4

Die Gäste waren versammelt, Dona Okana aber war noch nicht erschienen. Um ein goldenes Imbißtischchen scharten sich wie auf einem Wandgobelin die Häupter der königlichen Garde, die wegen ihrer Duelle und Liebesabenteuer berühmt waren. Beim Trinken beugten sie sich graziös vor und streckten ihre dicken Hintern von sich. Neben dem Kamin kicherten dünnblütige Damen, die sich durch überhaupt nichts auszeichneten und die daher Dona Okana als Vertraute beigegeben waren. Sie saßen in einer Reihe auf kleinen, niedrigen Chaiselongues, und vor ihnen bewegten sich drei betagte Herren auf dünnen, unaufhörlich tänzelnden Beinen, berüchtigte Salonlöwen aus der Regierungszeit des vorigen Königs, die letzten Kenner längst vergessener Hofanekdoten. Alle wußten, daß ohne diese alten Herrn ein Salon kein Salon war. In der Mitte des Saales stand, die Stiefel breit gespreizt, Don Ripat, Leutnant der Grauen Galanterierotte – und ein kluger und verläßlicher Agent Rumatas. Er hatte einen prächtigen Schnurrbart und war völlig ohne Moral. Seine großen roten Hände in den Ledergürtel gesteckt, hörte er Don Tameo zu, der völlig konfus und umständlich ein Projekt zur Belebung des Handels auf Kosten der Bauern vorzutragen versuchte, und von Zeit zu Zeit richtete er seinen Schnurrbart auf Don Sera, der von Wand zu Wand tappte und offenbar eine Tür suchte. In einer Ecke saßen, wachsame Blicke werfend, zwei berühmte Porträtmaler und verschlangen einen Braten von der Größe eines mittleren Krokodils, und neben ihnen in der Fensternische saß eine ältere Frau in Schwarz – die Anstandsdame, die Don Reba Dona Okana beigegeben hatte. Mit unbeweglicher Miene blickte sie streng vor sich hin, nur manchmal fuhr sie unerwartet mit dem ganzen Körper nach vorn. Ein wenig abseits von den übrigen unterhielten sich eine Person königlichen Blutes und der soanische Botschaftssekretär beim Kartenspiel. Die königliche Person mogelte, und der Sekretär lächelte geduldig dazu. Im Salon war er der einzige Mensch, der sich mit etwas Ernsthaftem beschäftigte: Er sammelte Material für die laufende Bespitzelung durch die Diplomaten.

Die Gardeoffiziere an den vergoldeten Tischchen begrüßten Rumata mit lauten fröhlichen Rufen. Rumata nickte ihnen kameradschaftlich zu und ging von einem Gast zum andern. Er tauschte mit den alten Salonlöwen Verbeugungen aus, machte Dona Okanas Vertrauten ein paar Komplimente, worauf sie sofort auf die weiße Feder hinter seinem Ohr starrten, er klopfte der Person königlichen Blutes auf den schwabbeligen Rücken und wandte sich dann Don Ripat und Don Tameo zu. Als er an der Fensternische vorbeikam, fiel die Anstandsdame mit ihrem Oberkörper gerade wieder einmal nach vorn; sie strahlte einen starken Maischedunst aus. Als er Rumata erblickte, zog Don Ripat seine Hände aus dem Gürtel und schlug die Hacken zusammen, Don Tameo aber schrie mit lauter Stimme: »Sie sind es, mein Freund? Wie gut, daß Sie gekommen sind, ich hatte schon alle Hoffnung verloren … Wie ein Schwan mit gebrochenem Flügel, der seufzend zum Stern aufblickt … Ich hatte solche Sehnsucht … Und wäre nicht der hochliebenswürdige Don Ripat, ich wäre vor Gram schon gestorben!« Es war klar, Don Tameo hatte bis zum Mittagessen nüchtern bleiben wollen, es aber dann doch nicht ausgehalten. »Aber, aber!« wunderte sich Rumata. »Seit wann zitieren wir denn den Aufrührer Zuren?«

Don Ripat straffte sofort seinen Rücken und blitzte Don Tameo aus Raubtieraugen an.

»Ah, äh …«, brachte Don Tameo völlig verwirrt hervor. »Zuren? Ja, warum eigentlich? Ja, ja, also … im ironischen Sinn … Ich versichere Sie, edle Dons! Ja, wer ist denn dieser Zuren? Ein gemeiner, undankbarer Demagoge. Ich wollte bloß unterstreichen …«

»Daß Dona Okana noch nicht erschienen ist«, unterbrach ihn Rumata. »Und Sie haben ohne sie trinken müssen.«

»Genau das wollte ich unterstreichen.«

»Übrigens, wo ist sie denn?«

»Wir erwarten sie jeden Augenblick«, antwortete Don Ripat, verbeugte sich und ging weg.

Die Vertrauten der Dame des Hauses aber hatten alle den Mund gleich weit aufgerissen und starrten noch immer die weiße Feder an. Die alten Salonlöwen kicherten verschmitzt. Don Tameo bemerkte schließlich die Feder ebenfalls und begann zu zittern. »Mein Freund!« flüsterte er. »Was soll denn das? Wenn das Don Reba sieht … Zwar erwartet man ihn heute nicht, aber wer kann schon wissen …«

»Lassen Sie das«, sagte Rumata und blickte ungeduldig um sich. Er wollte alles so rasch wie möglich hinter sich bringen. Die Gardeoffiziere näherten sich schon mit den Bechern in der Hand.

»Sie sind so blaß!« flüsterte Don Tameo. »Ja, ich verstehe schon, die Liebe, die Leidenschaft … Aber, heiliger Micky! Der Staat geht doch vor … Und es ist ja schließlich gefährlich, sehr gefährlich … Eine Beleidigung der Gefühle Don Rebas …« In seinem Gesicht veränderte sich irgend etwas, und er begann unruhig zu trippeln, trat ein wenig zurück und ging dann im Rückwärtsgang hinaus, wobei er sich ununterbrochen verneigte. Die Gardeoffiziere umringten Rumata. Jemand reichte ihm einen vollen Becher.

»Auf die Ehre und den König!« rief einer der Offiziere. »Und auf die Liebe!« fügte ein anderer hinzu. »Zeigen Sie ihr nur, was die Garde kann, edler Don«, sagte ein Dritter.

Rumata nahm den Becher und erblickte plötzlich Dona Okana. Sie stand in der Tür, wedelte leicht mit dem Fächer und wiegte schmachtend ihre Schultern. Ja, sie war hübsch. Aus der Entfernung war sie sogar schön. Zwar war sie so gar nicht nach dem Geschmack Rumatas, aber sie war unzweifelhaft hübsch, dieses dumme, sinnliche Huhn! Große blaue Augen ohne einen Schimmer von Verstand oder Wärme, ein weicher, erfahrener Mund, ein üppiger, mit Geschick und Sorgfalt entblößter Körper … Ein Gardeoffizier hinter Rumata konnte sich offenbar nicht mehr beherrschen und schnalzte laut mit der Zunge. Rumata streckte ihm, ohne sich umzuwenden, seinen Becher hin und ging mit langen Schritten auf Dona Okana zu. Alle Anwesenden im Salon wandten ihre Augen ab und begannen geschäftig über Belanglosigkeiten zu sprechen.

»Ihre Schönheit ist blendend«, murmelte Rumata, verbeugte sich tief und rasselte mit den Schwertern. »Erlauben Sie mir, zu Ihren Füßen zu liegen … Wie ein Windspiel zu Füßen einer gleichgültigen Schönen …«

Dona Okana versteckte ihr Gesicht hinter dem Fächer und blinzelte kokett hervor. »Sie sind sehr kühn, edler Don«, sagte sie. »Wir armen Provinzfräulein sind einfach nicht fähig, solchen Stürmen zu widerstehen …« Sie hatte eine tiefe, kratzende Stimme, die manchmal ganz versagte. »O weh, was bleibt mir denn über, als die Tore meiner Festung zu öffnen und den Sieger einzulassen …« Vor Wut und Scham mit den Zähnen knirschend, verbeugte sich Rumata noch tiefer. Dona Okana ließ ihren Fächer sinken und rief laut:

»Edle Dons, unterhalten Sie sich weiter! Ich komme mit Don Rumata gleich wieder zurück! Ich habe ihm versprochen, ihm meine neuen irukanischen Teppiche zu zeigen …!«

»Bleiben Sie uns nicht lange fern, zauberhafte Schöne!« blökte einer der Greise.

»Herrliche Frau!« rief ein anderer Greis mit süßlicher Stimme. »Eine Fee!«

Die Gardeoffiziere ließen ihre Schwerter klirren. »Das muß man ihm lassen, Geschmack hat er keinen schlechten …«, sagte die Person königlichen Bluts. Dona Okana zog Rumata am Ärmel hinter sich her. Im Gang hörte Rumata noch, wie Don Sera in beleidigtem Ton erklärte: »Ich sehe nicht ein, warum ein edler Don sich nicht irukanische Teppiche anschauen sollte …«

Am Ende des Gangs blieb Dona Okana plötzlich stehen, faßte Rumata um den Hals und saugte sich mit einem heiseren Stöhnen, das offenbar die hervorbrechende Leidenschaft andeuten sollte, an seinen Lippen fest. Rumata hielt den Atem an. Die Schöne strahlte ein scharfes Aroma von ungewaschenem Körper und irukanischen Parfüms aus. Ihre Lippen waren brennendheiß, feucht und klebrig von Süßigkeiten. Er versuchte sich mit aller Kraft zu überwinden und den Kuß zu erwidern, was ihm offensichtlich auch gelang, denn Dona Okana stöhnte noch einmal laut auf und ließ sich mit krampfhaft geschlossenen Lidern in seine Arme fallen. Das schien eine ganze Ewigkeit zu dauern. Na, ich werd es dir schon geben, du Schlange, dachte Rumata und drückte sie kräftig. Irgend etwas begann zu krachen, das Korsett – oder auch die Rippen –, die Schöne winselte jämmerlich, öffnete verwundert die Augen und zappelte kraftlos, um sich zu befreien. Rumata ließ sie eilig los. »Draufgänger …«, sagte sie, schweratmend und ganz hingerissen. »Du hättest mich beinahe erdrückt …«

»Ich brenne vor Liebe«, murmelte er schuldbewußt. »Ich auch. Ich habe schon so auf dich gewartet! Gehen wir doch! Schnell …«

Sie zog ihn hinter sich her, durch irgendwelche eisigkalte Zimmer. Rumata griff nach seinem Tuch und wischte sich heimlich die Lippen ab. Nun erschien ihm dieses ganze Theater schon völlig aussichtslos. Es muß sein, dachte er. Was man nicht alles über sich ergehen läßt!… Mit Worten kommst du hier nicht davon. Heiliger Micky, warum sie sich hier am Hof nie waschen? Und dann dieses eigentümliche Temperament … wenn wenigstens Don Reba dazukäme … Sie zerrte ihn schweigend hinter sich her, mit zielgerichteter Kraft, wie die Ameisen tote Larven ziehen. Rumata kam sich vor wie ein Idiot und murmelte irgendwelchen werbenden Unsinn von »flinken Füßchen« und »rosaroten Lippen«, Dona Okana aber kicherte nur in einem fort. Sie beförderte ihn in ein überheiztes Boudoir, das übrigens wirklich ganz mit Teppichen behangen war, warf sich auf das riesige Bett und stierte ihn mit ihren feuchten, hyperästhetischen Augen an. Rumata erstarrte zur Säule. In dem Boudoir roch es eindeutig nach Wanzen. »Du bist schön!« flüsterte sie laut. »Komm schon her zu mir. Ich hab so lange gewartet!« Rumata wandte die Augen ab, ihm wurde übel. Über sein Gesicht liefen prickelnd ein paar Schweißperlen. Ich kann nicht, schoß es ihm durch den Kopf. Zum Teufel mit all den Informationen … Eine Füchsin ist sie … Eine Äffin … Das ist schon wider die Natur, das ist schmutzig. Dreck ist zwar besser als Blut, aber das hier ist noch viel schlimmer als Dreck.

»Was zögern Sie denn, edler Don?« schrie Dona Okana plötzlich mit keuchender Stimme. »Kommen Sie doch, ich warte!«

»Geh zum Teufel …«, entfuhr es Rumata zwischen den Zähnen. Sie sprang auf und eilte zu ihm hin. »Was ist mit dir? Bist du betrunken?«

»Ich weiß nicht«, preßte er heraus. »Es ist schwül hier.«

»Vielleicht sollte ich eine Tasse bestellen?«

»Was denn für eine Tasse?«

»Ach was … Das vergeht …« Ihre Finger zitterten vor Ungeduld, als sie sich daranmachte, seine Weste aufzuknöpfen. »Du bist schön …«, murmelte sie atemlos.

»Aber du bist ja schüchtern wie ein Neuling. Das hätte ich von dir nie vermutet … Es ist aber sehr reizvoll, ich schwöre es dir beim heiligen Bara …!«

Wohl oder übel mußte er sie nun bei den Händen nehmen. Er blickte sie von oben herab an und sah ihr lackglänzendes, unordentliches Haar, ihre runden, nackten Schultern, über die kleine Klümpchen Puder kollerten, und ihre winzigen rosaroten Ohren. Abscheulich, dachte er. Daraus wird nichts. Aber schade, sie muß doch einiges wissen … Don Reba plaudert im Schlaf … Er nimmt sie zuden Verhören mit, und sie liebt Verhöre … Ich kann nicht … »Nun?« fragte sie gereizt.

»Ihre Teppiche sind sehr hübsch, Dona«, sagte er laut. »Aber ich muß jetzt gehen.«

Zuerst verstand sie nicht, dann aber verzerrten sich ihre Züge. »Wie kannst du es wagen?« flüsterte sie böse, aber er hatte schon mit den Handflächen die Tür ertastet, schlüpfte auf den Korridor und machte sich rasch aus dem Staub. Von heut an wasche ich mich nicht mehr, dachte er. Hier muß man ein Dreckfink sein, aber kein Gott!

»Du Klepper!« schrie sie ihm nach. »Du elendes altes Weib! Ins Loch mit dir …!«

Rumata riß heftig ein Fenster auf und sprang in den Hof hinab. Eine Zeitlang stand er dann unter einem Baum und saugte gierig die kalte Luft ein.

Dann fiel ihm die dumme weiße Feder ein. Er riß sie wütend herunter und zertratsie unter seinem Stiefel. Bei meinem Freund Paschka wäre auch nichts herausgekommen, dachte er. Bei niemandem. (Bist du überzeugt? – Ja. – Dann taugt ihr eben nichts. – Aber mir wird übel davon! – Dem Experiment sind deine Gefühle egal. Wenn du nicht kannst, dann laß die Finger davon! – Ich bin doch kein Tier! – Wenn es das Experiment erfordert, muß man zum Tier werden. – Das Experiment kann so etwas nicht fordern. – Wie du siehst, es kann! – Aber dann …! – Was, dann? – Er wußte nicht, was dann folgen würde. – Dann … Dann … Nun gut, sagen wir halt, ich bin ein schlechter Historiker. – Er zuckte mit den Schultern – Versuchen wir, ein besserer zu werden. Lernen wir, uns in ein Schwein zu verwandeln …)

Es war Mitternacht, als er bei seinem Haus anlangte. Er löste nur die Spangen an seinem Fes, warf sich, ohne sich auszuziehen, auf einen Diwan im Salon und schlief ein wie ein Toter. Er wurde geweckt von dem unwilligen Schreien Unos und einem gutmütigen Baßgebrüll.

»Mach dich fort, geh weg, du kleines Biest, ich reiß dir die Ohren aus!«

»Der Herr schläft, sag ich Euch!«

»Fort! Kriech mir nicht um die Beine!«

»Kein Einlaß, ich sag es Euch!«

Die Tür sprang krachend auf, und ins Zimmer stürzte, riesenhaft wie das wilde Untier Pech, Don Bau, Baron Pampa, rotwangig, weiße Zähne, hängender Schnurrbart, in einem keck aufs Ohr gezogenen runden Samthut und einem teuren himbeerfarbenen Überwurf, unter dem deutlich ein Kupferpanzer durchschimmerte. Er schleppte Uno hinter sich her, der sich krampfhaft an das rechte Hosenbein des Barons klammerte.

»Baron!« rief Rumata und ließ seine Beine vom Sofa herabgleiten. »Wie sind Sie in der Stadt aufgetaucht, mein Freund? Uno, laß den Baron in Ruhe!«

»Ein selten anhänglicher Bursche«, sagte der Baron und näherte sich Rumata mit ausgebreiteten Armen. »Der ist in Ordnung. Wieviel wollen Sie für ihn? Ja, aber darüber später … Lassen Sie sich umarmen!«

Sie umarmten einander. Vom Baron ging ein angenehmer Duft nach staubiger Landstraße, Pferd und einem gemischten Bukett von verschiedenen Weinen aus.

»Ich sehe, Sie sind auch völlig nüchtern«, sagte er mit Trauer in der Stimme. »Übrigens, Sie sind ja immer nüchtern, Sie Glücklicher!«

»Nehmen Sie doch Platz, mein Freund«, sagte Rumata. »Uno! Bring uns Estorischen, aber nicht zu wenig!«

»Keinen Tropfen!«

»Keinen Tropfen Estorischen? Uno, laß den Estorischen, bring uns Irukanischen!«

»Überhaupt keinen Wein!« sagte der Baron kummervoll. »Ich trinke nicht.« Rumata setzte sich.

»Was ist passiert?« fragte er besorgt. »Sind Sie nicht gesund?«

»Gesund bin ich wie ein Büffel. Aber diese verdammten Familienszenen … Kurz gesagt, ich habe mich mit der Baronin zerstritten … Und jetzt bin ich hier.«

»Gestritten mit der Baronin? Sie?! Jetzt machen Sie aber einen Punkt, Baron, was sind das für seltsame Späße?«

»Stellen Sie sich vor. Ich komme mir selber wie umnebelt vor. Hundertzwanzig Meilen bin ich wie im Nebel hergeritten!«

»Mein Freund«, sagte Rumata, »wir machen uns gleich auf und reiten zurück nach Schloß Bau.«

»Aber mein Pferd hat noch nicht verschnauft«, entgegnete der Baron. »Und dann, ich will sie bestrafen

»Wen?«

»Die Baronin, hol’s der Teufel! Bin ich ein Mann oder nicht?! Sehen Sie, sie ist unzufrieden mit Pampa – dem – Betrunkenen, soll sie nur schauen, wie er nüchtern ist! Lieber verfaule ich hier bei ordinärem Wasser, als ins Schloß zurückzukehren …« Uno maulte mürrisch:

»Sagt ihm, er soll nicht so mit den Ohren wackeln.«

»Scher dich weg, du kleiner Wolf!« zeterte der gutmütige Baß des Barons. »Und bring mir Bier! Ich hab geschwitzt und muß mich wieder auffüllen.«

Im Laufe einer halben Stunde füllte der Baron sich wieder auf und plauderte dabei munter drauflos. In den Intervallen zwischen den Schlucken berichtete er Rumata von seinen Unannehmlichkeiten. Er verfluchte des öfteren »diese Saufbolde, meine Nachbarn, die mein Schloß überfallen haben. Unter dem Vorwand, mit mir auf die Jagd zu gehen, kommen sie schon am frühen Morgen – und ehe man sich’s versieht, sind sie schon alle betrunken und zerschlagen die Möbel. Übers ganze Schloß fallen sie her, alles besudeln sie, verärgern die Dienerschaft, verderben die Hunde und geben dem jungen Baron ein abscheuliches Beispiel. Dann fahren sie alle nach Hause, und du, stocksteif betrunken, bleibst mit der Baronin allein zurück, Auge in Auge …«

Am Ende seiner Geschichte geriet der Baron ganz außer sich und war sogar schon nahe daran, Estorischen zu verlangen, riß sich aber wieder zusammen und sagte:

»Rumata, mein Freund. Gehen wir weg von hier. Sie haben viel zu teure Weine! Gehen wir …!«

»Aber wohin?«

»Das ist doch ganz egal, wohin! Nun, vielleicht in die Graue Freude

»Hm …«, machte Rumata. »Und was werden wir tun in der Grauen Freude

Eine Zeitlang schwieg der Baron und zog sich widerspenstig am Bart.

»Also wie?« sagte er schließlich. »Seltsame Fragen stellen Sie. Na, wir sitzen einfach da, plaudern ein wenig …«

»In der Grauen Freude?«fragte Rumata zweifelnd. »Ja. Ich verstehe Sie«, sagte der Baron. »Das ist scheußlich … Aber trotzdem, gehen wir. Hier bin ich die ganze Zeit versucht, Estorischen zu verlangen …!«

»Mein Pferd!« sagte Rumata und ging ins Herrenzimmer, um seinen Sender zu holen.

Einige Minuten später ritten sie Seite an Seite in einem engen Gäßchen dahin, eingehüllt von undurchdringlicher Dunkelheit. Der Baron hatte seine gute Laune wiedergefunden und erzählte mit lauter Stimme davon, was sie vorgestern für einen Rieseneber erlegt hätten, dann über die erstaunlichen Eigenschaften des jungen Barons und von dem Wunder im Kloster des heiligen Tukky, wo der Abt einen sechsfingrigen Knaben aus seiner Hüfte gebar … Dabei vergaß er auch seine Späße nicht. Von Zeit zu Zeit heulte er wie ein Wolf, sang Wiegenlieder und klopfte mit dem Peitschenstiel gegen geschlossene Fensterläden.

Als sie bei der Grauen Freude angelangt waren, hielt der Baron sein Pferd an und versank in tiefes Nachdenken. Rumata wartete. Aufdringlich leuchteten die schmutzigen Fenster der Schenke, die Pferde scharrten an den Balken, die stark geschminkten Mädchen, die auf einer Bank unter dem Fenster saßen, stritten sich laut herum, und zwei Hausburschen rollten unter großer Anstrengung ein riesiges Faß mit Saliterflecken durch die Tür. Der Baron sagte kummervoll:

»Allein …! Es ist schrecklich, daran zu denken, die ganze Nacht vor mir, und allein! Und auch sie ist dort allein …!«

»Seien Sie nicht so traurig, mein Freund«, sagte Rumata. »Bei ihr ist doch der junge Baron, und bei Ihnen bin ich.«

»Das ist ganz was anderes«, sagte der Baron. »Sie haben ja keine Ahnung, mein Freund. Sie sind viel zu jung und leichtsinnig … Ihnen macht es, mir scheint, sogar Vergnügen, diese Schlampen da anzuschauen …«

»Und warum nicht«, entgegnete Rumata und betrachtete den Baron neugierig. »Für mich sind das recht passable Mädchen.« Der Baron wackelte mit dem Kopf und lachte sarkastisch. »Da, die dort drüben steht«, sagte er laut, »die hat einen Hängehintern. Und die, die sich jetzt kratzt, die hat überhaupt keinen … Kühe sind das, mein Freund, im besten Fall sind das Kühe … Denken Sie doch an die Baronin! Was für Hände, welche Grazie …! Was für ein Körper, mein Lieber …!«

»Ja«, sagte Rumata zustimmend. »Die Baronin ist schön. – Gehen wir weg von hier.«

»Wohin?« fragte der Baron gedrückt. »Und wozu?« In sein Gesicht kam plötzlich Entschlossenheit. »Nein, mein Freund, ich gehe nicht weg von hier. Nirgendwohin, aber Sie können tun, was Ihnen beliebt.« Er stieg vom Pferd. »Obwohl es für mich eine Beleidigung wäre, wenn Sie mich hier allein ließen.«

»Aber ich bleibe natürlich bei Ihnen«, sagte Rumata. »Aber …«

»Kein aber«, sagte der Baron.

Sie warfen die Zügel einem herbeieilenden Diener zu und stolzierten an den Mädchen vorbei in das Gastzimmer. Die Luft war zum Schneiden dick. Das schwache Licht der Ölfunzeln durchdrang kaum den dichten Nebel von verschiedenen Ausdünstungen, es war wie in einem großen und sehr schmutzigen Schwitzbad. Schweißüberströmte Soldaten in aufgeknöpften Uniformen, umherziehendes Seemannsvolk in bunten Kaftanen über den nackten Leibern, Frauen mit kaum bedeckter Brust, graue Sturmowiki mit den Kampfbeilen zwischen den Knien und einige heruntergekommene Handwerker aßen und tranken an langen Tischen aus rohem Holz, fluchten, lachten, weinten, küßten und brüllten unanständige Lieder. Auf der linken Seite konnte man im Nebel den Schanktisch erahnen, wo der Wirt auf einem Podest inmitten gigantischer Fässer thronte und von wo er einen Schwarm geschickter und betrügerische Diener dirigierte. Rechts leuchtete grell ein großes Rechteck durch den Nebel, der Eingang in das »gute Zimmer« – den Raum für edle Dons, ehrbare Kaufleute und die Grauen Offiziere.

»Warum sollten wir schließlich nicht einen hinter die Binde gießen?« fragte Baron Pampa gereizt, faßte Rumata am Ärmel und strebte in einem engen Durchgang zwischen den Tischen der Theke zu, wobei er den sitzenden Gästen mit seinem leicht abstehenden Gürtelpanzer den Rücken zerkratzte. An der Theke nahm er dem Wirt einen riesigen Krug aus der Hand, ließ ihn bis oben füllen, leerte ihn schweigend auf einen Zug bis zur Neige und erklärte dann, daß jetzt alles hin sei und nur mehr eines überbleibe – sich gehörig zu amüsieren. Dann wandte er sich an den Wirt und erkundigte sich lautstark, ob es in diesem Unternehmen einen Platz gäbe, wo edle Leute wohlanständig und bescheiden ihre Zeit verbringen könnten, ohne von jeglichem Geschmeiß, Gesindel und Auswurf behelligt zu werden. Der Wirt versicherte ihm, daß in ebendiesem Unternehmen ein solcher Platz existiere. »Ausgezeichnet!« sagte der Baron majestätisch und warf dem Wirt einige Goldstücke hin. »Bring Er mir und diesem Don hier das Beste, was Er nur hat. Soll uns aber nicht irgendein abgeschlecktes Kokottchen, sondern eine ehrenhafte ältere Frau bedienen!« Der Wirt selbst begleitete die edlen Dons in das Extrazimmer. Hier waren wenig Leute. In der Ecke unterhielt sich eine Gruppe düsterer Grauer Offiziere, vier Leutnants in engen Uniformen und zwei Hauptmänner in kurzen Soldatenmänteln mit den Epauletten des Sicherheitsministeriums auf der Schulter. Am Fenster dösten bei einem dünnhalsigen Weinkrug zwei Aristokraten dahin: Ihre Gesichter waren ganz sauer von der allgemeinen Niedergeschlagenheit. Am Nebentisch saß ein Häuflein verarmter Dons in zerknautschten Jacken und gestopften Überwürfen. Sie tranken in kleinen Schlücken ihr Bier und ließen alle Augenblicke ihre gierigen Blicke im Zimmer umherschweifen.

Der Baron polterte auf einen freien Tisch zu, blinzelte böse zu den Grauen Offizieren hinüber und brummte: »Also auch hier geht es nicht ohne das Gesindel …« Aber da kam auch schon eine dicke beschürzte Tante herangewackelt und brachte den ersten Gang. Der Baron krächzte gierig, zog seinen Dolch aus dem Gürtel und stürzte sich auf sein Festmahl. Schweigend verschlang er dicke Brocken eines gebratenen Hirschen, Berge marinierter Mollusken, Berge von Meereskrebsen, Unmengen von Salaten und Mayonnaisen, dazu trank er Wasserfälle von Wein, Bier und Hausbier, und schließlich auch Wein, vermischt mit Bier und Hausbier. Die verarmten Dons wollten einer nach dem andern an seinen Tisch rücken, der Baron aber wies sie mit einer weit ausholenden Handbewegung und mit dem Knurren seiner Gedärme ab.

Plötzlich hörte er auf zu essen, starrte Rumata mit hervorquellenden Augen an und brüllte mit Raubtierstimme: »Ich war schon lange nicht in Arkanar, mein edler Freund. Und ich sage Ihnen bei meiner Ehre, irgendwas gefällt mir hier nicht!«

»Was denn, Baron?« fragte Rumata interessiert, während er den Flügel eines Huhnes abnagte.

Auf den Gesichtern der verarmten Dons zeichnete sich ehrfürchtige Aufmerksamkeit ab.

»Sagen Sie mir, mein Freund!« donnerte der Baron und wischte seine fetten Hände am Überwurf ab, »seit wann ist es in der Hauptstadt seiner Hoheit, unseres Königs, Brauch, daß die Nachkommen der ältesten Geschlechter des Reiches keinen Schritt tun können, ohne auf irgendwelche elenden Krämer oder Metzger zu stoßen?!« Die edlen Dons wechselten untereinander rasche Blicke und begannen sich zurückzuziehen. Rumata blinzelte in die Ecke, wo die Grauen saßen. Diese setzten die Gläser ab und schauten herüber. »Ich werde Ihnen sagen, wo der Hund begraben liegt, edle Dons«, fuhr Baron Pampa fort. »Das kommt alles daher, weil ihr feige Memmen seid. Ihr duldet sie, weil ihr euch fürchtet. Da, du da, du fürchtest dich!« brüllte er aus Leibeskräften und blickte dem nächststehenden verarmten Don scharf in die Augen. Der aber zog den Schweif ein und verließ den Tisch mit einem blassen Lächeln. »Feiglinge!« trompetete der Baron. Sein Schnurrbart stand ihm vor Aufregung zu Berge.

Aber von den verarmten Dons war nicht viel zu erwarten. Sie hatten offenbar keine Lust zu raufen, sie wollten essen und trinken. Da schleuderte der Baron einen Fuß über die Bank, drehte seine rechte Schnurrbarthälfte um seine Faust, heftete den Blick in die Ecke, wo die Grauen Offiziere saßen, und erklärte:

»Aber ich, meine Herrn, ich fürchte nicht einmal den Teufel! Ich zertrete das Graue Geschmeiß, wo es mir unter die Füße kommt!«

»Was winselt dieses Bierfaß dort?« erkundigte sich ein Grauer Hauptmann mit langem Gesicht lautstark.

Der Baron lächelte zufrieden. Er erhob sich mit Getöse vom Tisch und sprang mit seinem schweren Körper auf die Bank. Rumata zog die Brauen hoch und machte sich an seinen zweiten Flügel. »He da, Graue Höllenbrut!« brüllte der Baron so laut, als wären die Offiziere kilometerweit von ihm entfernt. »Wisset, daß vor drei Tagen ich, Baron Pampa Don Bau, den Euren einen hübschen Denkzettel verpaßt habe. Sie verstehen, mein Freund«, wandte er sich von der Zimmerdecke herunter an Don Rumata, »da habe ich zusammen mit Vater Kabani am Abend bei mir im Schloß ein ganz klein wenig getrunken. Plötzlich kommt mein Pferdeknecht dahergelaufen und meldet, daß eine Rotte Grauer dabei ist, die Schenke Zum goldenen Hufeisen zu zertrümmern. Meine Schenke. Auf meinem eigenen Grund und Boden! Ich kommandiere: Auf die Pferde! Und schon waren wir dort. Ich schwöre Ihnen bei meinen Sporen, es war eine ganze Rotte, so an die zwanzig Mann! Sie hatten drei meiner Leute geschnappt, sich dann besoffen wie die Schweine – trinken können diese Krämer nicht! – und begannen gerade, alles kurz und klein zu schlagen. Ich faßte einen an den Beinen, und los ging das fröhliche Treiben. Ich jagte sie bis zu den Schweren Schwertern … Blut gab es – Sie werden es nicht glauben, mein Freund –, Blut bis zu den Knien, und Kampfbeile blieben weiß Gott wie viele zurück!«

Hier wurde die Erzählung des Barons unterbrochen. Der Hauptmann mit dem langen Gesicht holte mit der Hand aus, und sein schweres Wurfmesser krachte gegen den Brustpanzer des Barons. »Na also!« sagte der Baron und zog einen riesigen Zweihänder aus der Scheide.

Mit unerwarteter Geschicklichkeit sprang er auf den Boden, sein Schwert durchschnitt in einem glitzernden Bogen die Luft und hieb einen Stützbalken durch. Der Baron fluchte. Die Decke senkte sich ein wenig, und auf die Köpfe rieselte der Verputz. Jetzt waren alle auf den Beinen. Die verarmten Dons drückten sich an die Wand. Die jungen Aristokraten kletterten auf den Tisch, um besser zu sehen. Die Grauen bildeten mit gezogenen Klingen einen Halbkreis und näherten sich mit ganz kleinen Schritten dem Baron. Nur Rumata blieb sitzen und überlegte, an welcher Seite des Barons er aufstehen könnte, ohne unter das Schwert zu geraten. Die breite Schwertklinge zischte unheilverkündend durch die Luft und beschrieb blitzende Kreise über dem Kopf des Barons. Der Baron konnte einen in Begeisterung versetzen. Es war an ihm etwas von einem Lasthubschrauber mit dem Propeller im Leerlauf. Als sie ihn von drei Seiten umzingelt hatten, waren die Grauen gezwungen, stehenzubleiben. Einer von ihnen stand unglücklicherweise mit dem Rücken zu Rumata, und Rumata beugte sich über den Tisch, faßte ihn am Kragen, warf ihn auf den Rücken gegen einige Teller mit Überbleibseln und versetzte ihm mit der Handkante einen Schlag hinters Ohr. Der Graue schloß die Augen und wurde steif. Der Baron schrie:

»Schneiden Sie ihm die Gurgel durch, edler Rumata, die übrigen erledige ich!«

Er wird sie alle umbringen, dachte Rumata mit Unbehagen. »Aufgepaßt!« sagte er zu den Grauen. »Wir werden uns doch nicht gegenseitig den schönen Abend verderben. Ihr kommt nicht gegen uns auf. Werft die Waffen weg und haut ab!«

»Das wäre ja noch schöner!« entgegnete der Baron aufgebracht. »Ich will mich schlagen! Sie sollen sich schlagen! Schlagt euch doch, ihr Teufel!«

Mit diesen Worten ging er auf die Grauen los, wobei er sein Schwert immer schneller über dem Kopf wirbeln ließ. Die Grauen wichen zurück und wurden bleich. Offenbar sahen sie zum erstenmal in ihrem Leben einen Lasthubschrauber. Rumata sprang über den Tisch. »Halten Sie ein, mein Freund!« sagte er. »Wir haben überhaupt keinen Grund, uns mit diesen Leuten zu streiten. Ihnen gefällt ihre Anwesenheit hier nicht? Schön, sollen sie weggehen!«

»Ohne Waffen gehen wir nicht«, sagte einer der Leutnants mürrisch. »Wir werden bestraft. Ich bin auf Patrouille.«

»Hol euch der Teufel, so geht eben mit den Waffen«, entschied Rumata. »Die Klingen in die Scheide, Hände hinter den Kopf, und einzeln hinaustreten! Und keine Faxen! Oder ich zerschlage euch die Knochen!«

»Wie sollen wir denn hinausgehen?« erkundigte sich gereizt der Hauptmann mit dem langen Gesicht. »Dieser Don versperrt uns doch den Weg!«

»Und werde ihn auch weiter versperren!« sagte der Baron starrköpfig.

Die jungen Dons lachten spöttisch.

»Nun gut«, sagte Rumata. »Ich werde den Baron halten, und ihr geht hinaus, einer nach dem andern, aber rasch … Lang werde ich ihn nicht halten können! He, dort in der Tür, gebt den Eingang frei!… Baron«, sagte er und faßte Pampa um die breite Taille, »mir scheint, Sie haben einen wichtigen Umstand vergessen. Dieses berühmte Schwert wurde doch von Ihren Vorfahren nur zum edlen Kampf verwendet, denn es steht geschrieben: Zieh nicht in den Tavernen!«

Auf dem Gesicht des Barons, der unterdessen noch immer sein Schwert drehte, erschien ein Anflug von Nachdenklichkeit. »Aber ich habe doch kein anderes Schwert«, sagte er unschlüssig. »Um so mehr …!« sagte Rumata bedeutungsvoll. »Glauben Sie …?« Der Baron schwankte noch immer. »Sie wissen es doch besser als ich!«

»Ja«, sagte der Baron, »Sie haben recht.« Er schaute zu seinen wütend wirbelnden Händen auf. »Sie werden es nicht glauben, Don Rumata, aber ich halte das drei oder vier Stunden hintereinander aus und werde überhaupt nicht müde dabei … Ach, warum kann sie mich jetzt nicht sehen?!«

»Ich werde es ihr berichten«, versprach Rumata. Der Baron seufzte und senkte das Schwert. Die Grauen schlichen geduckt an ihm vorbei. Der Baron blickte ihnen nach. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht …«, sagte er unschlüssig. »Was glauben Sie, habe ich richtig gehandelt, daß ich keinem von ihnen die Knochen zerschlagen habe?«

»Vollkommen richtig gehandelt«, versicherte Rumata. »Nun also«, sagte der Baron, als er sein Schwert in die Scheide steckte. »Wenn es uns schon nicht geglückt ist, uns zu schlagen, dann wollen wir wenigstens ordentlich trinken und etwas dazu zu beißen haben.« Er zog den Grauen Leutnant, der noch immer bewußtlos war, an den Beinen vom Tisch herunter und krähte mit schallender Stimme: »He, Wirt! Wein und was Anständiges zu essen!« Die jungen Aristokraten kamen an den Tisch und gratulierten untertänigst zum Sieg.

»Kleinigkeit, Kleinigkeit!« sagte der Baron selbstgefällig. »Sechs magere Milchbärte – und feige wie alle Krämer. Im Goldenen Hufeisen habe ich zwei Dutzend von der Sorte verjagt … Wie gut«, wandte er sich an Rumata, »daß ich damals nicht mein Kampfschwert bei mir hatte! Aus Zerstreutheit hätte ich es entblößen können. Obwohl ja das Goldene Hufeisen eigentlich keine Taverne ist, sondern bloß eine Schenke …«

»Manche behaupten auch«, sagte Rumata, »daß es heißt: Zieh nicht in den Schenken!«

Die Wirtin brachte neue Schüsseln mit Fleisch und mehr Wein. Der Baron krempelte die Ärmel auf und machte sich an die Arbeit. »Übrigens«, sagte Rumata, »wer waren denn die drei Gefangenen, die Sie im Goldenen Hufeisen befreiten?«

Der Baron hörte auf zu kauen und starrte Rumata an. »Aber, mein teurer Freund, ich habe mich wohl nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich hab niemanden befreit. Ja, ja, sie waren verhaftet, aber das ist eine Angelegenheit des Staates … Warum hätte ich sie befreien sollen? Irgendein Don wahrscheinlich, ein großer Feigling, ein alter Bücherwurm und sein Diener …« Er zuckte mit den Schultern. »Ja, natürlich«, sagte Rumata.

Da schoß dem Baron plötzlich das Blut ins Gesicht, und er rollte seine Augen furchterregend. »Was?! Schon wieder?!« brüllte er.

Rumata drehte sich um. In der Tür stand Don Ripat. Der Baron fuhr auf und warf dabei Bänke und Schüsseln um. Don Ripat blickte Rumata bedeutungsvoll an und ging wieder hinaus. »Ich bitte um Vergebung, Baron«, sagte Rumata im Aufstehen. »Der Dienst des Königs ruft …«

»Ah …«, murmelte der Baron enttäuscht. »Ich bemitleide Sie … Um nichts in der Welt würde ich dienen!« Don Ripat erwartete ihn vor der Tür. »Was gibt es Neues?« fragte Rumata. »Vor zwei Stunden«, teilte ihm Don Ripat geschäftig mit, »habe ich auf Befehl des Sicherheitsministers, Don Reba, Dona Okana verhaftet und in den Turm der Fröhlichkeit bringen lassen.«

»So«, sagte Rumata.

»Vor einer Stunde starb Dona Okana. Sie hat die Torturen nicht überstanden.«

»So«, sagte Rumata.

»Offiziell hat man sie der Spionage angeklagt. Aber …« Don Ripat wurde verlegen und schaute zu Boden. »Ich glaube … Mir scheint …«

»Ich verstehe schon«, sagte Rumata. Don Ripat blickte ihn schuldbewußt an. »Ich war machtlos …«, wollte er beginnen. »Das ist nicht Ihre Sache«, sagte Rumata heiser. Don Ripats Augen wurden zinnfarbig. Rumata nickte ihm leicht zu und ging an seinen Tisch zurück. Der Baron beendete gerade eine Schüssel mit faschierten gehackten Muscheln.

»Estorischen!« keuchte Rumata. »Und sie sollen reichlich bringen!« Er würgte einen Klumpen in der Kehle hinunter. »Wir werden uns jetzt unterhalten! Hol’s der Teufel, wir werden uns unterhalten …!«

… Als Rumata zu sich kam, entdeckte er, daß er mitten auf einem großen unbebauten Platz lag. Eine graue Dämmerung zog herauf, in der Ferne schrien mit heiseren Stimmen die Hähne ihren Weckruf. In dichten Schwärmen krächzten die Krähen und zogen über irgend etwas Unangenehmem in der Nähe ihre Kreise. Es roch nach Fäulnis und Verfall. Der Nebel in Rumatas Kopf zerteilte sich rasch, die gewohnte durchdringende Klarheit und Exaktheit der Sinneseindrücke kehrte zurück. Auf der Zunge zerging ihm angenehm die Minze des Kummers. Die Finger der rechten Hand schmerzten stark. Rumata hob seine verkrampfte geballte Faust vor die Augen. Die Haut an den Knöcheln war zerfetzt, und in die Faust war eine leere Ampulle Kasparamid gepreßt, ein starkes Mittel gegen Alkoholvergiftung, mit dem die Institute der Erde vorsichtshalber alle ihre Kundschafter auf den übrigen Planeten ausstatten. Offenbar hatte er, bevor er inmitten der großen unbebauten Fläche völlig in seine tierische Bewußtlosigkeit verfallen war, unbewußt und instinktiv den ganzen Inhalt der Ampulle in den Mund geschüttet.

Die Gegend war ihm vertraut. Vorn ragte das Skelett des niedergebrannten Observatoriumturms schwarz in die Höhe, und links davon stachen die Wachtürme des königlichen Palasts dünn wie Minarette in die Dämmerung. Mit einem tiefen Zug atmete Rumata die feuchtkalte Luft ein, dann machte er sich auf den Heimweg. Baron Pampa hatte sich in dieser Nacht einmal so ganz nach seinem Geschmack unterhalten: In Begleitung eines Häufchens geldloser Dons, die leicht dazu neigten, ihre Würde zu verlieren, vollführte er einen gigantischen Streifzug durch die Kneipen von Arkanar, wobei er eine unwahrscheinliche Menge Alkohol und Fressereien vertilgte und unterwegs nicht weniger als acht Raufereien hinter sich brachte. An acht Raufereien jedenfalls konnte Rumata sich genau erinnern, in die er eingegriffen hatte, um zu versuchen, die Streitenden wieder auseinanderzubringen und wenigstens das Ärgste zu verhindern. Alles übrige war in einem Nebel versunken. Aus diesem Nebel tauchten nur einmal raubtierhafte Fratzen mit Messern zwischen den Zähnen auf, dann wieder das fassungslos bittere Gesicht des letzten geldlosen Dons, den sich Baron Pampa im Hafen als Sklaven zu verkaufen bemühte, dann wieder ein vor Wut kochender Irukanier mit übergroßer Kartoffelnase, der mit bösen Augen sein Pferd von den edlen Dons zurückforderte. Anfangs blieb Rumata noch der Kundschafter. Er trank nicht schlechter als der Baron: Irukanischen, Estorischen, Soanischen und Arkanarischen; aber jedesmal, wenn er die Weinsorte wechselte, steckte er sich heimlich eine Ampulle Kasparamid in den Mund. Er bewahrte sein gesundes Urteilsvermögen und bemerkte, wie sich die Grauen Patrouillen in größerer Anzahl als gewöhnlich an den Kreuzungen und Brücken postierten, dann eine Wache berittener Barbaren auf der soanischen Überlandstraße, wo sie den Baron wahrscheinlich glatt erschossen hätten, wenn Rumata nicht den Dialekt der Barbaren beherrscht hätte. Er erinnerte sich deutlich, wie ihn der Gedanke durchzuckte: Die unbeweglichen Reihen wunderlicher Soldaten in langen schwarzen Überwürfen und Kapuzen, die vor der Patriotischen Schule Stellung genommen haben – das ist doch die Garde der Mönche. Was hat die Kirche hier zu suchen? hatte er gedacht. Seit wann mischt sich denn in Arkanar die Kirche in weltliche Angelegenheiten?

Er wurde nur sehr langsam betrunken, bekam aber dann doch einen Rausch, und zwar sehr plötzlich, wie mit einem Schlag. Und als er in einem lichten Augenblick den zertrümmerten Tisch in einem ihm völlig unbekannten Zimmer bemerkte, das entblößte Schwert in seiner Hand und die kläglichen händeringenden Gestalten der verarmten Dons ringsum, hätte er beinahe daran gedacht, daß es Zeit sei, nach Hause zu gehen. Aber es war schon zu spät. Eine Woge von toller Wut hatte ihn erfaßt und eine abscheuliche, unwiderstehliche Freude daran, alles Menschliche abwerfen zu können. Aber er war doch der Erdenbürger geblieben und der Kundschafter, ein Nachkomme der Menschen des Feuers und Eisens, die sich selber nicht schonen und auch vor sonst nichts haltmachen im Namen eines großen Zieles. Er konnte nicht Rumata von Estorien bleiben, Fleisch vom Fleisch der zwanzig Generationen kriegerischer Vorfahren, die wegen ihrer Räuberei und Trunksucht berühmt waren. Aber er war auch nicht mehr der Kommunarde. Er fühlte sich dem großen Experiment nicht mehr verpflichtet. Ihn kümmerten nur noch die Verpflichtungen sich selbst gegenüber. Und er hatte auch keine Zweifel mehr. Es war ihm alles klar, absolut alles. Er wußte nun genau, wer an allem schuld war, und er wußte auch genau, was er wollte: blindlings dreinschlagen, ins Feuer werfen, von den Stufen des Palasts herab auf die Lanzen und Mistgabeln der tobenden Menge …

Rumata fuhr zusammen und zog seine Schwerter aus den Scheiden. Die Klingen hatten Kerben, waren aber blank. Er erinnerte sich daran, mit jemandem gekämpft zu haben. Aber mit wem? Und wie hatte das alles geendet …?

… Ihre Pferde hatten sie versoffen. Die verarmten Dons waren irgendwohin verschwunden. Rumata – auch daran konnte er sich erinnern – hatte den Baron zu sich nach Hause geschleppt. Pampa Don Bau war unternehmungslustig, scheinbar völlig nüchtern und voll und ganz bereit, die Unterhaltung fortzusetzen – er konnte sich bloß nicht mehr auf den Beinen halten. Außerdem glaubte er aus irgendeinem Grund, er habe sich eben erst von der lieben Baronin verabschiedet und befinde sich auf einem Feldzug gegen seinen Erzfeind, den Baron Kaska, der sich bereits zu den äußersten Frechheiten erkühnt hatte (»Urteilen Sie doch selbst, mein Freund, dieser Halunke gebar aus seiner Hüfte einen sechsfingrigen Knaben und nannte ihn Pampa …«).

»Die Sonne geht schon unter«, erklärte er, als er einen Gobelin betrachtete, der einen Sonnenaufgang zeigte. »Wir könnten noch die ganze Nacht durchzechen, edle Dons, aber vor der Schlacht brauchen wir Schlaf. Keinen Tropfen Wein während des Kampfes! Außerdem wäre die Baronin unzufrieden.«

»Was? Ein Bett? Was für Betten auf einem Schlachtfeld? Unser Bett ist das gesattelte Streitroß.« Mit diesen Worten riß er den Gobelin von der Wand, wickelte sich bis zum Kopf in ihn ein und polterte mit Getöse in die Ecke unter den großen Leuchter. Rumata befahl dem Knaben Uno, einen Kübel Salzgurken und ein Faß Sauerkraut neben den Baron zu stellen. Der Knabe zeigte ein ärgerliches, verschlafenes Gesicht. »Da, da hat er sich eingerollt«, brummte er. »Die Augen schauen in verschiedene Richtungen …« – »Schweig, Dummkopf«, sagte Rumata daraufhin, und – dann geschah etwas. Etwas sehr Gemeines, etwas sehr Niederträchtiges, das ihn durch die ganze Stadt bis auf den freien Platz jagte. Etwas sehr, sehr Gemeines, Unverzeihliches, Peinliches …

Die Erinnerung wurde wieder wach, als er sich seinem Haus näherte. Da blieb er kurz stehen.

… Uno zur Seite schiebend, kroch er die Stiege hoch, stieß die Tür auf und stürzte zu ihr hin, als ihr Herr. Und beim Licht der Straßenlaterne sah er das weiße Gesicht und riesige Augen voll Schrecken und Abscheu – und in diesen Augen sich selbst, taumelnd, mit herunterhängender, speichelbedeckter Unterlippe, mit Fäusten, von denen die Haut in Fetzen hing, in besudelten Kleidern, sah er einen niederträchtigen, gemeinen blaublütigen Schuft. Und dieser Blick wirbelte ihn zurück, auf die Treppe, hinunter, in die Vorhalle, durch die Tür und hinaus auf die finstere Straße und weiter, weiter, immer weiter, soweit wie möglich weg …

Er biß die Zähne zusammen, fühlte, wie sich in seinem Innern alles verkrampfte und zu Eis erstarrte, dann öffnete er leise die Tür und trat auf Zehenspitzen in den Flur. In einer Ecke schnarchte friedlich wie ein gigantisches Walroß der Baron. »Wer da?« rief Uno, der auf einer Bank mit dem Wurfspieß auf den Knien schlummerte. »Still!« befahl Rumata flüsternd. »Marsch in die Küche. Einen Kübel Wasser, Essig und neue Kleider, marsch!«

Lange, heftig und genüßlich übergoß er sich mit Wasser, rieb sich mit Essig ab und befreite sich so vom Schmutz der Nacht. Uno hüllte sich ganz gegen seine Gewohnheit in Schweigen und ging seinem Herrn zur Hand. Und erst dann, als er ihm seine lächerliche fliederfarbene Hose mit den Fußspangen zuknöpfen half, meldete er mürrisch:

»In der Nacht, als Ihr hinausliefet, kam Kyra herunter und fragte, ob der Herr hier war oder nicht, meinte dann aber, daß ihr wohl geträumt habe. Ich sagte, daß Ihr von Eurer Nachtwache, die Ihr gestern abend angetreten habt, noch nicht zurück seid …« Rumata seufzte tief und wandte sich ab. Aber dadurch wurde nichts besser. Nur schlechter.

» … Und ich hab die ganze Nacht mit dem Wurfspieß in der Hand beim Baron gesessen: Ich hatte Angst, er würde im Rausch nach oben kriechen.«

»Danke, mein Kleiner, danke«, brachte Rumata mit Mühe heraus. Er zog Schuhe an, ging in den Vorraum und blieb kurz vor dem dunklen Metallspiegel stehen. Das Kasparamid wirkte zuverlässig. Der Spiegel zeigte einen eleganten edlen Don mit einem nach der anstrengenden Nachtwache ein wenig müden Gesicht. Aber in höchstem Maße wohlanständig. Die vom Goldreif eingefaßten feuchten Haare fielen schön und weich zu beiden Seiten seines Gesichts herab. Rumata richtete mit einer automatischen Handbewegung das Objektiv an der Stirn. Hübsche Szenen beobachten sie heut auf der Erde, dachte er düster.

Inzwischen graute der Morgen. Durch staubige Fenster blickte die Sonne. Die Fensterläden klapperten. Auf der Straße hörte man verschlafene Stimmen. »Gut geschlafen, Bruder Kiris?« – »Dank sei dem Herrn, Bruder Tika, gut. Die Nacht ist vorbei, Gott sei Dank.« – »Aber bei uns hat jemand gegen die Fenster geschlagen. Der edle Don Rumata, hört man, ist in der Nacht ausgegangen.« – »Man sagt, er hat einen Gast.« – »Da ist er also ausgewesen heute? Beim jungen Prinzen, denk ich, ist er gewesen und hat dabei nicht bemerkt, wie sie die halbe Stadt eingeäschert haben.« – »Was soll ich sagen, Bruder Tika. Danken wir Gott, daß wir in der Nachbarschaft einen solchen Don haben. Einmal im Jahr hält er Wache, und das ist schon viel …«

Rumata stieg die Treppe hinauf, klopfte und trat ins Herrenzimmer. Kyra saß im Lehnstuhl wie gestern. Sie hob die Augen und blickte ihm unruhig und erschrocken ins Gesicht. »Guten Morgen, meine Kleine«, sagte er, ging zu ihr hin, küßte ihr die Hände und setzte sich in den Lehnstuhl ihr gegenüber. Sie schaute ihn eine Zeitlang forschend an und fragte dann: »Bist du müde?«

»Ja, ein wenig. Und ich muß noch einmal fort heute.«

»Soll ich dir etwas vorbereiten?«

»Nein, danke. Uno macht das schon. Ach ja, vielleicht den Kragen bügeln …«

Rumata fühlte, wie zwischen ihnen eine Lügenwand emporwuchs. Zuerst ganz dünn, dann immer dicker und fester. Fürs ganze Leben! dachte Rumata bitter. Er saß da und bedeckte seine Augen mit den Händen, während sie ihm mit verschiedenen Parfüms vorsichtig den kräftigen Hals, die Wangen, die Stirn und die Haare einrieb. Dann sagte sie:

»Du fragst nicht einmal, wie ich geschlafen habe.«

»Nun wie denn, meine Kleine?«

»Ich hab geträumt. Einen schrecklichen, ganz schrecklichen Traum. Verstehst du?«

Die Mauer wurde dick wie ein Festungswall.

»An einem neuen Ort ist das immer so«, sagte Rumata heuchlerisch. »Und wahrscheinlich hat der Baron Radau geschlagen.«

»Soll ich das Frühstück bestellen?« fragte sie.

»Bestelle es!«

»Und welchen Wein hast du gern in der Früh?« Rumata öffnete die Augen.

»Laß Wasser bringen«, sagte er. »Am Morgen trinke ich nicht.« Sie ging hinaus, und er hörte, wie sie mit ruhiger, klangvoller Stimme zu Uno sprach. Dann kehrte sie zurück, setzte sich auf die Lehne seines Stuhls und begann ihm ihren Traum zu erzählen. Rumata hörte zu, zupfte sich nervös die Augenbrauen und fühlte, wie die Wand mit jeder Minute dicker und unerschütterlicher wurde und wie sie ihn für immer von dem einzigen Menschen trennte, der ihm lieb und wert war in dieser abscheulichen Welt. Und dann warf er sich plötzlich mit seiner ganzen Kraft gegen diese Wand. »Kyra«, sagte er. »Es war kein Traum!« Und es geschah nichts Außergewöhnliches.

»Mein Armer«, sagte Kyra. »Warte, ich bring dir gleich Salzgurken …«

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