8

Zur Kanzlei des Bischofs von Arkanar wollte Rumata auf Umwegen gelangen. Auf leisen Sohlen schlich er sich durch eine Flucht von Hinterhöfen, er versteckte sich in zum Trocknen aufgehängte Lumpen, kroch durch Löcher in Zäunen, hinterließ an hervorstehenden rostigen Nägeln seine reichen Bänder und Fetzen edelster soanischer Spitze und kroch auf allen vieren zwischen Bergen von Kartoffeln hindurch. Und trotzdem gelang es ihm nicht, dem wachsamen Auge der Schwarzen Soldateska zu entkommen. Als er in die enge, gewundene Gasse einbog, die zur großen Müllgrube führte, stieß er mit zwei düsteren betrunkenen Mönchen zusammen.

Rumata wollte ihnen ausweichen, die Mönche aber zogen ihre Schwerter und versperrten ihm den Weg. Rumata griff ebenfalls zu seinen beiden Schwertern, da pfiffen die Mönche auf drei Fingern und riefen Verstärkung herbei. Rumata wollte schon zu dem Loch im Zaun zurückweichen, durch das er eben herausgekrochen war, als ihm ein flinker kleiner Mann mit einem unauffälligen Gesicht entgegensprang. Er streifte Rumata an der Schulter, eilte zu den Mönchen und sagte ihnen etwas, worauf die Mönche ihre Kutten über ihre langen, mit lila Bändern umwickelten Beine hochrafften, sich im Trab davonmachten und hinter den Häusern verschwanden. Der kleine Mann trippelte ihnen nach, ohne sich umzusehen. Alles klar, dachte Rumata. Ein Spion und Leibwächter. Und nicht einmal sehr unauffällig; er denkt doch an alles, der neue Bischof von Arkanar. Interessant wäre, wovor er mehr Angst hat – vor mir oder um mich? Den Spion mit den Augen verfolgend, ging er auf die Müllgrube zu. Die Müllgrube führte bis zum Hintertrakt des ehemaligen Sicherheitsministeriums, und es war zu hoffen, daß dort keine Patrouille postiert war.

Die Gasse war menschenleer. Aber schon hörte man das leise Knarren von Fensterläden, Türen gingen auf und zu, ein Säugling weinte, und über alle dem hing ein ängstliches Geflüster. Hinter einem halbverfaulten Lattenzaun reckte sich vorsichtig ein mageres, abgezehrtes Gesicht hervor, das ganz schwarz war vor eingefressenem Ruß. Zwei verängstigte eingefallene Augen starrten Rumata an. »Ich bitte um Vergebung, edler Don, und noch einmal um Vergebung. Kann mir der edle Don nicht sagen, was in der Stadt los ist? Ich bin der Schmied Kickus, den man auch den Lahmen nennt, ich will zu meiner Schmiede, aber ich habe Angst …«

»Geh nicht hin«, riet ihm Rumata. »Die Mönche kennen keinen Spaß. Es gibt keinen König mehr. Die Macht hat Don Reba, der Bischof des Heiligen Ordens. Also bleib schön zu Hause!«

Nach jedem Wort Rumatas nickte der Schmied eilig, seine Augen füllten sich mit Wehmut und Verzweiflung.

»Der Orden, also wie …«, murmelte er schwerfällig. »Ach, daß dich doch die Cholera … Ich bitte um Vergebung, edler Don. Der Orden, also dann … Das sind die Grauen, oder wie?«

»Aber nein«, sagte Rumata und betrachtete ihn mit einer gewissen Neugier. »Die Grauen, verstehst du, die hat man geschlagen. Die da sind die Mönche.«

»Och, jeje!« sagte der Schmied. »Und die Grauen sind also auch … Na, und der Orden …! Die Grauen sind geschlagen? Das ist ja gar nicht schlecht. Ganz gut so, nicht? Aber was ist jetzt mit uns, edler Don, was meint Ihr? Wir werden uns halt anpassen, wie? Unter dem Orden, was?«

»Warum nicht«, sagte Rumata. »Der Orden muß auch essen und trinken. Richtet euch halt ein!«

In den Schmied kam plötzlich Leben.

»Ich glaub auch, daß wir uns anpassen und fügen werden. Ich glaub, die Hauptsache ist: Rühr die andern nicht an, und man wird auch dich in Ruhe lassen, wie?«

Rumata schüttelte den Kopf.

»Aber nein«, sagte er. »Wer sich nicht selber rührt, den wird man als ersten abschlachten.«

»Das ist auch wieder wahr«, stöhnte der Schmied. »Aber was soll man denn machen …? Ein einzelner ist doch so schwach wie ein kleiner Finger, und dem kleben noch siebzehn Rotznasen an der Kutte. Ach, Ehrwürdige Mutter, wenn sie nur meinem Meister die Gurgel durchschneiden würden! Er war doch bei den Grauen als Offizier. Was glaubt Ihr, edler Don, ob sie ihn abgeschlachtet haben? Ich bin ihm nämlich fünf Golddukaten schuldig.«

»Ich weiß nicht«, sagte Rumata, »vielleicht haben sie ihn wirklich umgebracht. Aber du überlege dir lieber folgendes, Schmied. Du als einzelner bist so schwach wie ein Finger, das stimmt. Aber solche Finger gibt es bei euch in der Stadt an die zehntausend.«

»Ja, und?« sagte der Schmied.

»So denk halt einmal nach!« sagte Rumata verärgert und ließ ihn stehen.

Was wird dir schon einfallen? Ein großer Dreck! Es ist noch zu früh für dich, zu denken. Dabei ist es doch so einfach: Zehntausend solcher Hämmerfäuste – wenn sie nur in Wut geraten – schlagen jeden beliebigen Gegner kurz und klein. Aber die Wut kennen sie eben noch nicht. Nur die Angst. Jeder für sich, ein Gott für alle. Die Holunderbüsche am Rand des Weges kamen plötzlich in Bewegung, und in das Gäßchen kroch – Don Tameo. Als er Rumata erblickte, brüllte er vor Freude, sprang trotz starker Schlagseite auf die Beine, bewegte sich taumelnd auf ihn zu und streckte ihm seine erdverschmierten Hände entgegen.

»Mein edler Freund!« brüllte er. »Welche Freude! Ich sehe, Sie gehen auch zur Kanzlei?«

»Ja, ja, natürlich, mein edler Don«, antwortete Rumata und befreite sich geschickt aus seiner Umarmung. »Erlauben Sie mir, mich Ihnen anzuschließen, edler Don?«

»Es ist mir eine Ehre, edler Don.«

Jeder machte eine Verbeugung. Offenbar hatte Don Tameo seinen Durst vom Vormittag noch immer nicht gestillt. Aus seiner mächtig breiten, gelben Hose zog er ein kleines Fläschchen feinster Qualität heraus.

»Wünschen Sie nicht vielleicht?« kam sein Angebot mit eleganter Geste.

»Schönen Dank«, sagte Rumata.

»Rum!« erklärte Don Tameo. »Echter Rum aus der Hauptstadt! Ich habe ihn mit Gold bezahlt!«

Sie stiegen hinunter zur Müllgrube. Mit zugehaltener Nase schritten sie durch Abfallhaufen, vorbei an toten Hunden und stinkenden Pfützen, in denen es vor weißen Würmern brodelte. In der Morgenluft hing ein ununterbrochenes Gebrumm von Millionen smaragd-farbener Fliegen.

»Eigenartig«, sagte Don Tameo und verschloß die Flasche, »hier bin ich noch nie gewesen.«

Rumata schwieg.

»Don Reba hat mich schon immer entzückt«, sagte Don Tameo. »Ich wußte ja, daß er den nichtswürdigen Monarchen vom Thron fegen würde, uns neue Wege bereitet und neue Perspektiven eröffnet.« Bei diesen Worten rutschte er mit einem Bein in eine gelbgrüne Pfütze, bespritzte sich von Kopf bis Fuß, hielt sich aber sogleich an Rumata fest, um nicht der Länge nach hineinzufallen. »Ja!« fuhr er fort, als sie wieder festen Grund unter den Beinen hatten. »Wir, die junge Aristokratie, wir werden immer auf seiten Don Rebas stehen! Jetzt wird man uns endlich den nötigen Respekt entgegenbringen. Urteilen Sie doch selbst, Don Rumata, jetzt gehe ich schon eine ganze Stunde durch Gassen und Gärten und habe noch keinen einzigen Grauen angetroffen. Wir haben das Graue Geschmeiß vom Angesicht der Erde hinweggefegt – und wie süß und frei kann man jetzt atmen im neugeborenen Arkanar! Anstatt der ungehobelten Krämer, anstatt dieser frechen Gauner und Bauerntölpel sind nun die Straßen voll von Dienern des Herrn. Ich habe es gesehen: Einige Adelige zeigen sich bereits ganz frei vor ihren Häusern. Jetzt müssen sie nicht mehr befürchten, daß irgendein dahergelaufener Dummkopf in einem Fuhrmannsschurz sie mit seinem dreckigen Karren beschmutzt. Und man muß sich nicht mehr erst seinen Weg bahnen durch die Metzger und Krämer wie gestern noch. Erleuchtet vom Segen des Großen Heiligen Ordens, für den ich schon immer große Verehrung und, ich will es gestehen, herzliche Zuneigung empfand, streben wir nun einer unerhörten Blüte entgegen: Kein einziger Bauer wird es mehr wagen, seine Augen zu einem Adeligen zu erheben ohne besondere Bewilligung, welche vom Bezirksinspektor des Heiligen Ordens unterzeichnet ist. Ich reiche da eben eine schriftliche Petition aus diesem Anlaß ein.«

»Ein ekelhafter Gestank«, sagte Rumata gefühlvoll. »Ja, scheußlich«, stimmte Don Tameo zu und verschloß seine Flasche. »Dafür aber – wie frei atmet man im neugeborenen Arkanar! Und der Weinpreis ist um die Hälfte gesunken …« Gegen Ende des Weges hatte Don Tameo seine Flasche bis zum Boden geleert, schleuderte sie von sich und geriet dabei in ungewöhnliche Erregung. Zweimal fiel er der Länge nach hin, wobei er sich beim zweitenmal weigerte, sich zu reinigen, indem er erklärte, daß er sündig sei und von Natur aus befleckt, und er wünsche in diesem Zustand vor seinen neuen Herrn zu treten. Wieder und immer wieder begann er aus voller Kehle seine Bittschrift zu zitieren. »Herrlich gesagt!« brüllte er. »Nehmen Sie zum Beispiel diese Stelle, edle Dons: >Auf daß die stinkenden Bauern …< Was? Welch großer Gedanke!« Als sie in den Hinterhof der Kanzlei traten, stieß er gleich mit einem Mönch zusammen, brach in Tränen aus und begann um den Nachlaß seiner Sünden zu bitten. Der halberstickte Mönch schlug heftig um sich, versuchte um Hilfe zu pfeifen, aber Don Tameo packte ihn an der Kutte, und so fielen sie zusammen in einen Abfallhaufen. Rumata ließ sie liegen und hörte beim Weggehen noch lange das klägliche, unterbrochene Pfeifen und Ausrufe: »Auf daß die stinkenden Bauern!… Deinen Se-e-gen!… Aus ganzem Herzen!… Zuneigung habe ich empfunden, Zuneigung, verstehst du das, du Bauernlümmel?«

Auf dem Platz vor dem Eingang zur Kanzlei stand im Schatten des quadratischen Turms der Fröhlichkeit eine Abteilung von Infanteriemönchen, die mit furchteinflößenden knotigen Knüppeln bewaffnet waren. Die Toten hatte man weggeschafft. Der Morgenwind jagte gelbe Staubsäulen über den Platz. Unter dem breiten konischen Dach des Turms schrien und stritten sich wie immer die Krähen – dort, an den hervorragenden Balken, erhängte man die Menschen mit dem Kopf nach unten. Der Turm war vor zweihundert Jahren von den Vorfahren des Königs erbaut worden, und zwar ausschließlich für Verteidigungszwecke im Kriegsfall. Er stand auf einem festen dreistöckigen Fundament, in dem früher Lebensmittelvorräte für den Fall einer längerdauernden Belagerung aufbewahrt wurden. Später verwandelte man den Turm in ein Gefängnis. Aber nach einem Erdbeben brachen alle Decken im Innern zusammen, und man mußte das Gefängnis in die Keller verlegen. Vor einiger Zeit beschwerte sich eine arkanarische Königin bei ihrem Gebieter, daß die Schreie der Gefolterten ihre Unterhaltung störten. Daraufhin verfügte der königliche Gemahl, daß im Turm von frühmorgens bis spätabends ein Militärorchester spiele. Damals erhielt der Turm seinen jetzigen Namen. Seit langem war der Turm nichts anders als ein leerer Steinkadaver, seit langem schon waren die Folterkammern in die neueröffneten, tiefsten Kellerlöcher verlegt, seit langem spielte dort kein Orchester mehr, aber die Bürger nannten ihn noch immer den Turm der Fröhlichkeit. Gewöhnlich war es rund um den Turm menschenleer. Aber heute herrschte hier große Bewegung. Zu ihm hin führte, stieß und zog man am Boden die Sturmowiki in zerfetzten grauen Uniformen, lausige Landstreicher in Lumpen, halbentkleidete, vor Schreck starre Bürger und hysterisch schreiende Mädchen. Die heruntergekommenen Söldner der Nachtarmee, die mürrische Blicke um sich warfen, wurden in ganzen Herden herangetrieben. Und aus Geheimausgängen zog man mit Widerhaken die Leichen heraus, warf sie auf Karren und fuhr sie aus der Stadt. Die letzten in der langen Warteschlange von Höflingen und verdienten Bürgern, die sich noch außerhalb der Türen zur Kanzlei befanden, verfolgten mit Schrecken und Verwirrung diesen schauerlichen Betrieb. In die Kanzlei wurden alle vorgelassen, manche aber holte man sogar im Konvoi. Rumata drängte sich bis ins Innere durch. Die Luft war dort so dumpf und stickig wie an der Müllgrube. Hinter einem mächtigen, mit Papieren vollgehäuften Tisch saß ein Beamter mit einem gelblichgrauen Gesicht. Hinter seinem abstehenden rechten Ohr steckte eine riesige Gänsefeder. Der Bittsteller, der gerade an der Reihe war, der edle Don Keu, zuckte hochmütig mit dem Schnurrbart, als er seinen Namen nannte.

»Den Hut abnehmen«, sagte der Beamte mit farbloser Stimme, ohne seinen Blick von den Papieren zu heben.

»Das Geschlecht der Keu hat das Privileg, selbst in Gegenwart des Königs den Hut aufzubehalten«, erklärte Don Keu stolz. »Niemand hat ein Privileg vor dem Heiligen Orden«, sagte mit derselben farblosen Stimme der Beamte. Don Keu begann zu fauchen, wurde knallrot, nahm aber doch den Hut ab. Der Beamte fuhr mit einem langen gelben Finger über das Papier. »Don Keu … Don Keu …«, murmelte er, »Don Keu … Königstraße Nummer zwölf?«

»Ja«, sagte Don Keu mit seiner fetten, gereizten Stimme. »Nummer vierhundertfünfundachtzig, Bruder Tibak.« Bruder Tibak, himbeerrot vor Fettsucht und Atemnot, saß am Nachbartisch. Er stöberte in den Papieren, wischte sich den Schweiß von der Stirn, erhob sich und verlas mit monotoner Stimme:

»Nummer vierhundertfünfundachtzig, Don Keu, Königstraße zwölf, wegen Schmähung des Namens seiner Herrlichkeit des Bischofs von Arkanar, Don Reba, vor zwei Jahren beim Hofball, wird verfügt: Drei Dutzend Schläge auf die entblößten Weichteile und Küssen des Schuhs seiner Herrlichkeit.«

Bruder Tibak nahm wieder Platz. »Gehen Sie in diesen Korridor«, sagte der Beamte mit der farblosen Stimme, »die Schläge rechts, der Schuh links. Der nächste …«

Zu Rumatas großem Erstaunen versuchte Don Keu gar nicht zu protestieren. Offenbar hatte er schon so einiges gesehen, während er in dieser Schlange gewartet hatte. Er krächzte nur einmal auf, strich sich mit Würde seinen Schnurrbart zurück und entfernte sich in den Korridor.

Der nächste war der vor Fett zitternde gigantische Don Pifa. Er trat bereits ohne Hut vor den Tisch. »Don Pifa … Don Pifa …«, quakte der Beamte und fuhr mit dem Finger über das Papier. »Milchkrugstraße Nummer zwei?« Don Pifa gab einen gurgelnden Laut von sich. »Nummer fünfhundertvier, Bruder Tibak.« Bruder Tibak fuhr sich wieder über die Glatze und stand auf. »Nummer fünfhundertvier, Don Pifa, Milchkrugstraße zwei, durch nichts aufgefallen vor seiner Herrlichkeit – folglich rein!«

»Don Pifa«, sagte der Beamte, »empfangen Sie das Zeichen der Reinigung.« Er bückte sich, zog aus einer Kiste neben seinem Stuhl einen eisernen Armreif und gab ihn dem edlen Pifa. »Zu tragen am linken Handgelenk, vorzuweisen auf die erste Aufforderung der Kämpfer des Ordens. Der nächste …«

Don Pifa gab noch einmal einen gurgelnden Laut von sich und beäugte im Weggehen seinen Armreif. Der Beamte mit der farblosen Stimme quakte schon den nächsten Namen. Rumata betrachtete die Schlange der Wartenden. Es waren viele bekannte Gesichter dabei. Einige waren reich bekleidet wie immer, andere waren sichtbar verarmt, aber alle waren gründlich mit Dreck bespritzt. Irgendwo in der Mitte der Schlange erklärte Don Sera nun schon zum drittenmal in den letzten fünf Minuten mit lauter Stimme, damit es alle hörten: »Ich sehe nicht ein, warum nicht auch ein edler Don ein paar Schläge empfangen soll, im Namen seiner Herrlichkeit!«

Rumata wartete ab, bis sie den nächsten in den Korridor schickten (es war ein bekannter Fischhändler, sie verfügten ihm fünf Schläge ohne Schuhküssen wegen unerlaubter Gedankengänge), rempelte sich bis zum Tisch vor und legte ohne viele Umstände seine Hand auf die Papiere der Beamten.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Ich brauche einen Erlaß zur Befreiung Doktor Budachs. Ich bin Don Rumata.« Der Beamte hob nicht den Kopf.

»Don Rumata … Don Rumata …«, murmelte er, schob Rumatas Hand beiseite und fuhr mit dem Finger über das Papier. »Was tust du da, du altes Tintenfaß?« sagte Rumata. »Ich brauche einen Befreiungserlaß!«

»Don Rumata … Don Rumata …«, diesen Automaten zu stoppen war wohl unmöglich. »Spenglerstraße acht. Nummer sechzehn, Bruder Tibak.« Rumata spürte, wie hinter seinem Rücken alle den Atem anhielten. Aber auch ihm selbst, wenn er ehrlich sein wollte, war nicht ganz geheuer. Der himbeerfarbene, schweißüberströmte Bruder Tibak erhob sich:

»Nummer sechzehn, Don Rumata, Spenglerstraße acht, für spezielle Verdienste um den Heiligen Orden des besonderen Dankes Seiner Herrlichkeit würdig. Seine Herrlichkeit geruhen also, ihm einen Erlaß zur Befreiung des Doktor Budach auszustellen, mit welchem besagten Mann er nach eigenem Ermessen verfahren möge, siehe Blatt 6/17/11.«

Der Beamte zog dieses Blatt sogleich aus dem Papierstoß und übergab es Rumata.

»Durch die gelbe Tür, in den zweiten Stock, Zimmer sechs, geradeaus durch den Korridor, zuerst rechts und dann links«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. »Der nächste …« Rumata überflog das Blatt. Es war nicht der Erlaß zur Befreiung Budachs. Es war bloß ein Dokument zur Erlangung eines Einlaßpapiers in die fünfte Spezialabteilung der Kanzlei, wo er eine Empfehlung für das Geheimsekretariat abholen sollte. »Was hast du mir gegeben, du Holzkopf?« fragte Rumata. »Wo ist der Erlaß?!«

»Durch die gelbe Tür, in den zweiten Stock, Zimmer sechs, geradeaus durch den Korridor, zuerst rechts und dann links«, wiederholte der Beamte.

»Ich frage dich, wo ist der Erlaß!« schrie Rumata. »Keine Ahnung … Keine Ahnung … Der nächste …!« Über Rumatas Ohren ertönte ein leises Röcheln, und etwas Weiches und Warmes legte sich ihm an den Rücken. Er schüttelte das Ding ab. Zum Tisch zwängte sich noch einmal Don Pifa. »Er paßt nicht«, sagte er weinerlich. Der Beamte hob seine trüben Augen zu ihm empor. »Name? Rang?« fragte er.

»Er paßt nicht«, sagte Don Pifa noch einmal, und zog und schob den Armreif, in den er mit Müh und Not drei seiner dicken Finger stecken konnte, hin und her.

»Er paßt nicht … er paßt nicht …«, murmelte der eine der beiden Beamten und faßte plötzlich nach einem dicken Buch, das zu seiner Rechten auf dem Tisch lag. Das Buch sah unheilverkündend aus in seinem speckigen, schwarzen Umschlag. Einige Sekunden lang blickte Don Pifa verwirrt auf das Buch, sprang dann aber plötzlich einen Schritt zurück und rollte, ohne ein Wort zu sagen, dem Ausgang zu. In der Schlange maulten sie: »Nicht aufhalten, weitermachen!« Rumata trat ebenfalls vom Tisch weg. Das ist doch eine Schweinerei, dachte er. Na, ich werde euch schon … Der Beamte machte sich daran, laut in die Menge zu keifen: »Wenn das besagte Zeichen aber nicht auf das linke Handgelenk paßt, oder wenn der Gereinigte keine linke Hand besitzt …« Rumata ging um den Tisch herum, steckte beide Hände in die Kiste mit den Armreifen, nahm so viele, wie er nur konnte, und ging seines Weges. »He, he«, schrie ihm der Beamte völlig ausdruckslos nach, »der Beweggrund …«

»Im Namen des Herrn«, sagte Rumata bedeutungsvoll über die Schulter. Der Beamte und Bruder Tibak erhoben sich eilig von ihren Sitzen und antworteten etwas verwirrt: »In seinem Namen!« Mit Entzücken und neiderfüllten Blicken schauten die Menschen in der Warteschlange Rumata nach.

Nach dem Besuch in der Kanzlei lenkte Rumata seine Schritte zum Turm der Fröhlichkeit, wobei er unterwegs mit den Armreifen an der linken Hand klirrte. Es stellte sich heraus, daß er neun Reife erwischt hatte, am linken Arm fanden aber nur fünf Platz. Die übrigen vier steckte er sich auf den rechten. So also wollte er mich erledigen, der Bischof von Arkanar, dachte er. Da wird nichts draus. Die Armreife schellten bei jedem Schritt, und in der Hand hielt Rumata ein achtunggebietendes Papier – Blatt 6/17/11 –, geschmückt mit verschiedenfarbigen Stempeln. Die zu Fuß und zu Pferd entgegenkommenden Mönche gingen ihm schleunigst aus dem Weg. Aus der Menge tauchte hie und da in respektvoller Entfernung sein Leibwächter und Spion auf. Als Rumata zum Tor des Turms kam, rasselte er unfreundlich mit seinen übereinandergeratenen Schwertscheiden, bedachte den Wächter, der eben neugierig seinen Kopf herausstecken wollte, mit einem drohenden Knurren, ging durch den Hof und stieg die schlüpfrigen, ausgetretenen Stufen hinab in das durch primitive Ölfunzeln erleuchtete Halbdunkel. Hier war der Beginn des Allerheiligsten des ehemaligen Sicherheitsministeriums, das königliche Gefängnis und die Folterkammern. In den gewölbten Gängen steckte alle zehn Schritt eine übelriechende Fackel in einem rostigen Halter. Unter jeder Fackel war eine höhlenähnliche Nische, in der man eine kleine schwarze Tür mit einem vergitterten Fenster sah. Das waren die Eingänge zu den Kerkerzellen, die von außen mit schweren Riegeln verschlossen waren. Auf den Gängen wimmelte es von Menschen. Sie rempelten einander an, liefen hin und her, schrien durcheinander und kommandierten einer den andern … Die Riegel krachten, Türen flogen auf und zu, irgend jemand wurde geschlagen und brüllte auf, irgend jemand wurde davongeschleppt und versuchte sich festzuhalten, irgend jemanden stießen sie in eine Zelle, die ohnehin schon vollgestopft war mit Menschen, und irgend jemanden versuchten sie aus einer Zelle herauszuziehen, hatten aber wenig Erfolg, weil er sich an seinem Nachbarn festkrallte und verzweifelt schrie: »Nicht mich, nicht mich!« Die Gesichter der entgegenkommenden Mönche waren eifrig und verkniffen. Jeder hatte es eilig, jeder verrichtete Dinge von großer Bedeutung für den Staat. In der Absicht herauszubekommen, was da überhaupt los sei, durchstreifte Rumata ohne besondere Eile eine Anzahl von Gängen und geriet immer tiefer und tiefer hinab. In den unteren Stockwerken war es etwas ruhiger. Den Gesprächen nach zu schließen, wurden hier die Absolventen der Patriotischen Schule examiniert. Nur mit einem Lederschurz bekleidet standen die Halbwüchsigen an den Türen der Folterkammern, blätterten speckige alte Handbücher durch und gingen von Zeit zu Zeit zu einem großen Bottich mit einem angeketteten Blechnapf, um Wasser zu trinken. Aus den Kammern drangen grauenvolle Schreie, das Geräusch von Schlägen, und es roch deutlich nach angesengtem Fleisch. Und die Reden, diese Reden! »Bei der Knochenbrechmaschine, da ist eine Schraube oben, und die hat durchgedreht. Aber ist das meine Schuld? Er hat mich verprügeln lassen. Sauschädel, sagt er, du Affe du, sagt er, hol dir fünfe auf deinen nackten Hintern. Dann komm wieder …«

»Man müßte ja nur herauskriegen, wer die Schläge verteilt. Vielleicht einer von uns, ein Student. Man müßte sich rechtzeitig absprechen, für ein paar Kupfergroschen läßt sich das regeln …«

»Wenn einer fett ist, hinterlassen die Zacken keine Spur im Fleisch. Man nimmt dann am besten glühende Späne und schiebt den Speck ein wenig zur Seite …«

»Ja aber die Herrgottsfesseln sind für die Beine zum Foltern, und die Handschuhe der Märtyrerin, die mit den Schrauben, sind speziell für die Hände, verstanden?«

»Ich habe vor Lachen gebrüllt, Brüder! Ich geh und schau – und wer ist denn da in Ketten? Der rothaarige Fika, der Fleischhauer von unserer Straße, die Ohren hat er mir immer gezaust, wenn er betrunken war. Nun halt dich gerade, denk ich, jetzt bist du dran …«

»Und den Pekor mit der dicken Lippe haben in der Früh die Mönche weggeschleppt. Ist seither noch nicht zurück. Und auch zur Prüfung ist er nicht gekommen.«

»Ach, ich hätte die Fleischmühle betätigen sollen, und ich habe ihn versehentlich seitlich hineingelegt, na, halt eine Rippe gebrochen. Da schnappt mich aber der Vater Kin bei den Haaren und tritt mit dem Stiefel gegen das Steißbein – aber so genau, sage ich euch, daß es mir schwarz vor den Augen wurde, so weh hat es getan. Was fällt dir ein, sagt er, willst du mir das Material verderben?« Schaut, schaut! Schaut her, meine Freunde, dachte Rumata und wendete langsam den Kopf von einer Seite auf die andere. Das hier ist keine Theorie. Das hat von unseren Leuten auf der Erde noch niemand gesehen. Schaut nur, horcht und filmt fleißig … Und schätzt und liebt unsere eigene Zeit – hol euch der Teufel – und verneigt euch vor dem Andenken derer, die das alles durchgemacht haben! Schaut euch nur alles genau an: diese Fratzen, junge, stumpfe, gleichgültige, die an alle Arten von Bestialität gewöhnt sind; aber rümpft nicht die Nase, unsere eigenen Vorfahren waren um nichts besser …

Dann bemerkten sie ihn. Ein Dutzend Augenpaare aller möglichen Schattierungen starrten ihn an.

»He, ein edler Don läßt sich zu uns herab. Belieben ganz blaß zu werden?«

»Oho …! Sind denn die Edlen nicht schon aus der Mode?«

»In solchen Fällen, sagt man allgemein, da setzt man ihnen Wasser vor, aber mit einer zu kurzen Kette, daß sie es nicht erreichen können …«

»Was schnüffelt er hier herum …«

»So einer sollte mir unter die Finger geraten … Die antworten einem auf jede Frage, da kannst du Gift drauf nehmen …«

»Ein bißchen leiser, Kameraden! Der ist imstand und zieht sein Schwert … Wie viele Armreifen er hat … und das Papier!«

»Mir scheint, er mustert uns schon irgendwie … Gehn wir weg, Kameraden, meiden wir die Sünde!«

Sie räumten schließlich das Feld, verkrochen sich ins Dunkle, aus dem sie mit argwöhnischen Spinnenaugen hervorblitzten. Na, die habe ich wenigstens los, dachte Rumata. Er wollte schon einen der vorüberhuschenden Mönche an der Kutte fassen, als er drei andere Mönche bemerkte, die es weniger eilig hatten und ruhig und gefaßt ihrem Geschäft nachgingen. Sie prügelten mit schweren Stöcken einen Henker: wahrscheinlich wegen Unbotmäßigkeit. Rumata trat zu ihnen.

»Im Namen des Herrn«, sagte er halblaut und schepperte mit den Reifen.

Die Mönche ließen ihre Schlagstöcke sinken und schauten Rumata genau an.

»In seinem Namen«, sagte der größte von ihnen. »Ihr da, Vater«, sagte Rumata, »führt mich zum Gangaufseher!« Die Mönche tauschten einige rasche Blicke. Der Henker verkroch sich geschickt hinter dem Wasserbottich. »Wozu brauchst du ihn?« fragte der große Mönch.

Rumata hielt ihm, ohne ein Wort zu sagen, das Papier vors Gesicht. »Aha«, sagte der Mönch. »Nun, zur Zeit bin ich der Gangaufseher.«

»Ausgezeichnet«, sagte Rumata und rollte das Papier zusammen. »Ich bin Don Rumata. Seine Herrlichkeit hat mir den Doktor Budach geschenkt. Laß ihn herbringen!«

»Budach?« sagte er nachdenklich. »Was soll das für ein Budach sein? Der Mönch fuhr sich mit der Hand unter die Kapuze und kratzte sich lautstark. Der Unruhestifter, wie?«

»Nein, nein«, sagte ein anderer Mönch. »Der Unruhestifter, das ist Rudach. Den hat man noch in der Nacht freigelassen. Vater Kin hat ihm selbst die Ketten losgemacht und ihn hinausgeleitet. Aber ich …«

»Unsinn, Unsinn!« sagte Rumata ungeduldig und schlug sich mit dem zusammengerollten Papier auf die Schenkel. »Budach, der den König vergiftet hat!«

»Ah-aah …«, sagte der Aufseher. »Ich weiß schon. Der ist wahrscheinlich schon im Verlies. – Bruder Pacca, geh auf Nummer zwölf und schau mal nach.« Er wandte sich an Rumata. »Und Ihr, Ihr wollt ihn hinausführen?«

»Natürlich«, sagte Rumata. »Er gehört mir.«

»Also, dann gebt das Papier her, Euer Gnaden. Der Fall muß verbucht werden.« Rumata gab ihm das Papier. Der Aufseher drehte und wendete es, betrachtete aufmerksam die Siegel und sagte dann entzückt:

»Na, das nenne ich eine Schrift! Ihr, Don tretet ein wenig zur Seite, wartet hier, wir haben noch ein kleines Geschäft zu erledigen … He, wo ist denn dieser Kerl hin?«

Die Mönche blickten sich suchend nach dem Henker um, der die Gefolterten anscheinend zu zart behandelt hatte. Rumata ging weg. Sie zogen den Henker hinter dem Bottich hervor, legten ihn fachgerecht auf den Boden und machten sich wieder ohne besondere Grausamkeit an ihre Arbeit mit den Stöcken. Nach fünf Minuten erschien in einer Krümmung des Ganges der Mönch, den sie vorher weggeschickt hatten, und an einem Strick hinter sich nach zog er einen abgemagerten, völlig ergrauten alten Mann in dunkler Kleidung.

»Na, da habt Ihr ihn, Euren Budach!« schrie der Mönch schon von weitem freudig. »Und nicht einmal im Verlies war er; er lebt und ist gesund! Ein bißchen schwach ist er halt geworden, hat wahrscheinlich schon längere Zeit nichts gegessen …« Rumata ging ihm entgegen, riß dem Mönch den Strick aus der Hand und löste die Schlinge vom Hals des alten Mannes. »Sind Sie Budach von Irukan?« fragte Rumata. »Ja«, sagte der Alte.

»Ich bin Rumata, gehen Sie mir nach und versuchen Sie, Schritt zu halten!« Rumata wandte sich zu den Mönchen. »Im Namen des Herrn«, sagte er.

Der Aufseher richtete sich auf, ließ seinen Schlagstock sinken und antwortete schweratmend: »In seinem Namen!« Rumata betrachtete sich nun Doktor Budach und sah, daß der alte Mann an der Wand lehnte und sich kaum auf den Beinen halten konnte.

»Mir ist übel«, sagte er, und ein krankes Lächeln überzog sein Gesicht. »Verzeiht mir, edler Don!«

Rumata faßte ihn unter dem Arm und führte ihn. Als die Mönche außer Sichtweite waren, blieb er stehen, entnahm einem Röhrchen eine Tablette Sporamin und reichte sie Budach. Budach blickte ihn fragend an.

»Schlucken Sie es«, sagte Rumata, »es wird Ihnen gleich besser werden.«

Budach stützte sich noch immer gegen die Wand. Er nahm die Tablette, betrachtete sie aufmerksam, roch daran, zog seine zottigen Brauen hoch, legte sie dann vorsichtig auf die Zunge und kostete sie.

»Schlucken Sie es nur, schlucken Sie es«, sagte Rumata mit einem freundlichen Lächeln. Budach schluckte die Pille hinunter.

»M-m-m«, sagte er. »Und ich dachte, ich wüßte schon alles über Arzneien.« Er verstummte und verfolgte, was in seinem Körper vor sich ging. »M-m-m!« sagte er wieder. »Interessant! Getrocknete Milz der Wildsau Y? Das heißt nein, man schmeckt ja keine Fäulnis.«

»Gehen wir«, sagte Rumata.

Sie gingen die Gänge entlang, dann ein paar Stufen hinauf, kamen durch einen weiteren Gang und stiegen noch eine Treppe hinauf. Da plötzlich blieb Rumata wie vom Blitz gerührt stehen. Ein bekanntes wildes Brüllen erfüllte die Gefängsnisgewölbe. Irgendwo im Innern in einem der Verliese brüllte aus Leibeskräften der Herzensfreund Baron Pampa, Don Bau de Suruga de Gatta de Arkanar, Flüche auf Gott und die Welt. Mit seiner ungeheuerlichen Donnerstimme verfluchte er Gott und alle Heiligen, die ihm gerade einfielen, Don Reba, den Heiligen Orden und noch vieles andere. Also ist ihnen der Baron doch in die Hände gefallen, dachte Rumata zerknirscht. Ich habe ihn ganz vergessen. Er hätte mich nicht vergessen … Rumata nahm eilig zwei Armreife von seiner Hand, steckte sie auf die dürren Handgelenke Dr. Budachs und sagte: »Gehen Sie ganz hinauf, aber bleiben Sie im Haus. Warten Sie irgendwo abseits. Wenn jemand zudringlich wird, zeigen Sie ihm die Armreife und bieten Sie ihnen die Stirn.«

Baron Pampa brüllte und heulte wie ein Atom-Eisbrecher im Polarnebel. Ein donnerndes Echo dröhnte im Gewölbe. Die Leute in den Gängen erstarrten und horchten andächtig mit weit aufgerissenen Mäulern. Viele fuhren sich mit dem Daumen übers Gesicht, um den unreinen Geist zu verjagen. Rumata sprang zwei Treppen hinunter und schleuderte die entgegenkommenden Mönche zur Seite. Mit seinen Schwertscheiden bahnte er sich einen Weg durch die Menge der Absolventen der Patriotischen Schule und öffnete die Zellentür mit einem kräftigen Fußtritt. Der ganze Raum zitterte von dem Gebrüll. Im unruhig flackernden Licht der Fackeln sah er seinen Freund Pampa: Der mächtige Baron war nackt an die Wand geheftet, mit dem Kopf nach unten. Sein Gesicht war schwarz von dem aufgestauten Blut. An einem krummbeinigen, kleinen Tisch saß ein buckliger Beamter und hielt sich die Ohren zu, und der schweißüberströmte Folterknecht, der irgendwie einem Zahnarzt ähnelte, hantierte in einer eisernen Wanne mit seinen klirrenden Instrumenten.

Rumata schloß die Tür, trat von hinten an den Folterknecht heran und versetzte ihm mit dem Schwertgriff einen Schlag ins Genick. Der Folterknecht drehte sich um, faßte sich an den Kopf und saß auch schon in der Wanne. Rumata zog ein Schwert aus einer Scheide und schlug den Tisch mit den Papieren entzwei, an dem der Beamte saß. Alles war so, wie es sich gehörte. Der Folterknecht kauerte in der Wanne und hatte leichten Schluckauf, und der Beamte hatte sich gleich sehr flink auf allen vieren in eine Ecke verkrochen. Rumata ging zum Baron, betrachtete ihn mit freudigem Interesse, machte sich an die Ketten heran, die die Füße des Barons gegen die Wand gepreßt hielten und riß sie beim zweiten Versuch aus der Wand. Dann stellte er den Baron vorsichtig auf die Beine. Der Baron verstummte, erstarrte in einer merkwürdigen Pose, dann zerrte er plötzlich an seinen Fesseln und befreite seine Hände. »Kann ich meinen Augen trauen«, donnerte er wieder los und rollte seine blutunterlaufenen Augen hin und her, »daß das Sie sind, mein edler Freund?! Endlich habe ich Sie gefunden!«

»Ja, ich bin es«, sagte Rumata. »Gehen wir weg von hier, mein Freund, das ist kein Ort für Sie!«

»Bier!« sagte der Baron. »Irgendwo habe ich doch hier Bier gesehen.« Er ging kreuz und quer durch die Zelle, wobei er die Reste seiner Ketten hinter sich herschleifte und nicht aufhörte, zu rumoren und zu brüllen: »Die halbe Nacht bin ich durch die Stadt gerannt! Der Teufel soll’s holen, man hat mir gesagt, Sie seien verhaftet, und ich habe eine Menge Leute verprügelt, einen nach dem andern. Und ich war überzeugt, Sie in diesem Gefängnis zu finden! Na, und da sind Sie ja auch!«

Er ging auf den Folterknecht zu und fegte ihn mitsamt der Wanne beiseite, als ob er gerade mit Staubwischen beschäftigt sei. Hinter der Wanne kam ein kleines Faß zum Vorschein. Der Baron schlug mit der Faust den Boden ein, hob das Faß in die Höhe, warf den Kopf mit weitaufgerissenem Rachen zurück und ließ den Inhalt auf sich niederstürzen. Ein Strom von Bier floß gurgelnd in seine Kehle. Was für ein Kerl, dachte Rumata, als er den Baron wohlgefällig betrachtete. Schaut aus wie ein Büffel, wie ein hirnloser Büffel, aber er hat nach mir gesucht, er wollte mich retten, er ist doch höchstwahrscheinlich meinetwegen ins Gefängnis gekommen, allein, von selber … Nein, nein, es gibt doch Menschen auf dieser Welt, sei sie auch noch so verseucht … Aber wie gut ist das doch gerade noch ausgegangen! Der Baron hatte das Faß geleert und schleuderte es in jene Ecke, in der man den Beamten laut mit den Zähnen klappern hörte. In der Ecke quiekte es.

»Na also«, sagte der Baron und wischte sich mit der flachen Hand den Bart ab. »Jetzt bin ich bereit, Ihnen zu folgen. Macht es etwas, daß ich nackt bin?«

Rumata blickte sich um, ging zu dem Folterknecht und schüttelte ihn aus seinem Schurz. »Nehmen Sie einstweilen das da«, sagte er.

»Sie haben recht«, sagte der Baron und band sich den Schurz um die Lenden. »Es wäre wirklich unschicklich, vor der Baronin nackt zu erscheinen …«

Sie verließen die Folterkammer. Kein Mensch konnte sich entschließen, ihnen den Weg zu versperren, und der Gang war mit einem Mal zwanzig Schritte weit leer.

»Ich schlage sie alle tot!« brüllte der Baron. »Sie haben mein Schloß besetzt! Und haben dort irgendeinen Vater Arima hinbeordert! Ich weiß zwar nicht, wessen Vater er dort ist, aber seine Kinder, das schwöre ich Ihnen, werden bald verwaisen! Hol’s der Teufel, mein Freund, finden Sie nicht auch, daß hier der Plafond verdammt niedrig ist? Ich habe mir schon den ganzen Schädel zerkratzt …« Sie verließen endlich den schaurigen Turm. Einen Augenblick lang tauchte vor ihren Augen der Spion und Leibwächter auf, um gleich wieder in der Menge zu verschwinden. Rumata gab Budach ein Zeichen, ihm zu folgen. Die Menge vor dem Tor wich vor ihnen auseinander, als wären sie mit dem Schwert hineingefahren. Man hörte, wie die einen schrien, ein wichtiger Staatsverbrecher sei entflohen, andere deuteten mit Fingern auf sie und murrten: »Da, schaut den nackten Teufel an, den berühmten estorischen Henker!« Der Baron ging zur Mitte des Platzes, blieb stehen und kniff vor dem hellen Sonnenlicht die Augen zusammen. Sie mußten sich beeilen. Rumata blickte rasch um sich. »Irgendwo hier war doch mein Pferd«, sagte der Baron. »He, du dort! Mein Pferd!« Bei der Koppel, wo die Pferde der Kavallerie des Ordens tänzelten, entstand ein wildes Durcheinander.

»Nicht das!« krähte der Baron. »Das dort, den gescheckten Grauen!«

»Im Namen des Herrn!« schrie Rumata ein wenig verspätet und zog sich seinen Stirnreif über den Kopf.

Ein verängstigter kleiner Mönch in einer fleckigen Kutte brachte dem Baron sein Pferd.

»Geben Sie ihm irgendwas, Don Rumata«, sagte der Baron und erhob sich schwerfällig in den Sattel. »Halt, halt!« schrien sie beim Turm.

Mit ihren Schlagstöcken fuchtelnd, kamen Mönche über den Platz gerannt. Rumata gab dem Baron eines seiner beiden Schwerter. »Beeilen Sie sich, Baron. Rasch!« sagte er.

»Ja«, sagte Pampa. »Hier tut Eile not. Dieser Arima räumt mir meinen ganzen Keller aus. Ich erwarte Sie bei mir zu Hause, morgen oder übermorgen, mein Freund. Was soll ich der Baronin ausrichten?«

»Küssen Sie ihr die Hand von mir«, sagte Rumata. Die Mönche waren schon ganz nahe. »Schneller, schneller, Baron …!«

»Sind Sie aber ganz sicher außer Gefahr?« wollte der Baron wissen. Man merkte an seiner Stimme, daß er sich noch immer um Rumata sorgte.

»Ja, zum Teufel, ja! Vorwärts!«

Der Baron sprengt im Galopp davon, geradewegs in die Menge der Mönche hinein. Einer kam zu Fall und überschlug sich, irgend jemand winselte laut, eine große Staubwolke erhob sich, man hörte das harte Schlagen der Hufe auf dem Pflaster – und der Baron war verschwunden. Rumata blickte eben in eine kleine Gasse, die vom Platz wegführte, wo ein paar zur Seite geschleuderte Menschen ganz benommen dasaßen, als eine eindringlich verstohlene Stimme über seinem Ohr ertönte:

»Aber mein edler Don, glauben Sie nicht, daß Sie sich da etwas zu viel herausnehmen?«

Rumata drehte sich um. Und sah in das gekünstelt lächelnde Gesicht Don Rebas.

»Etwas zu viel?« sagte Rumata. »Ich kenne das Wort zu viel nicht.« Plötzlich fiel ihm Don Sera ein. »Und überhaupt sehe ich nicht ein, warum ein edler Don einem andern nicht im Unglück helfen sollte.« Schweratmend hetzte eine Gruppe berittener Mönche mit gezückten Hellebarden an ihnen vorbei – sie nahmen die Verfolgung des Barons auf. Im Gesicht Don Rebas veränderte sich etwas. »Nun gut«, sagte er. »Lassen wir das … Oh, ich sehe hier den hochgelehrten Doktor Budach … Sie sehen prächtig aus, Doktor. Ich muß einmal mein Gefängnis inspizieren. Staatsverbrecher und auch Freigelassene dürfen das Gefängnis nicht zuFuß verlassen, sie müssen hinausgetragen werden.«

Doktor Budach stürzte sich mit den Bewegungen eines Blinden auf ihn. Rumata trat rasch zwischen die beiden.

»Übrigens, Don Reba«, sagte er, »was halten Sie von Vater Arima?«

»Vater Arima?« Don Reba zog die Brauen hoch. »Ein ausgezeichneter Krieger. Nimmt eine hohe Stelle in meinem Episkopat ein. Aber was soll die Frage?«

»Als treuer Diener Eurer Herrlichkeit«, sagte Rumata und verneigte sich mit sichtlicher Schadenfreude, »beeile ich mich, Ihnen zu melden, daß Sie diese hohe Stelle als vakant betrachten können.«

»Aber wieso denn?«

Rumata warf einen Blick in die Gasse, wo sich der aufgewirbelte gelbe Staub noch nicht gesetzt hatte. Auch Don Reba schaute dort hin. Auf seinem Gesicht erschien ein besorgter Ausdruck.

Es war schon spät am Nachmittag, als Kyra den edlen Herrn und seinen hochgelehrten Freund zu Tisch bat. Nachdem sich Doktor Budach gewaschen, sorgfältig rasiert und umgezogen hatte, machte er einen angenehmen, achtunggebietenden Eindruck. Seine Bewegungen waren langsam und voll Würde, seine klugen grauen Augen blickten wohlwollend und etwas herablassend drein. Zuallererst entschuldigte er sich bei Rumata für sein Aufbrausen auf dem Platz.

»Aber Sie müssen mich verstehen«, sagte er. »Er ist ein grauenvoller Mensch. Er ist ein Untier, das nur durch ein göttliches Versehen auf diese Welt kam. Ich bin Arzt, aber ich schäme mich nicht, zuzugeben, daß ich ihn, wenn ich nur Gelegenheit hätte, umbringen würde. Ich hörte, daß der König vergiftet ist. Und jetzt verstehe ich, wie er umkam.« Rumata spitzte die Ohren. »Dieser Reba kam zu mir in die Zelle und forderte von mir, ich solle ihm ein Gift mischen, das in wenigen Stunden wirkt. Ich habe es natürlich abgelehnt. Er drohte mir mit Folterungen – ich lachte ihm ins Gesicht. Da rief dieses Scheusal die Henkersknechte herbei, und sie brachten ihm auf seinen Befehl ein Dutzend Knaben und Mädchen, nicht älter als zehn Jahre. Er stellte sie in einer Reihe vor mir auf, öffnete meine Arzneitasche und erklärte, er werde alle Medikamente der Reihe nach an diesen Kindern ausprobieren, bis er das richtige gefunden habe. – So ist der König vergiftet worden, Don Rumata …«

Budadis Lippen begannen zu zittern, doch er hatte sich gleich wieder in der Gewalt. Rumata wandte sich rücksichtsvoll ab und nickte. Jetzt verstehe ich, dachte er. Alles verstehe ich jetzt. Aus den Händen seines Ministers hätte der König nicht einmal eine Gurke genommen. Und der Gauner unterschob dem König irgendeinen dahergelaufenen Scharlatan, dem man den Titel eines Leibarztes für die Heilung des Königs versprach. Und jetzt ist es auch klar, warum Reba so triumphierte, als ich ihn bloßstellte im Schlafzimmer des Königs: Man hätte sich schwerlich ein besseres Mittel ausdenken können, dem König einen falschen Budach zu unterschieben. Die ganze Verantwortung fiel nun auf Rumata von Estorien, den irukanischen Verschwörer und Spion. Wir sind doch dumme junge Hunde, dachte er. Im Institut muß man einen Spezialkurs für feudale Intrigen einführen. Und einen andern, um die Fähigkeit zu erwerben, die Rebas richtig einzuschätzen. Noch besser natürlich auch die Dezi-Rebas. Übrigens, wohin sollten denn … Doktor Budach war offenbar ganz ausgehungert. Trotzdem lehnte er die Fleischspeisen höflich, aber entschieden ab und beehrte nur die Salate sowie die Mehlspeisen mit seiner Aufmerksamkeit. Er trank auch ein Glas Estorischen, und in seine Augen kam wieder frischer Glanz, und seine Wangen zeigten eine gesunde Röte. Rumata brachte keinen Bissen hinunter. Vor seinen Augen knisterten und qualmten noch immer die scharlachroten Fackeln, er verspürte den Geruch von versengtem Fleisch, und in seiner Kehle steckte ein faustgroßer Klumpen. Und so wartete er, bis Doktor Budach sich gesättigt hatte, lehnte am Fenster und führte ein höfliches Gespräch, langsam und ruhig, um seinen Gast nicht beim Kauen zu stören. In die Stadt kam langsam wieder Leben. Auf der Straße zeigten sich Menschen, die Stimmen wurden lauter, man hörte das Schlagen von Hämmern und Krachen von Holz; von den Mauern und Giebeln schlug man die Götzenbilder herab. Ein glatzköpfiger dicker Krämer schob einen Karren mit einem Faß Bier vor sich her, um es auf dem Platz für zwei Groschen den Krug zu verkaufen. Die Leute hakten sich unter. Im Torbogen gegenüber unterhielt sich mit näselnder Stimme der Spion und Leibwächter mit einer hageren Frau. Unter dem Fenster rollten Fuhren vorbei, die stockhoch beladen waren. Rumata verstand zuerst nicht, was das für Fuhren waren, aber dann sah er blauschwarze Hände und Füße unter den Bastmatten hervorragen und ging rasch wieder vom Fenster weg. »Das Wesen des Menschen«, sagte Budach bedächtig kauend, »besteht in seiner Fähigkeit, sich an alles zu gewöhnen. Es gibt in der Natur nichts, woran sich der Mensch nicht anpassen könnte. Kein Pferd, kein Hund und keine Maus besitzt diese Fähigkeit. Vermutlich hat Gott bei der Erschaffung des Menschen daran gedacht, welchen Qualen er ihn auf der Erde aussetzt, und gab ihm einen großen Vorrat an Geduld. Natürlich ist es schwer zu sagen, ob das gut ist oder nicht. Wäre der Mensch nicht mit solcher Geduld und solch einer Fähigkeit zu leiden ausgestattet – alle guten Menschen wären schon längst umgekommen, und auf der Welt blieben nur die Seelenlosen und Bösen. Andererseits aber verwandelt das Dulden und die Anpassung die Menschen in wortlose Tiere, die sich durch nichts außer ihrem Körperbau von den Tieren unterscheiden und sie sogar an Wehrlosigkeit noch übertreffen. Und jeder Tag gebiert neue Schrecken von Bosheit und Gewalt …«

Rumata blickte zu Kyra. Sie saß Budach gegenüber und hörte ihm angestrengt zu, eine Wange auf ihre kleine Faust gestützt. Ihre Augen waren voll Trauer: Offenbar tat ihr die Menschheit leid. »Wahrscheinlich haben Sie recht, verehrter Budach«, sagte Rumata. »Aber nehmen Sie doch mich. Ich zum Beispiel bin ein einfacher, wohlgeborener Don.« Die hohe Stirn Budachs legte sich in Falten, und seine Augen wurden vor Erstaunen und Belustigung ganz rund. »Ich liebe gelehrte Menschen über alles, diesen Hochadel des Geistes. Und mir ist völlig unverständlich, warum ihr, die Bewohner der Wissenschaft und einzigen Träger der hohen Weisheit, so hoffnungslos passiv seid? Warum gebt ihr euch so widerstandslos der Verachtung preis, warum laßt ihr euch ins Gefängnis werfen und auf dem Scheiterhaufen verbrennen? Warum denn trennt ihr den Sinn eures Lebens – die Erlangung von neuem Wissen – von den praktischen Anforderungen des Lebens – dem Kampf gegen das Böse?«

Budach schob die leere Schüssel von sich weg.

»Ihr stellt sonderbare Fragen, Don Rumata«, sagte er. »Eigentümlich, aber diese Fragen stellte mir schon der wohlgeborene Don Hug, der Kämmerer unseres Herzogs. Kennt Ihr ihn vielleicht? Habe ich mir gleich gedacht … Ja, der Kampf mit dem Bösen! Aber was ist eigentlich das Böse? Es ist doch jedem freigestellt, das Böse auf seine Art zu verstehen. Für uns, die Gelehrten, besteht das Böse in der Unwissenheit, die Kirche hingegen lehrt, die Unwissenheit sei eine Gnade, und alles Böse komme vom Wissen. Für den Bauern ist das Böse die hohe Pacht und die Dürre, für den Weizenhändler aber ist die Dürre günstig. Die Sklaven sehen das Böse in Gestalt eines betrunkenen, hartherzigen Herrn, für die Handwerker verkörpert das Böse ein habsüchtiger Geldverleiher. Also was ist nun das Böse, gegen das man ankämpfen soll, Don Rumata?« Er streifte seinen Zuhörer mit einem traurigen Blick. »Das Böse ist unausrottbar. Kein Mensch ist imstande, sein Ausmaß in dieser Welt zu verringern. Er kann vielleicht sein eigenes Schicksal ein wenig verbessern, aber immer nur durch die Verschlechterung des Loses der andern. Und immer wird es Könige geben, die sich bloß durch das Ausmaß ihrer Grausamkeit unterscheiden, und immer wird es mehr oder weniger ungehobelte und ausschweifende Barone geben, und immer wird es das dumme Volk geben, das seinen Unterdrückern Entzücken, seinen Befreiern aber Haß entgegenbringt. Und all das deshalb, weil ein Knecht oder ein Sklave viel besser seinen Herrn (sei es auch den grausamsten) versteht als einen Befreier, denn jeder geknechtete Sklave kann sich leicht an die Stelle seines Herrn denken, aber kaum jemand wird sich in die Lage seines Befreiers versetzen können. So sind die Menschen, Don Rumata, und so ist unsere Welt.«

»Die Welt ändert sich ständig, Doktor Budach«, sagte Rumata. »Wir kennen eine Zeit, da gab es keine Könige …«

»Die Welt kann sich nicht ewig verändern«, entgegnete Budach, »denn nichts ist ewig, nicht einmal die Veränderungen … Wir kennen nicht die Gesetze der Vollendung, die Vollendung wird aber früher oder später erreicht. Betrachtet zum Beispiel den Bau unserer Gesellschaft. Wie erfreut das Auge dieses genaue, geometrisch exakte System! Zuunterst die Bauern und Handwerker, über ihnen der Adel, dann die Geistlichkeit, schließlich der König. Wie doch alles ausgeklügelt ist, welche Beständigkeit, welch harmonische Ordnung! Was sollte sich noch ändern an diesem geschliffenen Kristall aus der Hand des himmlischen Juweliers? Es gibt kein Gebäude, das besser wäre als eine Pyramide – das sagt Euch jeder gebildete Architekt.« Er hob dozierend seinen Finger. »Das Korn, welches aus einem Sack fällt, legt sich nicht in eine Ebene, sondern bildet eine sogenannte konische Pyramide. Jedes Körnchen hängt sich an das andere bei dem Versuch, nicht nach unten zu geraten. Und so ist es auch mit der Menschheit. Wenn sie irgendwie ein Ganzes darstellen will, so müssen sich die Menschen aneinanderhängen und dabei unausweichlich eine Pyramide bilden.«

»Halten Sie denn diese Welt allen Ernstes für vollkommen?« fragte Rumata erstaunt. »Nach der Begegnung mit Don Reba, nach dem Kerker?«

»Aber natürlich, mein junger Freund! Mir gefällt vieles nicht auf dieser Welt, vieles möchte ich gern anders sehen … Aber was soll man denn tun? In den Augen der höchsten Macht sieht die Vollendung ganz anders aus als in meinen Augen. Welchen Sinn hätte es für einen Baum, zu zetern, daß er sich nicht von der Stelle bewegen kann, obwohl er wahrscheinlich froh darüber wäre, wenn er der Axt des Holzfällers entlaufen könnte?«

»Aber wenn man die allerhöchsten Beschlüsse ändern könnte?«

»Dazu ist nur die allerhöchste Macht fähig …«

»Aber trotzdem, stellen Sie sich vor, Sie hätten göttliche Befugnisse …« Budach lachte.

»Wenn ich mir vorstellen könnte, ein Gott zu sein, so würde ich Gott werden!«

»Nun, aber wenn Sie die Möglichkeit hätten, Gott zu beraten?«

»Ihr habt eine reiche Phantasie«, sagte Budach vergnügt. »Das ist schön. Ihr kennt Euch in den Schriften aus? Wunderbar! Ich würde mich mit Vergnügen mit Euch unterhalten …«

»Sie schmeicheln mir … Aber was würden Sie trotzdem dem Allmächtigen raten? Was müßte der Allmächtige Ihrer Meinung nach tun, damit Sie sagen könnten: Jetzt ist die Welt wirklich gut und schön …?«

Budach lächelte zustimmend, lehnte sich bequem im Stuhl zurück und faltete die Hände über dem Bauch. Kyra blickte ihm angespannt und erwartungsvoll ins Gesicht.

»Bitte sehr«, sagte er. »Wenn Ihr es wünscht. Ich würde zum Allmächtigen sagen: Großer Schöpfer, ich kenne nicht Deinen Plan, vielleicht aber willst Du die Menschen auch gar nicht gut und glücklich machen. Ich bitte Dich trotzdem: Dies sei Dein Wille! Es ist doch so leicht zu erreichen! Gib den Menschen ausreichend Brot, Fleisch und Wein, gib ihnen Obdach und Bekleidung. Möge der Hunger und die Not verschwinden und all das, was die Menschen trennt.«

»Und das ist alles?« fragte Rumata.

»Euch scheint das wohl zu wenig?«

Rumata wiegte den Kopf hin und her. »Gott würde Ihnen antworten: Das wird den Menschen nicht zum Segen gereichen. Denn die Starken eurer Welt nehmen den Schwachen das, was ich ihnen gab, und die Schwachen sind wieder arm wie zuvor.«

»Ich würde Gott bitten, die Schwachen zu beschützen. Erleuchte die grausamen Herrscher, würde ich sagen.«

»Die Grausamkeit ist eine mächtige Kraft. Wenn sie die Grausamkeit ablegen, verlieren die Herrscher ihre Macht, und andere Grausame treten an ihre Stelle.«

Budachs freundliche Miene verdüsterte sich plötzlich. »Bestrafe die Grausamen«, sagte er entschlossen, »und führe sie weg von der Fährte des Bösen, damit die Starken nicht grausam seien gegen die Schwachen.«

»Der Mensch ist von Geburt aus schwach. Stark wird er erst, wenn ringsum kein Stärkerer ist als er. Und wenn die Grausamen in den Reihen der Starken bestraft werden, so nehmen ihre Stelle die Starken aus den Reihen der Schwachen ein. Und auch sie werden grausam sein. Und so müßte man alle bestrafen, aber das will ich nicht.«

»Du siehst es klarer, Allmächtiger. Richte es also so ein, daß die Menschen alles Nötige erhalten und nicht einander wegnehmen, was Du ihnen gabst.«

»Und auch das gereicht den Menschen nicht zum Segen«, seufzte Rumata. »Auch daraus würden sie keinen Nutzen ziehen. Denn wenn sie alles umsonst bekommen, ohne Mühe, aus meiner Hand, so werden sie die Arbeit vergessen, verlieren den Geschmack am Leben und werden mit der Zeit zu meinen Haustieren, die ich dann wieder ernähren und kleiden muß, und das in alle Ewigkeit.«

»Gib ihnen nicht alles auf einmal!« sagte Budach hitzig. »Gib es ihnen langsam, Schritt für Schritt!«

»Schritt für Schritt nehmen die Menschen sich ohnehin alles, was sie brauchen.«

Budach lachte verlegen. »Ja, ich sehe, das ist nicht so einfach«, sagte er. »Ich habe früher über solche Dinge eigentlich nicht nachgedacht … Ich glaube, wir sind jetzt alle Möglichkeiten durchgegangen. Im übrigen aber«, er neigte sich vor, »es gibt noch eine Möglichkeit: Füge es so, daß die Menschen zuvorderst die Arbeit und das Wissen lieben, daß Arbeit und Weisheit zum einzigen Sinn ihres Lebens werden!« Ja, solche Versuche haben wir auch schon vorgehabt, dachte Rumata. Massenhypnoinduktion, positive Remoralisierung. Hypnotische Bestrahlung von drei äquatorialen Satelliten aus … »Ich könnte auch das tun«, sagte er. »Aber soll man der Menschheit ihre Geschichte rauben? Hat es einen Sinn, eine Menschheit durch eine andere zu ersetzen? Wird es nicht darauf hinauslaufen, als fegte man diese Menschheit vom Angesicht der Erde und schaffte an ihrer Stelle eine neue?«

Budach zog seine Stirn in Falten und schwieg nachdenklich. Rumata wartete. Unter dem Fenster ächzten aufs neue schwermütig die Fuhren. Da sagte Budach leise:

»Dann, Herr, fege uns vom Antlitz der Erde und erschaffe uns neu, bessere Menschen, vollkommenere … Oder – noch besser – laß uns, wie wir sind und gib, daß wir unseren Weg gehen können!«

»Mein Herz ist schwer von Leid«, sagte Rumata langsam. »Das liegt nicht in meiner Macht.«

Und da gewahrte er plötzlich den Blick Kyras. Sie hatte ihre Augen angestrengt auf ihn gerichtet, Schrecken und Hoffnung lagen in ihnen.

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