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Als Rumata am Grab des heiligen Micky – dem siebten und letzten auf dieser Strecke – vorbeikam, war es schon ganz dunkel. Der vielgepriesene Chamacharische Hengst, den er Don Tameo beim Kartenspiel abgewonnen hatte, war in Wirklichkeit ein elender Klepper. Der Schweiß rann dem Tier in Strömen herab, es stolperte in einem fort, und sein unregelmäßiger Trab glich eher den Bewegungen eines schwankenden Schiffs. Rumata drückte ihm die Knie in die Flanken und schlug es mit den Handschuhen zwischen die Ohren. Aber das Pferd nickte nur müde mit dem Kopf, sein Gang wurde nicht schneller. Am Weg standen Büsche, die in der späten Dämmerung wie erstarrte Rauchwolken wirkten. In lästigen Schwärmen schwirrten die Mücken um den Kopf des Reiters. Am düsteren Himmel zitterten einzelne mattgelbe Sterne. In leichten, ungleichmäßigen Stößen blies ein abwechselnd warmer und kalter Wind, wie er an diesem Küstenstreifen mit seinen schwülen, staubigen Tagen und frostigkalten Nächten im Herbst immer anzutreffen ist.

Rumata hüllte sich dichter in seinen Mantel und ließ die Zügel los. Es hatte keinen Sinn, sich zu beeilen. Bis Mitternacht war noch eine ganze Stunde, und der Schluckaufwald trat schon am Horizont als schwarzgezähnter Saum hervor. Links und rechts vom Weg zogen sich unordentlich gepflügte Felder dahin, im fahlen Sternenlicht schimmerten Sümpfe, die nach Verwesung stanken, und hie und da tauchten die schaurigen Silhouetten von Hügeln mit halb vermoderten Pfahlzäunen aus der Zeit der Großen Invasion auf. Ganz in der Ferne züngelte der mürrisch flackernde Schein eines Feuers auf und nieder: Wahrscheinlich brannte dort ein Dorf, eines von den unzähligen gleichförmigen Elendsnestern, die bis vor kurzem Namen getragen hatten wie »Todesweiler«, »Galgenbühl« oder »Räuberschlupf«, auf kaiserlichen Befehl aber umbenannt wurden in »Blumenhain«, »Friedensgrund« und »Engelsdorf«. Über Hunderte von Meilen erstreckte sich dieses Land, von den Ufern der großen Bucht bis zum nichtgeheueren Schluckaufwald. Ein Land, überzogen von lästigen Mückenschwärmen, durchfurcht von Schluchten, halberstickt von Sümpfen, erschüttert von Fieberschauern und ständig bedroht von Seuchen und einer übelriechenden Art von Schnupfen.

An einer Wegkrümmung trat eine dunkle Figur aus den Büschen. Der Hengst fuhr zusammen und riß den Kopf hoch. Rumata ergriff rasch die Zügel, zupfte sich mit einer Handbewegung nach alter Gewohnheit die Spitzen seines rechten Ärmels zurecht und faßte auch schon nach seinem Schwert. Dann sah er genauer hin. Der Mann am Weg nahm seinen Hut ab.

»Guten Abend, edler Don«, sagte er leise. »Ich bitte um Verzeihung.«

»Was ist?« erkundigte sich Rumata. Er horchte angespannt ins Gestrüpp.

Es gibt eigentlich keinen lautlosen Hinterhalt. Die Räuber verrät das Singen ihrer Bogensehnen, die Männer der grauen Miliz rülpsen unaufhaltsam vom schlechten Bier, die Rotten der Barone grunzen vor Gier und rasseln mit den Säbeln, und die Mönche – auf ihrer Jagd nach Sklaven – kratzen sich in einem fort ganz laut. Im Gebüsch aber war es ruhig. Nein, dieser Mensch ist kein Heckenschütze, dachte Rumata. Er sah einem Heckenschützen auch ganz und gar nicht ähnlich: Es war ein kleiner, untersetzter Städter in einem nicht gerade teuren Überwurf.

»Erlaubt Ihr mir, neben Euch herzulaufen?« fragte er den Reiter und verbeugte sich dabei.

»Komm«, sagte Rumata und spielte mit den Zügeln. »Kannst dich am Steigbügel festhalten.«

Der Mann ging neben ihm her. Seinen Hut hielt er in der Hand, und auf seinem Kopf prangte eine ausgewachsene Glatze. Ein Gutsverwalter, dachte Rumata. Besucht Barone und Viehhändler, kauft Flachs und Hanf auf. Jedenfalls ein mutiger Verwalter … Vielleicht aber auch gar kein Verwalter. Vielleicht ein »Bücherwurm«. Ein Flüchtling. Eine gestrandete Existenz. Zur Zeit gibt es viele von dieser Sorte auf den nächtlichen Wegen, mehr als Gutsverwalter … Vielleicht ist er aber ein Spion. »Wer bist du und woher kommst du?« fragte Rumata. »Man nennt mich Kiun«, antwortete mit wehmütiger Stimme der Mann. »Und ich komme aus Arkanar.«

»Du flüchtest aus Arkanar«, sagte Rumata und neigte sich ein wenig zu ihm hinunter. »Ja«, antwortete der Mann traurig.

Irgendein Spinner, ein Sonderling, dachte Rumata. Oder doch ein Spion? Ich werde ihn im Auge behalten … Aber warum ihn eigentlich im Auge behalten? Wem ist schon damit gedient? Wer bin ich denn, daß ich ihn prüfen will? Ich will ihn gar nicht beobachten! Warum soll ich ihm nicht einfach glauben? Kommt ein Mann daher, ganz offensichtlich ein Intellektueller, auf der Flucht, es geht um sein Leben … Er fühlt sich einsam, hat Angst, er ist schwach, sucht eine schützende Hand … Da begegnet ihm ein Aristokrat. Aus Dummheit und Überheblichkeit kennen sich die Aristokraten in der Politik nicht aus, dafür haben sie überlange Säbel, und sie lieben die Grauen nicht. Warum sollte der Bürger Kiun nicht einfach Schutz suchen wollen bei einem dummen und überheblichen Aristokraten? Na also. Ich werde ihn natürlich nicht besonders im Auge behalten. Ich habe auch gar keinen Anlaß dazu. Plaudern wir ein wenig, schlagen wir die Zeit tot, und gehen wir als Freunde auseinander …

»Kiun …«, sagte er laut. »Ich kannte einmal einen Kiun. Quacksalber und Alchimist in der Klempnerstraße. Bist du mit ihm verwandt?«

»O weh, ja«, sagte Kiun. »Ich bin zwar nur ein ganz entfernter Verwandter von ihm, aber denen ist das ja ganz egal … Bis zum zwölften Nachkommen rotten sie unsereins aus.«

»Und wohin willst du flüchten, Kiun?«

»Irgendwohin … Weit weg von hier. Viele gehen nach Irukan. Ich werde es auch in Irukan versuchen.«

»So, so«, sagte Rumata. »Und du hast dir wohl vorgestellt, der edle Don wird dich nun sicher durch den Wachtposten geleiten?« Kiun schwieg.

»Oder, vielleicht denkst du, der edle Don weiß nicht, was der Alchimist von der Klempnerstraße für ein Mensch ist?« Kiun schwieg. Mir scheint, ich rede lauter dummes Zeug, dachte Rumata. Dann aber richtete er sich in den Steigbügeln hoch auf, ahmte mit geblähtem Hals den Ausrufer am Königlichen Platz nach und schrie:

»Angeklagt und schuldig der furchtbarsten, unverzeihlichsten Verbrechen gegen Gott, gegen die Krone und die öffentliche Ruhe.« Kiun schwieg noch immer.

»Und wie, wenn der edle Don etwa Don Reba, den Vater aller Scheußlichkeiten, anbetet und verehrt? Wie, wenn er mit Haut und Haaren der Sache der Grauen ergeben wäre? Oder hältst du das für ausgeschlossen?«

Kiun schwieg weiter. Rechts vom Weg tauchte in der Dunkelheit die schwarze Silhouette eines Galgens auf. Am Querbalken baumelte ein nackter Körper, er war an den Füßen aufgehängt und schimmerte weiß herüber. Ach, dachte Rumata, es kommt ja ohnehin nichts heraus dabei. Er straffte die Zügel, faßte Kiun an der Schulter und drehte ihn mit dem Gesicht zu sich. »Und wie, wenn dich der edle Don jetzt auf der Stelle gleich neben diesen Galgenvogel hängt?« sagte er und blickte in das weiße Gesicht des Mannes mit den dunklen Augenhöhlen. »Ich selbst. Rasch und geschickt. An einer starken arkanarischen Schnur? Im Namen der Ideale? Was schweigst du, Bücherwurm Kiun?« Kiun schwieg.

Er klapperte vor Angst mit den Zähnen und wand sich ganz schwach unter der Hand Rumatas, wie eine gefangene Eidechse. Plötzlich fiel mit einem leichten Klatschen etwas in den Kanal, der sich den Weg entlang hinzog, und sogleich, wie um das Plätschern des Aufschlags zu übertönen, schrie der Mann verzweifelt: »So hängt mich halt auf! Erhängt mich, Verräter!« Rumata stockte der Atem, er ließ Kiun los. »Ich habe nur gescherzt«, sagte er. »Fürchte dich nicht.«

»Lüge, Lüge …«, murmelte Kiun unter Schluchzen. »Überall nur Lügen!«

»Also gut«, sagte Rumata. »Verzeih! Hol jetzt lieber das wieder aus dem Wasser heraus, was du da eben hineingeschmissen hast. Sonst wird es noch ganz naß …«

Kiun rührte sich zunächst nicht von der Stelle, schwankte mit dem Oberkörper unschlüssig hin und her, schluchzte noch immer leise vor sich hin und schlug mit den Handflächen wie sinnlos gegen seinen Überwurf. Dann kroch er in den Kanal. Rumata wartete. Müde wie er war, sank er in seinem Sattel zusammen. Es muß wohl so sein, dachte er, das heißt, anders geht es einfach nicht … Kiun kam aus dem Kanal herausgekrochen, unter seinem Umhang war ein Bündel verborgen.

»Bücher, natürlich«, sagte Rumata. Kiun schüttelte leicht den Kopf. »Nein«, sagte er heiser. »Nur ein Buch. Mein Buch.«

»Was schreibst du?«

»Ich fürchte, es wird Euch nicht interessieren, edler Don.« Rumata runzelte die Stirn und seufzte. »Halt dich am Steigbügel fest«, sagte er, »und komm!« Dann schwiegen sie lange Zeit.

»Hör mal, Kiun«, sagte Rumata. »Ich habe nur gescherzt. Hab keine Angst vor mir.«

»Eine schöne Welt«, brummte Kiun. »Eine lustige Welt. Alle scherzen. Und alle auf die gleiche Weise. Sogar der edle Don Rumata.« Rumata stutzte verwundert. »Du kennst meinen Namen?«

»Ja«, sagte Kiun. »Ich erkannte Euch an dem Reif um die Stirn. Und ich war zuerst auch so froh, gerade Euch auf diesem Weg zu treffen …«

Ah, natürlich, dachte Rumata. Das hatte er also im Sinn, als er mich einen Verräter nannte. Er sagte:

»Siehst du, ich dachte, du bist ein Spion. Und Spione, die bring ich gewöhnlich gleich um.«

»Ein Spion …«, erwiderte Kiun. »Ja, natürlich. Heutzutage ist es ja so einfach und so einträglich, ein Spion zu sein. Unser lichter Adler, der hochedle Don Reba, ist ja sehr besorgt darum, was die Untertanen des Königs sprechen und denken. Ich wollte, ich wäre ein Spion. Ein ordentlicher Kundschafter in der Taverne Zur grauen Freude. Wie gut – und wie ehrsam! Um sechs Uhr gehe ich in die Kneipe und setze mich an meinen Tisch. Gleich kommt der Wirt herbeigeeilt mit meinem ersten Humpen. Trinken kann ich, so viel hinter die Binde geht, das Bier zahlt Don Reba … genauer gesagt, eigentlich zahlt niemand dafür. Ich sitze einfach so da, trinke mein Bier und horche. Manchmal tu ich so, als mache ich Aufzeichnungen über ihre Gespräche, und da kommen auch schon die verschreckten Leutchen an meine Knie gekrochen, um mir ihre Freundschaft und ihren Geldbeutel anzubieten. In ihren Augen sehe ich nur das, was ich schon immer wollte: die Ergebenheit von geprügelten Hunden, ehrfürchtige Angst und hinreißend kraftlosen Haß. Ich kann jederzeit jedes Mädchen haben, die Frauen winden sich in meinen Umarmungen vor den Augen ihrer Gatten, gesunder und kräftiger Männer, die dazu nur unterwürfig kichern … Herrliche Aussichten, edler Don, nicht wahr? Ich habe mir das alles von einem fünfzehnjährigen Bürschchen sagen lassen, einem Zögling der Patriotischen Schule …«

»Und was hast du ihm geantwortet?« Die Erzählung des Flüchtlings hatte Rumatas Neugierde erweckt.

»Was sollte ich ihm antworten? Er hätte es ja doch nicht verstanden. So erzählte ich ihm, daß die Männer des Räuberhauptmanns Waga Koleso einem Spion, wenn sie ihn erwischten, den Bauch aufschnitten und seine Eingeweide mit Pfeffer füllten … Betrunkene Soldaten wieder steckten den Spion in einen Sack und ertränkten ihn im Dorfteich. Und es ist überdies die reinste Wahrheit, aber er glaubte mir nicht. Er sagte, in der Schule hätten sie das nicht durchgenommen. Dann nahm ich ein Blatt Papier und begann unser Gespräch aufzuschreiben. Ich brauchte es damals für mein Buch, aber er, der Ärmste, glaubte, für eine Denunziation … und wurde plötzlich ganz naß vor Angstschweiß …«

Dann schimmerten vor ihnen durch das Buschwerk die Lichter der Schenke Zum Skelett Bako. Kiuns Schritt wurde unsicher, er verstummte plötzlich. »Was ist los?« fragte Rumata.

»Dort ist eine Graue Patrouille«, antwortete Kiun halblaut. »Na und, was soll’s?« sagte Rumata. »Hör dir lieber noch folgendes an: Wir lieben und schätzen diese einfachen, groben Burschen, unser kämpferisches Graues Vieh. Wir brauchen sie. Von nun an muß das einfache Volk seine Zunge im Zaum halten, wenn es sie nicht an den Galgen hängen will!«

Er lachte, weil das ganz vorzüglich gesagt war – genau im Jargon der Grauen Kasernen.

Kiun schrumpfte zusammen und zog seinen Kopf zwischen die Schultern.

»Die Zunge des einfachen Volks muß ihren Platz wissen. Gott gab ihm die Zunge beileibe nicht zum Sprechen, sondern um damit seinem Herrn die Stiefel zu lecken, seinem Herrn, welcher über das einfache Volk von Anbeginn gesetzt …«

Auf dem Sattelplatz vor der Schenke tänzelten die gesattelten Pferde der Grauen Patrouille. Aus einem geöffneten Fenster drang das heisere Fluchen von Spielern. Man hörte das Aufschlagen der Spielknöchelchen. In der Tür stand das »Skelett Bako« höchstpersönlich und versperrte mit seinem ungeheuerlichen Bauch den Zutritt. Es steckte in einer alten Lederjacke, die an unzähligen Nähten aufgeplatzt war. Die Ärmelenden trieften vor Feuchtigkeit. In seiner moosigen Tatze hielt Bako eine Keule – offenbar hatte er eben einen Hund für die Brühe erschlagen, war dabei in Schweiß geraten und kam nun heraus, um zu verschnaufen. Auf der Treppe lümmelte ein Grauer Sturmowik, die Kampfaxt zwischen den Knien. Der klobige Stiel der Axt drückte ihm das Gesicht zur Seite. Man sah, daß er seinen Kater von einem Saufgelage ausbrütete. Als er den Reiter bemerkte, zog er kräftig Speichel hoch und brüllte mit heiserer Stimme: »Ha-a-a-lt! Was ist mit Euch da … Ihr da, Woh-oh-ohlgeboren …!«

Sein Kinn kaum merklich vorgestreckt, ritt Rumata an ihm vorbei und würdigte ihn nicht einmal eines Blickes.

»… Wenn aber die Zunge des einfachen Volkes den falschen Stiefel leckt«, sagte er laut, »so muß man diese Zunge ausreißen, denn es steht geschrieben: Deine Zunge – mein Feind …« Hinter der Kruppe des Pferdes versteckt hüpfte Kiun mit großen Sätzen neben ihm her. Ohne hinzublicken, sah Rumata, wie seine Glatze vor Schweiß glänzte. »Halt, sag ich!« röhrte der Sturmowik.

Man hörte, wie er mit der Axt scharrte, sich die Treppen herunterschleifte und dabei gleichzeitig Gott, den Teufel und jegliche hochwohlgeborene Ausgeburt verfluchte.

Etwa fünf Männer, überlegte Rumata und zupfte an seinen Manschetten. Betrunkene Schlächter. Ach was! –Sie passierten die Schenke und hielten nun auf den Wald zu. »Ich kann auch schneller gehen, wenn Ihr befehlt«, sagte Kiun mit übertrieben fester Stimme.

»Ach was!« sagte Rumata und zügelte den Hengst. »Es wäre doch langweilig, so viele Meilen zu reiten und kein einziges Mal zu raufen. Willst du dich denn nie schlagen, Kiun? Reden, immer nur reden, was?«

»Nein«, sagte Kiun. »Ich habe nie das Verlangen, mich zu schlagen.«

»Das ist eben dein Pech«, brummte Rumata ärgerlich. Er wandte den Hengst zur Seite und zog ungeduldig an seinen Handschuhen. Aus einer Wegkrümmung sprengten zwei Reiter hervor und hielten sofort an, als sie ihn erblickten.

»He, Ihr da, Wohlgeboren!« schrie der eine. »Zeigt Euren Paß!«

»Flegel!« Rumata sagte es mit gläserner Stimme. »Ihr könnt ohnehin nicht lesen, was soll euch der Paß!«

Er stieß seinem Hengst die Knie in die Seite und preschte im Galopp auf die beiden Grauen zu. Feiglinge, dachte er … Jedem ein paar Ohrfeigen!… Nein, kommt nichts dabei heraus. Da brennt man darauf, seine Wut zu entladen, die sich im Lauf eines langen Tages angesammelt hat – und, wie man sieht, kommt ja doch nichts dabei heraus. So bleiben wir halt hübsch human, verzeihen wir allen und seien wir gelassen – wie die Götter. Mögen sie getrost fortfahren mit ihrer Schlächterei und alles Wertvolle besudeln, wir werden ruhig Blut bewahren – wie die Götter. Die Götter haben es nicht eilig … Die haben die Ewigkeit vor sich … Er ritt dicht an sie heran. Ihrer selbst nicht mehr sicher, ergriffen die Grauen ihre Äxte, wichen aber zurück. »Nu-u-un?« fragte Rumata gedehnt.

»Also wie … Was ist mir denn?« sagte der Mutigere der beiden verdutzt. »Das heißt also, der edle Don Rumata?« Der zweite Sturmowik hatte schon sein Pferd gewendet und machte sich im Galopp davon. Der andere wich immer weiter zurück und ließ seine erhobene Axt wieder sinken.

»Eure gnädige Vergebung, edler Don«, sprudelte er hervor. »Wir haben Euch nicht gleich erkannt … es war unser Fehler. Eine staatliche Sache … Da kommt schon so hie und da ein Fehler vor. Die Burschen haben eine Kleinigkeit getrunken, und sie brennen vor Eifer …« Er schickte sich an, sich seitlich mit seinem Pferd zu verdrücken. »Ihr werdet doch einsehen, ernste Zeiten … Wir fangen die flüchtigen Bücherwürmer. Ihr werdet Euch doch hoffentlich nicht über uns beschweren, edler Don …«

Rumata kehrte ihm den Rücken. »Eine gute Reise dem edlen Don!« schrie ihm der Sturmowik erleichtert nach.

Als er verschwunden war, rief Rumata mit gedämpfter Stimme: »Kiun!«

Niemand antwortete. »He, Kiun!«

Und wieder antwortete niemand. Als er genauer hinhörte, konnte Rumata ein fernes Rascheln im Gebüsch vernehmen, das sich von dem ständigen Singen der Mücken abhob. Quer durchs Gelände marschierte Kiun hastig nach Westen, in Richtung der irukanischen Grenze. Das war’s also, dachte Rumata. Und wozu nun das ganze Gespräch. Es ist doch immer dasselbe. Abtasten, vorsichtiger Austausch von irgendwelchen Doppeldeutigkeiten … Ganze Wochen verschwendest du deine Energie auf dummes Gequatsche mit jedem Dreckskerl, triffst du aber mal einen wirklichen Menschen, so bleibt zum Sprechen keine Zeit. Man möchte ihm Deckung geben, ihn beschützen, ihm an einen gefahrlosen Ort verhelfen, und er geht fort, ohne zu wissen, ob er es mit einem Freund oder einem eitlen Gecken zu tun gehabt hat. Und du selber erfährst auch nichts von diesem Menschen. Seine Wünsche, seine Fähigkeiten, wofür er lebt … Er dachte an das abendliche Arkanar. Solide Häuser aus Stein an den Hauptstraßen, freundliche Laternen über den Tavernentoren, gutmütige, satte Krämer trinken ihr Bier an sauberen Tischen und unterhalten sich darüber, daß die Welt gar nicht so schlecht sei; die Brotpreise fallen, die Harnische aber werden teurer, hie und da wird eine Verschwörung aufgedeckt, Hexenmeister und verdächtige Bücherwürmer setzt man hinter Schloß und Riegel, der König ist nach alter Gewohnheit prächtig und groß, Don Reba aber ist unendlich klug und immer auf der Hut. »Was ihr nicht sagt?« – »Das gehört sich einfach so!« – »Die Welt ist rund!« – »Meinetwegen soll sie auch quadratisch sein, nur rührt mir die Gelehrten nicht an!« – »Von den Neunmalgescheiten kommt alles Unglück, Brüder! Nicht am Geld, sagt man, hängt das Glück, der Bauer, sagt man, ist auch ein Mensch, schön, aber weiter – und immer mehr und mehr von dieser aufreizenden Dichterei: Und schon gibt es Krawall, Tumult und Meuterei …« – »Ins Loch mit ihnen, sperrt sie alle ein, Brüder! Ich zum Beispiel, was würde ich tun? Ich würde geradeheraus fragen: Kannst du lesen und schreiben? Ins Loch mit dir! Gedichte schreibst du? Ins Loch! Auf Tabellen verstehst du dich? Ins Loch, du weißt viel zuviel.« – »Bina, mein Blasengel, noch drei Humpen Bier und einen gekochten Hasen!« Und unterm Fenster – grrrumm, grrrumm, grrrumm – stampfen auf dem Katzenkopfpflaster die Nagelstiefel der stämmigen, rot-schnäuzigen Burschen in grauen Hemden. Und auf der rechten Schulter schwere Beile. »Brüder! Das sind sie, unsere Beschützer! Die halten uns das gelehrte Pack vom Leib, jawohl!… Und da, der ist meiner, mein Sohn … An der rechten Flanke! Gestern noch habe ich ihm Prügel verpaßt! Ja, Brüder, das ist keine herrenlose Zeit! Festigkeit des Throns, Wohlstand, unerschütterliche Ruhe und Gerechtigkeit. Hurra, die Grauen Rotten! Hurra, Don Reba! Ein Vivat unserem König! Ach, Brüder, ist das ein Leben!« Über die dunklen Ebenen des Königreichs von Arkanar aber, beleuchtet von wütenden Bränden und glosendem Holz, flüchten Hunderte unglücklicher Menschen, umgehen die Wachen, laufen, stolpern und laufen weiter. Zerstochen von Mücken, mit blutiggeschundenen Füßen, bedeckt mit Staub und Schweiß, gequält, verängstigt und von Verzweiflung gepeinigt, aber hart wie Stahl in ihrer eigenen Überzeugung. – Ungesetzlich klagt man sie an, dafür, daß sie ihr von Seuchen verzehrtes und in Dummheit versumpftes Volk heilen und lehren; dafür, daß sie, den Göttern ähnlich, aus Ton und Stein eine zweite Natur schaffen zur Verschönerung des Lebens, für ein Volk, das die Schönheit nicht kennt; dafür, daß sie in die Geheimnisse der Natur eindringen und dabei hoffen, daß sie diese Geheimnisse dem stumpfen, durch alte Teufelskünste verängstigten Volk dienstbar machen können … Schutzlos sind sie, gut und unbeholfen, ihrer Zeit weit voraus …

Rumata zog einen Handschuh aus und versetzte damit seinem Hengst einen kräftigen Schlag zwischen die Ohren. »Na, du lahme Mähre!« sagte er auf russisch. Es war bereits Mitternacht, als er in den Wald ritt.

Heute kann niemand mehr genau sagen, woher dieser seltsame Name kommt – »Schluckaufwald«. Es war aber ein von offizieller Seite ausgegebenes Gerücht im Umlauf, wonach vor ungefähr dreihundert Jahren die Eisernen Rotten des kaiserlichen Marschalls Totz, des späteren ersten Königs von Arkanar, in das Dickicht des bewußten Waldes eingedrungen waren, als sie die zurückweichenden Horden der kupferhäutigen Barbaren verfolgten. Aus der Rinde der Weißen Bäume brauten die Krieger dort eine Art Hausbier, das aber so miserabel war, daß sein Genuß ein stundenlanges Rülpsen zur Folge hatte. Als der besagte Marschall Totz, so die Überlieferung, eines Morgens das Lager inspizierte, rümpfte er seine adlige Nase und sprach die folgenden Worte: »Wahrlich, das ist unerträglich! Der ganze Wald hat Schluckauf und stinkt nach schlechtem Bier!« Daher, so heißt es, der merkwürdige Name. Über den Wahrheitsgehalt dieser Legende läßt sich streiten, jedenfalls aber war es kein gewöhnlicher Wald. Es wuchsen dort riesige Bäume mit festen weißen Stämmen, wie sie sonst im Reich nirgends mehr erhalten waren. Auch nicht im Herzogtum Irukan und schon gar nicht in der Handelsrepublik Soan, wo man schon längst den gesamten Waldbestand für den Schiffbau abgeholzt hatte. Man erzählte sich zwar, daß es noch viele solche Wälder hinter den Roten Bergen, im Land der Barbaren, gebe, aber was erzählt man sich nicht alles vom Land der Barbaren …

Durch den Wald hatte man vor ungefähr zweihundert Jahren einen Weg geschlagen. Dieser Weg führte zu den Silbergruben und gehörte nach dem Lehensrecht dem Geschlecht der Barone von Pampa, den Nachfahren eines der Mitkämpfer von Marschall Totz. Nach diesem Lehensrecht hätten die Barone Pampa den arkanarischen Königen jährlich zwölf Pud reinen Silbers zahlen sollen, und daher sammelte jeder neue König, sobald er den Thron bestieg, eine Armee und zog damit gegen das Schloß Bau, wo die Barone hausten. Die Mauern des Schlosses waren fest, die Barone tapfer, und so kam jeder Feldzug den König auf dreißig Pud reinen Silbers zu stehen. Nach der Rückkehr ihrer zerschlagenen Armee bekräftigten die arkanarischen Könige immer wieder das Recht der Barone Pampa und noch zusätzlich andere Privilegien, wie zum Beispiel: an der königlichen Tafel in der Nase bohren, im Westen von Arkanar jagen und schließlich die Prinzen geradeheraus beim Vornamen nennen zu dürfen, ohne Hinzufügung von Rang und Titel. Der Schluckaufwald war voller dunkler Geheimnisse. Am Tag rollten auf dem Weg Fuhren mit angereichertem Erz nach dem Süden. Aber nachts war der Weg leer, denn es erdreisteten sich wenige, dort beim Sternenlicht spazierenzugehen. Man erzählte sich, daß des Nachts vom Hohen Baum der Vogel Sin schreit, den noch nie jemand sah und den man auch nicht sehen kann, weil es nämlich kein gewöhnlicher Vogel ist. Man erzählte sich, daß große zottige Spinnen von den Ästen herab und auf den Hals der Pferde springen und ihnen augenblicklich das Blut aussaugen. Man erzählte sich, daß in diesem Wald der ungeheuerliche Urzeitdrachen Pech herumstreift, der mit riesigen Schuppen bedeckt ist, alle zwölf Jahre ein Junges wirft und zwölf Schwänze hinter sich herzieht, aus denen heftiger Schweiß ausströmt. Und irgend jemand sah angeblich mit eigenen Augen, wie am hellichten Tag die vom heiligen Micky verfluchte nackte Wildsau Y sich stöhnend über den Weg schleppte – ein reißendes Untier, unverwundbar durch Eisen, aber leicht mit einem Knochen zu durchbohren.

Hier konnte man den flüchtigen Sklaven treffen, den mit den pechschwarzen Tätowierungen zwischen den Schulterblättern. Er war dumm und schonungslos wie die zottigen blutsaugenden Spinnen. Oder auch den durch drei Tode verstümmelten Zauberer, der geheimnisvolle Pilze sammelt für seine Zaubertränke, mit deren Hilfe man sich unsichtbar machen, sich in verschiedene Tiere verwandeln oder auch einen zweiten Schatten erwerben kann. Auch trieben sich dort neben dem nächtlichen Weg die Mannen des Räuberhauptmanns Waga Koleso herum. Und auch geflüchtete Zwangsarbeiter von den Silberminen mit schwarzen Händen und weißen durchscheinenden Gesichtern. Die Giftmischer versammelten sich hier zu ihren nächtlichen Sitzungen, und die frechen Jäger der Barone von Pampa brieten in den Lichtungen ihre gestohlenen Büffel über offenem Feuer – sie wurden im Ganzen auf den Drehspieß gesteckt. Dort, wo das Unterholz und das Gestrüpp am dichtesten waren, stand unter einem riesigen Baum, der vor hohem Alter ganz von Runzeln und Rissen durchfurcht war, eine windschiefe Holzhütte. Ein schwarzgewordener Palisadenzaun umgab sie. Sie stand hier schon seit undenklichen Zeiten, ihre Tür war immer verschlossen, an der angefaulten Holztreppe lehnten Götzenbilder, aus ganzen Stämmen gehauen. Diese Hütte nun war die aller-, allergefährlichste Stelle im ganzen Schluckaufwald. Man erzählte sich, daß genau hierher einmal in zwölf Jahren der alte Pech komme, um seinen Nachfolger zu gebären, und dann, so sagt man, kriecht er unter ebendiese Hütte, um zu krepieren, so daß das ganze Fundament der Hütte mit schwarzem Gift verpestet ist. Wenn aber das Gift einmal nach außen dringt, dann wird das das Ende aller Dinge sein. Man erzählt sich auch, daß in unreinen Nächten die Götzenbilder sich selbst aus der Erde graben, zum Weg hingehen und dort geheimnisvolle Zeichen geben. Und dann erzählt man sich noch, daß zu Zeiten in den toten Fenstern ein höllisches Licht aufleuchtet, dumpfe Laute aus der Hütte ertönen und der Rauch aus dem Schornstein bis zum Himmel aufsteigt.

Unlängst kam an einem Abend der Dorftrottel Kukisch aus dem Flecken »Wohlgestank« (oder im Volksmund auch »Pestflecken« genannt) in seiner Blödheit zufällig zu der Hütte und stierte in ein Fenster. Nach Hause kam er dann vollständig verblödet, und nachdem er doch ein wenig zu sich gekommen war, erzählte er, in der Hütte sei grelles Licht gewesen und an einem Tisch aus rohem Holz habe ein Mann mit den Füßen auf der Bank gesessen und aus einem Faß getrunken, das er mit einer Hand hochgehalten habe. Sein Gesicht hing ihm beinahe bis zum Gürtel herab und war voller Pockennarben. Und das war natürlich der heilige Micky höchstpersönlich, und zwar vor seiner Bekehrung: Ein Weiberheld, Säufer und Gotteslästerer. Ihn anzusehen war nur möglich, wenn man ohne alle Furcht war. Aus dem Fenster sei ein süßer, schwermütiger Geruch gedrungen und über die Bäume ringsum seien Schatten gehuscht. Um der Geschichte des Blöden zu lauschen, kamen die Leute aus der ganzen Umgebung herbei. Die Sache endete schließlich damit, daß die Grauen Sturmowiki erschienen, ihm die Ellbogen bis zur Schulter verdrehten und ihn zum Teufel jagten. Trotzdem wollten natürlich die Gerüchte über die düstere Hütte nicht verstummen, und man nannte sie künftig nicht anders als das »Besoffene Bärenquartier«.

Als er sich durch die Wucherungen eines gigantischen Farnkrauts den Weg gebahnt hatte, eilte Rumata zum Eingang des Besoffenen Bärenquartiers. Sein Pferd band er an eines der Götzenbilder. In der Hütte brannte Licht, die Tür stand offen; sie hing nur in einer Angel. Vater Kabani saß ganz aufgelöst am Tisch. Im Zimmer roch es durchdringend nach Schnaps, auf dem Tisch thronte zwischen abgenagten Knochen und gekochten roten Rüben ein riesiger Tonkrug.

»Guten Abend, Vater Kabani«, sagte Rumata, als er über die Schwelle schritt.

»Ich heiße Euch willkommen«, erwiderte Vater Kabani mit heiserer Stimme, die wie ein Hifthorn klang.

Rumata näherte sich sporenklirrend dem Tisch, ließ seine Handschuhe auf die Bank fallen und warf einen zweiten Blick auf Vater Kabani. Der saß unbeweglich da und stützte sein Hängegesicht mit den Handflächen. Seine zottigen, halbergrauten Brauen hingen ihm bis über die Wangen wie verdorrtes Gras über einer Schlucht. Aus den Nüstern seiner grobporigen Nase flog bei jedem Ausatmen mit Gepfeife eine Portion Luft, durchtränkt von halbverdautem Alkohol.

»Ich hab es selber erfunden!« sagte er plötzlich unvermutet. Mit großer Anstrengung zog er seine rechte Braue in die Höhe und richtete ein trübes Auge auf Rumata. »Ich selbst! Und wozu?« Er zog seine rechte Hand unter den Hängebacken hervor und fuhr mit einem behaarten Finger ziellos hin und her. »Und trotzdem tauge ich nichts!… Ich habe es erfunden … Und doch tauge ich nichts, wie?! Ja, ja, ein Versager … Und überhaupt erfindet keiner von uns etwas, keiner kommt im Grund selber auf was drauf, sondern … Weiß-der-Teufel-was …!«

Rumata schnallte seinen Gürtel auf und legte den Fes und die Schwerter ab.

»Na, ist schon gut«, sagte er.

»Die Kiste!« krächzte Vater Kabani laut. Dann schwieg er lange Zeit und vollführte seltsame Bewegungen mit seinen Backen. Ohne seinen Blick von dem Alten zu wenden, hob Rumata seine Füße, die in staubigen Reitstiefeln steckten, über die Bank und ließ sich nieder. Seine beiden Schwerter legte er nebeneinander auf den Tisch.

»Die Kiste …«, wiederholte Vater Kabani mit sinkender Stimme. »Wir haben das erfunden, so sagen wir immer. In Wirklichkeit aber ist das alles schon lange, lange erdacht. Irgendwer hat das vor Urzeiten erfunden, alles in eine Kiste gesteckt, in die Kiste ein Loch gebohrt und hat sich davongemacht … Ist schlafen gegangen … Und was weiter? Und dann kommt Vater Kabani, er schließt die Augen und grrreift mit der Hand in das Loch.« – Vater Kabani blickte auf seine Hand. »Ha! Erfunden! Ich, sagte er, hab dieses Ding ausgedacht …! Und wer’s nicht glaubt, der ist ein Esel … Ich greif hinein – Eins! Was ist es? Ein Draht mit Stacheln. Wozu? Das Vieh von den Wölfen … Prachtkerl!… Ich greif hinein – Zwei! Was ist es? Ein schlau ersonnenes Ding, eine sogenannte Fleischmühle. Wozu? Für zartes Hackfleisch … Prachtkerl! Ich greif hinein – Drei! Was ist es? Feuerwasser … Wozu? Um feuchtes Holz zu entfachen … Was?!«

Vater Kabani verstummte wieder und krümmte sich langsam nach vorn, als ob ihn jemand am Kragen gepackt hätte. Rumata faßte den Krug, schaute hinein und goß dann einige Tropfen auf seinen Handrücken. Die Flüssigkeit war violett und roch penetrant nach Fusel. Rumata trocknete mit einem Spitzentuch sorgfältig seine Hand. Auf dem Tuch blieben Fettflecken zurück. Der zerwühlte Kopf des Vater Kabani berührte den Tisch, fuhr aber sofort wieder hoch.

»Wer das alles in die Kiste steckte, der wußte auch, wozu es gut war … Stacheldraht gegen die Wölfe?! Das habe ich alter Esel dazugedichtet. Die Gruben, die Bergwerke umzäunen sie mit diesem Stacheldraht! Damit ihnen nicht die politischen Häftlinge davonlaufen. Aber ich tu da nicht mit …! Bin selber ein Staatsverbrecher. Aber hat man mich gefragt? Jawohl, man hat mich gefragt! Stacheldraht, was? Nun denn, Stacheldraht eben. Gegen die Wölfe, was? Gegen die Wölfe … Ausgezeichnet … Prachtkerl! Umzäunen wir also die Gruben … Don Reba selbst, der Erste Minister, hat dabei mitgemacht. Und er hat auch meine Fleischmaschine requiriert. Prachtkerl, wie? Ein schlaues Köpfchen, was …! Und jetzt macht er damit im Turm der Fröhlichkeit Hackfleisch … aus Menschen … Und das wirkt Wunder beim Verhör, erzählt man sich …« Ich kenne das, dachte Rumata. Ich kenne das alles. Ich weiß, wie du in Don Rebas Privataudienz gebrüllt hast, wie du um seine Füße gekrochen bist und gefleht hast: Hör auf, ich gestehe! Aber es war schon zu spät. Deine Fleischmaschine war schon angelaufen … Vater Kabani ergriff den Krug und führte ihn an seinen behaarten Mund. Während er das giftige Gesöff hinunterschüttete, brüllte er wie das Wildschwein Y. Dann setzte er den Krug krachend auf den Tisch und steckte sich eine Rübe in den Mund. Über seine breiten Wangen flossen die Tränen.

»Ja, Feuerwasser!« sagte er, als er schließlich seine Stimme wiedergefunden hatte. »Als Zunder für den Herd und zu lustigen Feuerspielen. Aber was ist denn das für ein Feuerwasser, wenn man es trinken kann? Einmal ins Bier gemischt, und das Bier wird keinen Preis mehr haben. Aber nein, ich geb’ es euch nicht! Ich werde es selber trinken … Und ich trinke es! Am Tag trinke ich! Und nachts auch. Bin schon ganz aufgequollen. Und falle immer tiefer. Unlängst, Don Rumata, Ihr werdet es nicht glauben, bin ich zum Spiegel gegangen – ich war entsetzt … Ich schaue – Gott helfe mir! Was ist da noch von Vater Kabani geblieben?! Ein Meeresungeheuer, ein Polyp, übersät mit farbigen Flecken. Hier rote. Dort blaue … Für lustige Feuerspiele also, heißt es, hat man das Feuerwasser erfunden …«

Vater Kabani spuckte auf den Tisch und scharrte dann mit dem Fuß auf dem Boden, um es zu verreiben. Dann fragte er plötzlich: »Was ist heut für ein Tag?«

»Der Vorabend Kata des Gerechten«, sagte Rumata.

»Und warum scheint die Sonne nicht?«

»Weil es Nacht ist.«

»Schon wieder Nacht«, sagte Vater Kabani gequält und fiel mit dem Gesicht auf die angenagten Rüben.

Rumata betrachtete ihn noch eine Weile und pfiff dabei leise zwischen den Zähnen. Dann erhob er sich und ging in die Abstellkammer. Zwischen kleinen Häufchen von Rüben und Sägespänen schimmerten die gezogenen Glasröhren des umfangreichen Branntweinaggregats von Vater Kabani. Es war die erstaunliche Schöpfung eines geborenen Ingenieurs, eines instinktiven Chemikers und meisterhaften Glasbläsers. Rumata ging zweimal um die teuflische Maschine herum, dann tappte er in der Dunkelheit nach einem Stück Eisen und schlug damit einige Male auf Geratewohl drauflos, ohne irgendwohin zu zielen. In der Kammer fing es an zu klirren, zu zittern und zu glucksen. Ein ordinärer Geruch von sauergewordenem Fusel stieg ihm in die Nase. Als er in die andere Ecke ging, um das elektrische Licht einzuschalten, krachte unter seinen Stiefeln das zerbrochene Glas. Dort befand sich in einem soliden Silikatsafe ein Feldsynthetisator Marke »Midas«. Rumata warf das Gerumpel herunter, wählte auf dem Zifferblatt eine Zahlenkombination und öffnete den Safe. Sogar in dem hellen elektrischen Licht sah der Synthetisator recht merkwürdig aus inmitten von Abfall und Unrat. Rumata warf in den Eingangstrichter ein paar Handvoll Sägespäne, und schon fing der Synthetisator leise zu summen an und schaltete automatisch den Indikator ein. Mit der Fußspitze schob Rumata einen rostigen Eimer unter den Ausgangsschlitz. Und sogleich – tschin, tschin, tschin – fielen in das verbeulte Geschirr goldene Dukaten mit dem aristokratischen Profil Pitz VI. des Königs von Arkanar.

Rumata trug den alten Mann auf eine knarrende Holzpritsche, zog ihm die Schuhe aus, drehte ihn auf die rechte Seite und bedeckte ihn mit dem ziemlich kahlen Fell eines längst ausgestorbenen Tieres. Bei dieser Prozedur wachte Vater Kabani eine Minute lang auf. Bewegen konnte er sich zwar nicht – und so richtig denken eigentlich auch nicht. So begnügte er sich damit, ein paar Strophen einer verbotenen Romanze vorzutragen: »Ich bin wie eine purpurrote Blume auf deinem kleinen Händchen …«, wonach er in herzhaftes Schnarchen verfiel.

Rumata räumte den Tisch ab, fegte den Boden und reinigte auch das einzige Fenster, das schon ganz schwarz war vor Schmutz und von den chemischen Versuchen, die Vater Kabani gewöhnlich am Fensterbrett vornahm. Hinter dem eingefallenen Ofen fand er eine Flasche mit Spiritus und schüttete sie in ein Rattenloch. Dann tränkte er seinen Chamacharischen Hengst, gab ihm Hafer aus der Satteltasche, wusch sich und setzte sich hin, um zu warten. Er blickte in das rußende Flämmchen der Öllampe. Das sechste Jahr lebte er nun schon dieses merkwürdige Doppelleben und hatte sich, so schien es ihm wenigstens, schon ganz daran gewöhnt. Nur von Zeit zu Zeit, wie auch gerade jetzt, kam es ihm plötzlich so vor, als gäbe es in Wirklichkeit gar keine organisierte Bestialität und auch keine niederdrückende Grauheit, als laufe vielmehr vor seinen Augen eine seltsame Theatervorstellung ab, mit ihm, Rumata, in der Hauptrolle. Daß jeden Augenblick nach einer besonders geglückten Replik der Applaus zu tosen beginnen und die Kunstliebhaber aus dem Institut für Experimentalgeschichte ganz begeistert aus ihren Logen rufen könnten: »Bravo, Anton, ganz phantastisch! Ein Prachtkerl, der Tony!«

Er blickte um sich, aber da war kein überfüllter Saal, da gab es nur feuchte, bemooste Wände aus kahlen Stämmen, ganz schwarz vom Rauch der Öllampe.

Draußen wieherte leise der Chamacharische Hengst und scharrte mit den Hufen. Man hörte ein gleichmäßiges tiefes Pfeifen, so altvertraut, daß einem beinahe die Tränen kamen, und doch so unvermutet an diesem Platz. Rumata horchte angespannt und mit offenem Mund. Das Pfeifen hörte jäh auf, das kleine Flämmchen in der Öllampe fing an zu züngeln und flackerte plötzlich stark in die Höhe. Rumata wollte eben aufstehen, als auch schon aus der nächtlichen Dunkelheit Don Kondor ins Zimmer geschritten kam, der Oberste Richter und Staatssiegelbewahrer der Handelsrepublik Soan, Vizepräsident der Konferenz der zwölf Negotianten und Kavalier des kaiserlichen Ordens der rechten Barmherzigkeit. Rumata sprang auf und warf dabei die Bank um. Er hätte sich am liebsten in die Arme des Freundes geworfen und ihn auf beide Wangen geküßt, aber die Beine gingen (schön nach der Etikette) von selber in die Knie, seine Sporen klirrten feierlich, die rechte Hand beschrieb einen großen Halbkreis vom Herzen bis zur rechten Seite, und sein Kopf beugte sich so heftig, daß das Kinn beinahe in der Halsbinde verschwand. Don Kondor nahm die Samtmütze mit der einfachen Feder ab und winkte damit eilig, wie um die Mücken zu verscheuchen, zu Rumata hin. Dann warf er die Mütze auf den Tisch und knöpfte die Halsspange seines Reisemantels auf. Der Mantel glitt noch langsam über seinen Rücken, als er schon auf der Bank saß und die Füße ausstreckte. Die linke Hand hielt er auf die Hüfte gestützt, und mit der ausgestreckten Rechten hielt er den Griff seines vergoldeten Schwertes, das mit der Spitze im faulen Holz des Fußbodens steckte. Er war eher klein, hager, und in seinem blassen Gesicht saßen große, etwas hervorstechende Augen. Die schwarzen Haare waren, genau wie bei Rumata, von einem massiven Goldreif mit einem grünen Stein an der Stirn zusammengefaßt.

»Sind Sie allein, Don Rumata?« fragte er abgerissen. »Ja, edler Don«, antwortete Rumata bedrückt. Vater Kabani ließ sich plötzlich laut donnernd hören: »Edler Don Reba!… Eine Hyäne bist du, und das ist alles!…« Don Kondor schenkte ihm keine Beachtung. Er drehte sich nicht einmal um.

»Ich bin mit dem Hubschrauber hier«, sagte er. »Hoffen wir«, sagte Rumata, »daß keiner Sie gesehen hat.«

»Eine Legende mehr oder weniger …«, antwortete Don Kondor leicht gereizt. »Ich habe einfach keine Zeit, auf dem Pferd herumzureiten. Was ist mit Budach passiert? Wohin mag es ihn verschlagen haben? So setzen Sie sich doch, Don Rumata, ich bitte Sie. Mir tut das Genick weh.«

Rumata ließ sich gehorsam auf die Bank nieder. »Budach ist verschwunden«, sagte er. »Ich wartete auf ihn am Platz der Schweren Schwerter. Erschienen ist aber bloß ein einäugiger Vagabund, nannte die Parole und übergab mir einen Sack mit Büchern. Ich wartete noch zwei Stunden, dann setzte ich mich mit Don Hug in Verbindung, und dieser meldete, er habe Budach bis an die Grenze gebracht, und er werde außerdem von irgendeinem edlen Don begleitet, dem man ruhig vertrauen könne, weil er beim Kartenspiel alles verloren und sich Don Hug mit Leib und Seele verkauft habe. Folglich steckt Budach irgendwo hier in Arkanar. Das ist alles, was ich weiß.«

»Nicht sehr viel, was Sie wissen«, sagte Don Kondor. »Es geht aber gar nicht so sehr um Budach«, entgegnete Rumata. »Wenn er lebt, dann finde ich ihn und hole ihn aus dem Schlamassel raus. Das klappt schon, das kann ich hinkriegen. Aber nicht darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Was ich vorhabe, ist, Ihre Aufmerksamkeit noch einmal, wieder einmal, darauf zu lenken, daß die Lage in Arkanar die Grenzen der Basistheorie überschreitet …« Don Kondor verzog sein Gesicht zu einem sauren Lächeln. »Nein, nein, hören Sie mich zu Ende an«, sagte Rumata entschlossen. »Ich habe das Gefühl, daß ich mich Ihnen über Funk nie so recht verständlich machen kann. Und in Arkanar steht alles kopf! Es ist ein neuer, systematisch wirkender Faktor aufgetaucht. Es sieht so aus, als ob Don Reba mit voller Absicht die ganze niederdrückende Grauheit des Königtums auf die Gelehrten herabsausen läßt. Jeder, der sich nur ein wenig über das mittlere graue Niveau erhebt, schwebt in akuter Gefahr. Hören Sie, Don Kondor, das sind keine vagen Empfindungen, sondern Fakten! Wenn du gescheit bist oder gebildet, wenn du zu zweifeln wagst, irgendwas Ungewöhnliches sagst – vielleicht wenn du mal keinen Wein magst! –, droht dir schon Gefahr. Ein dahergelaufener Gemüsekrämer kann dich totschlagen. Hunderte, ja Tausende Menschen werden denunziert. Sie werden von den Sturmowiki gefangen, und man knüpft sie entlang den Straßen auf. Nackt, mit dem Kopf nach unten … Gestern haben sie einen Alten in meiner Straße zu Tode getrampelt mit ihren Stiefeln. Jemand hat ihnen gesagt, daß er lesen und schreiben kann. Zwei Stunden lang sollen sie ihn getreten haben, diese dumpfen Schweine mit den tierischen, schweißtriefenden Schnauzen« … – Rumata faßte sich und endete in ruhigem Ton: »Mit einem Wort, in Arkanar wird bald kein einziger kluger Kopf mehr übrigbleiben. Wie im Kreis des Heiligen Ordens nach der Schlächterei von Barkan.«

Don Kondor fixierte ihn mit seinen dunklen Augen und kniff die Lippen zusammen.

»Du gefällst mir nicht, Anton«, sagte er auf russisch. »Mir gefällt auch vieles nicht, Alexander Wassilewitsch«, sagte Rumata. »Mir gefällt zum Beispiel nicht, daß wir uns durch diese verteufelte Problemstellung an Händen und Füßen selbst gebunden haben. Mir gefällt es nicht, daß wir es das Problem des unblutigen Vorgehens nennen. Denn in meiner Lage entspricht das wissenschaftlich begründeter Tatenlosigkeit … Ich kenne alle Einwände! Und ich kenne auch unsere Theorie. Aber hier sind Theorien fehl am Platz, hier herrscht eine typisch faschistische Praxis, hier werden in jeder Minute Menschen von wilden Bestien angefallen! Hier geht alles zugrunde. Das Wissen reicht nicht aus, und das Gold verliert seinen Wert, weil es immer zu spät kommt.«

»Anton«, sagte Don Kondor, »reg dich nicht auf. Ich glaub dir, daß die Lage in Arkanar einen extrem heiklen Punkt erreicht hat, aber ich bin genauso davon überzeugt, daß auch du keinen einzigen konstruktiven Vorschlag zur Lösung hast.«

»Das ist wahr«, stimmte Rumata zu, »konstruktive Vorschläge habe ich nicht. Aber es fällt mir immer schwerer, mich zu beherrschen angesichts dieser fortschreitenden physischen und moralischen Korruption.«

»Anton«, sagte Don Kondor. »Wir sind hier zweihundertfünfzig auf dem ganzen Planeten. Alle haben sich schließlich fest in der Hand, und allen fällt es ebenfalls sehr schwer. Die Erfahrensten von uns leben hier schon zweiundzwanzig Jahre. Sie sind einzig und allein als Beobachter hergeflogen. Und es ist ihnen verboten, auf irgendeine Weise selbst einzugreifen. Stell dir das mal vor: Ein Pauschalverbot für jegliches Eingreifen. Wir hätten zum Beispiel nicht einmal das Recht besessen, Budach zu retten. Auch nicht, wenn man ihn vor unseren Augen zu Tode getrampelt hätte.«

»Du brauchst mit mir nicht wie mit einem Kind sprechen«, sagte Rumata.

»Du bist aber ungeduldig wie ein Kind«, entgegnete Don Kondor. »Und hier muß man sehr viel Geduld aufbringen.« Rumata lachte bitter.

»Und während wir hier warten«, sagte er, »endlos diskutieren und über die rechten Mittel beraten, überfallen diese Bestien täglich, ja jede Minute die Menschen.«

»Anton«, sagte Don Kondor, »im Weltall sind noch Tausende von Planeten, die wir noch nicht besucht haben und auf denen die Geschichte ihren Lauf nimmt.«

»Aber hierher sind wir doch gekommen!«

»Ja. Aber nicht, um hier unseren gerechten Zorn auszuschütten, sondern um dieser Menschheit zu helfen. Wenn du zu schwach bist, tritt ab! Kehr zurück, geh nach Hause! Schließlich bist du ja wirklich kein Kind mehr und wußtest, was dich hier erwartet.« Rumata schwieg. Don Kondors Gesichtszüge entspannten sich; er schien während seiner letzten Worte um Jahre gealtert zu sein. Ganz langsam schritt er den Tisch entlang, faßte sein Schwert, zog es wie einen Stock hinter sich her. Dann verfiel er in ein fast unmerkliches trauriges Nicken, so daß es schien, als bewegte sich nur seine Nase.

»Ich kann das alles verstehen«, sagte er. »Ich habe doch das alles selber durchgemacht. Es gab für mich Zeiten, da erschien mir dieses Gefühl der persönlichen Ohnmacht, meiner eigenen Niedertracht als das Allerschrecklichste. Einige schwächere Charaktere wurden davon sogar verrückt, man schickte sie zurück zur Erde und heilt sie jetzt. Fünfzehn Jahre lang habe ich gebraucht, mein Guter, um zu verstehen, was das Allerschrecklichste ist. Das menschliche Gesicht zu verlieren ist schrecklich, Anton; sich die Seele zu beschmutzen und zu verhärten. Wir sind hier die Götter, Anton, und müssen klüger sein als jene Götter aus der Legende, die sich die hiesigen Menschen nach ihrem Bild und Ebenbild schaffen. Unser Weg aber führt uns am Rand eines Abgrunds entlang. Ein Schritt daneben, und schon steckst du im Schmutz und kannst dich dein ganzes Leben lang nicht mehr reinwaschen. In seiner Geschichte der Herabkunft schrieb Goran, der Irukanier: Als Gott vom Himmel herabgestiegen war und aus den pitanischen Sümpfen hervortrat, um sich dem Volk zu zeigen, da waren seine Füße mit Schmutz bedeckt.«

»Dafür hat man Goran dann ja auch verbrannt«, fügte Rumata düster hinzu.

»Ja, verbrannt hat man ihn. Aber das alles betrifft eigentlich uns. Ich bin jetzt fünfzehn Jahre hier. Ich, mein Lieber, ich sehe die Erde nicht einmal mehr in meinen nächtlichen Träumen. Einmal, als ich in abgelegten Papieren kramte, fand ich die Fotografie einer Frau und konnte mich lange nicht erinnern, wer sie war. Manchmal überkommt es mich mit Grauen, daß ich eigentlich längst kein Mitarbeiter des Instituts mehr bin, sondern eher ein Exponat dieses Instituts, der oberste Richter der Handelsrepublik, und im Museum gibt es einen Saal, wo man mich aufstellen sollte. Das ist nämlich das Allerschrecklichste: sich in seine Rolle zu finden. In jedem von uns hier kämpft eine edle Wildsau mit dem Kommunarden. Und während alles ringsum der Wildsau schmeichelt, ist der Kommunard mutterseelenallein. – Zur Erde ist es tausend Jahre und tausend Parsek weit.« Don Kondor verstummte und strich sich über die Knie. »So ist das, Anton«, sagte er dann, und seine Stimme wurde fester. »Bleiben wir Kommunarden!«

Er kann das nicht verstehen, dachte Anton-Rumata. Wie sollte er auch? Er hat Glück gehabt, er weiß nicht, was der Graue Terror ist und Don Reba. Alles, was er im Lauf von fünfzehn Jahren auf diesem Planeten gesehen hat, fügt sich so oder anders in den Rahmen der Basistheorie. Und wenn ich von Faschismus zu ihm spreche, über die Grauen Sturmowiki, über die Aktivierung des Kleinbürgertums, so faßt er das als emotionale Wortspielerei auf: >Treiben Sie keinen Scherz mit der Terminologie, Anton! Terminologische Verwirrungen ziehen gefährliche Konsequenzen nach sich!< Er kann und kann es nicht verstehen, daß das Durchschnittsniveau mittelalterlicher Bestialität genau dem glücklichen gestrigen Tag von Arkanar entspricht. Don Reba ist für ihn so etwas wie ein Richelieu, ein kluger und weitsichtiger Politiker, der den Absolutismus vor feudalen Auswüchsen verteidigt. Als einziger auf diesem Planeten sehe ich den schrecklichen Schatten, der über das ganze Land kriecht, bloß kann ich nicht verstehen, woher dieser Schatten kommt und wozu … Und wie soll ich ihn denn überzeugen, wenn ich doch seinen Augen ansehe, daß er mich am liebsten gleich jetzt zur Erde zurückschicken möchte, um mich dort zu kurieren. »Wie geht es dem edlen Synda?« fragte Rumata. Don Kondor hörte nun auf, ihn zu mustern, und murmelte: »Gut, ich danke Ihnen.« Dann sagte er:

»Wir müssen endlich einmal zur Kenntnis nehmen, daß weder du noch ich und keiner von uns die greifbaren Früchte seiner Arbeit sehen wird. Wir sind nicht Physiker, sondern Historiker. Für uns ist die Zeiteinheit nicht die Sekunde sondern das Jahrhundert, und unsere Arbeit hier ist nicht einmal die Saat, wir bereiten bloß den Boden für die Aussaat. Und da kommen von Zeit zu Zeit von der Erde … na, sagen wir Enthusiasten, der Teufel soll sie holen … Sprinter mit zu kurzem Atem …«

Rumata lachte schief und zog ohne besondere Notwendigkeit an seinen Reitstiefeln. Sprinter. Ja, Sprinter gab es. Zehn Jahre zuvor hatte Stefan Orlowskij, alias Don Kapada, der Kommandeur der Brustwehrrotten Seiner kaiserlichen Hoheit, zur Zeit der öffentlichen Folterung von achtzehn estorischen Hexen seinen Soldaten befohlen, das Feuer auf die Männer zu eröffnen, er hatte mit eigener Hand den kaiserlichen hohen Richter und zwei seiner Gehilfen erschlagen und war schließlich von den Speeren der kaiserlichen Leibwache durchbohrt worden. In Todesqualen hatte er noch aus Leibeskräften gerufen: »Ihr seid doch Menschen! Schlagt auf sie ein, fürchtet euch nicht!« Aber kaum einer hatte ihn in dem Gebrüll der Menge gehört: »Zündet sie an! Noch mehr Feuer!…«

Ungefähr zur selben Zeit zettelte Karl Rosenblum, einer der geschätztesten historischen Experten für die Bauernkriege in Deutschland und Frankreich, alias Pani-Pas, Wollhändler, unter den murischen Bauern einen Aufstand an, nahm zwei Städte im Sturm und wurde durch einen Pfeil in den Rücken getötet, als er dabei war, den Plünderungen Einhalt zu gebieten. Er lebte noch, als man ihn mit dem Hubschrauber herausholte, aber sprechen konnte er nicht mehr, sondern blickte nur schuldbewußt und ein wenig verwundert aus seinen großen blauen Augen, aus denen Tränen flossen … Und kurz vor der Ankunft Rumatas auf diesem Planeten hatte der großmächtig mitverschworene Vertraute des Tyrannen von Kaisan (Jeremy Toughnut, ein Spezialist für Reformen auf der Erde) ganz plötzlich aus heiterem Himmel eine Palastrevolution inszeniert, die Macht an sich gerissen, versucht, in zwei Monaten das goldene Zeitalter einzuführen, sich hartnäckig geweigert, auf die heftigen Interpellationen der Nachbarn und der Erde zu antworten, sich den Ruhm eines Verrückten verdient, die acht Versuchungen glücklich vermieden, war dann schließlich vom Einsatzkommando der Mitarbeiter des Instituts gefaßt und auf einem Unterseeboot auf eine Inselbasis in der Nähe des Südpols gebracht worden … »Wenn man sich das so vorstellt!« brummte Rumata mehr für sich. »Und auf der ganzen Erde glaubt man bis auf den heutigen Tag, daß sich mit den kompliziertesten Problemen die Null-Physiker befassen …«

Don Kondor hob den Kopf. »Ah, endlich«, sagte er halblaut.

Man hörte das Stampfen von Hufen, das böse und jammernde Wiehern des Chamacharisdien Hengstes und energisches Fluchen einer stark irukanisch akzentuierten Stimme. In der Tür erschien Don Hug, der erste Kammerdiener Seiner Herrlichkeit des Herzogs von Irukan. Er war dick, hatte rote Wangen und einen keck aufgezwirbelten Schnurrbart, verzog seinen Mund beim Lachen bis zu den Ohren, und unter den Wellen seiner kastanienbraunen Perücke saßen zwei lustige kleine Augen. Und wieder war Rumata nahe daran, den Neuankömmling zu umarmen – es war sein Jugendfreund Paschka; aber Don Hug nahm plötzlich Haltung an, auf seinem dicken Gesicht zeigte sich das süßliche Lächeln der Etikette, er neigte sich gewandt vor bis zum Gürtel, drückte seinen Hut gegen die Brust und spitzte die Lippen, als wollte er flöten. Rumata blickte verstohlen zu Alexander Wassilewitsch. Alexander Wassilewitsch war verschwunden. Auf der Bank saß wieder der oberste Richter und Staatssiegelbewahrer, Don Kondor, mit gestreckten Beinen, die linke Hand in die Seite gestemmt, mit der rechten hielt er den Griff seines vergoldeten Schwertes.

»Sie haben sich sehr verspätet, Don Hug«, sagte er mit unangenehmer Stimme.

»Bitte tausendmal um Vergebung!« rief Don Hug und näherte sich gewandt dem Tisch. »Ich schwöre bei der Rachitis meines Herzogs, völlig unvorhergesehene Umstände! Viermal hat mich die Patrouille Seiner Hoheit des Königs von Arkanar angehalten, und zweimal mußte ich mich mit irgendwelchen Gaunern herumschlagen.« Mit Eleganz erhob er seine linke Hand, die in ein blutdurchtränktes Tuch eingeschlagen war. »Übrigens, edle Dons, wem gehört der Hubschrauber hinter der Hütte?«

»Das ist meine Maschine«, sagte Don Kondor zänkisch. »Ich habe keine Zeit für Raufereien unterwegs.«

Don Hug zeigte ein freundliches Lächeln, setzte sich rittlings auf die Bank und sagte:

»Und so, edle Dons, sind wir also gezwungen zu konstatieren, daß der hochgelehrte Dr. Budach auf geheimnisvolle Weise irgendwo zwischen der irukanischen Grenze und dem Platz der Schweren Schwerter verschwunden ist …«

Vater Kabani drehte sich plötzlich um auf seinem Lager. »Don Reba …«, sagte er dumpf, ohne aber aufzuwachen. »Überlaßt Budach mir«, sagte Rumata mit Verzweiflung in der Stimme, »und versucht doch, trotz allem, mich zu verstehen …«

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