Er lag auf einem Grashügel und blickte in die Wolken, die am tiefen blauen Himmel dahinschwammen. Ihm war ruhig und wohl zumute, doch auf dem Grashügel nebenan hockte ein knochiger, stechender Schmerz. Er war außerhalb von ihm und doch auch in seinem Innern, besonders in der rechten Seite und im Genick. Jemand schnarrte: »Ist er krepiert, was? Ich reiße euch die Köpfe ab!« Und dann ergoß sich vom Himmel eine ungeheure Menge eiskalten Wassers auf ihn herab. Er lag tatsächlich auf dem Rücken und blickte in den Himmel, bloß nicht auf einem Grashügel, sondern in einer Wasserpfütze, und der Himmel war nicht blau, sondern bleiern schwarz, von roten Streifen überzogen. »Ach was«, sagte eine andere Stimme. »Sind am Leben. Wackeln mit den Augen.« Das bin ich, der am Leben ist, dachte er. Das geht mich an. Das bin ich, der mit den Augen wackelt. Aber was soll dieses blöde Gefasel? Haben sie die menschliche Sprache verlernt? Nebenan bewegte sich jemand und schlug mit einem schweren Gegenstand aufs Wasser. Am Himmel erschien die schwarze Silhouette eines Kopfes mit einer flachen Kappe.
»Also wie, mein edler Don, werdet Ihr selber gehen, oder soll ich Euch schleppen lassen?«
»Nehmt mir die Fesseln von den Füßen herunter!« fuhr ihn Rumata an, fühlte aber sofort einen stechenden Schmerz in seinen zerschlagenen Lippen. Er tastete sie mit der Zunge ab. Das sind mir Lippen, dachte er. Fladen sind das, aber keine Lippen … Jemand machte sich an seinen Füßen zu schaffen und stieß und zog sie ohne viel Zeremonien hin und her. Um ihn herum unterhielt man sich halblaut. »Schön habt ihr ihn zugerichtet …«
»Aber was denn, entkommen ist er uns beinahe … Verhext ist er, die Pfeile springen ab von ihm …«
»Ich kannte da einen, den konnte man mit dem Beil bearbeiten, und er zuckte nicht mit der Wimper.«
»Ja, das war vielleicht ein Bauer …«
»Freilich, ein Bauer …«
»Na siehst du. Aber der da hat blaues Blut.«
»Ha, der Schlag soll dich treffen … Knoten haben sie geknüpft, die bringt kein Teufel auseinander … Gebt Feuer her!«
»Nimm doch ein Messer!«
»Ach, Brüder, ach, macht ihm die Fesseln nicht auf. Gleich wird er wieder auf uns losdreschen … Mir hätte er beinahe den Kopf abgeschlagen.«
»Na schön, er wird schon nicht …«
»Ihr könnt sagen, was ihr wollt, Brüder, aber ich habe es ihm gegeben mit dem Speer. Sogar seinen Panzer habe ich durchschlagen.«
Eine gebieterische Stimme rief aus der Dunkelheit: »He, macht weiter dort!«
Rumata fühlte, daß seine Füße nun frei waren, er streckte sie kräftig und fiel gleich wieder hin. Einige Sturmowiki, die auf der Erde hockten, schauten schweigend zu, wie er sich in der Pfütze wälzte. Rumata knirschte mit den Zähnen vor Scham und Erniedrigung. Er zuckte mit den Schulterblättern: Die Hände waren ihm gefesselt und auf den Rücken verdreht, aber so stark, daß er nicht einmal wußte, wo seine Handflächen und wo seine Ellbogen waren. Er sammelte alle Kraft, riß sich mit einem Schwung in die Höhe und krümmte sich aber sofort wieder zusammen vor Schmerzen. Die Sturmowiki lachten.
»Daß er uns nicht entwischt«, sagte einer.
»Ja, mir scheint, er ist ein wenig müde … Der Schlag soll dich treffen …«
»He, Don, nicht angenehm, was?«
»Schluß mit dem Geschwätz«, sagte die gebieterische Stimme aus der Dunkelheit. »Kommt her, Don Rumata!«
Rumata ging auf die Stimme zu und fühlte, wie er beim Gehen unsicher von einer Seite auf die andere wankte. Von irgendwoher tauchte ein Mann mit einer Fackel auf und ging ihm voran. Rumata erkannte diesen Ort. Es war einer der unzähligen kleinen Innenhöfe des Sicherheitsministeriums, in der Nähe der Hofstallungen. Er überlegte rasch. Wenn sie ihn nach rechts führten, hieß das: in den Turm, ins Verließ. Nach links: in die Kanzlei. Er schüttelte den Kopf. Ach was, dachte er. Ich bin noch am Leben, also schlage ich mich schon noch ein bißchen durch. – Sie gingen nach links. Zumindest nicht gleich, dachte Rumata. Eine vorherige Untersuchung, ein Verhör. Schrecklich. Wenn es schon zu einem Verhör kommt, was können sie mir vorwerfen, wessen können sie mich anklagen? Nun, ist ja klar. Anstiftung des Giftmischers Budach, Vergiftung des Königs, Verschwörung gegen die Krone … Möglicherweise Mord am Prinzen. Und, selbstverständlich, Spionage für Irukan, Soan, die Barbaren, die Barone, den Heiligen Orden und so weiter und so weiter … Bloß erstaunlich, daß ich noch lebe. Das heißt also, er hat sich noch irgendwas einfallen lassen, dieser fahle Pilz. »Hierher«, sagte der Mann mit der gebieterischen Stimme. Eine niedrige Tür wurde aufgestoßen, Rumata zog den Kopf ein und kam in einen großen Raum, der von einem Dutzend Kandelaber erleuchtet war. In der Mitte saßen und lagen auf einem zerfetzten Teppich gefesselte blutüberströmte Menschen. Einige von ihnen waren schon tot oder hatten das Bewußtsein verloren. Fast alle waren barfuß und nur mit einem zerschlissenen Nachthemd bekleidet. An den Wänden standen, nachlässig auf ihre Beile und Streitäxte gestützt, die rotschnäuzigen Sturmowiki. Sie warfen wilde Blicke um sich und waren zufrieden – sie hatten gesiegt. Vor ihnen defilierte, die Hände auf dem Rücken, der wachhabende Offizier. Er steckte in einer grauen Uniform mit reichlich speckigem Kragen. Der Begleiter Rumatas, ein großer Mann in schwarzem Überwurf, ging auf den Offizier zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Offizier nickte, betrachtete Rumata mit Interesse und verschwand hinter schweren farbigen Vorhängen am anderen Ende des Zimmers.
Die Sturmowiki musterten Rumata ebenfalls mit Interesse. Einer von ihnen, der ein trübes Auge hatte, sagte: »Das nenne ich einen Edelstein, auf seiner Stirn!«
»Der Stein ist nicht übel«, stimmte ihm ein anderer zu. »Eine Beute für den König. Und der Reif aus purem Gold.«
»Wir sind jetzt selber die Könige.«
»Also dann, herunter damit, was?«
»Schert euch weg da«, sagte der Mann im schwarzen Mantel halblaut.
Die Sturmowiki starrten ihn verwundert an.
»Will uns da schon wieder jemand bemuttern?« fragte der Sturmowik mit dem trüben Auge. Der Mann im Mantel gab ihm keine Antwort, kehrte ihm den Rücken und stellte sich neben Rumata. Die Sturmowiki musterten ihn mit mißmutigen Blicken von Kopf bis Fuß. »Vielleicht ein Pfaff?« sagte der Sturmowik mit dem trüben Auge. »He, Pfaff, willst eine in die Laff?«
Die Sturmowiki gackerten vor Lachen. Der Mann mit dem trüben Auge spuckte sich in die Hände, warf sein Beil von einer Hand in die andere und bewegte sich auf Rumata zu. Also, jetzt werde ich es ihm aber gleich zeigen, dachte Rumata und zog seinen rechten Fuß langsam zurück.
»Auf wen ich immer eingedroschen habe«, fuhr der Sturmowik fort, blieb vor ihm stehen und stierte auf den Mann in Schwarz, »das sind die Pfaffen, jegliches gelehrte Gesindel und die Herren Meister. Einmal, da …«
Der Mann mit dem Oberwurf hob die flache Hand empor. Da ertönte ein surrendes Schnalzen unterhalb der Zimmerdecke. Sch-Sch-Sch! Der Sturmowik mit dem trüben Auge ließ das Beil fallen und stürzte auf den Rücken. In der Mitte seiner Stirn steckte ein dicker, gefiederter Pfeil. Mit einem Mal war es ganz still. Die Sturmowiki traten verwirrt von einem Fuß auf den andern, ihre Augen huschten ängstlich über die Öffnungen unterhalb der Zimmerdecke.
»Weg mit dem Kadaver, rasch!«
Einige Sturmowiki bückten sich, faßten den Erschossenen an Händen und Füßen und schleiften ihn hinaus. Aus den Vorhängen tauchte ein Grauer Offizier hervor und machte eine einladende Handbewegung.
»Gehen wir, Don Rumata«, sagte der Mann im schwarzen Mantel. An dem Haufen der zusammengedrängten Gefangenen vorbei ging Rumata zu den Vorhängen. Ich verstehe nichts mehr, dachte er. Hinter den Vorhängen faßten sie ihn im Finstern, tasteten mit geübten Fingern seinen ganzen Körper ab, rissen ihm die leeren Schwerthülsen vom Gürtel und stießen ihn ins Licht. Rumata wußte sofort, wohin er geraten war.
Das war das berüchtigte Kabinett des Don Reba in den lila Gemächern. Don Reba saß auf demselben Platz und nahm dieselbe Pose ein wie damals, straff aufgerichtet, die Ellbogen auf dem Tisch, die Finger verschränkt. Der Alte hat doch sicher Hämorrhoiden, schoß es Rumata ganz unvermittelt durch den Kopf. Er tat ihm leid. Rechts von Don Reba thronte Vater Zupik, wichtigtuerisch, ganz konzentriert und mit zusammengebissenen Lippen. Zur Linken Don Rebas saß ein gutmütig lächelnder Dickwanst mit den Epauletten eines Kapitäns der Grauen Rotte auf den Schultern. Sonst war niemand im Kabinett. Als Rumata eintrat, sagte Don Reba wohlwollend und leise:
»Ah, hier, meine Freunde, haben wir auch den edlen Don Rumata.« Vater Zupik lächelte herablassend, und der Dickwanst fing wohlgefällig mit dem Kopf zu nicken an.
»Unser alter und überaus konsequenter Feind«, sagte Don Reba. »Ein Feind …? Erhängen …!« konstatierte Vater Zupik heiser. »Und Ihre Meinung, Bruder Aba?« fragte Don Reba und wandte sich mit einem warnendem Blick dem Dickwanst zu. »Sie wissen … ich habe sogar irgendwie …«, Bruder Aba lächelte ziemlich kindlich und verloren und fuhr mit seinen kurzen Armen in der Luft herum. »Irgendwie, wissen Sie, ist es mir eigentlich ganz egal. Aber vielleicht sollte man ihn trotzdem nicht hängen? … Vielleicht verbrennen, wie, was denken Sie, Don Reba?«
»Warum nicht«, sagte Don Reba versonnen.
»Sie verstehen«, fuhr Bruder Aba in seiner Verzweiflung fort und warf Don Rumata ein eigentümlich freundliches Lächeln zu. »Im allgemeinen erhängt man das Gesindel, kleine Fische … Wir aber müssen vor dem Volk respektvolle Beziehungen zu den hohen Ständen wahren. Er ist ja trotz allem ein Sproß aus altem Adel, ein bedeutender irukanischer Spion … ein irukanischer, nicht wahr, ich habe mich doch nicht geirrt? …« Er nahm vom Tisch ein Blatt Papier und stierte kurzsichtig hinein. »Ah, und außerdem noch ein soanischer … Nun, um so schlimmer!«
»Dann eben verbrennen«, stimmte Vater Zupik ein. »Gut«, sagte Don Reba. »Wir sind uns einig. Verbrennen!«
»Übrigens glaube ich, Don Rumata kann sich sein Los erleichtern!« sagte Bruder Aba. »Versteht Ihr mich, Don Reba?«
»Wenn ich ehrlich bin, nicht ganz.«
»Sein Vermögen! Mein edler Don, sein Vermögen! Die Rumatas sind ein märchenhaft reiches Geschlecht …!«
»Sie haben wie immer recht«, sagte Don Reba.
Vater Zupik gähnte, bedeckte seinen Mund mit der Hand und schielte auf die schweren lila Vorhänge rechts vom Tisch. »So, dann beginnen wir halt in aller Form«, sagte Don Reba mit einem Seufzer.
Vater Zupik schielte noch immer auf die Vorhänge. Offensichtlich wartete er auf etwas ganz Bestimmtes und hatte überhaupt kein Interesse an dem Verhör. Was ist das für eine Komödie? dachte Rumata. Was soll das bedeuten?
»Nun, mein edler Don«, sagte Don Reba und wandte sich an Rumata, »es wäre außerordentlich angenehm, Ihre Antworten auf einige Fragen zu hören, die uns interessieren.«
»Nehmen Sie mir die Fesseln von den Händen«, sagte Rumata. Vater Zupik fuhr zusammen und führte mit den Lippen zweifelnde Kaubewegungen durch. Bruder Aba wiegte aufgeregt den Kopf. »Nun?« sagte Don Reba und blickte zuerst auf Bruder Aba und dann auf Vater Zupik. »Ich verstehe euch schon, meine Freunde. Indessen, wenn man die Umstände in Betracht zieht, die Don Rumata wahrscheinlich erraten wird …«, mit einem bedeutungsvollen Blick streifte er die Reihen der Maueröffnungen unterhalb der Decke. »Nehmt ihm die Fesseln ab«, sagte er im gleichen ruhigen Tonfall.
Unhörbar trat jemand von hinten an Rumata heran. Er fühlte, wie ein paar merkwürdig weiche, geschickte Finger seine Hände berührten, und er hörte, wie die Stricke durchschnitten wurden. Bruder Aba zog mit einer für sein Aussehen unglaublichen Behendigkeit eine riesige Kriegsarmbrust unter dem Tisch hervor und legte sie vor sich hin, geradewegs auf die Papiere. Rumatas Arme fielen wie zwei lange Zöpfe kraftlos an seinem Körper herab. Sie waren fast gefühllos.
»Also fangen wir an«, sagte Don Reba munter. »Ihr Name, Geschlecht, Rang?«
»Rumata, aus dem Geschlecht der estorischen Rumatas. Edler Höfling seit zweiundzwanzig Generationen.«
Rumata blickte um sich, setzte sich auf ein Sofa und begann seine Handgelenke zu massieren. Bruder Aba schnappte aufgeregt nach Luft und legte auf ihn an. »Ihr Vater?«
»Mein edler Vater – kaiserlicher Rat, unterwürfiger Diener und persönlicher Freund des Kaisers.«
»Ist er am Leben?«
»Er ist gestorben.«
»Wann?«
»Vor elf Jahren.«
»Wie alt sind Sie?«
Rumata fand keine Zeit zur Antwort. Hinter dem lila Vorhang drangen plötzlich Geräusche hervor, und Bruder Aba blickte sich argwöhnisch um. Vater Zupik erhob sich langsam und lachte böse. »Nun, da haben wir’s, meine Herren …«, wollte er schadenfreudig beginnen.
Hinter dem schweren Vorhang sprangen drei Männer hervor, die Rumata hier am allerwenigsten erwartet hätte. Vater Zupik ging es offenbar ebenso. Es waren kraftstrotzende Mönche in schwarzen Kutten mit über die Augen gezogenen Kapuzen. Rasch und geräuschlos sprangen sie auf Vater Zupik zu und ergriffen ihn an den Ellbogen.
»Ah …! Teufel …!« brachte er irgendwie hervor. Tödliche Blässe überzog sein Gesicht. Zweifellos hatte er etwas ganz anderes erwartet.
»Was meinen Sie, Bruder Aba?« erkundigte sich Don Reba gelassen und neigte sich ein wenig dem Dickwanst zu. »Ja natürlich!« gab jener entschlossen zur Antwort. »Selbstverständlich!«
Don Reba erteilte einen leichten Wink mit der Hand. Die Mönche hoben Vater Zupik aus dem Stand und trugen ihn, noch immer geräuschlos auftretend, hinter den Vorhang. Rumata runzelte angeekelt die Stirn. Bruder Aba rieb seine weichen Handflächen und sagte kühn:
»Alles glänzend verlaufen, was denken Sie, Don Reba?«
»Ja, nicht schlecht«, nickte Don Reba zustimmend. »Aber fahren wir fort. Also, wie alt sind Sie, Don Rumata?«
»Fünfunddreißig Jahre.«
»Wann sind Sie nach Arkanar gekommen?«
»Vor fünf Jahren.«
»Woher?«
»Bis dahin lebte ich in Estorien, in meinem Stammschloß.«
»Und was war das Ziel dieser Übersiedlung?«
»Umstände zwangen mich, Estorien zu verlassen. Ich war auf der Suche nach einer Stadt, die es mit dem Glanz der Hauptstadt aufnehmen konnte.«
Endlich begann er in seinen Armen ein feuriges Rieseln zu fühlen. Geduldig und ausdauernd fuhr Rumata fort, seine angeschwollenen Gelenke zu massieren.
»Und was waren das für Umstände?« fragte Don Reba. »Ich tötete im Duell ein Mitglied der kaiserlichen Familie!«
»Ah! Und wen?«
»Den jungen Herzog Ekin.«
»Was war die Ursache des Duells?«
»Eine Frau«, antwortete Rumata kurz.
Langsam schöpfte er Verdacht, daß alle diese Fragen eigentlich nichts bedeuteten. Daß sie zum Spiel gehörten wie die Beratung über die Art seiner Hinrichtung.
Alle drei warteten sie auf irgend etwas. Ich warte, bis ich meine Hände wieder voll gebrauchen kann. Bruder Aba – ein Dummkopf – wartet, daß ich ihm das Gold aus dem Familienschatz der Rumatas in den Schoß schütte. Don Reba wartet auch auf etwas … Aber die Mönche, die Mönche! Wie kommen die Mönche an den Hof? Und noch dazu solche geschickten und gewandten Kerle …?
»Der Name der Frau?«
Ach, diese Fragen, dachte Rumata. Dümmere könnte man sich nicht ausdenken. Ich werde versuchen, ihn ein wenig aus dem Konzept zu bringen.
»Dona Rita«, antwortete er.
»Ich hätte nicht erwartet, daß Sie antworten. Ich danke Ihnen …«
»Stets zu Ihren Diensten.«
Don Reba verneigte sich. »Waren Sie einmal in Irukan?«
»Nein.«
»Sind Sie überzeugt?«
»Und Sie …«
»Wir wollen die Wahrheit!« sagte Don Reba belehrend. Bruder Aba produzierte ein zitterndes Nicken. »Nichts als die reine Wahrheit!«
»Aha«, sagte Rumata. »Und mir schien es …« Er verstummte. »Was schien Ihnen?«
»Mir schien es, als wollten Sie in der Hauptsache mein Vermögen in die Hände bekommen. Ich kann mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, Don Reba, wie Ihnen das gelingen sollte?«
»Und eine Schenkung? Eine Schenkung!« schrie Bruder Aba. Rumata lachte so frech wie möglich.
»Du bist ein Esel, Bruder Aba, oder wie immer du heißt … Man sieht doch auf den ersten Blick, daß du ein Kleinkrämer bist. Dir ist wohl unbekannt, daß das Majorat nicht der Übergabe in fremde Hände unterliegt?«
Man sah dem Dickwanst an, daß er nahe daran war, vor Wut zu zerplatzen. Er konnte sich aber beherrschen.
»Es steht Ihnen nicht zu, in einem solchen Ton zu sprechen«, sagte Don Reba mit weicher Stimme.
»Sie wollen die Wahrheit?« entgegnete Rumata. »Hier haben Sie die Wahrheit, die reinste Wahrheit und immer nur die Wahrheit: Bruder Aba ist ein Esel und Kleinkrämer.« Unterdessen hatte sich Bruder Aba schon wieder in der Gewalt. »Mir scheint, wir kommen vom Thema ab«, sagte er mit einem Lächeln. »Was meinen Sie, Don Reba?«
»Sie haben recht, wie immer«, sagte Don Reba. »Mein edler Don, und kamen Sie jemals nach Soan?«
»Ich war in Soan.«
»Mit welchem Ziel?«
»Die Akademie der Wissenschaften zu besuchen.«
»Ein merkwürdiges Ziel für einen jungen Menschen in Ihrer Lage.«
»Meine Laune.«
»Und Sie sind auch mit dem obersten Richter von Soan, mit Don Kondor, bekannt?« Rumata witterte eine Falle. »Das ist ein alter Freund unserer Familie.«
»Ein hochedler Mensch, nicht wahr?«
»Eine ganz verehrungswürdige Person.«
»Ist Ihnen bekannt, daß Don Kondor ein Mitglied der Verschwörung gegen Seine Königliche Hoheit ist?« Rumata schob unmerklich sein Kinn vor.
»Fassen Sie sich selbst an die Nase, Don Reba«, sagte Rumata von oben herab. »Für uns, den alten Adel der Metropole, waren und bleiben auch all diese Soans und Irukaner und auch Arkanarer Vasallen der kaiserlichen Krone!« Er schlug die Beine über Kreuz und wandte sich ab.
Don Reba blickte ihn nachdenklich an. »Sind Sie reich?«
»Ich könnte ganz Arkanar aufkaufen. Aber mich interessiert keine Jauche …«
Don Reba holte tief Atem.
»Mein Herz blutet«, sagte er, »wenn ich daran denke, den so berühmten Zweig eines so berühmten Adelsgeschlechts abzuhacken!… Es wäre geradezu ein Verbrechen, wenn mich nicht die Staatsräson dazu zwingen würde.«
»Kümmern Sie sich weniger um die Staatsräson«, sagte Rumata, »sondern denken Sie lieber an Ihre eigene Haut.«
»Sie haben recht«, sagte Don Reba und schnalzte mit den Fingern. Mit einer raschen Bewegung spannte und entspannte Rumata wieder seine Muskeln. Anscheinend funktionierte sein Körper nun wieder normal. Hinter dem Vorhang sprangen noch einmal drei Mönche hervor, mit eben derselben unglaublichen Behendigkeit und Exaktheit, die von großer Erfahrung zeugte. Sie umzingelten den noch immer lieblich lächelnden Bruder Aba, faßten ihn und verdrehten ihm die Arme am Rücken.
»Aaauuuh!« brüllte er laut auf. Sein dickes Gesicht verzerrte sich vor Schmerz.
»Rasch, rasch, keine Umstände!« befahl Don Reba mürrisch. Während sie ihn hinter den Vorhang zerrten, schlug der Dickwanst wie tollwütig um sich. Man hörte noch, wie er schrie und winselte, dann brüllte er plötzlich mit einer unheimlichen, nicht wiedererkennbaren Stimme kurz auf und verstummte schließlich ganz. Don Reba erhob sich und entlud vorsichtig die Armbrust. Rumata folgte ihm verblüfft mit seinen Augen.
Don Reba ging im Zimmer langsam auf und ab und kratzte sich mit dem Bolzen nachdenklich seinen Rücken. »Gut, gut …«, murmelte er beinahe zärtlich. »Allerliebst …« Es schien fast, als habe er Rumata ganz vergessen. Seine Schritte wurden immer rascher, er fuhr im Gehen mit dem Bolzen in der Luft herum wie mit einem Taktstock. Dann blieb er ganz unvermittelt dicht beim Tisch stehen, schleuderte den Bolzen von sich, setzte sich vorsichtig (sein ganzes Gesicht war plötzlich von einem Lächeln überzogen) und sagte:
»Nun, was sagen Sie …? Keiner von ihnen hat sich gemuckst …! Bei Ihnen, denke ich, bringt man das nicht zuwege …«
»Jaa …«, sagte Rumata gedehnt und ein wenig verträumt. »Also gut. Jetzt aber sprechen wir einmal, Don Rumata … Vielleicht aber auch nicht Rumata? … Oder vielleicht auch gar kein Don? … Wie …?«
Rumata schwieg und musterte ihn mit Interesse. Er war blaß, auf seiner Nase zeigten sich rote Äderchen, er zitterte förmlich vor Erregung, so als wollte er ihn am liebsten anschreien und dabei in die Hände klatschen: »Ich weiß doch! Ich weiß doch!« – Dabei weißt du überhaupt nichts, Hundesohn, dachte er. Wenn du aber etwas erfährst, wirst du es ohnehin nicht glauben. Nun, sprich schon, sprich, ich höre dir zu. »Ich höre«, sagte Rumata.
»Sie sind nicht Don Rumata«, erklärte Don Reba. »Sie sind ein Usurpator!« Er blickte Rumata streng in die Augen. »Rumata von Estorien starb vor fünf Jahren und liegt in der Familiengruft seines Geschlechts. Und die Heiligen haben seine aufrührerische und, sagen wir es geradeheraus, nicht sehr saubere Seele längst besänftigt. Also wie ist es, gestehen Sie von selbst, oder soll ich nachhelfen?«
»Ich gestehe«, sagte Rumata. »Man nennt mich Rumata von Estorien, und ich bin es nicht gewohnt, daß man an meinen Worten zweifelt.«
Ich werde dich ein klein wenig ärgern, dachte Rumata. Aufgepaßt, ich fange an.
»Ich sehe schon, wir müssen das Gespräch an einem andern Ort fortsetzen«, sagte Don Reba unheildrohend.
In seinem Gesicht gingen erstaunliche Veränderungen vor sich. Es verschwand das angenehme Lächeln, seine Lippen preßten sich zu einer geraden Linie zusammen. Seltsam und ein wenig unheimlich: seine Stirnhaut geriet in Bewegung. Ja, dachte Rumata, solch einem Menschen kann man Angst einjagen.
»Nicht wahr, Sie haben doch Hämorrhoiden?« fragte er teilnahmsvoll.
In Don Rebas Augenwinkeln blitzte etwas auf, aber er verzog keine Miene. Er gab sich den Anschein, als habe er nichts gehört. »Sie sind schlecht umgegangen mit Budach«, sagte Rumata. »Er ist ein ausgezeichneter Arzt. Das heißt, er war …«, fügte er bedeutungsvoll hinzu.
Don Rebas Augen zeigten einen Moment lang wieder das gleiche Zucken. Aha, dachte Rumata, Budach dürfte also doch noch am Leben sein … Er setzte sich bequemer zurecht und umfaßte ein Knie mit den Händen.
»Sie weigern sich also, zu gestehen«, sagte Don Reba.
»Was?«
»Daß Sie ein Usurpator sind!«
»Mein ehrenwerter Reba«, sagte Rumata im Tonfall eines Lehrmeisters. »Solche Dinge pflegt man mit Beweisen zu untermauern. Sie beleidigen mich!«
Don Rebas Gesicht nahm einen überaus süßlichen Ausdruck an. »Mein teurer Don Rumata«, sagte er. »Sie verzeihen, daß ich Sie vorerst noch bei diesem Namen nenne. Gewöhnlich pflege ich überhaupt nichts zu beweisen. Bewiesen wird dort, im Turm der Fröhlichkeit. Für diesen Zweck halte ich mir erfahrene, gut bezahlte Spezialisten, die mit Hilfe der Fleischmühle des heiligen Micky, mit den Waffen des einzigen Gottes, den Handschuhen der heiligen Märtyrerin Tata oder, sagen wir, mit der Sitzfläche … äh, pardon, mit dem eisernen Stuhl Totz’, des Kämpfers, alles beweisen können, was nur gewünscht wird. Daß Gott existiert und daß es ihn nicht gibt. Daß die Menschen auf den Händen gehen oder seitlich. Verstehen Sie mich? Es ist Ihnen vielleicht nicht bekannt, aber es gibt bei uns eine ganze Wissenschaft, die sich mit der Erlangung von Geständnissen befaßt. Überlegen Sie doch selbst: Wozu soll ich denn das beweisen, was ich selber weiß? Und dann, nach einem Geständnis droht Ihnen nichts Übles …«
»Mir nicht«, unterbrach ihn Rumata, »aber Ihnen droht etwas.« Don Reba überlegte eine Weile.
»Gut«, sagte er dann. »Offenbar muß doch ich anfangen. Also schauen wir, wodurch sich Rumata von Estorien in den fünf Jahren seines Lebens im Königreich Arkanar auszeichnete. Und Sie werden mir dann den Sinn von all dem erklären. Einverstanden?«
»Ich möchte keine voreiligen Versprechungen abgeben«, sagte Rumata, »aber ich höre Ihnen mit Interesse zu.«
Don Reba begann in seinem Schreibtisch zu wühlen, nahm eine dicke Sammlung von quadratischen Papieren heraus und überflog sie mit hochgezogenen Brauen.
»Es wird Ihnen bekannt sein«, begann er angenehm lächelnd, »es wird Ihnen bekannt sein, daß von mir, dem Sicherheitsminister zum Schutze der Krone von Arkanar, einige Schritte unternommen wurden gegen sogenannte Bücherwürmer, Gelehrte und sonstige Elemente, die für den Staat unnütz und schädlich sind. Diese Aktionen begegneten einem merkwürdigen Widerstand. Zur gleichen Zeit, als mir das ganze Volk in einer einstimmigen Aufwallung von Patriotismus und Untergebenheit auf jegliche Weise behilflich war: sie verrieten die Versteckten, sie führten Sofortgerichte ein und gaben wertvolle Hinweise auf Verdächtige, die meiner Aufmerksamkeit entgangen waren –, während eben dieser Zeit schnappte mir irgendein unbekannter, aber äußerst energischer Mensch die bedeutendsten, unverbesserlichsten und abscheulichsten Verbrecher vor der Nase weg und entführte sie über die Grenze. So sind uns entwischt: Der gottlose Astrologe Bagir Kissenski; der verbrecherische Alchimist Synda, der, wie bewiesen wurde, mit unreinen Kräften in Verbindung stand und mit den irukanischen Machthabern; der niederträchtige Pamphletist und Ruhestörer Zuren und eine Reihe anderer von niederem Rang. Irgendwohin verkroch sich der verrückte Zauberer und Mechaniker Kabani. Von irgend jemandem wurde eine Unmenge Gold verteilt, um zu verhindern, daß sich der Zorn des Volks auf die Häupter von gotteslästerlichen Spionen und Vergiftern, die ehemaligen Leibärzte seiner Majestät, ergieße. Irgend jemand befreite unter wahrhaft phantastischen Umständen, die wiederum an die Beihilfe des Menschenfeindes denken lassen, den Ausbund an Verkommenheit, den Zersetzer der Volksseele, den Anführer von Bauernaufständen, Arata den Buckligen …«
Don Reba hielt ein, zog seine Stirn in Falten und blickte Rumata vielsagend an. Rumata hob seine Augen zur Decke und lächelte verträumt. Arata den Buckligen hatte er entführt, ja, und mit einem Hubschrauber. Auf die Wächter hatte das einen unglaublichen Eindruck gemacht. Auf Arata übrigens ebenfalls. Ich bin ja doch ein ganzer Kerl, dachte er. Hab gute Arbeit geleistet. »Es wird Ihnen auch bekannt sein«, setzte Don Reba fort, »daß sich der erwähnte Ataman Arata zur Zeit an der Spitze eines meuternden Sklavenheeres in den östlichen Teilen der Hauptstadt befindet und ansehnliche Mengen edlen Blutes vergießt – dabei aber noch immer über genügend Geld und Waffen verfügt.«
»Das will ich gern glauben«, sagte Rumata. »Ich habe gleich gesehen, daß er ein sehr entschlossener Mensch ist.«
»So gestehen Sie also?« sagte Don Reba schnell. »Was denn?« fragte Rumata erstaunt.
Sie verharrten eine Zeitlang und blickten einander schweigend in die Augen.
»Ich fahre fort«, sagte Don Reba. »Zur Befreiung all dieser Seelenverderber wurden von Ihnen, Don Rumata, nach meinen bescheidenen und unvollkommenen Rechnungen nicht weniger als drei Pud oder neunundvierzig Kilogramm Gold ausgeschüttet. Ich will nicht davon sprechen, daß Sie sich durch diesen Kontakt mit den unreinen Kräften Ihre Seele für alle Ewigkeit besudelt haben. Und ich will auch nicht darüber sprechen, daß Sie während der ganzen Zeit Ihres Aufenthalts innerhalb der Grenzen des Königreichs von Arkanar von Ihren estorischen Besitzungen keinen Kupfergroschen erhalten haben; ja, und aus welchem Grund auch? Wozu einen Toten mit Geld versorgen, und sei es auch ein Verwandter? Aber Ihr Gold, Ihr Gold!«
Er öffnete eine Schatulle, die unter einem Stoß Papieren am Tisch begraben war, und nahm eine Handvoll Goldmünzen mit dem Profil Pitz VI. heraus.
»Allein dieses Gold würde schon hinreichen, Sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen!« schrie er. »Dieses Gold ist vom Teufel! Menschliche Hände sind nicht imstande, ein Metall von solcher Reinheit zu erzeugen!«
Er durchbohrte Rumata förmlich mit seinem Blick. Ja, dachte Rumata, ehrlich, diese Runde geht an dich. Das haben wir nicht bedacht. Und das muß man ihm lassen, er hat es als erster bemerkt.
Das muß man ihm hoch anrechnen … Aber Don Reba wurde plötzlich wieder ganz klein. In seiner Stimme klangen teilnahmsvoll väterliche Töne:
»Und überhaupt benehmen Sie sich sehr, sehr unvorsichtig, Don Rumata. Die ganze Zeit war ich so um Sie besorgt … Sie sind ein solcher Duellant, ein solcher Stänkerer! Hundertsechsundzwanzig Duelle in fünf Jahren! Und nicht ein einziger Toter … Schließlich und endlich könnte man daraus seine Schlüsse ziehen. Ich zum Beispiel habe es getan. Und nicht nur ich! Heute nacht zum Beispiel hat Bruder Aba – nun, man soll nicht übel reden von Toten, aber er war ein sehr grausamer Mensch, und ich konnte ihn eigentlich nie recht leiden … Nun also, Bruder Aba hat für Ihre Verhaftung nicht die geschicktesten Männer, sondern die dicksten und stärksten ausgesucht. Und er sollte recht behalten. Einige ausgerenkte Arme, verdrehte Hälse, gar nicht zu reden von den eingeschlagenen Zähnen … Und Sie stehen hier vor mir! Aber Sie konnten ja nicht wissen, daß Sie um Ihr Leben kämpften. Sie sind ein Meister! Sie sind zweifelsohne das beste Schwert des Reiches. Sie haben zweifelsohne Ihre Seele dem Teufel verkauft, denn nur in der Hölle kann man diese unwahrscheinliche, märchenhafte Meisterschaft im Kampf erlernen. Ich bin sogar bereit zuzugeben, daß Ihnen diese Fähigkeit nur unter der Bedingung verliehen wurde, niemanden zu töten. Obwohl ich mir schwer vorstellen kann, wozu der Teufel eine solche Bedingung stellen sollte … Aber darüber sollen sich unsere Scholastiker den Kopf zerbrechen …«
Ein dünner, hoher Schrei wie von einem Ferkel unterbrach ihn. Er blickte ungehalten auf die schweren lila Vorhänge. Hinter den Vorhängen ging ein Handgemenge vor sich. Man hörte dumpfe Schläge und den Schrei »Loslassen, loslassen!«, und noch einige heisere Stimmen, Gefluche und Ausrufe in einem unverständlichen Dialekt. Da riß der Vorhang mit einem Krachen auseinander und fiel herab. Ins Kabinett torkelte auf allen vieren ein glatzköpfiger Mann mit blutendem Kinn und wild aufgerissenen Augen. Hinter den heilgebliebenen Vorhängen streckten sich riesige Tatzen hervor, faßten den Mann an den Füßen und zogen ihn wieder zurück. Rumata erkannte ihn – es war Budach. Er schrie wie ein wildes Tier:
»Betrogen …! Man hat mich betrogen …! Das war doch Gift! Warum denn …?«
Sie zerrten ihn in die Dunkelheit. Ein Mann in Schwarz faßte eilig nach dem heruntergerissenen Vorhang und richtete ihn wieder zurecht. In der plötzlichen Stille hörte man hinter dem Vorhang ekelerregende Geräusche – irgend jemand erbrach sich dort. Rumata verstand.
»Wo ist Budach!« fragte er scharf.
»Wie Sie sehen, ist ihm irgendein Malheurchen geschehen«, antwortete Don Reba, aber man merkte ihm deutlich an, daß er seine frühere Sicherheit zu verlieren drohte.
»Vernebeln Sie mir nicht den Kopf«, sagte Rumata. »Wo ist Budach?«
»Ach, Don Rumata«, sagte Don Reba und wiegte seinen Kopf. Er fand seine Fassung wieder. »Wozu brauchen Sie Budach? Sind Sie vielleicht mit ihm verwandt? Sie haben ihn doch nicht ein einziges Mal in Ihrem Leben gesehen.«
»Hören Sie, Reba!« sagte Rumata wütend. »Ich scherze nicht mit Ihnen. Wenn mit Budach irgendwas passiert, verrecken Sie wie ein Hund! Ich erwürge Sie!«
»Das können Sie nicht«, sagte Don Reba rasch. Er war sehr blaß.
»Sie sind ein Dummkopf, Reba. Sie verstehen sich vorzüglich auf Intrigen, aber eigentlich haben Sie von nichts eine Ahnung. Niemals in Ihrem Leben haben Sie sich noch auf ein so gefährliches Spiel eingelassen wie jetzt. Und das ist Ihnen nicht einmal bewußt!« Don Reba krümmte sich über den Tisch, seine kleinen Augen brannten wie glühende Kohlen. Rumata fühlte, daß er selber noch nie so sehr in Todesgefahr geschwebt hatte wie jetzt. Man zeigte die Karten. Bald mußte sich herausstellen, wer in diesem Spiel die Oberhand gewinnen würde. Rumata spannte seine Muskeln. Er war sprungbereit. Keine Waffe – kein Speer und auch kein Pfeil – tötete augenblicklich. Dieser Gedanke stand deutlich auf Don Rebas Gesicht zu lesen. Und der alte Mann mit den Hämorrhoiden wollte leben. »Was wollen Sie denn wirklich …«, sagte er weinerlich. »Da haben wir nun gesessen, haben geplaudert … also Ihr Budach ist am Leben. Lebt und ist gesund. Er wird mich noch eines Tages behandeln. Keine Aufregung.«
»Wo ist Budach?«
»Im Turm der Fröhlichkeit.«
»Ich brauche ihn!«
»Ich brauche ihn auch, Don Rumata.«
»Hören Sie, Reba«, sagte Rumata, »reizen Sie mich nicht. Und hören Sie auf, sich zu verstellen. Sie haben doch Angst vor mir. Und Sie tun auch recht daran. Budach gehört mir, verstehen Sie? Mir!« Jetzt standen sie einander aufrecht gegenüber. Reba sah furchterregend aus. Er wurde blau, seine Lippen begannen fieberhaft zu zucken, und er murmelte, speichelversprühend, etwas vor sich hin. »Bürschcheni« zischte er. »Ich habe vor niemandem Angst! Ich kann dich zertreten wie einen Blutegel!«
Er drehte sich plötzlich um und riß einen Gobelin herunter, der hinter seinem Rücken hing. Ein breites Fenster trat zutage. »Da, schau!«
Rumata ging zum Fenster. Es führte auf den Platz vor dem Palast. Die Morgendämmerung begann schon heraufzuziehen. Der Rauch der Brände stieg vor dem grauen Himmel auf. Der Platz war übersät mit Leichen. In seiner Mitte aber sah man ein unbewegliches schwarzes Quadrat. Rumata schaute näher hin. Es waren Reiter, die in einer unglaublich exakten Reihe aufgestellt waren. Sie hatten lange schwarze Umhänge, schwarze Kapuzen, die bis über die Augen gingen, schwarze Dreieckschilder in der linken Hand und – lange Hellebarden in der rechten.
»Bitte!« sagte Don Reba mit rasselnder Stimme. Er zitterte am ganzen Körper. »Die streitbaren Kinder Gottes, unseres Herrn – die Kavallerie des Heiligen Ordens. Sie landeten heute nacht im Hafen von Arkanar zur Niederwerfung des barbarischen Aufstands der Nachtschurken des Waga Koleso, der sich mit den hochnäsigen Krämern verbündete. Der Aufstand ist niedergeschlagen. Der Heilige Orden beherrscht die Stadt und das ganze Land, das von nun an die arkanarische Provinz des Heiligen Ordens heißt …« Rumata kratzte sich unwillkürlich im Nacken. Ja, so ist das also. Das sind also die Leute, für die die unglücklichen Krämer den Weg bereitet haben. Das nenne ich eine Provokation! Don Reba grinste triumphierend. »Wir haben uns noch nicht bekanntgemacht«, fuhr er mit derselben rasselnden Stimme fort. »Erlauben Sie, mich vorzustellen: Repräsentant des Heiligen Ordens in der arkanarischen Provinz, Bischof und Kriegsmagister, Gottesdiener Reba!«
Eigentlich hätte man sich so etwas denken können, dachte Rumata. Dort wo die Grauheit ihre Triumphe feiert, kommen immer die Schwarzen zur Macht. Ach, ihr Historiker, daß ihr doch alle … Doch er faßte sich, legte die Hände auf den Rücken und wippte von den Fersen zu den Zehen.
»Ich bin jetzt müde«, sagte er geziert. »Ich will schlafen. Ich will mich mit warmem Wasser waschen und mir das Blut und den Speichel Ihrer Kopfabschneider abwaschen. Morgen … das heißt heute … sagen wir, eine Stunde nach Sonnenaufgang, komme ich in Ihre Kanzlei. Der Erlaß zur Befreiung Budachs muß bis dahin bereitliegen.«
»Es sind zwanzigtausend!« schrie Don Reba und zeigte auf den Platz unter dem Fenster. Rumata zog die Stirn in Falten. »Ein bißchen leiser, bitte«, sagte er. »Und denken Sie daran, Don Reba: Ich weiß genau, daß Sie kein Bischof sind. Ich kenne Sie durch und durch. Sie sind einfach ein schmutziger Verräter und ein ungeschickter, billiger Intrigant …« Don Reba leckte seine Lippen, er bekam glasige Augen. »Ich kenne keinen Pardon. Für jede Gemeinheit mir oder einem meiner Freunde gegenüber sind Sie mit Ihrem Kopf verantwortlich! Ich hasse Sie, bedenken Sie das! Ich muß Sie dulden, aber Sie müssen beizeiten lernen, mir aus dem Weg zu gehen. Haben Sie mich verstanden?«
Don Reba lächelte bittend und sagte rasch: »Ich wünsche mir nur eines. Ich wünsche, daß Sie in meiner Nähe sind, Don Rumata. Ich kann Sie nicht töten. Ich weiß nicht warum, aber ich kann nicht!«
»Sie haben Angst«, sagte Rumata.
»Nun, so habe ich eben Angst«, sagte Don Reba. »Vielleicht sind Sie der Teufel, vielleicht der Sohn Gottes. Wer weiß das schon? Vielleicht aber sind Sie ein Mensch aus fernen, übermächtigen Ländern: Man sagt, es gibt sie … Ich versuche nicht einmal, in den Abgrund zu blicken, der Sie verschlungen hat. Mir dreht sich der Kopf, und ich fühle, daß ich in Ketzerei verfalle. Aber ich kann Sie auch töten lassen, jederzeit. Jetzt. Morgen. Gestern hätte ich … Verstehen Sie das?«
»Das interessiert mich nicht«, sagte Rumata.
»Was denn? Was interessiert Sie eigentlich?«
»Überhaupt nichts«, antwortete Rumata. »Ich will mich einfach zerstreuen. Ich bin nicht der Teufel und auch kein Gott, ich bin Chevalier Rumata von Estorien, ein fröhlicher Edler vom Hof, belastet mit persönlichen Grillen und Vorurteilen und gewohnt, frei zu sein in jeder Hinsicht. Haben Sie sich das gemerkt?« Don Reba hatte sich wieder ganz in der Hand. Er betupfte sein verquollenes Gesicht mit einem Tuch und lächelte angenehm. »Ich schätze Ihre Hartnäckigkeit«, sagte er. »Schließlich und endlich streben ja auch Sie irgendwelchen Zielen zu. Und ich achte diese Ideale, wenn ich sie auch nicht verstehen kann. Ich bin sehr froh, daß wir uns ausgesprochen haben. Durchaus möglich, daß Sie mir irgendwann Ihre Ansichten näher zu Gehör bringen, und gar nicht ausgeschlossen, daß Sie mich dadurch zwingen, die meinen zu revidieren. Die Menschen neigen dazu, Fehler zu begehen. Möglicherweise begehe ich einen Fehler und strebe nicht jenen Zielen zu, um derentwillen es sich lohnen würde, so zäh und selbstlos zu arbeiten, wie ich es tue. Ich bin ein Mensch mit weitem Horizont, und ich kann mir sehr gut vorstellen, daß ich eines Tages mit Ihnen zusammenarbeiten werde, Schulter an Schulter …«
»Man wird ja sehen«, sagte Rumata und verließ den Raum. So ein Speichellecker! dachte er. Das wäre mir der richtige Mitarbeiter. Schulter an Schulter …
Die Stadt war vom unerträglichen Terror bis ins Mark erschüttert. Die blutrote Morgensonne erleuchtete eine düstere Szenerie von menschenleeren Straßen, rauchenden Ruinen, heruntergerissenen Fensterläden und eingeschlagenen Türen. Im Straßenstaub funkelten blutige Glassplitter. Unzählige Krähenschwärme ließen sich auf die Stadt nieder wie auf einem Kirchhof. Auf den offenen Plätzen und Wegkreuzungen trotteten zu zweit und zu dritt schwarze Reiter umher. Mit langsamen Bewegungen wälzten sie den ganzen Körper in ihren Sätteln hin und her. Auf hastig in die Erde gerammten Pflöcken hingen angekohlte Körper über verglimmenden Scheiterhaufen. Es hatte den Anschein, als sei in der Stadt nichts Lebendiges übriggeblieben – nur die ekelhaft schreienden Krähen und die geschäftigen Schlächter in Schwarz.
Gut die Hälfte des Weges legte Rumata mit geschlossenen Augen zurück. Er rang nach Luft, sein zerschundener Körper schmerzte rasend. – Sind das nun Menschen oder nicht? Was ist an ihnen noch menschlich? Die einen schlachtet man auf offener Straße ab, andere sitzen in ihren Häusern und warten gehorsam, bis sie an der Reihe sind. Und jeder denkt dabei: Wen auch immer, nur nicht mich. Kaltblütige Bestialität der Schlächter und kaltblütiger Gehorsam der Abgeschlachteten. Stupide Kaltblütigkeit, das ist das Allerschrecklichste. Starr vor Schreck stehen zehn Leute und warten gehorsam, und einer geht heran, sucht sich sein Opfer aus und schneidet ihm kaltblütig die Gurgel durch. Die Seelen dieser Menschen strotzen vor Schmutz, und jede Stunde gehorsamen Abwartens verunreinigt sie mehr und mehr. Unversehens werden eben in diesen geduckten Häusern niederträchtige Schurken geboren, Denunzianten und Mörder. Tausende Menschen, die für ihr ganzes Leben von Angst und Schrecken zerrüttet sind, werden ihre Kinder Angst und Schrecken lehren und die Kinder ihrer Kinder. – Ich kann nicht mehr, sagte Rumata immer wieder vor sich hin. Es fehlt nicht viel, und ich verliere den Verstand und werde so wie diese Leute; noch ein wenig, und ich höre endgültig auf zu verstehen, warum ich eigentlich hier bin … Ich muß Abstand gewinnen, einmal allem den Rücken kehren, ein bißchen zur Ruhe kommen … » … Am Ende des Jahres des großen Wassers – in irgendeinem Jahr nach der neuen Zeitrechnung – nahmen die zentrifugalen Prozesse im alten Imperium Überhand. Indem er sich diese Zukunft zunutze machte, gab der Heilige Orden, der seinem Wesen nach die Interessen der reaktionärsten Gruppen der feudalen Gesellschaft vertrat, die mit allen Mitteln danach strebten, den allgemeinen Verfall zum Stillstand zu bringen …« – Aber wie stanken die verglosenden Leichen an den Pfählen, wißt ihr das? Habt ihr jemals eine nackte Frau mit aufgeschlitztem Bauch gesehen, die sich im Straßenstaub wälzt? Habt ihr schon Städte gesehen, wo die Menschen schweigen und nur die Krähen schreien? Ihr, die noch ungeborenen Jungen und Mädchen, vor den Didaktoskopen der Schulen in der kommunistischen Republik Arkanar?
Er stieß mit der Brust an etwas Spitzes und Hartes. Vor ihm stand ein schwarzer Reiter. Ein langer Speer mit breiter, exakt gezähnter Klinge drückte sich gegen seine Brust. Aus den schwarzen Schlitzen seiner Kapuze blickte ihn der Reiter schweigend an. Hinter der Kapuze konnte man nur einen Mund mit dünnen Lippen und ein kleines Kinn erkennen. Ich muß jetzt irgendwas tun, dachte Rumata. Aber was? Ihn aus den Sattel werfen? Nein. Der Reiter nahm langsam seine Hand zurück, um zum Stoß auszuholen. Ach ja …! Rumata hob nachlässig die linke Hand empor und schlug den Ärmel zurück. Ein eiserner Armreif kam zum Vorschein, den man ihm beim Verlassen des Palastes ausgehändigt hatte. Der Reiter sah näher hin, zog seinen Speer zurück und gab den Weg frei. »Im Namen des Herrn«, sagte er mit fremdklingendem Akzent. »In seinem Namen«, murmelte Rumata. Er ging an einem andern Reiter vorbei, der gerade damit beschäftigt war, die kunstvoll geschnitzte Figur eines lustigen Teufelchens mit seinem Speer von einem Dachfirst herabzuschlagen. Im ersten Stock flimmerte hinter halb herabgelassenen Fensterläden ein vor Schreck entstelltes dickes Gesicht – wahrscheinlich das Gesicht eines jener Krämer, die noch vor drei Tagen mit Begeisterung hinter einen Krug Bier »Hurra, Don Reba!« gebrüllt hatten und dabei mit Genuß und Wohlgefallen dem Grrrumm, Grrrumm, Grrrumm der genagelten Stiefel gelauscht hatten. Ach, Grauheit, Grauheit … Rumata wandte sich ab. Aber was ist bei mir zu Hause? fiel ihm plötzlich ein, und er beschleunigte seinen Schritt. Das letzte Stück rannte er fast. Das Haus war unversehrt. Auf der kleinen Freitreppe saßen zwei Mönche. Sie hatten ihre Kapuzen abgelegt und reckten ihre schlechtrasierten Köpfe der Sonne entgegen. Als sie ihn erblickten, standen sie auf. »Im Namen des Herrn«, sagten sie im Chor. »In seinem Namen«, antwortete Rumata, »was habt ihr hier zu suchen?« Die Mönche verneigten sich und falteten die Hände über dem Bauch. »Sie sind gekommen, und wir gehen«, antwortete einer. Sie gingen die Stufen hinab und schlenderten ohne besondere Eile davon, die Hände kreuzweise in den Ärmeln. Rumata blickte ihnen nach und erinnerte sich, daß er schon tausendmal diese demütigen Figuren in langen schwarzen Kutten auf der Straße gesehen hatte. Doch hatten sie früher nicht die Scheiden von schweren Schwertern im Staub nachgezogen. Das haben wir verpaßt. Ach, und wie wir das verpaßt haben, dachte er. Was war das doch für eine köstliche Zerstreuung für die edlen Dons, wenn sie sich an einen einsam dahinwandelnden Mönch heranmachten und sich über seinen Kopf hinweg pikante Geschichten erzählten. Und ich Esel habe mich betrunken gestellt, bin ihnen nachgegangen, habe aus voller Kehle gelacht und mich so gefreut, daß das Reich zumindest nicht von religiösem Fanatismus erschüttert war … Aber was hätte man tun sollen? ja, was hätte man tun sollen?
»Wer da?« fragte eine klirrende Stimme. »Mach auf, Muga, ich bin’s«, sagte Rumata halblaut.
Die Riegel klirrten, die Tür öffnete sich einen Spalt, und Rumata zwängte sich ins Vorhaus. Hier war alles wie gewöhnlich, und Rumata seufzte erleichtert auf. Der alte Muga mit den silbergrauen Haaren und dem Wackelkopf nahm dem Herrn wie gewöhnlich Helm und Schwerter ab. »Was ist mit Kyra?« fragte Rumata. »Kyra ist oben«, sagte Muga. »Es geht ihr gut.«
»Ausgezeichnet«, sagte Rumata, während er sich den Gürtel abschnallte. »Und wo ist Uno? Warum kommt er mir nicht entgegen?« Muga nahm den Gürtel.
»Uno ist tot«, sagte er mit ruhiger, fester Stimme. »Er liegt im Dienerzimmer.«
Rumata schloß die Augen.
»Uno tot …«, wiederholte er. »Wer hat ihn umgebracht?« Ohne auf die Antwort zu warten, ging er ins Dienerzimmer. Unos Körper lag auf dem Tisch, er war bis zum Gürtel mit einem Laken bedeckt. Seine Hände lagen über die Brust gefaltet, die Augen hatte er weit aufgerissen, und sein Mund war zu einer Grimasse verzogen. Die Diener standen mit hängendem Kopf um den Tisch herum und hörten dem Gemurmel des Mönchs in der Ecke zu. Die Köchin schluchzte. Ohne seinen Blick von dem Knaben zu wenden, knöpfte sich Rumata den Kragen auf.
»Schweinehunde …«, sagte er. »Was sind das doch für Schweinehunde!« Er stolperte über etwas, ging ganz nahe zum Tisch, blickte in die toten Augen, lüftete das Laken ein wenig, legte es aber gleich wieder zurück.
»Ja, zu spät«, sagte er. »Zu spät … Hoffnungslos … Ach, Ihr Schweine! Wer hat ihn umgebracht? Die Mönche?« Er drehte sich zu dem Mönch hin, packte ihn am Genick, drückte ihn zu Boden und beugte sich über sein Gesicht. »Wer hat ihn umgebracht?« sagte er. »Einer von euch? Rede!«
»Es waren nicht die Mönche«, sagte hinter seinem Rücken mit ruhiger Stimme Muga. »Es waren die Grauen Soldaten …« Rumata starrte noch eine Weile in das abgemagerte Gesicht des Mönchs, in seine langsam sich erweiternden Pupillen. »Im Namen des Herrn …«, krächzte der Mönch heiser. Rumata ließ ihn los, setzte sich auf eine Bank zu Füßen des toten Knaben und begann zu weinen. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und weinte und horchte auf die gelassene, sirrende Stimme Mugas. Der alte Diener erzählte, wie sie kurz nach der zweiten Nachtwache im Namen des Königs gegen das Tor klopften und wie Uno schrie, sie sollten nicht öffnen; aber sie mußten dann doch aufmachen, weil die Grauen drohten, das Haus in Brand zu stecken. Sie drangen ins Vorhaus, verprügelten und fesselten die Diener und krochen dann die Stiege hinauf. Uno war an den Türen der oberen Gemächer postiert und begann aus seiner Armbrust zu schießen. Er hatte zwei Bolzen, und er schoß auch zweimal. Der zweite Schuß ging daneben. Die Grauen warfen ihre Messer, Uno fiel. Sie schleiften ihn herunter und wollten ihn schon mit Füßen treten und mit ihren Beilen auf ihn einschlagen, als die Schwarzen Mönche im Haus erschienen. Sie erschlugen zwei Graue, entwaffneten die übrigen, banden ihnen Stricke um den Hals und zerrten sie auf die Straße. Die Stimme Mugas verstummte, aber Rumata blieb noch lange sitzen, die Ellbogen auf den Tisch zu Füßen des toten Knaben gestützt. Dann erhob er sich schwer, wischte sich mit dem Ärmel die lange verhaltenen Tränen weg, küßte den Knaben auf die kalte Stirn, setzte mit Mühe einen Fuß vor den andern und ging nach oben.
Er war halbtot vor Müdigkeit und Erschütterung. Nachdem er sich irgendwie die Stiege hinaufgeschleppt hatte, durchquerte er das Gästezimmer, erreichte mit Mühe das Bett und ließ sich stöhnend mit dem Gesicht nach unten auf ein Kissen fallen. Kyra kam herbeigeeilt. Er war so erschöpft, daß er ihr nicht einmal dabei helfen konnte, als sie ihm die verschmierten Kleider abstreifte. Sie zog ihm die Stiefel herunter, dann weinte sie über seinem verschwollenen Gesicht, befreite ihn von der zerschlissenen Uniform und seinem Metalloplasthemd und weinte dann weiter still über seinem zerschundenen Körper. Erst jetzt fühlte er, daß ihn alle Knochen schmerzten, wie nach einer Tortur auf dem Rad. Kyra wusch ihn mit einem in Essig getauchten Schwamm; er aber zischte und keuchte, ohne seine Augen zu öffnen, durch die zusammengepreßten Zähne: »Ich hätte ihn erschlagen können … Neben mir hat er gestanden … Mit meinen Fingern ihm den Hals umdrehen … Ist das vielleicht ein Leben, Kyra? Fahren wir weg von hier … Das ist doch ein Experiment mit mir und nicht mit denen.« – Er bemerkte nicht einmal, daß er russisch sprach. Kyra blickte verängstigt auf die von Tränen gläsernen Augen und küßte ihn nur immer wieder stumm auf die Wangen. Dann deckte sie ihn mit geflickten Leintüchern zu (Uno hatte ja trotz allem keine neuen gekauft) und lief nach unten, um Glühwein für ihn zu bereiten. Er aber kroch mühsam vom Bett, stöhnte vor seelischen und körperlichem Schmerz und tappte bloßfüßig ins Herrenzimmer. Dort öffnete er im Schreibtisch eine Geheimlade, wühlte in der Apotheke und nahm einige Tabletten Sporamin. Als Kyra mit dem dampfenden Kessel auf einer schweren Silberplatte zurückkam, lag er schon wieder auf dem Rücken. Er fühlte, wie der Schmerz entwich, das Getöse in seinem Kopf verflog und wie sich sein Körper mit neuer Kraft und Unternehmungslust füllte. Als er den kleinen Kessel geleert hatte, fühlte er sich schon wieder ganz wohl, rief Muga und befahl, seine Kleider vorzubereiten.
»Geh nicht, Rumata«, sagte Kyra. »Geh nicht! Bleib zu Hause!«
»Ich muß, meine Kleine!«
»Ich habe Angst. Bleib hier … Sie werden dich umbringen!«
»Was du nicht sagst. Warum sollten sie mich umbringen? Sie haben doch alle Angst vor mir.«
Sie fing wieder an zu weinen. Sie weinte still und verhalten, als befürchte sie, ihn zu verärgern. Rumata zog sie auf seine Knie und strich über ihr Haar.
»Das Schlimmste ist schon vorbei«, sagte er. »Und dann, wir wollten doch wegfahren von hier …«
Sie beruhigte sich und drückte sich an ihn. Muga stand mit wackelndem Kopf gelassen neben ihnen und hielt die Hose mit den goldenen Schellen bereit.
»Aber vorher habe ich hier noch viel zu tun«, fuhr Rumata fort. »Heute nacht wurden zahllose Menschen umgebracht. Ich muß herausfinden, wer noch lebt und wer erschlagen ist. Und ich muß jenen beistehen, die man noch töten will.«
»Und dir, wer wird dir helfen?«
»Glücklich, der an andre denkt … Und außerdem wird uns beiden von mächtigen Leuten Hilfe zuteil.«
»Ich kann nicht an andre denken«, sagte sie. »Du bist halbtot zurückgekommen. Ich sehe doch: Man hat dich geschlagen. Und Uno haben sie ganz erschlagen. Wohin haben denn deine mächtigen Leute da geschaut? Warum haben sie das Morden nicht verhindert? Ich glaube dir nicht … Ich glaube nicht …«
Sie wollte sich aus seinen Armen befreien, aber er hatte sie fest umfaßt.
»Was soll man machen«, sagte er. »Diesmal sind sie ein wenig zu spät gekommen. Jetzt aber beobachten sie uns wieder und werden uns beschützen. Warum glaubst du mir heute nicht? Du hast mir doch immer geglaubt. Du hast doch selbst gesehen: Ich bin halbtot zurückgekommen, und schau mich jetzt an …!«
»Ich will dich nicht anschauen«, sagte sie und versteckte ihr Gesicht. »Ich will nicht wieder weinen.«
»Aber, aber! Diese paar Kratzer? Nicht der Rede wert …! Das Schlimmste ist schon vorbei. Zumindest für uns beide. Aber es gibt ganz hervorragende, gute Menschen, für die der Greuel noch nicht zu Ende ist. Und ich muß ihnen helfen.«
Sie seufzte tief, küßte ihn auf den Hals und befreite sich vorsichtig. »Komm heute abend«, bat sie ihn. »Kommst du?«
»Auf jeden Fall«, sagte er mit fester Stimme und lächelte. »Ich werde schon früher kommen und wahrscheinlich nicht allein. Erwarte mich zum Abendessen.«
Sie trat zur Seite, setzte sich in einen Lehnstuhl, umfaßte ein Knie mit beiden Händen und schaute Rumata zu, wie er sich anzog. Während er die Hose mit den Schellen anzog, murmelte er auf russisch vor sich hin (Muga ließ sich sogleich im Türkensitz vor ihm nieder und machte sich daran, die unzähligen Knöpfe und Spangen zu schließen), zog dann über sein sauberes Unterhemd wieder das Metalloplasthemd und sagte schließlich mit Verzweiflung in der Stimme: »So versteh mich doch, du meine Kleine, ich muß gehen! Was soll ich denn tun?! Ich kann einfach nicht hierbleiben!« Plötzlich sagte sie nachdenklich: »Manchmal verstehe ich nicht, warum du mich nicht schlägst.«
Rumata knöpfte gerade sein Rüschenhemd zu und erstarrte. »Was heißt das, warum ich dich nicht schlage?« fragte er verwirrt. »Kann man dich denn schlagen?«
»Du bist nicht nur ein guter, ein sehr guter Mensch«, fuhr sie fort, ohne ihm zuzuhören, »sondern du bist auch ein merkwürdiger Mensch, beinahe wie ein Erzengel … Wenn du bei mir bist, fühle ich mich stark. Jetzt zum Beispiel bin ich stark … Irgendwann werde ich dich einmal um etwas bitten. Wirst du mir einmal – nicht jetzt, sondern dann, wenn schon alles vorbei ist – von dir erzählen?« Rumata gab lange keine Antwort. Muga reichte ihm die orangefarbene Weste mit den roten Bändern. Rumata zog sie mit Verachtung an und schnallte den Gürtel fest.
»Ja«, sagte er schließlich. »Einmal werde ich dir alles erzählen, meine Kleine.«
»Ich werde warten«, sagte sie ernst. »Jetzt aber geh, laß dich nicht von mir ablenken.«
Rumata trat zu ihr hin und küßte sie mit seinen zerschlagenen Lippen fest auf den Mund. Dann zog er den Eisenreif von seinem Handgelenk und hielt ihn ihr hin.
»Steck dir das auf den linken Arm«, sagte er. »Heute wird wohl niemand mehr unser Haus beehren, wenn sie aber trotzdem kommen, zeigst du ihnen diesen eisernen Reif.«
Sie blickte ihm nach, und er fühlte, daß sie ihm in Gedanken etwas nachrief. – Ich weiß, sie denkt: Ich weiß nicht, vielleicht bist du der Teufel oder der Sohn Gottes oder ein Mensch aus überseeischen Märchenländern, aber wenn du nicht zurückkehrst, muß ich sterben. Er war ihr aber unendlich dankbar, daß sie schwieg, denn das Weggehen wurde ihm ohnehin ganz ungewöhnlich schwer – es war wie ein Kopfsprung von einem smaragdblauen, sonnigen Ufer in eine übelriechende Pfütze.