dort gewesen – hinter dem Einbahnzeichen?«

»Eine eingefallene Brücke«, antwortete Anton. »Und das Skelett eines Deutschen, mit Ketten an ein MG geschmiedet.« Er überlegte kurz und fügte dann hinzu: »Das MG ist schon halb in der Erde versunken …«

»Hmm, ja …«, sagte Paschka. »Das kommt vor. Und ich, ich hab dort hinten einem sein Auto reparieren geholfen.«

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