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Das Leben der Heiligen



Ich bekenne. Ich höre ihre Stimmen, aber ich sehe nichts, so sehr blendet die Sonne in den Fenstern. Dass ich Gutes unterlassen. Der Ministrant neben mir gähnt. Und Böses getan habe. Nun muss auch ich gähnen, aber ich unterdrücke es und beiße die Kiefer so fest zusammen, dass mir Tränen in die Augen treten.

Gleich wird das Licht steiler einfallen, dann tritt aus dem Schattenmeer eine kleine Gruppe von Leuten: die fünf alten Frauen, die immer kommen, der freundliche dicke Mann, der nicht ganz so freundliche dicke Mann, die traurige junge Frau und der Fanatiker. Er heißt Adrian Schlüter. Oft schreibt er mir Briefe, von Hand, auf teurem Papier. Von E-Mails hat er offenbar noch nie gehört.

Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, so früh aufzustehen. Dröhnend hebt die Orgel an: Wir loben dich, wir preisen dich. Ich verfehle die meisten Töne, aber das gehört zu meinem Beruf, fast alle Pfarrer singen schlecht. Wir beten dich an. Die Orgel verstummt. Während wir gesungen haben, ist die Sonne gestiegen, in den Fenstern flimmert farbige Helligkeit, dünne Lichtspeere ziehen durch die Luft, in jedem ein Schneegestöber aus Staub. So früh ist es noch, und schon so heiß. Der Sommer steht in seiner gnadenlosen Phase.

Nachlass, Vergebung und Verzeihung gewähre uns der allmächtige und barmherzige Herr. Der Ministrant legt gähnend das Messbuch aufs Pult. Wenn es nach mir ginge, wäre der arme Junge noch im Bett. Es ist Freitag, ich muss heute keine Predigt halten, das ist schon einmal gut. Wort des lebendigen Gottes. Die Gemeinde setzt sich, Martha Frummel kommt nach vorne, achtundsiebzig Jahre alt, jeden zweiten Tag trägt sie morgens vor.

Erster Brief des Apostels Paulus an die Korinther. Als ich zu euch kam, Brüder, kam ich nicht, um glänzende Reden oder gelehrte Weisheit vorzutragen, sondern um euch das Zeugnis Gottes zu verkündigen. Martha Frummel ist eine sanfte und gute Frau, vielleicht eine der Gerechten der Welt, aber ihre Stimme klingt wie ein Leierkasten. Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten. Zudem kam ich in Schwäche und in Furcht, zitternd und bebend zu euch. Meine Botschaft und Verkündigung war nicht Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden, damit sich euer Glaube nicht auf Menschenweisheit stützte, sondern auf die Kraft des Herrn.

Wort des lebendigen Gottes. Wacklig geht Martha zurück zu ihrem Platz. Meine Gemeinde steht auf, es wird gesungen: Halleluja, halleluja, halleluja, halleluja. Die Sonne blendet nicht mehr, man erkennt die klobigen Bilder im Buntglas: Lamm, starrender Heiland und Brotscheibe im Strahlenkreuz. Diese Kirche ist so alt wie ich, die Wände absichtsvoll schief, der Altar ein unbehauener Granitblock, der aus irgendeinem Grund nicht im Osten steht, sondern auf der Westseite, sodass die Sonne beim Frühgottesdienst nicht, wie es sich gehört, die Gemeinde blendet, sondern mich.

Das Evangelium. In jener Zeit, als Jesus und seine Jünger auf ihrem Weg nach Jerusalem weiterzogen, redete ein Mann Jesus an und sagte: Ich will dir folgen, wohin du auch gehst. Meine Stimme klingt nicht schlecht; ich bin gut in meinem Beruf. Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester, der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. Zu einem anderen sagte er: Folge mir nach! Der erwiderte: Lass mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben. Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh und verkünde das Reich Gottes! Wieder ein anderer sagte: Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich von meiner Familie Abschied nehmen. Jesus erwiderte ihm: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes. Ich schlage das Buch zu. Wie passend, aber es ist Zufall, die vorgeschriebene Stelle für den 8. August 2008.

Und jetzt das Bekenntnis des Glaubens. Ich räuspere mich und trage vor, was ich gerne glauben würde: Gott, der Allmächtige, Jesus, sein Sohn, gekreuzigt, gestorben und begraben, am dritten Tage auferstanden, aufgefahren in den Himmel, von wo er kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten. Der Heilige Geist, die Auferstehung, die Gemeinschaft der Heiligen und das ewige Leben. Ja, es wäre schön.

Die Fürbitten. Wir bitten für die Dominikaner, damit sie mit Eifer Gottes Werk tun, denn heute ist der Tag des heiligen Dominik. Wir bitten dich, erhöre uns. Wir bitten für die suchenden Menschen, erhöre uns, für alle, die krank sind, bitten wir und für alle, die abgekommen sind von der Sicherheit des Glaubens. Im Seminar für Liturgiekunde haben wir einst diskutiert, welchen Sinn es haben soll, ein allwissendes Wesen um die Erfüllung eines Wunsches zu bitten. Pater Pfaffenbichel erklärte uns, die Fürbitte sei nicht wichtig, man könne sie auch weglassen. Aber er kannte meine Gemeinde nicht. Zwei Wochen ohne Fürbitten letztes Jahr, und schon dachten sie, Gott habe sie vergessen. Neun Beschwerde-Mails an mich und leider auch drei an den Bischof sowie ein offizieller Kirchenaustritt. Ich musste Frau Koppel eine Bonbonniere schicken und sie zweimal daheim besuchen, um sie umzustimmen.

Die Eucharistie. Der Ministrant gießt Wasser über meine Finger, die Orgel stimmt ihren Hochgesang an, ich hebe das Gefäß mit den Hostien. Der Moment hat Pathos und Kraft. Fast könnte man denken, diese Menschen glauben tatsächlich, eine Oblatenscheibe werde zum Körper eines gekreuzigten Mannes. Aber natürlich glauben sie es nicht. Man kann das nicht glauben, man müsste geistesgestört sein. Aber man kann glauben, dass der Priester es glaubt, der wiederum glaubt, seine Gemeinde glaube es; man kann es mechanisch wiederholen, und man kann sich verbieten, darüber nachzudenken. Heilig, heilig, heilig, skandiere ich, und tatsächlich ist mir, als umgäbe mich ein Feld von Kraft. Magische Gesten, jahrtausendealt, älter als die christlichen Zeiten, älter als Stahl und Feuer. Die ersten Menschen haben schon von zerfleischten Göttern phantasiert. Später dann die Legende von Orpheus, zerrissen von den Geistern der Rache, die Mär von Usir, hinabgestiegen ins dunkle Reich und wieder zusammengefügt zum lebenden Körper, viel später erst die Gestalt des Nazareners. Ein alter und blutiger Traum, Tag für Tag nachgespielt an Abertausenden Orten. Es wäre so leicht, den Vorgang zum symbolischen Akt zu erklären, aber genau das ist Häresie. Man muss es glauben, so ist es vorgeschrieben. Man kann es nicht glauben. Man muss, man kann nicht. Erhebet die Herzen, sage ich. Wir haben sie beim Herrn, sagen sie. Geheimnis des Glaubens. Deinen Tod verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit. Der Ministrant berührt die kleine Glocke, ihr Ton zittert in der Luft, die Bänke knarren, als meine Gemeinde in die Knie sinkt.

Ich hebe die Hostie. Es ist so still, dass man von draußen die Autos hört. Ich lege die Oblate zurück und mache die vorgeschriebene Kniebeuge. Sofort bricht mir der Schweiß aus, es fällt mir schwer, das Gleichgewicht zu halten, letzte Woche bin ich dabei umgefallen, es war furchtbar peinlich. Halt durch, Martin, halt dich gerade, halt durch! Schwankend und schweißgebadet komme ich wieder in den Stand. Beten wir, keuche ich, wie der Herr uns zu beten gelehrt hat.

Vater unser, der du, geheiligt werde, dein Reich, dein Wille, Sätze, verschliffen von tausend Jahren Wiederholung, erlöse uns, amen. Ich breche die Hostie, schiebe sie mir in den Mund und genieße für einen Moment den trockenen Geschmack. Gottes Körper ist das eher nicht, aber es schmeckt. Die Orgel beginnt das Agnus Dei, fünf Mitglieder meiner Gemeinde stellen sich zur Kommunion an. Ich fürchte die Alten, die sich das gewandelte Brot auf die Zunge legen lassen wollen, wie es vor dem Konzil üblich war; es ist schwer, etwas auf eine Zunge zu legen, ohne sie mit den Fingerspitzen zu berühren. Aber heute habe ich Glück, drei Paar Hände und nur eine einzige schrumpelige Greisenzunge. Als Letzter wie immer Adrian Schlüter.

Leib Christi, sage ich.

In Ewigkeit, amen, sagt er und blickt dabei nicht die Hostie an, sondern mich, starr und ohne Blinzeln, als hätte er mir etwas zu beweisen. Er wird wiederkommen, heute Abend, morgen früh, morgen Abend, jeden Tag, er ist meine Prüfung.

Die Orgel erklimmt die letzten Akkorde und verstummt. Ich setze zum Schlusswort an. Tragt den Geist dieser Feier in die Welt. Der Herr sei mit euch.

Und mit deinem Geiste.

Gehet hin in Frieden.

Dank sei Gott, dem Herrn.

Ich beeile mich, als Erster zum Ausgang zu gelangen, dort baue ich mich in der hereinströmenden Morgenhitze auf. Martha Frummels Hand fühlt sich an wie Sandpapier, Frau Wiegner hält sich gekrümmt, ihrem Herzen geht es nicht gut, ihrem Rücken auch nicht. Frau Koppel sieht gesund aus, aber so einsam wie immer. Frau Helgner wird nicht mehr oft kommen, sie ist sehr schwach. Wer tut das den Menschen an? Am liebsten würde ich sie umarmen, aber ich bin dick und schwitze, es würde ihnen nicht gefallen. Also schüttle ich bloß Hände und lächle. Schon sind sie gegangen, nur einer steht noch hier.

«Lieber Herr Schlüter, ich habe es ein wenig eilig.»

«Eine Glaubensfrage. Herr Pfarrer Friedland, es lässt mir keine Ruhe.»

Ich versuche, ihn interessiert anzusehen.

«Die Dreifaltigkeit. Ich habe Tertullian gelesen. Auch Rahner. Und natürlich Ratzinger, Seine Heiligkeit. Aber ich verstehe nicht.»

«Was verstehen Sie nicht?»

«Der Heilige Geist.»

Ich sehe ihn verzweifelt an.

«Ich verstehe den Sohn, ich verstehe den Vater, ich verstehe auch den Unterschied zwischen dem Heiligen Geist und dem Sohn. Aber was ist der Unterschied zwischen dem Heiligen Geist und dem Vater? Barth sagt, Gott ist das Subjekt, der Geist ist der Inhalt, und der Sohn ist das Geschehen der Offenbarung.»

«Es ist ein Mysterium.»

Das hat gewirkt. Er blinzelt. Was täte ich ohne dieses Wort?

«Es ist uns offenbart worden!» Ich zögere. ‹Offenbart› oder ‹geoffenbart›? Ich muss bald nachsehen. «Gott hat uns gesagt, dass es so ist. Wir können versuchen, es mit dem Verstand zu durchdringen. Aber der Verstand hat Grenzen. Und an diesen Grenzen steht der Glaube.»

«Ich muss es nicht verstehen?»

«Sie brauchen nicht.»

«Ich soll gar nicht?»

«Sie müssen nicht.»

Seine Hand ist weich und trocken, sein Händedruck fühlt sich nicht einmal unangenehm an. Für heute bin ich davongekommen. Er macht sich auf den Weg, und ich gehe erleichtert in die Sakristei.

Der Ministrant hilft mir, das Messgewand abzulegen. Sobald ich im Hemd dastehe, meide ich den Blick meines Spiegelbilds. Dabei ist es doch nicht schlimm: Auch Chesterton, der große Katholik, war wohlgenährt, und sogar Thomas von Aquin stelle ich mir rund und weise vor. Im Vergleich zu ihnen kann ich fast als schlank durchgehen. Ich setze mich auf die Couch. Auf der Lehne liegt mein Rubik-Würfel; wie immer freue ich mich, ihn zu sehen, und meine Hände greifen ganz von selbst nach ihm. Der Ministrant hat mich neulich gefragt, was das denn sei und wozu man es brauche. Sic transit gloria. Vor zwanzig Jahren war das der berühmteste Gegenstand der Welt.

«Du musst jetzt zur Schule?», frage ich den Jungen.

Er nickt, und aus reinem Mitleid beuge ich mich vor und streiche ihm über den Kopf. Er zuckt zusammen, sofort ziehe ich die Hand zurück. Wie dumm von mir. Ein Priester muss vorsichtig sein dieser Tage, harmlose Gesten gibt es nicht mehr.

«Ich habe eine Frage», sagt er. «Letzte Woche im Religionsunterricht. Es ging um Gottes Vorauswissen. Dass er weiß, wie wir uns entscheiden werden, noch bevor wir uns entschieden haben. Wie können wir trotzdem frei sein?»

Die Gazevorhänge bauschen sich, Lichtflecken tanzen übers Parkett. Das Kreuz auf dem Schrank wirft einen langen Schatten.

«Das ist ein Mysterium.»

«Aber –»

«Mysterium bedeutet, dass es uns offen …, geoffenbart wurde. Gott weiß, was du tun wirst. Du bist trotzdem frei. Deshalb bist du verantwortlich für deine Taten.»

«Das passt nicht zusammen.»

«Darum ist es ein Mysterium.»

«Aber wenn Gott weiß, was ich tue, kann ich doch nichts anderes tun. Wieso bin ich dann verantwortlich?»

«Das ist ein Mysterium!»

«Was heißt das?»

«Musst du nicht zur Schule?»

«Entschuldigung.» Der Messdiener steht in der Tür: ein Zisterzienser-Laienbruder namens Franz Eugen Legner. Er hat kleine Augen und ist immer schlecht rasiert. Seit zwei Monaten arbeitet er hier, zuvor war er irgendwo in den dunkelsten Alpen beschäftigt. Er hält die Kirche sauber, aktualisiert unsere Website, spielt Orgel und schickt, ich werde den Verdacht nicht los, dem Bischof Berichte über mich. Ich warte darauf, dass er einen Fehler macht, damit ich mich meinerseits über ihn beschweren kann – ein taktischer Präventivzug. Nur leider macht er keine Fehler. Er ist sehr vorsichtig.

«Du weißt, was du gestern getan hast», sagt er zu dem Jungen.

«Was habe ich denn getan?»

«Egal. Du weißt es. Du erinnerst dich daran.»

«Ja.»

«Und dennoch warst du frei. Du weißt es, und du hättest doch anders handeln können.»

«Weil es gestern war!»

«Aber für Gott», sagt Legner mit weich belegter Stimme, «gibt es nicht heute und nicht gestern. Nicht jetzt, nicht vorhin und nicht in hundert Jahren. Was du tun wirst, weiß er so genau, wie du weißt, was du gestern getan hast.»

«Das verstehe ich nicht.»

«Das brauchst du auch nicht», sage ich. «Es ist ein Mysterium.» Wider Willen bin ich beeindruckt. Sechzehn Semester, zwei davon auf der Gregoriana in Rom, aber das wäre mir nicht eingefallen.

Legner blickt mich an, als hätte er meine Gedanken gelesen. Triumphierend bleckt er die Zähne. Trotz allem tut er mir leid. Armer dürrer Intrigant, wohin hat deine Schlauheit dich gebracht?

Der Junge hebt seinen Schulrucksack auf, und schon ist er zur Tür hinaus. Sekunden später sehe ich ihn vor dem Fenster die Straße entlangschlurfen. Ich schließe die Augen und durchmische schnell die Farben auf dem Würfel. Dann öffne ich sie wieder und fange an, Ordnung herzustellen.

«Die Registerzüge pfeifen», sagt Legner. Er blickt nicht auf meine Hände, denn täte er es, müsste er beeindruckt sein, und diese Blöße will er sich nicht geben. «An der Orgel. Wir sollten eine Reparatur in Auftrag geben.»

«Vielleicht kann der Herr ein Wunder tun.» Warum in aller Welt habe ich das gesagt? Es war nicht einmal witzig. Die rote Seite ist wiederhergestellt.

Er betrachtet mich lauernd.

«Nur ein Scherz», sage ich müde.

«Er könnte es», sagt Legner.

«Zweifellos.» Auch die gelbe Seite.

Er schweigt, ich schweige.

«Aber er wird es nicht tun», sage ich dann. Die weiße.

«Unmöglich ist es nicht.»

«Nein, unmöglich nicht.»

Wir schweigen beide. Die blaue Seite ist fertig. Die grüne.

«Er könnte es», sagt Legner dann.

«Aber er wird nicht.»

«Das weiß man nie.»

«Nein», sage ich und lege den wiederhergestellten Würfel aus der Hand. «Das weiß man nie.»


Oft hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mich mit kühler Wut vergewissert, dass ich nicht schlecht aussah. Mein Gesicht war ebenmäßig, die Haut passabel, der Körper groß genug, Brust und Kinn breit, die Augen nicht zu klein, und schlank war ich auch. Also woran lag es?

Heute denke ich, es waren Zufälle. Es gibt kein Fatum, und hätte ich zum Beispiel Lisa Anderson an einem anderen Tag oder zumindest auf andere Weise gefragt, alles hätte anders kommen können, und jetzt hätte ich vielleicht eine Familie und wäre Fernsehredakteur oder Meteorologe.

Lisa ging in meine Klasse und saß schräg vor mir. Wenn sie kurze Ärmel trug, sah ich ihre Sommersprossen, und wenn die Sonne im Fenster stand, spielte das Licht auf ihrem glatten braunen Haar. Fünf Tage hatte ich gebraucht, um mir die richtigen Worte zurechtzulegen.

«Wollen wir ins Theater gehen? Wer hat Angst vor Virginia Woolf?»

«Wer hat … was?»

Nicht, dass ich gerne ins Theater gegangen wäre. Ich fand es langweilig, immer war es stickig, und man verstand die Leute auf der Bühne schlecht. Aber jemand hatte mir gesagt, dass Lisa sich dafür interessierte.

«So heißt das Stück.»

Sie betrachtete mich freundlich. Ich hatte nicht gestottert, und es fühlte sich auch nicht so an, als ob ich rot geworden wäre.

«Welches Stück?»

«Im … Theater.»

«Was ist das für ein Stück?»

«Wenn wir es sehen, wissen wir es.»

Sie lachte. Es lief gut. Vor Erleichterung lachte ich auch.

Sie wurde ernst.

Tatsächlich war etwas nicht richtig gewesen an meinem Lachen; ein wenig zu laut und zu hoch, ich war nervös. Schnell versuchte ich, es zu korrigieren und so zu lachen, wie es sich gehörte, doch ich hatte auf einmal vergessen, wie das ging. Als ich merkte, wie seltsam ich klang, wurde ich nun doch rot: Meine Haut prickelte heiß. Um über den Moment hinwegzukommen, lachte ich noch einmal, aber diesmal klang es sogar schlimmer, und plötzlich sah ich mich vor Lisa stehen und sie anstarren und immer noch lachen und mich dabei beobachten, wie ich lachend vor ihr stand und starrte und lachte. Die Röte brannte auf meiner Haut.

Heute gehe es leider nicht, sagte Lisa.

«Aber gerade hast du –»

Leider, sagte sie. Es sei ihr eben eingefallen. Keine Zeit.

«Schade», sagte ich heiser. «Und morgen?»

Sie schwieg eine Sekunde. Leider, sagte sie dann. Auch morgen nicht.

«Übermorgen?»

Leider habe sie viel vor in den nächsten Wochen.

Danach wagte ich es kaum noch, sie von hinten anzusehen. Aber ich konnte nicht verhindern, dass sie weiterhin in meinen Träumen auftauchte. Dort war sie liebevoll, bereitwillig und lauschte jedem meiner Worte. Manchmal waren wir allein im Wald, dann wieder lagen wir auf einer Wiese, manchmal auch waren wir in einem Zimmer, das Licht so schwach, dass ich die Rundung ihrer Schultern, die Umrisse ihrer Hüften, den sanften Fall ihres Haares nur schemenhaft sehen konnte. Wenn ich dann aufwachte, noch benommen vor Lust und schon gequält von Scham, konnte ich nicht begreifen, dass ich gerade eben noch hatte meinen können, so etwas geschähe wirklich.

Ein paar Monate später kam ich auf einer Party mit Hanna Larisch aus der Nebenklasse ins Gespräch. Ich hatte schon die zweite Flasche Bier getrunken, die Luft nahm eine samtig weiche Konsistenz an, und mit einem Mal unterhielten wir uns über den Würfel. Sie besaß auch einen, jeder besaß einen in diesen Jahren, aber wie fast alle hatte sie nie mehr als eine Seite geschafft.

Es sei ganz leicht, erklärte ich, man beginne am besten mit der weißen Fläche, dann setze man auf der blauen und der roten ein T zusammen: Grundkante und Mittelstein. Dann vervollständige man den zweiten Ring, indem man das Mittelstück nach rechts oder links eindrehe, dann bringe man das Mittelstück des dritten Rings an die richtige Stelle, wofür es wiederum mehrere Möglichkeiten gebe: so und so und so, ich zeigte die Handbewegungen. Der Trick liege darin, schnell zu entscheiden, welche Kantenstücke man kippen müsse, dafür gebe es keine Formel, das gehe nur mit Übung und Intuition.

Sie hörte mir zu. Der Würfel war damals auf seinem Zenit, im Fernsehen sprachen Experten über ihn, und in den Magazinen gab es Artikel über die Gewinner der Meisterschaften. Meine Stimme stockte sogar dann nicht, als ich wie absichtslos ihre Schulter berührte; und als ich einen Schritt näher trat, um sie besser hören zu können, denn die Musik war laut, strich sie ihre Haare zurück und sah mich aufmerksam an. Ja, dachte ich plötzlich, so kann es gehen, so macht man es wohl. Ich nahm eine neue Flasche, das Sprechen fiel mir leicht. Und das war das Unglück.

Ich redete und redete. Ich sprach davon, wie schwierig es war, ganz am Schluss noch die Ecken zu drehen. Ich sprach davon, dass ich mit etwas mehr Übung Chancen auf den Landesmeistertitel hatte und dass dann sogar die nationale Meisterschaft in Reichweite war. Ich spürte, dass Zeit verging und bald etwas geschehen musste, und um zu verstecken, wie nervös ich war, redete ich weiter.

Sie strich sich durch die Haare, sah auf den Boden, sah mich wieder an, und jetzt war etwas Gezwungenes in ihren Bewegungen. Besorgt redete ich schneller. Sie strich sich wieder durch die Haare, aber sie sagte nichts mehr. Und ich redete. Ich wartete darauf, dass ein Instinkt mir verraten würde, was ich jetzt tun musste, aber dieser Instinkt blieb stumm. Woher wussten andere, wie man vorging, wo stand es geschrieben, wie lernte man es? Ich sah auf die Uhr, um mich zu überzeugen, dass wir noch genug Zeit hatten, aber sie missverstand den Blick und sagte, sie müsse auch heimgehen. «Schon?», rief ich, und: «Nein!», und: «Jetzt noch nicht!», aber dann fiel mir nichts mehr ein. Beide schwiegen wir ins Dröhnen der Musik. Neben uns tanzten betrunkene Schüler, die Leiber aneinandergepresst im dichten Zigarettenrauch, am Fenster küssten sich zwei. Hanna ging zögernd hinaus.

«War es schlimm?», fragte meine Mutter. Sie war noch wach. Das war sie meistens, wenn ich spät heimkam. Sie saß in der Küche und rührte Zitronenwasser in eine Tasse Tee.

«Was denn?»

«Das weiß ich nicht, aber ich sehe dir an, es war schlimm.»

Sie legte den Löffel wie einen zerbrechlichen Gegenstand neben die Tasse. «Manche Dinge muss man wieder versuchen. Wieder und wieder. Trotz aller Niederlagen. Du denkst, es geht nur dir so, aber so ist es für alle. Es ist absurd, trotzdem weiterzumachen. Aber trotzdem macht man weiter.»

«Wovon redest du?», fragte ich trocken.

Sie schwieg einen Moment. «Von den Meisterschaften. Das wird. Du darfst dich nicht entmutigen lassen.»

Obwohl sie noch gar nicht alt war, wurden ihre Haare schon grau. Ein wenig rundlich war sie, und sie lächelte oft auf eine abwesende, traurige Art. In diesem Augenblick, in der Küche, nach Mitternacht, dachte ich vieles auf einmal: Ich dachte, dass sie natürlich recht hatte, und ich dachte, dass ich so etwas nicht mit ihr besprechen konnte, und ich dachte, dass ich in früheren Zeiten daheim bleiben und mit ihr hätte leben dürfen, befreit von Wettkampf und Not, umhüllt von ihrer Fürsorge, ohne dass jemand das sonderbar gefunden hätte. Erst im Zeitalter der Psychologen war so etwas verpönt.

Ich nahm mir auch eine Tasse. Aus dem Nebenzimmer, wo der Plattenspieler stand, kam leise Klaviermusik. Ich schenkte mir Tee ein. Musste man denn hinaus in die Welt? Konnte ich wirklich nicht hier leben, in diesem Haus, in dieser Küche?

Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie meine Gedanken gelesen. «Nicht aufgeben», sagte sie. «Das ist der ganze Trick.»

«Aber warum nicht?»

Sie schwieg. Ich nahm meine Tasse und ging zu Bett.

Wiederum ein paar Monate später befand ich mich in Sabine Wegners Wohnung. Wir waren allein, ihre Familie war ausgegangen, wir wollten Latein lernen. Sabine war fett. Sie war ein liebenswürdiges Mädchen, klug und warmherzig, aber alles an ihr war fett: Gesicht, Waden, Körper, Hände. Und ich, der noch nicht ahnte, wie ich selbst einmal aussehen würde, blickte so spöttisch auf sie herab wie alle anderen. Ihre gesamte Erscheinung sagte, dass sie nicht am Spiel teilnahm. Sie kam nicht in Betracht.

Wir saßen am Esstisch und entschlüsselten Tacitus. Sabine trank Pfefferminztee, ich trank Apfelsaft. Schließlich waren wir fertig, und ich stand auf.

«Aber die Nachrichten beginnen gleich», sagte sie.

Wir setzten uns aufs Sofa. Gorbatschow und Reagan gaben einander die Hände, Honecker jaulte in ein Mikrophon, Tom Cruise saß in einem Cockpit, eine Frau vor bläulichem Hintergrund kündigte Regen an, und schon begann die Werbung: Eine Hausfrau schwenkte ein Handtuch und sagte zu einem stolzen Mann mit Krawatte und Aktentasche, sauberer sei es noch nie geworden. Da legte ich Sabine die Hand auf den Nacken.

Im ersten Moment hielt ich es für ein Versehen. Warum tat ich das, was fiel mir ein?

Sie saß starr. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sie den Kopf nicht drehte. Nimm die Hand weg, dachte ich, jetzt geht es noch. Ich beugte mich zu ihr. In meinen Ohren rauschte es, mein Herz klopfte.

Aber sie ist so fett, dachte ich.

Und ich dachte: Aber sie ist ein Mädchen.

Da drehte sie den Kopf. Ihr Blick war eigentümlich verschwommen. Der große Schatten ihres Körpers, der süßliche Geruch des Parfums, meine Hand auf ihrem weichen Nacken.

Mir war schwindlig. So fett, dachte ich, ist sie nun auch wieder nicht. Und ihr Gesicht, verzerrt von der Nähe, war nicht hässlich. Ich sah, dass eine ihrer Wimpern sich gelöst hatte und auf dem Wangenknochen lag. Ich sah eine kleine Aufschürfung an ihrer Schläfe. Ich sah, dass ein Äderchen sich im Weiß des rechten Auges verzweigte, und ich sah die Poren ihrer Haut.

Ihre Lippen legten sich wattig auf meine. Unsicher drückte ich die Hand an ihre Hüfte. Sabine wich zurück, sah mir ins Gesicht, wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und kam wieder auf mich zu. Wir küssten uns ein zweites Mal, ihr Mund öffnete sich, und ich spürte ein kleines Lebewesen, ihre Zunge. Ihre Brust hob und senkte sich, mein Herz trommelte, ich bekam keine Luft, aber es ging auch, ohne zu atmen. Nach einer Weile zog sie den Kopf zurück. Ich atmete ein. Sie nestelte an meinem Gürtel.

Ich stand auf und ließ zu, dass sie meine Hose herunterzerrte. Dann fasste sie meine Unterhose, zog daran und betrachtete meine Nacktheit. Aus dem Fernseher plärrte der Tatort-Vorspann. Ich sah auf ihre Brüste. Rund waren sie, groß und voll unter der Bluse. Ich streckte die Hände danach aus, sie beugte sich vor, um mir entgegenzukommen. Die Tür öffnete sich, und ihr Vater kam herein, gefolgt von ihrer Mutter und ihrer Schwester, gefolgt von einem Dackel, gefolgt von meiner Mutter.

Keiner sagte ein Wort. Schweigend sahen sie zu, wie ich Unterhose und Hose hochzog und den Gürtel schloss. Der Hund grunzte, legte sich auf den Teppich, streckte die Beine in die Luft und wartete darauf, dass jemand ihn kraulen würde. Das Anziehen dauerte länger als sonst, meiner zitternden Hände wegen. In meinen Ohren rauschte es noch lauter als zuvor, und der Fußboden schien sehr weit weg. Der Hund seufzte bittend und vergeblich. Im Fernsehen sagte ein schnurrbärtiger Polizist etwas über einen Haftbefehl und die Kripo Duisburg. Ich durchquerte das schwankende Zimmer, nahm Lateinbuch, Schulheft, Wörterbuch und Füllfeder vom Esstisch und ging zur Tür. Sabines Eltern traten zur Seite, um Platz zu machen. Die Schwester kicherte. Meine Mutter ging mir voraus.

Wir stiegen die Treppe hinunter.

«Sie haben auf den Bus gewartet», sagte sie. «Ich bin zufällig vorbeigefahren. Ich habe angeboten, sie heimzubringen. Dann wollte ich dich mit nach Hause nehmen.» Sie schwieg ein paar Sekunden. «Entschuldige.»

Sie schloss die Autotür auf, ich setzte mich auf den Beifahrersitz. Sie drehte umständlich den Rückspiegel zurecht und ließ den Motor an.

«Ich habe nicht gedacht …!», sagte sie. «Ich meine. Weil Sabine. Ich hätte nicht gedacht …! Sie ist ja nicht gerade. Ich meine, ich wäre einfach nicht …»

Ich sagte nichts.

«Als ich deinen Vater kennengelernt habe …»

Ich wartete. Sie sprach nie über Arthur. Aber entweder war ihr eingefallen, dass es nicht der richtige Moment war, oder sie wollte es plötzlich doch nicht mehr preisgeben, jedenfalls führte sie den Satz nicht zu Ende. Sie sagte kein Wort, bis wir daheim ankamen.

Einfach aufgeben – was war so schlecht daran? Der Gedanke war kühl, groß und verlockend. Ich wurde Zweiter bei den Landesmeisterschaften, ich qualifizierte mich für die nationale Meisterschaft, aber ich wusste inzwischen, dass der Würfel sich nie würde zu einem Beruf machen lassen. Entgegen all meinen Hoffnungen waren die Regierungen nicht interessiert an den Diensten von Rubik-Könnern, auch die großen Firmen hielten nicht Ausschau nach ihnen, und sogar die Hersteller von Computerprogrammen und Spielzeugartikeln bevorzugten Leute mit Abschlüssen in Mathematik und Wirtschaft.

Ich aber fühlte mich wohl in halbdunklen Räumen, ich hörte gern Musik von Monteverdi, und mir gefiel Weihrauchduft. Ich mochte die Fenster alter Kirchen, ich mochte das Netz der Schatten in gotischen Gewölben, ich mochte die Darstellungen von Christus Pantokrator, dem goldumfassten Heiland als Herrscher der Welt, ich mochte Holzschnitte des Mittelalters, ich mochte auch die sanfte Menschlichkeit der Madonnen Raffaels. Ich war beeindruckt von den Bekenntnissen des Augustinus, ich fühlte mich belehrt von den Haarspaltereien des heiligen Thomas, ich empfand eine warme Zuneigung zur Menschengattung an sich, und ich hatte wirklich keine Lust, meine Tage in einem Büro zu versitzen. Außerdem war ich unbegabt dafür, mich selbst anzufassen. Eine Zeitlang hatte ich es regelmäßig getan, wütend, voll Ekel, überzeugt davon, eine ästhetische Verfehlung zu begehen, eine Sünde eher gegen die Schönheit als gegen die Moral. Ich sah mich dabei wie von weitem: ein rotgesichtiger junger Mann, ein wenig rundlich schon, hektisch und mit schmalen Augen an sich selbst hantierend. Und so gewöhnte ich es mir bald wieder ab. Man sollte auch das nicht zugeben im Zeitalter der Psychologen, aber der Würfel machte mehr Spaß.

Und die Sache mit Gott würde ich auch noch hinbekommen. Das dachte ich. So schwer konnte es doch nicht sein. Wenn man sich nur ein wenig Mühe gab, musste es zu schaffen sein.

Insgeheim rechnete ich damit, dass meine Taufe es in Ordnung bringen würde. Aber als der Moment tatsächlich da war, wurde die Kirche gerade renoviert: Die Wände waren kaum zu sehen hinter Stahlträgern, vor dem Altarbild hing eine Plastikplane, und leider funktionierte auch die Orgel nicht. Das Wasser fühlte sich an wie Wasser, der Taufpriester sah wie ein verstockter Wirrkopf aus, und neben meiner melancholisch lächelnden Mutter kämpfte mein Bruder Iwan sichtlich mit einem Lachanfall.

Und doch war ich zuversichtlich, dass der Glaube sich einstellen würde. So viele kluge Leute glaubten doch. Man musste nur mehr lesen, mehr Messen besuchen und mehr beten. Man musste üben. Sobald ich an Gott glauben würde, würde alles sich ordnen, dann würde mein Leben nachträglich zu einem Schicksal werden. Dann würde alles Fügung gewesen sein.


Den einundzwanzigsten Geburtstag feierte ich mit meinen Studienkollegen Finckenstein und Kalm in einem verrauchten Studentenlokal.

«Augustinus ist Schrumpf-Aristoteliker», sagte Finckenstein. «Er steckt tief in der Substanzontologie, deshalb ist er auch überholt!»

«Aristoteles ist nicht überholt», antwortete Kalm. «Er ist die Vernunft selbst!»

Nur in Studentenzeiten führt man solche Gespräche. Finckenstein trug dicke Brillen, hatte sehr rote Wangen und war fromm wie ein Kind. Kalm war ein sanftmütiger Fanatiker, Thomist und schlauer Verteidiger der Heiligen Inquisition. An den Wochenenden nahm er an Ruderwettkämpfen teil, er interessierte sich für Modelleisenbahnen und hatte, was ihn unter Kollegen zum Gegenstand verstohlenen Neides machte, eine Freundin. Vor ihm lag Arthurs Buch Mein Name sei Niemand. Ich tat, als würde es mir nicht auffallen, und keiner von ihnen erwähnte es. Es war auch nichts Ungewöhnliches daran, man sah es in diesem Jahr überall.

«Augustinus’ Zeittheorie fällt weit hinter die aristotelische Tradition zurück», sagte ich. «Alle zitieren von ihm den Satz, dass man weiß, was die Zeit ist, solange man nicht darüber nachdenkt. Das ist schön, aber als Erkenntnistheorie ist es schwach.»

«Erkenntnistheorie war ja noch nicht das Paradigma», sagte Kalm. «Das war die Ontologie.»

Erschöpft schwiegen wir. Ich legte Geld auf den Tisch und stand auf.

«Was betrübt dich, Friedland?»

«Der Gang der Jahre. Der Verlust der Zeit, die Nähe von Tod und Hölle. Du kennst das nicht, du bist erst neunzehn.»

«Gibt es die Hölle denn?», fragte Finckenstein. «Was sagt die Ontologie?»

«Geben muss es sie», sagte Kalm. «Aber leer könnte sie sein.»

«Und was geschieht dort? Feuer, das schmerzt, doch nicht verbrennt, wie bei Dante?»

«Dante schildert nicht die Hölle», sagte Kalm. «Dante schildert die Wahrheit unseres Daseins. In der Hölle sind wir allenfalls nachts, in den Momenten der Wahrheit, die wir Albtraum nennen. Was auch immer die Hölle sein mag, der Schlaf ist das Tor, durch das sie hereindringt. Jeder kennt sie, denn man ist jede Nacht dort. Die ewige Bestrafung ist einfach ein Traum ohne Erwachen.»

«Na dann», sagte ich. «Ich gehe schlafen.»

Draußen stand schon die Straßenbahn. Ich stieg ein, und sofort fuhr sie los, als hätte sie auf mich gewartet. Ich setzte mich.

«Entschuldigung», sagte eine dünne Stimme. Vor mir kauerte ein zerlumpter Mann mit wucherndem Bart und zwei prall gefüllten Plastiksäcken. «Geben Sie?»

«Bitte?»

«Geld», sagte er. «Was ihr dem geringsten meiner Brüder. Das habt ihr mir. Sagt der Herr.»

Er hielt mir eine schrundige Handfläche hin. Selbstverständlich griff ich in die Jackentasche, aber im gleichen Moment war er auch schon in die Knie gegangen. Dann legte er sich auf den Rücken.

Verblüfft beugte ich mich vor. Er lächelte und rollte langsam, fast genüsslich hin und her – von der linken Schulter auf die rechte und wieder zurück. Ich sah mich um. Es waren nur noch wenige Leute im Waggon, und sie blickten alle starr woandershin.

Aber es war meine Pflicht. Das Christentum verlangte es. Ich stand auf und beugte mich über ihn.

«Brauchen Sie Hilfe?»

Er legte eine Hand um meinen Knöchel. Sein Griff war erstaunlich fest. Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich, zwei Frauen stiegen eilig aus, der Waggon war nun fast leer. Er sah mich an. Sein Blick war klar, scharf und aufmerksam, nicht verwirrt, eher neugierig. Ein Rinnsal Blut lief aus seiner Nase und verlor sich im grauen Filz des Bartes. Die Türen schlossen sich, die Bahn fuhr an. Ich versuchte, mein Bein aus seinem Griff zu ziehen. Aber er ließ nicht los.

Kein anderer Fahrgast blickte her. Wir waren im zweiten Waggon, der Fahrer schien unerreichbar fern. Seine freie Hand griff zu und klammerte sich so fest um mein anderes Bein, dass ich die Fingernägel spürte. Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich, wieder stiegen Leute aus, die Bahn wartete kurz, die Türen schlossen sich, und weiter ging es. Ein angebissener Apfel rollte unter einem Sitz hervor, änderte seine Richtung und verschwand unter einem anderen Sitz. Ich konnte nicht weg, der Mann war stärker, als er aussah. Er fletschte die Zähne, blickte fragend in mein Gesicht und schloss die Augen. Ich riss an meinem rechten Fuß, aber ich kam nicht frei. Sein Atem ging hastig, sein Bart zitterte. Er sog scharf die Luft ein, dann spuckte er. Ich fühlte etwas Warmes und Weiches an meiner Wange herablaufen. Er fauchte.

Da trat ich zu. Er wollte sich aufrichten, aber ich trat ein zweites Mal, und er sank zu Boden. Meine Zehen schmerzten. Ich packte einen der Haltegriffe, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und trat ein drittes Mal. Eine seiner Hände löste sich, die andere nicht, ein Plastiksack fiel um, und Dutzende Papierknäuel rollten heraus: Zeitungsseiten, Buchseiten, Seiten aus Hochglanzmagazinen und Werbebroschüren. Aus dem anderen Sack drang ein Wimmern; mir war, als hätte sich etwas darin bewegt. Die Bahn hielt, die Türen öffneten sich, ich trat auf sein Handgelenk, er stöhnte, und endlich ließ auch die Linke los. Ich sprang hinaus und begann zu rennen.

Ich rannte lange. Erst als ich nicht mehr konnte, blieb ich stehen und sah keuchend auf die Uhr. Zehn Minuten nach Mitternacht. Mein Geburtstag war vorbei.


«Er war es nicht», sagte Iwan. «Ganz sicher.»

«Wer weiß.»

«Es war nicht der Teufel! Auch wenn dir das recht wäre. Ihr Leute sucht immer nach etwas, das euren Glauben stärkt. Aber er war es nicht.»

Wir saßen in dem Raum, der einst Arthurs Bibliothek gewesen war. An den Wänden reihten sich Buchrücken, von draußen war das friedliche Geräusch eines Rasenmähers zu hören.

«Glaube ist nicht so wichtig», sagte ich.

«Ach.»

«Der Priester hat die Kraft, zu binden und zu lösen. Egal, was er dabei denkt. Er muss nicht ans Sakrament glauben, damit das Sakrament sich vollzieht.»

«Und das glaubst du?»

«Das muss ich gar nicht glauben, es stimmt in jedem Fall.»

Bald würde Iwan in Oxford studieren. Jeder wusste, dass ihm Großes bestimmt war, und niemand bezweifelte, dass er in zehn Jahren ein berühmter Maler sein würde. Immer hatte ich mich unsicher gefühlt in seiner Gegenwart, immer unterlegen, aber der Katholizismus bot mir plötzlich eine Position, eine Haltung und ein Argument zu allem.

Iwan setzte zu einer Antwort an, da flog die Tür auf, und er kam ein zweites Mal herein. Obgleich ich darauf vorbereitet war, funktionierte der Zaubertrick, und ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen.

«Würdest du mir bitte nie mehr dieses Buch hinlegen?» Eric warf eine Ausgabe von Mein Name sei Niemand auf den Tisch. «Ich werde das nicht lesen.»

«Aber es ist interessant», sagte Iwan. «Ich wüsste gerne, was du –»

«Interessiert mich nicht. Von mir aus kann er sterben. Ist mir egal, was er schreibt.»

«Eric meint das nicht so», sagte Iwan. «Er ist nur manchmal theatralisch.»

«Und du?», fragte Eric mich. «Meinst du das ernst? Beten, Kirche, Priesterseminar? Du meinst das wirklich ernst? Wir sind doch Juden, geht das überhaupt?»

«Wir sind keine Juden», sagte Iwan.

«Aber unser Großvater –»

«Trotzdem», sagte Iwan. «Wir sind leider nichts. Du weißt das.»

«Martin macht das ohnehin nur, weil er keine Freundin findet.»

Ich konzentrierte mich darauf, ruhig zu atmen. Auf keinen Fall durfte ich rot werden.

«Ich bin entsetzt von der Plattheit deines Geistes», sagte Iwan. «Martin ist ein ernsthafter Mensch. Ich weiß, dass du dir das nicht vorstellen kannst, aber er glaubt und will dienen. Du wirst das nie verstehen.»

Eric starrte mich an. «Im Ernst? Die Jungfrau, Wasser in Wein, die Auferstehung? Wirklich?»

«Das ist ein Prozess.» Ich räusperte mich. «Im Glauben ist man immer auf dem Weg. Man ist nie –»

«Du willst einfach nicht arbeiten!»

Ich stand auf. Wie schaffte er es immer so schnell, mich wütend zu machen? Wieso stimmte immer alles, was er sagte, und wieso stimmte es immer auf so falsche Art?

«Wenn dir das Beten irgendwann zu viel wird, kommst du angekrochen», sagte Eric. «Dann flehst du darum, dass ich dich anstelle.»

«Und was tust du dann? Wenn ich angekrochen komme?»

«Dann stelle ich dich an, was sonst? Du bist mein Bruder.» Er lachte und ging grußlos hinaus.

«Er ist nervös in letzter Zeit», sagte Iwan. «Er schläft zu wenig. Nimm ihn nicht ernst.» Er schlug Mein Name sei Niemand auf, blätterte geistesabwesend ein paar Seiten um und klappte es wieder zu. «Ich habe auch mal geglaubt, ich wäre dem Teufel begegnet. Es war im Kaufhaus, da war ich zehn Jahre alt. Eine Frau an einem Wühltisch, sie sah nicht ungewöhnlich aus, und sie tat auch nichts Besonderes, aber ich wusste: Wenn ich ein paar Sekunden länger bleibe, passiert etwas Schreckliches. Mutter hat mich erst eine Stunde später gefunden, hinter einem Kühlschrank in der Elektroabteilung, sie war ganz außer sich vor Angst. Ich glaube immer noch, ich habe richtig reagiert. Wenn sie mich gesehen hätte …» Er blickte nachdenklich zum Fenster. Draußen schwang ein Gärtner seine Heckenschere, das Metall blitzte in der Sonne. «Aber das ist Unsinn. Ich war zehn.» Er sah auf die Tischplatte, dann zu mir, als hätte er für einen Moment vergessen, dass ich da war. «Und sonst? Absichten, Pläne? Macht man doch an seinem Geburtstag. Vorsätze?»

«Ich trainiere für die Meisterschaften.»

«Der Würfel schon wieder?»

«Der Würfel.»

«Viel Glück. Aber wichtiger …»

«Ja?»

«Nichts.»

«Sag schon!»

«Na ja, irgendjemand muss es wohl mal sagen. Solange noch Zeit ist, etwas dagegen zu tun. Du solltest …»

«Ja?»

«Egal.»

«Sag es!»

«Abnehmen, frommer Bruder. Noch geht es, aber später wird es immer schwieriger. Du solltest wirklich abnehmen.»


Ist Mein Name sei Niemand ein fröhliches Experiment und damit das zweckfreie Produkt eines spielenden Geistes, oder ist es ein böswilliger Angriff auf die Seele jedes Menschen, der es liest? Niemand weiß es so recht, vielleicht stimmt ja beides zugleich.

Den Anfang bildet eine altmodische Novelle über einen ins Leben aufbrechenden jungen Mann, von dessen Namen wir nur den ersten Buchstaben erfahren: F. Die Sätze sind wohlgebaut, die Erzählung fließt kraftvoll, fast läse man mit Vergnügen, hätte man nicht ständig das Gefühl, man würde verspottet. F wird auf die Probe gestellt, er bewährt sich, kämpft, lernt, gewinnt, lernt mehr, verliert und entwickelt sich fort, alles nach altbewährter Manier. Doch einem ist, als bedeute kein Satz einfach sich selbst, als beobachte die Geschichte ihren eigenen Fortgang und als stehe in Wahrheit nicht die Hauptfigur im Zentrum, sondern der Leser, der all dem so bereitwillig folgt.

Nach und nach häufen sich kleine Unstimmigkeiten. F ist daheim, blickt hinaus in den Regen, zieht Jacke und Mütze an, nimmt seinen Regenschirm, verlässt das Haus, flaniert durch die Straßen, in denen es nicht regnet, zieht Mütze und Jacke an, nimmt den Regenschirm und verlässt das Haus, als hätte er das nicht eben schon getan. Kurz danach tritt ein entfernter Verwandter von ihm auf, von dem wir zuvor in einem Nebensatz erfahren haben, dass er bereits seit zehn Jahren tot ist, ein harmloser Jahrmarktsbesuch eines Großvaters mit seinem Enkel verwandelt sich in einen labyrinthischen Albtraum, eine folgenreiche Ungeschicklichkeit von F wird ohne Umschweife rückwirkend ungeschehen gemacht. Natürlich bildet man sich Theorien. Nach und nach hat es den Anschein, als käme man dem Verstehen näher, dann meint man sich bereits kurz davor, aber da bricht die Erzählung ab – einfach so, ohne Warnung, mitten im Satz.

Wieder versucht man, sich darauf einen Reim zu machen. Vielleicht ist der Held gestorben. Vielleicht sind die Unstimmigkeiten Vorboten des Endes, die ersten schadhaften Stellen gewissermaßen, bevor das Gewebe vollends zerreißt. Denn was, scheint der Autor zu fragen, ist der Tod anderes als ein Ende mitten im Satz, über das der, den es betrifft, nie hinauskommt, als eine lautlose Apokalypse, in der nicht ein Mensch aus der Welt, sondern die Welt selbst verschwindet, ein Ende aller Dinge ohne Schlusspunkt?

Im zweiten Teil geht es um etwas anderes. Darum nämlich, so versichert der Autor, dass du, jawohl du, und das ist keine rhetorische Wendung, dass also du nicht existierst. Du meinst, du liest das hier? Selbstverständlich meinst du das. Aber das hier liest keiner.

Die Welt ist nicht so, wie sie aussieht. Es gibt keine Farben, sondern Wellenlängen, es gibt keine Töne, sondern schwingende Luft, es gibt eigentlich auch keine Luft, sondern verkettete Atome im Raum, wobei «Atome» ja auch nur ein Wort ist für Energieverschlingungen ohne Form und festen Ort, und was ist überhaupt Energie? Eine Zahl, die konstant bleibt, in allen Veränderungen, eine abstrakte Summe, die sich erhält, nicht Substanz, sondern Verhältnis, also reine Mathematik. Je genauer man hinsieht, desto leerer wird alles, desto irrealer sogar die Leere. Denn auch der Raum ist bloß eine Funktion, ein Modell unseres Geistes.

Und der Geist, der diese Modelle erschafft? Vergiss nicht: Im Gehirn wohnt niemand. Kein unsichtbares Wesen schwebt durch die Nervenwindungen, blickt durch die Augen, horcht von innen an den Ohren und spricht durch deinen Mund. Augen sind keine Fenster. Da sind Nervenimpulse, aber niemand liest sie, zählt sie, übersetzt sie und denkt über sie nach. Such, so lange du willst, niemand ist zu Hause. Die Welt ist in dir, und du bist nicht da. Denn «du», das ist auch von innen gesehen bestenfalls ein Provisorium, notdürftig zusammengeflickt: ein paar Millimeter Blickfeld, das an den Rändern schon ins Nichts rinnt, darin blinde Flecken, ausgefüllt von Gewohnheit und einem Gedächtnis, das wenig bewahrt und das meiste erfindet. Dein sogenanntes Bewusstsein ist ein Flackern, ein Traum ist es, den niemand träumt.

So geht es über fünfzig Seiten, und beinahe funktioniert es, fast ist man überzeugt. Nur beschleicht einen das Gefühl, auch dies sei nur eine ironische Demonstration von – ja, was eigentlich? Denn schon ist man beim Schlusskapitel. Es ist kurz und gnadenlos und handelt, daran besteht kein Zweifel, von Arthur selbst.

F tritt wieder auf, und es geschieht auf wenigen Seiten die Zergliederung eines Menschen: Begabt, ohne Mut, zögerlich, egozentrisch bis an die Grenze der Gemeinheit, angeekelt von sich selbst, bald schon gelangweilt von der Liebe, unfähig, sich ernsthaft mit etwas abzugeben, auch die Kunst bloß als Vorwand für Untätigkeit nützend, nicht gewillt, sich für andere zu interessieren, nicht imstande, Verantwortung zu übernehmen, zu feige, sich dem eigenen Scheitern zu stellen, ein schwacher, unehrlicher, überflüssiger Mensch, talentiert nur für leere Gedankenspiele, für Scheinkunst ohne Substanz und für das lautlose Entkommen aus jeder unangenehmen Situation, hat endlich den Punkt erreicht, an dem er aus reinem Überdruss am eigenen Selbst behaupten muss, niemand habe ein Selbst und jedes Ich sei eine Täuschung.

Aber auch dieser dritte Teil ist nicht so klar, wie es scheint. Ist dieser Selbsthass wirklich echt? Nach den Ausführungen zuvor gibt es doch gar kein Ich, und all die Gewissenserforschung hat keinen Sinn. Welcher Teil hebt welchen auf? Der Autor gibt keinen Hinweis.

Iwan, Eric und ich hatten je ein Exemplar mit der Post bekommen, in einem Kuvert aus braunem Packpapier, ohne Widmung oder Absender. Das Buch wurde nirgendwo besprochen, und ich sah es in keinem Geschäft. Erst ein Jahr später fiel es mir zum ersten Mal auf der Straße auf. Ich war auf dem Heimweg von der Universität, und für einen Moment hielt ich, was ich sah, für eine Einbildung. Aber da war es wirklich, in den Händen eines alten Herrn auf einer Bank, der beim Lesen angespannt vor sich hin lächelte, offenbar gefangen vom Zweifel an seiner eigenen Existenz. Ich bückte mich und blickte auf den einfarbig blauen Umschlag, der Herr sah beunruhigt auf, ich ging schnell weiter. Zwei Wochen später sah ich das Buch wieder, diesmal in der U-Bahn, ein Mann mit Ledertasche und fransigem Hut las darin. Als ich es in der nächsten Woche ein zweites Mal sah, standen schon in allen Zeitungen Artikel darüber, da hatte es gerade den ersten Menschen in den Tod gelockt.

Eine verträumte Seele mit metaphysischer Neigung war es gewesen, ein Medizinstudent in Minden, der nach der Lektüre ein wirres Experiment entworfen hatte, um sich seines Daseins zu versichern. Niemand verstand die Einzelheiten, aber es hatte etwas mit einem Minutenprotokoll seiner Seelenregungen zu tun, mit kontrollierten Nadelstichen, die er abwechselnd sich selbst und einem bedauernswerten Meerschweinchen zufügte, sowie mit einem genau vorbereiteten und mit viel Bedacht ausgeführten Sprung von einer Eisenbahnbrücke. In der Woche darauf sprang eine junge Frau vom Münchner Fernsehturm, in den Händen eine Ausgabe von Mein Name sei Niemand, was eine weitere Flut von Zeitungsartikeln auslöste, die wiederum zur Folge hatte, dass der Besitzer eines Obstladens in Fulda gemeinsam mit seiner Frau Gift nahm. Zwischen den beiden Leichen lag Arthurs Buch.

Damit war die Selbstmordwelle auch schon am Ende, doch die Welle der Artikel, Kommentare und Gegenkommentare hielt noch eine Weile an, zumal kurz darauf ein bekannter Radiomoderator auf eigenen Wunsch in die geschlossene psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, nachdem er in seiner Sendung erklärt hatte, von seiner substanziellen Nichtexistenz überzeugt zu sein. Dass er danach eine längere Passage aus Mein Name sei Niemand vorgelesen hatte, führte dazu, dass der zuständige Parlamentsausschuss die Frage debattierte, ob man das Gesetz zur Indizierung gefährlicher Filme, Videospiele und Bücher nicht viel strenger anwenden müsse. Das provozierte höhnische Erklärungen mehrerer Abgeordneter sowie die Stellungnahme eines Bischofs, was wiederum eine neue Welle von Kommentaren nach sich zog, in der auch ausführlich darüber spekuliert wurde, wer denn dieser Arthur Friedland sei, der sich derart still verhielt, sein Buch nicht verteidigte, nicht auftrat und sich nicht einmal fotografieren ließ.

Als das Thema dermaßen erschöpfend beredet worden war, dass es niemanden mehr gab, den es nicht langweilte, war Arthur berühmt. Sein zweites Buch, der Roman Die Stunde des Jägers, ein scheinbar konventioneller Krimi über einen zutiefst melancholischen Detektiv, der trotz großer Intelligenz und verzweifelter Bemühung nicht in der Lage ist, einen eigentlich recht einfachen Fall zu lösen, stand mehrere Wochen lang auf den unteren Rängen der Bestsellerlisten.

Bald darauf erschien der Roman An der Mündung des Flusses: Eines Mannes Geschick verzweigt sich wieder und wieder durch Entscheidungen oder durch Wechselfälle des Glücks. Jedes Mal werden beide Varianten beschrieben, beide möglichen Lebenswege, die an ein und demselben Punkt ihren Ausgang nehmen. Immer öfter mischt sich der Tod hinein, zwischen einem gelungenen Dasein und dessen schrecklichem Ende liegt oft nur ein Augenblick der Unaufmerksamkeit oder ein winziger Zufall – immer mehr Wege führen zu Krankheit, Unfall und Sterben, nur ganz wenige zu hohem Alter.

Dieses Buch berührte mich auf das Merkwürdigste, und bis heute macht es mir Angst. Zum Teil weil es zeigt, wie unübersehbar die Konsequenzen jeder Entscheidung und jeder Bewegung sind – jede Sekunde kann alles zunichtemachen, und wenn man das zu Ende denkt, wie lässt es sich überhaupt leben? Zum Teil aber auch, weil ich nie den Verdacht loswerden konnte, dass es mehr als Arthurs andere Bücher mit mir zu tun hat: mit einem lange vergangenen Nachmittag im Sommer, an dem mich ein Auto beinahe getötet hätte, was jetzt nur mehr eine ferne Erinnerung ist, eine kurze Anekdote und allenfalls dann und wann ein Echo in schlechten Träumen nach einem schweren Abendessen.



Das Holz knarrt, eine Gestalt schiebt sich herein und sinkt in die Knie. Ich lege den Würfel weg. Gerade eben habe ich es in achtundzwanzig Sekunden geschafft, meine Bestzeit liegt bei neunzehn, aber das ist lange her.

«Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes», sage ich ärgerlich.

«In Ewigkeit, amen», antwortet eine heisere Männerstimme.

«Ich höre.»

Er schweigt, atmet schwer, sucht nach Worten. Ich blicke wieder auf den Würfel, aber es geht nicht, man könnte die Drehung der Gelenke hören, er würde es merken.

«Unkeuschheit. Ich habe mich selbst befriedigt. Ich tue es ständig!»

Ich seufze.

«Gerade vorhin. Auf der Straße. Keiner hat es gesehen. Ich habe eine Frau und eine Freundin. Beide wissen voneinander, aber sie wissen nichts von meiner zweiten Freundin, die aber von ihnen beiden weiß. Dann habe ich noch eine dritte Freundin, von der sie alle nicht wissen. Sie weiß von den anderen auch nichts, sondern denkt, ich lebe allein.»

Ich reibe mir die Augen. Müde bin ich, und es ist so heiß.

«Das Ganze ging nicht mehr gut, als Klara meine Frau auf Facebook verspottet hat. Sie hat nicht daran gedacht, dass Pia ja ihre Freundin ist und das lesen kann.»

«Ihre Freundin?»

«Facebook-Freundin. Ich habe allen gesagt, jetzt höre ich auf, jetzt wird es anders. Aber es ist so schwer! Wie machen Sie es denn? Nie eine Frau! Ich werde schon nach zwei Stunden zittrig.»

«Sprechen wir von Ihnen.»

«Außerdem habe ich Geld genommen.»

«Ach.»

«Nicht sehr viel. Tausend Euro. Aus der Firmenkasse.»

«Was ist Ihr Beruf?»

«Ich bin Steuerberater. Meine Freundin arbeitet in meiner Kanzlei.»

«Welche?»

«Welche Kanzlei?»

«Welche Freundin!»

«Na Klara. Die, von der meine Frau weiß.»

«Warum wird man Steuerberater?»

«Bitte?»

«Warum Steuerberater? Ich habe mich das immer wieder gefragt.»

Er schweigt. Aber warum soll ich keine Fragen stellen, wo steht geschrieben, dass ich in der Beichte nicht auch etwas lernen darf?

«Ich mag Kreuzworträtsel», sagt er dann. «Wenn alles säuberlich ausgefüllt ist. So richtig. Ich mag das. Man bekommt die Belege, es ist erst ein Chaos, aber dann fängt man mit dem Ausfüllen der Formulare an. Hierhin etwas und dorthin etwas, dieses Feld und jenes Feld, irgendwann stimmt alles. Im Leben ist ja sonst nie etwas in Ordnung. Brauchen Sie einen Steuerberater?»

«Nein, nein. Danke.»

«Das Geld war nicht von einem Klienten. Das dürfen Sie nicht glauben. Es war aus der Kanzleikasse für Büroausgaben. Ein Freund von mir hat einen Vertrieb für Möbel, ich habe ihm gesagt, ich kaufe neue Drehstühle, aber du musst die Rechnung etwas höher ausstellen, dreitausend Euro etwa, und dann –»

«Eben haben Sie gesagt: Tausend!»

«– hat er die Stühle geliefert, und ich habe bezahlt und die Differenz mit ihm geteilt. Leider wollte er dann das Geld, das ich bekommen habe, als Sonderausgabe von der Steuer absetzen, und da er unser Klient ist, musste ich ihm sagen, dass das nicht geht. Ich habe ein paar Buchhaltungstricks versucht –»

«Reden wir von den Frauen.»

«Es ist furchtbar, Herr Pfarrer! Sie rufen ständig an.»

«Wer?»

«Alle außer meiner Frau. Die ruft nie an. Warum auch. Und jeden Tag besuche ich eine von ihnen, ich habe das gut organisiert, aber wenn es zu lange dauert, muss ich trotzdem … so wie vorhin! Wie halten Sie das aus, Herr Pfarrer? Einmal habe ich es eine Woche lang geschafft. Ich bin zu Hause geblieben, habe mit den Kindern gespielt und meiner Frau beim Kochen geholfen. Abends haben wir YouTube-Videos von lustigen Tieren gesehen. Es gibt so viele. Tausende Videos. Tausende lustige Tiere.»

«Was machen die?»

«Fressen, herumrollen, Geräusche. Am dritten Tag dachte ich: So schlimm ist das gar nicht. Am fünften dachte ich, ich muss mich umbringen. Dann bin ich zu ihr gegangen.»

«Zu welcher?»

«Ich weiß nicht mehr, ist das wichtig?»

«Nein.»

«Also was soll ich tun?»

«Genau das. Bleiben Sie daheim. Helfen Sie kochen. Sehen Sie Tiervideos.»

«Aber das ist schrecklich.»

«Natürlich ist es schrecklich. Das ist das Leben.»

«Warum sagen Sie mir so etwas?»

«Weil ich nicht Ihr Therapeut bin. Ich bin auch nicht Ihr Freund. Sehen Sie der Wahrheit ins Gesicht. Sie werden nie glücklich sein. Aber das macht nichts. Man kann auch so leben.» Ich warte einen Moment, dann schlage ich das Kreuz. «Ich spreche dich frei von deinen Sünden. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Seien Sie Ihrer Frau treu, solange es geht. Versuchen Sie es zwei Wochen lang. Zwei Wochen müssen möglich sein. Und geben Sie das Geld zurück. Das ist Ihre Buße.»

«Wie soll ich das verbuchen?»

«Finden Sie einen Weg.»

«Das sagt sich leicht! Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann nicht einfach so zwölftausend Euro zurück an die Kanzlei überweisen!»

«Zwölf?»

«Ich bleibe lieber drei Wochen daheim. Drei, ja?»

«Geben Sie das Geld zurück!»

Er schweigt. «Die Lossprechung gilt doch? Ich meine, unabhängig von der Buße? Die ist keine … Bedingung?»

«Das Sakrament ist vollzogen. Aber das Geld nicht zurückzugeben wäre eine neue Sünde.»

«Dann komme ich wieder.»

«So geht das nicht!»

«Natürlich könnte ich es als Steuererstattung ausgeben. Aber wenn dann eine Betriebsprüfung stattfindet, was mache ich? Ich kann es nicht verbuchen!»

Er wartet. Ich antworte nicht.

«Auf Wiedersehen, Herr Pfarrer.»

Das Holz knarrt, seine Schritte entfernen sich. Ich hätte gern einen Blick auf sein Gesicht geworfen, aber das Beichtgeheimnis verbietet es mir, und ich halte mich an die Regeln. Die Protestanten haben einen Gott, der wissen möchte, was in ihrer Seele vorgeht, aber ich bin Katholik, und meinen Gott interessiert nur, was ich tue. Ich nehme den Würfel, und gerade als ich überlege, ob ich klassisch vorgehen oder lieber mit einem Viererblock anfangen soll, knarrt wieder das Holz.

«Ich trinke.»

Ich lege den Würfel weg.

«Ständig trinke ich. Ich kann nicht aufhören.»

Ich beneide Alkoholiker. Filme werden über sie gedreht, man engagiert die besten Schauspieler, man schreibt über sie Reportagen und Romane. Aber Menschen, die viel essen? Dünne Leute sagen ja, dass alles eine Frage der Willenskraft sei, aber vielleicht sind sie bloß dünn, weil sie weniger Hunger haben. Vorhin habe ich mir beim Automaten an der Ecke zwei Schokoriegel gekauft. Nicht um sie zu essen, sondern um sie dabeizuhaben. Was für eine dumme Idee.

«Ich will sonst gar nichts mehr. Nur trinken. Meine Frau hat mich verlassen, den Job habe ich verloren, alles egal. Nur trinken will ich.»

«Ich kann Sie nur lossprechen, wenn Sie den ehrlichen Wunsch haben, sich zu ändern.»

Mein Telefon vibriert. Ich nestle es hervor und sehe auf dem Bildschirm die Nummer von Erics Büro. Das ist seltsam, denn Eric ruft mich niemals an. Aber jetzt kann ich nicht rangehen.

«Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.»

«Sie wissen nicht, ob Sie aufhören wollen zu trinken?»

«Ich würde gerne nicht mehr trinken wollen, aber ich will trinken.»

Ist das eine kluge Unterscheidung oder absurd? Das Telefon hört auf zu vibrieren.

«Essen Sie da etwa, Herr Pfarrer?»

«Nein! Versuchen Sie, zwei Tage nicht zu trinken. Das ist doch ein Anfang. Dann kommen Sie wieder!»

«Zwei Tage? Das kann ich nicht.»

«Dann darf ich Sie nicht lossprechen.» Der erste Bissen war herrlich. Die brechende Schokolade, das feine Prickeln des Kokos. Aber jetzt merkt man es schon: zu fett, viel zu süß. So ist es mit den meisten Dingen, Jesus hat das übersehen, Buddha war aufmerksamer. Nie genügt etwas wirklich. Alles ist unzureichend, und doch kommt man nicht los.

«Sie essen!»

«Kommen Sie in zwei Tagen wieder.»

«Hören Sie auf zu essen!»

«Ich esse nicht.»

«Im Beichtstuhl!»

«In zwei Tagen. Wenn Sie nicht getrunken haben. Dann kommen Sie wieder!»

Das Holz knarrt, er geht. Ich zerknülle die leere Metallfolie und denke an den zweiten Riegel. Er ist noch in meiner Tasche, und dort wird er auch bleiben.

Ich ziehe ihn aus der Tasche.

Aber ich habe ihn noch nicht ausgepackt. Und selbst wenn er schon ausgepackt wäre, hätte ich noch nicht hineingebissen. Alles steht in meiner Macht. Das Mysterium des freien Willens: Ich kann hineinbeißen, ich kann es lassen. Es liegt bei mir. Alles, was ich tun muss, damit es nicht geschieht, ist, es nicht zu tun.

Der zweite schmeckt gar nicht mehr. Ich kaue schnell und wütend. Der zweite schmeckt nie. Das Telefon vibriert. Schon wieder Erics Büro. Es muss wichtig sein.


«Ich beneide dich», sagte Iwan.

«Das ist übertrieben.»

Wir saßen auf einer Bank im Wandelgang des Klosters Eisenbrunn. Die Bäume wiegten sich im kühlen Wind, Vögel sangen, von der Küche her roch es nach Essen, dann und wann ging gesenkten Hauptes ein Mönch in seiner Kutte vorbei. Man hätte meinen können, man wäre in einem anderen Jahrhundert.

Ich war froh, Iwan zu sehen. Nach einer Woche strenger Exerzitien war ich der frommen Gesichter müde. Mein Bruder war ohne Ankündigung aufgetaucht, wie es seine Art war. Der Pförtner hatte ihn fortschicken wollen, aber dann hatte er ihn doch hereingelassen. Iwan war nun einmal schwer abzuweisen.

«Sie haben dir sogar den Würfel abgenommen?»

«Teil der Übung», sagte ich. Am Anfang hatte er mir gefehlt, aber inzwischen fragte ich mich, ob womöglich das, was ich für meine liebste Beschäftigung gehalten hatte, in Wirklichkeit nur eine Sucht war.

«Du warst bei Lindemann?», fragte ich.

«Es war sehr unergiebig. Kein interessanter Mensch.»

«Aber hat er sich erinnert? Konnte er dir erklären –»

«Ich sage doch, er ist nicht interessant.»

«Aber –»

«Martin, da gibt es gar nichts zu erzählen! Ich wünschte, ich wäre wie du. Du weißt, was du willst. Ich bin nicht einmal zum Künstler geeignet.»

«Unsinn.»

«Das ist keine Bescheidenheit und auch keine Krise. Ich habe eingesehen, dass ich nicht geeignet bin, Maler zu sein.»

Durch den Säulengang kamen drei kuttenverhüllte Mönche. Der links war ein Säufer, der in der Mitte sah abends stundenlang Sportübertragungen auf einem alten Schwarzweißfernseher, der rechts war neulich wegen seiner Sammlung pornographischer Videos verwarnt worden. Aber für Iwan, der sie nicht kannte, mussten sie wie Erleuchtete aussehen.

«Notfalls kann ich Kunstprofessor werden. Oder Kurator. Würde ich weiter malen … Ich wäre mittelmäßig. Bestenfalls mittelmäßig. Bestenfalls.»

«Wäre das so schlimm? Die meisten sind mittelmäßig. Per definitionem.»

«Eben. Aber dann denk an Velázquez und daran, wie er das Weiß der Leinwand einsetzt, als wäre es Farbe. Oder an Rubens Hauttöne. Oder an die Kraft von Pollock, seinen Mut, zu malen wie ein Verrückter. Ich kann so etwas nicht. Ich kann nur ich sein. Und das reicht nicht.»

«Du hast schon recht», sagte ich nachdenklich. «Wie lebt man damit, dass man nicht Rubens ist? Wie arrangiert man sich? Zu Beginn denkt man ja bei allem, man ist eine Ausnahme. Aber kaum einer ist eine Ausnahme.»

«Per definitionem.»

«Suchst du noch ein Dissertationsthema?»

«Keine schlechte Idee.» Er scharrte mit der Schuhspitze im Kies, blickte auf und lächelte. «Gar keine schlechte Idee. Wir reden zu selten. Hast du schon die niederen Weihen?»

«Das dauert noch.»

«Ich meine das ernst, ich beneide dich. Die Welt verlassen. Aus allem hinaustreten. Einfach nicht mehr dabei sein.»

«Schön wär’s.» Sonnenstrahlen fielen durchs Geäst der hohen Bäume, auf den Kieselsteinen tanzten Lichtflecken. «Man ist immer noch dabei. Nur anders. Es gibt keinen Weg hinaus.»

«Bete für mich.» Iwan stand auf. «Morgen fliege ich nach England, vielleicht sehen wir uns zu Weihnachten. Bete für mich, Bruder Martin. Ich bin einer von denen, die Gebete brauchen.»

Ich sah ihm nach. Das Klostertor öffnete sich summend. Die Dinge sahen hier mittelalterlich aus, aber überall floss Strom, es gab versteckte Sicherheitskameras, und immer öfter sah man Mönche in winzige Telefone sprechen. Hier wie überall geschah etwas Unausweichliches mit der Welt. Langsam stand ich auf. Gleich würden die Glocken zur Abendandacht rufen.

Während der ersten zwei Tage hatte ich gemeint, die Langeweile werde mich umbringen, aber dann war es besser geworden, und mittlerweile konnte ich stundenlang in der Kirche knien und dem Auf und Ab der gregorianischen Melodien zuhören. Auch der Hunger plagte mich nicht mehr ständig, und so konnte ich meine Knieschmerzen vergessen, zu den hohen Fenstern aufblicken und überzeugt davon sein, dass ich dort war, wo ich nach Bestimmung und Geschick zu sein hatte.

Nur Gott spürte ich nicht.

Ich wartete, betete, wartete und betete. Aber ich spürte ihn nicht.

Ich verstand mich gut mit den anderen Seminaristen. Einer hieß Arthur wie mein Vater und beherrschte Kartentricks, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ein anderer hieß Paul und hatte mit der Jungfrau Maria gesprochen. Er behauptete, sie habe einen Regenmantel getragen und einen seltsamen Hut aufgehabt, es sei aber ohne jeden Zweifel die Heilige Jungfrau gewesen. Einer hieß Lothar und weinte jede Nacht so laut, dass wir kaum schlafen konnten, und auch mein alter Freund Kalm war hier, umgeben vom sanften Glanz seiner Frömmigkeit.

«Ich wünschte, ich wäre wie du», sagte Kalm beim Abendessen. Es gab Kartoffelbrei mit Fisch. Der Brei war geschmacklos und der Fisch zerkocht, trotzdem hätte ich gern mehr gehabt.

«Blödsinn.»

«Du wirst den Menschen helfen können. Du wirst es weit bringen. Nach Rom. Und wer weiß, wie hoch hinauf.»

Nach dem Abendessen versammelten wir uns wieder in der Kapelle. Wir knieten uns hin, die Mönche sangen, ihre Stimmen flossen ineinander zu einer einzigen volltönenden Stimme, und die Kerzen füllten das Kirchenschiff mit tanzenden Schatten.

Ich verlange es, sagte ich. Ich habe es verdient. Gib mir ein Zeichen.

Nichts geschah.

Ich stand auf. Neugierige Blicke trafen mich, aber keiner mischte sich ein. Immerhin waren es Andachtsübungen, manche hatten Visionen, andere vernahmen Stimmen, so etwas wurde erwartet, es gehörte dazu.

Jetzt, sagte ich. Jetzt wäre der Moment. Sprich zu mir, wie du zu Mose gesprochen hast aus dem brennenden Busch, zu Saul auf der Straße nach Gethsemane, zu Daniel vor dem König von Babylon, zu Jeremias, als er den Lauf der Sonne anhielt, zu den Aposteln des Auferstandenen, auf dass sie die Wahrheit verkünden konnten. Die Welt ist kaum einen Tag älter seither, über den Himmel zieht dieselbe Sonne, und wie sie vor dir gestanden haben, so stehe jetzt ich vor dir und bitte um ein Wort.

Nichts geschah.

Es ist wirklich nicht meine Schuld, sagte ich. Ich bemühe mich doch. Ich blicke auf, und da bist du nicht, ich sehe mich um, und du bist nicht da, ich sehe dich nicht, ich höre dich nicht. Ein kleines Zeichen nur. Kein anderer bräuchte es zu sehen. Ich würde kein Aufheben davon machen, niemand würde es erfahren. Oder besser noch, gib kein Zeichen, lass mich einfach glauben. Das würde genügen. Wer braucht Zeichen? Lass mich glauben, dann geschieht alles, ohne dass etwas geschieht.

Ich wartete und blickte ins flackernde Kerzenlicht. War es geschehen? Vielleicht glaubte ich schon, ohne es zu wissen. Musste man wissen, dass man glaubte? Ich horchte in mich.

Aber nichts hatte sich geändert. Ich stand vor einem Altar in einem steinernen Bau auf einem kleinen Planeten, der einer von hundert Milliarden Milliarden war. Galaxien von unerträglicher Ausdehnung wirbelten im schwarzen Nichts, durchzogen von Strahlung, ein langsam sich in Kälte auflösendes All. Ich kniete mich wieder auf das flache, freundliche Betkissen und faltete die Hände.

Am nächsten Morgen wurde ich zum Abt gerufen. Feist, klug und einschüchternd saß Pater Freudenthal im purpurnen Habit der Augustinerchorherren an seinem Schreibtisch. Er machte eine einladende Handbewegung, besorgt setzte ich mich.

Das sei nicht ungesehen geblieben, sagte er mit weicher Stimme. Gestern, in der Abendandacht.

«Es tut mir leid.»

Junge Leute wie ich seien selten. Solche Begeisterung. Solcher Ernst.

Ich merkte, dass ich bescheiden lächelte. Ein Heuchler, dachte ich verblüfft. Nie hatte ich es geplant, nie mich darauf vorbereitet, aber offenbar war ich ein Heuchler!

Manchmal meine man, sagte Pater Freudenthal, solche jungen Männer gebe es nicht mehr. Aber es gebe sie eben doch! Er sei sehr bewegt.

Ich neigte den Kopf.

«Eine Bitte.» Er öffnete die Schublade und nahm ein Exemplar von Mein Name sei Niemand heraus. «Unsere Klosterbibliothek sammelt signierte Bücher. Könntest du deinen Vater bitten, seinen Namen hineinzuschreiben?»

Zögernd nahm ich das Buch entgegen. Arthur signierte niemals, keiner wusste, wie seine Unterschrift aussah.

«Das ist gar kein Problem», sagte ich langsam. «Das macht er sicher gern.»


Seit einer Dreiviertelstunde warte ich. Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin, aber da die Klimaanlage funktioniert, ist es mir ganz recht. Die Hitze drückt gegen die Fenster, die Luft draußen ist vollgesogen mit Sonnenlicht; unwillkürlich frage ich mich, ob die Scheiben halten werden. Ich nippe an meinem Pappbecher mit Kaffee. Vor mir steht ein leerer Glasteller, die Kekse habe ich längst gegessen. Niemand füllt nach.

Von nebenan dringen Bürogeräusche: Stimmen, Telefone, das Sirren von Druckern und Kopiergeräten. An einem Schreibtisch sitzt eine Sekretärin mit sehr kurzem Rock. Ihre Beine sind mir deutlich bewusst: bräunlich und muskulös, die Haut geschmeidig glatt. Wenn ihr Blick mich streift, dann so, wie man einen Tisch ansieht, einen Kühlschrank oder einen Stapel Papierkartons. Ich bin froh über meine Priesterkleidung. Wäre ich in Zivil, so ein Blick wäre unerträglich.

Ich konzentriere mich auf den Würfel. Ich muss besser werden in der Anwendung der Petrus-Methode. Die Konkurrenz ist stark, die jungen Leute sind schnell, und für die Weltmeisterschaft ist der konventionelle Weg zu langsam. Inzwischen werden bei vielen Wettbewerben die Würfel mit Vaseline geschmiert, damit sie sich schneller drehen lassen. Als ich anfing und der Würfel neu war, begann man mit einer Fläche, die man herstellte, aufbrach und dann wiederherstellte, aber heute geht das gar nicht mehr. Jetzt arbeitet man mit zwei Ebenen gleichzeitig, von denen aus man den Rest aufbaut, ohne je etwas aufbrechen zu müssen. Das geht schneller, aber man muss höllisch aufpassen, nichts ist mechanisch, nichts läuft von selbst. Den ersten Block muss man intuitiv finden, und wenn man nicht schnell genug ist, verliert man Sekunden, die nicht mehr aufzuholen sind.

Eine Hand berührt meine Schulter. Eine andere Sekretärin, etwas älter. «Ihr Bruder hat jetzt Zeit.»

Erics Büro sieht aus, wie ich es mir vorgestellt habe: der aufgeräumte Schreibtisch, das protzig große Fenster, die angeberische Aussicht auf Dächer, Fernsehantennen und Türme. Mein Bruder sitzt reglos, blickt auf einen riesigen Bildschirm und tut, als bemerke er mich nicht.

«Eric?»

Er antwortet nicht. Sein Finger klickt auf der Maus, dann greift er langsam nach einem Wasserglas, führt es an die Lippen, trinkt, seufzt leise und stellt es ab.

Wie lange soll das so gehen? Ich ziehe einen der lederbezogenen Stühle heran, lasse mich hineinsinken und bin sofort gefangen in seiner Weichheit.

Eric dreht den Kopf, sieht mich an und sagt nichts.

«Na?», sage ich.

Er schweigt.

«Was gibt’s?», sage ich.

«Kann ich etwas für dich tun?»

Ich reibe mir die Augen. Wann immer wir uns sehen, egal, unter welchen Umständen, egal, wann, und egal, wo, er findet immer eine Möglichkeit, mich wütend zu machen. «Du hast mich angerufen!»

«Ich weiß.» Er mustert mich, ohne das Gesicht zu verziehen. «Wir haben gesprochen.»

«Haben wir nicht! Es war deine Sekretärin. Sie hat gesagt, ich soll unbedingt kommen.»

«Ich weiß.»

«Also worum geht es?»

Er greift nach irgendeinem Papier, betrachtet es, grinst kurz, greift nach einem anderen, wird wieder ernst, legt beide weg, nimmt sein Telefon und blickt darauf. «Wie geht es dir?»

«Gut. In sechs Monaten ist die Landesmeisterschaft. Gewinnen kann ich wohl nicht, aber ich kann noch teilnehmen.»

Er starrt mich an.

«Der Würfel.»

Er starrt mich an.

«Rubiks Würfel!»

«Den gibt es noch?»

Ich beschließe, darauf nicht einzugehen. «Und wie geht es dir?»

«Interessante Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt in Osteuropa, parallel hedgen wir mit alternativen Energien. Hast du schon gegessen?»

Ich zögere. Ich denke an mein Frühstück, an die Schokoriegel im Beichtstuhl, an die Currywurst auf dem Weg, ich denke an die trockenen Kekse draußen. «Nein.»

«Na dann komm!» Er springt auf und geht hinaus, ohne auf mich zu warten.

Ich will mich aus dem Stuhl wuchten, aber die Lehnen geben nach, und ich sinke zurück. Durch die offene Tür beobachtet mich die ältere Sekretärin. Erst beim dritten Versuch schaffe ich es; ich lächle ihr zu, als hätte ich es mit Absicht gemacht, ein Meisterclown und König des Slapsticks, und gehe durch den Korridor zum Fahrstuhl, wo mein Bruder wartet.

«Na endlich!», ruft er.

Im Lift stehen zwei Männer mit Krawatten, die Wandspiegel vervielfältigen uns zu einer Menschenmenge.

«Gibt es eigentlich statistische Untersuchungen?», fragt Eric. «Zu Horoskopen und Lebensläufen? Ob die Dinge sich so entwickeln, wie die Astrologen es vorhersagen? Das müsste man doch statistisch klären können. Weißt du etwas darüber?»

«Woher soll ich etwas darüber wissen?»

«Ihr stellt doch Horoskope!»

«Nein!»

«Nein?»

«Horoskope sind Blödsinn!»

«Ihr stellt keine Horoskope?»

«Ist das ein Witz?»

Er holt sein Telefon hervor, tippt und steckt es wieder ein. Der Lift hält, wir steigen aus, ich kann kaum mit ihm Schritt halten. Wir durchqueren die Lobby, die Glastüren öffnen sich, ich pralle gegen eine Wand aus Hitze. Er geht über die Straße, einfach so, ohne nach rechts und links zu sehen. Ein Auto hupt, er beachtet es nicht. Zum Glück ist das Restaurant gleich auf der anderen Straßenseite. Weiter könnte ich bei dieser Temperatur nicht gehen.

Es ist ein elegantes Lokal: Leintücher auf den Tischen, Lampen in Form von Glastropfen, Kellner in schwarzen Hemden und gottlob eine Klimaanlage. Eric steuert auf einen kleinen Tisch zu, eingeklemmt zwischen anderen kleinen Tischen vor einer ledernen Sitzbank an der Wand. Keine gute Idee, aber wie kann ich ihm das erklären? Schon hat der Kellner den Tisch weggerückt, Eric tritt zur Seite, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf die Bank zu setzen, zwischen zwei Männer in Anzügen, die mich unfreundlich ansehen, die Missbilligung meiner Körperfülle ein wenig gemildert durch Respekt vor dem geistlichen Stand. Der Kellner rückt den Tisch wieder heran, Eric setzt sich mir gegenüber und sagt: «Das Übliche.» Der Kellner eilt davon, bevor ich widersprechen kann. Wie kommt Eric dazu, für mich auszusuchen?

Er blickt auf sein Telefon, tippt, legt es weg und blickt über meinen Kopf hinweg an die Wand. Dann nimmt er wieder das Telefon.

«Was macht die Wirtschaft?», frage ich.

«Wie?» Er tippt und sieht nicht auf.

«Was macht die Wirtschaft? Hast du eine Prognose?»

«Prognose.» Er tippt. «Nein.»

Wie immer blicken mich von überall im Raum verstohlen Leute an. Ich bin daran gewöhnt. Sähen sie mich an der Spitze einer Prozession, sie fänden nichts dabei, und es würde ihnen auch nicht ungewöhnlich vorkommen, wenn ich im Fernsehen über moralische Fragen spräche. Aber dass ich einfach so im Restaurant sitze, ein Glas Wasser vor mir, mit einem Geschäftsmann, der ständig auf sein Telefon starrt, finden sie kurios. Viele von ihnen fühlen sich allein dadurch schon beruhigt, dass es unsereins noch gibt – dass wir noch über die Erde schreiten, Messen lesen, beten und uns verhalten, als hätte der Mensch eine Seele und als gäbe es Hoffnung. Selbst mir geht es so, wenn ich Priester sehe, die ich nicht kenne. Bei meinem Spiegelbild funktioniert es leider nicht.

Der Kellner bringt das Essen. Die Portionen sind noch kleiner, als ich befürchtet habe. Ein winziger Haufen muscheligen Teiggewirrs in der Mitte eines zum Großteil leeren Tellers.

Eric legt das Telefon weg. «Wenn du jemandem eine Nachricht schickst, und er antwortet, und du antwortest wieder und bittest um schnelle Antwort, und es kommt keine, würdest du dann davon ausgehen, dass er die Nachricht nicht bekommen hat oder dass sie einfach nicht antwortet?»

«Er oder sie?»

«Was?»

«Du hast einmal ‹er› und einmal ‹sie› gesagt.»

«Und?»

«Nichts.»

«Was hat das mit meiner Frage zu tun?»

«Nichts, aber –»

«Was willst du wissen?»

«Nichts!»

«Es ist völlig egal, was für eine Nachricht. Es spielt keine Rolle.»

«Das habe ich auch nicht gefragt.»

«Vielleicht gehört es ja zu deinem Beruf. Vielleicht müsst ihr so neugierig sein.»

«Aber ich bin nicht neugierig!»

Er starrt auf sein Telefon, tippt und beachtet mich nicht mehr. Das ist mir ganz recht, denn das Gericht erweist sich als so kompliziert, dass ich mich konzentrieren muss. Es ist wider alle Vernunft, dass man Nudeln nicht zerschneiden darf. Ein Gebot von gleichsam religiöser Kraft. Nudeln zerschneiden, das wäre ein Fehltritt ungeheuren Ausmaßes. Warum? Keiner weiß es. Und die Muscheln? Man muss jede einzelne Schale aufbrechen und dann das winzige, völlig geschmacklose Stückchen herauslösen. Mit den Fingern geht es schlecht, mit der Gabel noch schlechter.

«Führt ihr noch Exorzismen durch?»

«Ob wir …?»

«Dämonische Besessenheit. Macht ihr das noch? Habt ihr Leute dafür?»

«Ich weiß nicht. Kann schon sein.»

Er nickt, als hätte meine Antwort eine Vermutung bestätigt.

Eric hat sein Essen noch nicht angerührt. Ich breche die letzte Schale auf, Sauce tropft auf meinen Ärmel, dann widme ich mich den Nudeln, aber das fällt schwer, der Teller ist voll zerbrochener Muschelschalen. Meine Finger riechen nach Fisch. Und immer wieder stößt mich mein Sitznachbar mit dem Ellenbogen, er gestikuliert wild. Ihm gegenüber sitzt ein Mann mit Glatze und Brille, die beiden sprechen über das Bonitätsrating eines Rentenfonds.

«Was ist die klassische Lehrmeinung?», fragt Eric. «Muss man einen Dämon zulassen, wenn er kommt? Braucht er eine Einladung, oder kann er einen einfach in Besitz nehmen?»

«Warum willst du das wissen?»

«Ein Buch, nur ein Buch. Ich habe so ein Buch gelesen. Ein seltsames Buch. Egal.» Er nimmt sein Wasserglas, betrachtet es, nippt daran und stellt es ab.

«Also, was wolltest du mit mir besprechen?»

Er runzelt die Stirn und blickt auf sein Telefon. Ich warte. Er sagt nichts.

Allmählich wird es anstrengend. Ich hole mein Telefon hervor, tippe eine Nachricht: Wie geht es dir, ruf mich doch an, wenn du mal Zeit hast! Martin, und schicke sie an Eric.

Gerade hat er sein Telefon weggelegt. Es vibriert, er greift danach, blickt darauf und zieht die Augenbrauen hoch. Ich warte, aber er sagt kein Wort. Er lächelt auch nicht. Er reibt sich die Schläfen, legt das Telefon wieder weg, nimmt es, legt es wieder weg und sagt: «Diese Hitze!»

Ich gebe zu, es war kein sehr geistreicher Scherz, aber ein kurzes Lächeln wäre angebracht gewesen. Warum fällt es ihm so schwer, höflich zu sein? «Wie geht es Laura?», frage ich. Ich kenne seine Frau kaum. Eine Schauspielerin, was sonst. Sehr gut aussehend. Was sonst. «Und Marie?»

«Sie ist gut in der Schule. Manchmal macht sie mir Sorgen.»

«Warum?»

«Sie macht mir manchmal Sorgen. Aber sie ist gut in der Schule.»

«Und deine Mutter?»

«Sie hat jetzt diese Fernsehsendung. Leute rufen an, erzählen von ihren Krankheiten, sie sagt etwas dazu.»

«Ich dachte, sie ist Augenärztin.»

«Es gab ein Casting, sie hat gewonnen, unter dreihundert Kollegen. Sie hat gute Quoten. Und deine Mutter?»

«Gesund. Gott sei Dank. Das Rentnerdasein bekommt ihr, sie liest alles, was sie immer lesen wollte.»

«Wohnst du noch bei ihr?»

Ich sehe ihm an, was er denkt. Aber warum soll ich es verheimlichen? Die Stunden bei Mama sind friedlich und hell, sie sind die schönsten des Tages. Wir essen Kuchen, wir sitzen einander gegenüber, reden wenig und warten darauf, dass der Abend kommt. Was ist Schlechtes daran? «Ich wohne im Pfarrhaus. Aber ich bin oft bei ihr.»

«Jeden Tag?»

«Isst du deine Pasta noch?»

Er blickt auf seinen unberührten Teller, als sähe er ihn zum ersten Mal. Aber bevor er antworten kann, bleibt hinter ihm ein Mann stehen, bleckt die Zähne und schlägt ihm auf die Schulter. «Friedland!»

Eric springt auf. «Remling!» Er tut so, als wolle er den Mann in den Magen boxen, der wiederum hält Erics Oberarm fest. Beide lachen gezwungen.

«Lassen die hier schon jeden rein?»

«Wie man sieht!»

«Alles gut?»

«Klar! Selbst?»

«Na klar!»

«Das Spiel neulich! Eine Schande!»

«Der Wahnsinn!»

«Ich dachte, ich erschieße mich! Das ist mein Bruder.»

Remling sieht mich an. Ein Anflug von Überraschung gleitet über sein Gesicht: der übliche Blick von Leuten, die sich unerwartet einem Priester gegenüberfinden. Er streckt mir die Hand hin, ich ergreife und schüttle sie.

Dann starren die beiden ins Leere. Offenbar fällt keinem mehr etwas ein.

«So, so!», sagt Remling. «Na dann!»

«Klar!», ruft Eric.

«Lass uns mal. Zusammen.»

«Unbedingt!»

Remling nickt mir zu und geht zu seinem Tisch am Fenster zurück.

«Ich hasse ihn. Hat mir letztes Jahr fast den Ostermann-Deal ruiniert.» Eric setzt sich wieder und tippt auf seinem Telefon. Hinter ihm taucht der Kellner auf, beugt sich über seine Schulter und trägt so schnell meinen leeren und Erics unberührten Teller ab, dass ich nicht protestieren kann. «Na dann!» Eric steckt das Telefon weg, schiebt den Stuhl zurück und steht auf. «War schön, dich zu sehen. Ich muss jetzt ganz schnell weg, ein wichtiger Termin, du kannst dir ja nicht vorstellen, was gerade alles ansteht. Bist natürlich eingeladen.»

«Aber warum wolltest du mit mir reden?»

Eric ist bereits auf dem Weg zum Ausgang. Er dreht sich nicht mehr um, stößt die Tür auf, ist schon fort.

Ob ich noch etwas bestelle? Aber es ist teuer, die Portionen sind klein, und gleich an der Ecke gibt es Currywurst.

Ein paar Minuten bleibe ich noch. Ich werde den Kellner bitten müssen, den Tisch wegzurücken, dann wird der Mann neben mir gezwungen sein, aufzustehen, dann wird man auch seinen Tisch wegrücken, was wiederum bedeutet, dass auch der Mann ihm gegenüber aufstehen muss. Das halbe Restaurant wird auf den Beinen sein, bis endlich auch ich stehe.

Ich bin spät dran. Um zwei wartet Mama mit dem Kuchen, danach muss ich zum Treffen der Katholischen Jugend, und am Abend ist wieder eine Messe abzuhalten. Was in aller Welt wollte Eric von mir?

Bedächtig trinke ich mein Wasserglas aus und lächle wohlwollend allen Menschen im Raum zu. Seid gesegnet, ob ihr wollt oder nicht. Das ist meine Funktion. Tag für Tag lege ich Zeugnis davon ab, dass die Dinge geordnet sind und dass Sinn herrscht in den Belangen des Kosmos. Was ist, soll sein. Was sein soll, ist. Ich bin Anwalt der bestehenden Dinge, Verteidiger des Status quo, wie auch immer er sei. Das ist mein Beruf.

Und so schlecht ist die Welt ja wirklich nicht. Dank sei Gott, den es nicht gibt, zum Beispiel für Restaurants und Klimaanlagen. Ich werde doch ein Dessert bestellen. Schon winke ich dem Kellner.


Ich saß in der Bibliothek des Priesterseminars, den Würfel versteckt hinter einer Ausgabe von Stadien auf des Lebens Weg, als Kalm hereinkam und mir sagte, mein Vater sei am Telefon.

Zum Gemeinschaftsapparat musste man eine Treppe hinunter, dann durch einen langen Gang, dann eine zweite Treppe empor. Den ganzen Weg über hatte ich die Befürchtung, Arthur könnte wieder auflegen. Schwer atmend erreichte ich das Telefon, der Hörer baumelte an der Schnur.

«Hast du Zeit?»

Es war wirklich seine Stimme. Ich hatte sie mir nie ins Gedächtnis rufen können, aber jetzt erkannte ich sie, als wäre kein Tag vergangen.

«Zeit wofür?»

«Ich bin gerade in der Gegend. Schlechter Moment?»

«Du meinst – jetzt?»

«Ich bin hier.»

«Wo?»

«Komm heraus.»

«Jetzt?»

«Also doch ein schlechter Moment?»

«Nein, nein. Du bist hier?»

«Das sage ich doch. Vor dem Haus.»

«Diesem Haus?»

Arthur lachte und legte auf.

Ein Jahr war es her, dass in seinem letzten Erzählband seine merkwürdigste Geschichte erschienen war. Sie hieß Familie, und es ging darin um seinen Vater, seinen Großvater, seinen Urgroßvater, es war die Geschichte unserer Vorfahren, Generation um Generation, bis zurück in ein vage umrissenes Mittelalter. Das meiste ist reine Erfindung, denn über das Vergangene, so Arthur zu Beginn, weiß man nichts: Man meint, die Verstorbenen wären irgendwo aufbewahrt. Man meint, dem Universum blieben ihre Spuren eingeschrieben. Aber das stimmt nicht. Was dahin ist, ist dahin. Was war, wird vergessen, und was vergessen ist, kommt nicht zurück. Ich habe keine Erinnerung an meinen Vater. Seltsamerweise hatte ich mich bestohlen gefühlt. Es waren auch meine Vorfahren.

Ich trat auf die Straße, und dort stand er. Die Haare wirr wie ehedem, die Hände in den Taschen, auf der Nase die gleiche Brille. Bei meinem Anblick breitete er die Arme aus, für einen Moment dachte ich, er würde mich umarmen, aber es war nur eine Geste des Erstaunens über meine Seminaristenkleidung. Er schlug einen Spaziergang vor, ich war plötzlich zu heiser, um zu antworten.

Wir gingen schweigend. Ampeln blinkten, Autos hupten, und ich hörte die Wortfetzen vorbeigehender Menschen. Mir war, als wären all die Geräusche Teil einer Geheimsprache, als redete die Welt mit Hunderten Lauten auf mich ein, aber ich konnte mich nicht konzentrieren und verstand nichts.

«Ich werde eine Zeitlang in der Stadt sein», sagte er.

«Unter falschem Namen?»

«Ich bin nur ein bekannter Schriftsteller. Kein Mensch kennt bekannte Schriftsteller. Ich brauche keinen falschen Namen.»

«Was hast du gemacht all die Jahre?»

«Hast du meine Bücher gelesen?»

«Natürlich.»

«Dann weißt du es.»

«Und sonst?»

«Nichts. Ich habe sonst nichts gemacht. Darum ging es ja.»

«Ach darum ging es!»

«Du nimmst es mir übel?»

Ich antwortete nicht.

«Dass ich nicht da war? Nicht mit euch Sackhüpfen gespielt habe, nicht im Zoo mit dir gewesen bin, keine Elternsprechtage besucht, nicht auf dem Teppich herumgebalgt und dich nicht auf den Jahrmarkt eingeladen habe? Das nimmst du mir übel?»

«Was, wenn die Bücher nicht gut sind?»

Er sah mich von der Seite an.

«Was dann?», sagte ich. «Alles geopfert, und dann sind sie nicht gut? Was dann?»

«Dagegen gibt es keine Versicherung.»

Wieder gingen wir schweigend.

«Pflichten», sagte er nach einer Weile. «Wir erfinden sie nach Bedarf. Niemand hat sie, es sei denn, er entscheidet, dass er sie hat. Aber ich liebe euch sehr. Alle drei.»

«Trotzdem wolltest du nicht bei uns sein.»

«Ich glaube nicht, dass ihr viel versäumt habt. Wir werden über alles sprechen. Das Hotel gegenüber vom Bahnhof, komm heute Abend, Iwan wird auch da sein.»

«Und Eric?»

«Er möchte mich nicht sehen. Komm um acht zum Essen. Ich vermute, du isst gerne.»

Ich wollte fragen, was ihm das Recht zu so einer Bemerkung gab, aber das war schon sein Abschied gewesen. Er winkte, ein Taxi hielt, er stieg ein und schlug die Tür hinter sich zu.

An diesem Abend saßen wir viele Stunden zusammen. Iwan sprach von dem Moment, als er begriffen hatte, dass er nie ein großer Maler werden würde, und Arthur erzählte von seiner Idee, ein Buch zu schreiben, das nichts als eine Botschaft an einen einzigen Menschen sei, in dem also alle Kunst nur der Camouflage diene, damit keiner außer diesem einen es merken könne, was jedoch das Buch paradoxerweise zu einem Werk der hohen literarischen Kunst machen werde. Gefragt, was denn die Botschaft sein solle, sagte er, das hänge vom Empfänger ab, und gefragt, wer der Empfänger sein solle, sagte er, das hänge ab von der Botschaft. Gegen Mitternacht berichtete Iwan davon, wie sein Verdacht, dass er homosexuell sei, sich in seinem neunzehnten Lebensjahr ohne Schrecken oder Erschütterung bestätigt hatte, was er aber Eric nie habe erzählen können, aus Sorge, dieser würde ob ihrer Ähnlichkeit an sich selbst irrewerden. Um ein Uhr war ich kurz davor zu gestehen, dass ich nicht an Gott glaubte, tat es aber doch nicht und sprach stattdessen von Karl-Eugen Immermann, dem dreizehnjährigen Jungen, der bei jedem Wettbewerb genau drei Sekunden schneller war als ich, ich hatte einfach keine Chance gegen ihn. Um halb zwei sagte Arthur, dass er sich damit abgefunden habe, mit Schuld und Reue leben zu müssen wie andere mit einem steifen Fuß oder chronischem Rückenschmerz, gegen zwei Uhr weinte ich ein wenig, um halb drei verabschiedeten wir uns und versprachen einander, uns am nächsten Abend wieder zu treffen.

Als wir tags darauf ins Hotel kamen, war Arthur abgereist. Er hatte weder eine Adresse noch eine Nachricht hinterlassen. Ein paar Wochen rechnete ich täglich damit, dass er sich melden und alles erklären würde. Dann gab ich das Warten auf.


Ein fensterloser Raum im Keller des bischöflichen Palais. Es riecht nicht gut, und es gibt keine Klimaanlage. Linoleum auf dem Fußboden, weiß gestrichene Wände, die Decke beklebt mit schalldichtem Kunststoff, an der Wand das vorgeschriebene Kruzifix. Ein Tischtennistisch, ein Fußballtisch, zwei alte Computer, zwei PlayStations und eine Horde Halbwüchsiger, die wissen, dass sie nur die Anwesenheit von zwei Priestern in Kauf nehmen müssen, damit ihnen all dies gratis zur Verfügung steht. Auch die Getränke kosten nichts. Zu meinem Beruf gehören vielfältige Pflichten. Dürfte ich auf eine davon verzichten, so würde ich diese aussuchen: das Treffen der Katholischen Jugend.

Neben mir steht Pater Tauler, ein hagerer Jesuit. Er reibt sich die Augen und seufzt.

«Es dauert nicht lange!», sage ich.

«Eine Stunde.»

«Die geht vorbei.»

«Meinst du?»

«Sie muss ja.»

Er seufzt wieder. «Übrigens, dein Freund Finckenstein ist hier.»

«Ach!»

«Oben im Palais. Geradewegs aus Rom.»

Pater Tauler geht zu einem der abgewetzten Stühle. Er lässt sich darauf nieder, sofort kommen zwei Mädchen auf ihn zu, setzen sich zu ihm und beginnen, leise mit ihm zu sprechen. Die eine ist aufgeregt, ihre Augen glänzen, die andere legt ihr dann und wann den Arm um die Schultern.

Unbestimmt lächelnd bewege ich mich auf den anderen Stuhl zu. Ich schwitze stark, und ich hätte gern ein Getränk aus dem Automaten. Aber das ist nicht möglich. Ich kann hier nicht Coca-Cola aus der Flasche trinken, ich muss einen Rest Würde bewahren. Wäre ich schlank, es wäre kein Problem. Aber bei mir geht es nicht.

Ich setze mich und warte. Vielleicht will ja niemand etwas von mir. Zwei Jungen spielen Tischfußball, mit zornigen Bewegungen lassen sie den Ball hin und her schnellen, hinter ihnen springen drei Mädchen um den Tischtennistisch, sie sind wirklich gut, ich kann den Ball kaum sehen. Die PlayStations quietschen und pfeifen, es riecht nach Schweiß. Ein Mädchen geht auf mich zu, ich erschrecke, aber zum Glück biegt es ab in Richtung der Computer. Am schlimmsten ist es, wenn Mädchen zu mir kommen, weil sie schwanger sind. Ich weiß, was ich ihnen zu sagen habe, die Regeln sind strikt, aber in Wahrheit bin ich ratlos. Leichter ist es bei Glaubenszweifeln. Da muss ich nicht nachdenken, da spreche ich einfach vom Mysterium. Leider sind Glaubenszweifel aus der Mode gekommen.

Ich schließe die Augen. Ausgerechnet Finckenstein! Ich werde ihn wohl begrüßen müssen, er weiß, dass ich hier bin, es würde seltsam aussehen. Und ich sollte ihn nicht meiden, man darf dem Neid keinen Raum geben.

Ich öffne die Augen. Jemand hat mir ans Knie geklopft. Ein junger Mann sitzt vor mir. Ich kenne ihn, er ist oft hier, und er heißt … Das habe ich vergessen. Könnte ich mir Namen besser merken, wüsste ich, wie er heißt. Er hat schon Bartstoppeln, er trägt eine blaue Schirmkappe mit den Buchstaben N und Y, und sein rechter Nasenflügel ist durchbohrt von einem dünnen Ring. Auf seinem T-Shirt steht bubbletea is not a drink I like. Seine Jeans sind zerrissen, aber es sind solche, die man zerrissen kauft. Sein Gesicht ist bleich, vermutlich sieht man deshalb so deutlich die Stoppeln. Er starrt mich aus leicht entzündeten Augen an.

«Ja?», sage ich.

Er räuspert sich, dann beginnt er zu sprechen. Ich beuge mich vor. Er redet zu leise und zu schnell, ich verstehe ihn nicht gut.

«Moment. Bitte langsamer.»

Er blickt auf seine Turnschuhe, räuspert sich erneut, fängt von vorne an. Allmählich verstehe ich. Es hat eine Schlägerei gegeben, und auch ein Schmetterling spielt eine Rolle. Butterfly sagt er immer wieder und macht Flatterbewegungen mit der Hand, so und so und so: Butterfly.

Schmetterling …? Mir kommt ein Verdacht.

Ja, sagt er. Ein Messer, ein Butterfly. So mache man es auf, so steche man zu, ganz schnell sei es gegangen.

«Moment. Noch einmal.»

Seufzend, schwitzend erzählt er. Manches verstehe ich nicht, aber das Wesentliche bekomme ich mit. Er und zwei Freunde namens Ron und Carsten hätten vor zwei Nächten Streit gehabt, in einer Diskothek, mit jemandem namens Ron; die Namensgleichheit sei ein Zufall und habe nichts zu bedeuten. Was es schwieriger macht, ist allerdings, dass der Junge vor mir, jetzt fällt es mir wieder ein, ebenfalls Ron heißt. Also: Er, Ron und Carsten hätten Streit mit Ron gehabt, aus Gründen, an die keiner sich mehr erinnern könne, womöglich sei es um Geld gegangen, vielleicht um ein Mädchen oder auch um nichts, es gebe schließlich immer wieder mal Streit um nichts, aber wenn dann einer zugeschlagen habe, sei nicht mehr der Grund dafür wichtig, sondern nur noch der Umstand, dass einer zugeschlagen habe.

«Was heißt das eigentlich, da auf deinem Hemd? Bubbletea is not a drink I like, was heißt das?»

Er sieht mich ratlos an, er scheint noch nie darüber nachgedacht zu haben.

«Egal», sage ich. «Weiter.»

Er hustet, reibt sich die Augen. Er, Ron und Carsten hätten also Ron, den Kerl, der vorgestern auf Ron in der Diskothek losgegangen sei, eben auf der Straße getroffen.

«Das ist aber ein Zufall!»

Kein besonderer Zufall, sagt er, sie seien am Nachmittag oft auf dieser Straße, und Ron sei fast jeden Nachmittag auch auf dieser Straße, dennoch hätten sie die Begegnung nicht kommen sehen, und Ron offenbar auch nicht, denn sonst wäre es ja wirklich zu blöd von ihm gewesen, zu genau der Zeit allein auf dieser Straße aufzukreuzen. Also sei er aufgemischt worden. Gar nicht einmal auf die allerbrutalste Art, aber doch gründlich und wie es sich gehöre.

«Das ist schlimm», sage ich.

Ja, aber noch nicht das Schlimmste, denn da sei das Butterfly noch nicht im Spiel gewesen. Ein Mann habe sich wichtiggemacht, und …

Pater Tauler steht auf, geht zum Getränkeautomaten, zieht eine Cola-Flasche heraus, öffnet sie, geht wieder zu den beiden Mädchen und trinkt. Ich sehe ihm neidvoll zu.

«Wie bitte? Entschuldige, ich war einen Moment … Wie?»

Ron fragt, ob ich ihm nicht zugehört hätte.

«Bitte noch einmal!»

Na, dieser Mann also. Habe sich wichtiggemacht! Obwohl ihn das doch gar nichts angegangen sei, nicht das Geringste! So ein Schnösel sei das gewesen. Habe gar nicht in die Gegend gepasst, wer weiß, woher der gekommen sei! Habe sich einfach wichtiggemacht!

«Und dann?»

Na, Messer. Butterfly. Einfach so, zack, klick, zugestochen, ganz schnell. Dann seien sie weggelaufen, bloß Ron sei liegen geblieben.

«Ron?»

Na, nicht der, der zugestochen habe, der andere! Er reibt sich das Gesicht.

Die Aufschrift auf seinem T-Shirt stört mich plötzlich enorm. Warum wird so etwas hergestellt? «Hat jemand die Polizei gerufen?»

Wahrscheinlich, sagt er. Irgendwer rufe doch immer die Polizei.

«War der Mann verletzt?»

Er sieht mich an, als wäre ich schwer von Begriff. Klar, sagt er langsam. Na sicher doch. Na wie denn nicht! Ron habe zugestochen! Mit dem Butterfly! Wie solle man denn da bitte nicht verletzt sein? Er blickt zum Pingpongtisch hinüber, dann zu den PlayStations, dann beugt er sich vor und fragt, ob ich ihm Solution erteilen könne.

«Absolution?»

Absolution, ja. Ob er die von mir haben könne. Und wenn die Polizei bei ihm auftauche, ob ich bestätigen könne, dass nicht er zugestochen habe, sondern dass das Ron gewesen sei.

«Wie soll ich das bestätigen?»

Mir ist schwindlig, und diesmal liegt es nicht an der Hitze. Passiert das tatsächlich? Noch nie ist jemand mit einer Gewalttat zu mir in die Beichte gekommen, so etwas geschieht einfach nicht, auch wenn Krimi- und Drehbuchautoren denken, dass es jede Woche vorkommt. Ich könnte die Polizei rufen. Aber das darf ich nicht. Oder muss ich sogar? Ist das hier überhaupt eine Beichte? Wir sind nicht im Beichtstuhl, nicht einmal in einer Kirche. Bin ich etwa verpflichtet, die Polizei zu rufen? Alles ist schwierig, und es ist so heiß.

Als hätte er meine Gedanken erraten, beginnt er zu weinen. Tränen rollen ihm über die stoppeligen Kinderwangen. Bitte, sagt er. Bitte! Herr Pfarrer!

Andererseits, denke ich, nehmen wir eben an, es ist eine Beichte. Ich kann das entscheiden, ich mache es zu einer. In diesem Fall darf ich gar nicht zur Polizei. Das Kirchenrecht verbietet es, und das Gesetz des Staates schützt mich. Die Angelegenheit wäre sofort erledigt. Und die Absolution? Warum denn nicht! Es gibt keinen Gott, der dem Jungen verzeihen muss, nur weil ich das Kreuz geschlagen habe. Es sind Worte. Es ändert nichts.

Ron wischt sich die Tränen weg. So schnell sei alles gegangen. Er habe doch nichts dafürgekonnt. Und warum habe der Schnösel sich auch wichtigmachen müssen!

Ich weiß, dass ich es mir vorwerfen werde, oder vielmehr: dass ich gezwungen sein werde, es zu vergessen, damit ich es mir nicht vorwerfen muss. Aber da ich nun einmal mit der Bewegung begonnen habe, kann ich sie nicht mehr abbrechen, also schlage ich das Kreuz über ihm, von oben nach unten, von rechts nach links, und er fängt wieder an zu weinen, vor Rührung diesmal, vielleicht glaubt er wirklich, dass ihm das irgendeine Feuerhölle erspart, und ich wehre ab und sage, dass er zur Polizei gehen und alles erzählen müsse, und er sagt, klar werde er das tun, und ich weiß, dass er lügt, und er weiß, dass ich es weiß.

Danke, sagt er wieder. Danke, Herr Pfarrer!

«Aber geh zur Polizei. Sag ihnen, was –»

Ja klar! Zur Polizei. Und dann will er von vorne anfangen und mir die ganze trübe Geschichte wieder erzählen, aber nun reicht es. Ich springe auf.

Ron sieht zu mir empor – einerseits befreit, weil er meint, ich hätte die Sünde von ihm genommen, andererseits besorgt, weil er sich mir anvertraut hat. Ich sehe in sein Gesicht, in seine verschwommenen Augen, aus denen mich eine noch ungeformte, eine sich selbst unbekannte Person anblickt. Furcht liegt in seinem Blick, aber auch ein Zug sanfter Bösartigkeit und die Frage, ob ich nicht jemand bin, der zum Schweigen gebracht werden sollte.

Ich lächle ihm zu, er lächelt nicht zurück. «Das wird schon», sage ich und habe keine Ahnung, was ich damit meine. Ich strecke ihm den Arm entgegen, er steht auf, und wir schütteln uns die Hände. Die seine ist weich und feucht, er lässt sofort wieder los. Mir ist, als ob alles klarer wäre, besser, richtiger, wenn ich nur die Aufschrift auf seinem Hemd verstehen könnte. Entschlossen wende ich mich ab und bedeute Pater Tauler, dass ich gehen muss. Er zieht überrascht die Augenbrauen hoch, ich zeige auf meine Armbanduhr und die Zimmerdecke – die in aller Welt verständliche Geste für einen Termin an höherer Stelle.

«Herr Pfarrer?» Ein junges Mädchen, sie trägt eine Kette mit Kruzifix, stellt sich vor mich hin. «Ich habe eine Frage.»

«Sprich mit Pater Tauler.»

Enttäuscht gibt sie den Weg frei, ich erreiche die Tür und das Treppenhaus. Schnaufend arbeite ich mich empor. Aufgelöst in Schweiß, betrete ich die marmorkühle Eingangshalle.

«Friedland!»

Ausgerechnet jetzt. Er ist dünn und groß, sein schwarzes Gewand ist elegant geschnitten, seine Frisur erstklassig und seine Brille von Armani. Natürlich schwitzt er nicht.

«Hallo, Finckenstein.»

«Heiß ist es bei euch.»

«Das bist du doch jetzt gewohnt.»

«Ja, der Sommer in Rom ist schlimm.» Er verschränkt die Arme, lehnt sich ans steinerne Treppengeländer und mustert mich mit unklar amüsiertem Ausdruck.

«Gerade habe ich jemandem die Beichte abgenommen. Stell dir vor, er hat … Ich meine, was macht man, wenn jemand … Wie ist das mit dem Beichtgeheimnis, wenn … Egal. Nicht jetzt. Egal.»

«Spielst du noch mit deinem Würfel?»

«Ich bereite mich auf die Meisterschaft vor.»

«Es gibt wirklich noch Rubik-Meisterschaften? Hast du Zeit? Wollen wir was zusammen essen?»

Ich zögere. Eigentlich möchte ich nicht von seiner Karriere hören, von seinem Leben in gekühlten Räumen, seinem Aufstieg und Erfolg. «Gern.»

«Dann komm. Ein frühes Abendessen, etwas Leichtes, viel schafft man ja nicht bei diesem Wetter.» Er geht die Marmortreppe hinauf, unentschlossen folge ich ihm.

«Hast du in letzter Zeit Kalm gesehen?», frage ich.

«Immer noch der Gleiche. Er ist bald Bischof, wenn Gott will.»

«Er wird wollen.»

«Ich denke auch. Er wird wollen.»

«Glaubst du an Gott?»

Er bleibt stehen. «Martin, ich bin stellvertretender Chefredakteur von Radio Vatikan!»

«Und?»

«Du fragst den stellvertretenden Chefredakteur von Radio Vatikan, ob er an Gott glaubt?»

«Ja.»

«Ernsthaft?»

«Nein. Aber wenn ich ernsthaft fragen würde, was würdest du sagen?»

«Ich würde sagen, die Frage stellt sich so nicht.»

«Warum?»

«Gott ist ein sich selbst realisierender Begriff, eine causa sui, weil sie denkbar ist. Ich kann ihn denken, und weil er denkbar ist, muss es ihn geben, alles andere wäre ein Widerspruch, also weiß ich, dass es ihn auch dann gibt, wenn ich nicht an ihn glaube. Und deshalb glaube ich. Und vergiss nicht, wir realisieren seine Existenz durch tätige Menschenliebe. Wir machen unsere Arbeit. Durch uns wird er wirklich, aber wir können ihn nur wirklich werden lassen, weil er sein muss. Wie kann man Menschen lieben, wenn man in ihnen nicht Gottes Geschöpfe sieht, sondern etwas Zufälliges: Flechten, die Karriere gemacht haben, Säugetiere mit Verdauung und Rückenschmerzen? Wie soll man Mitleid haben mit ihnen? Wie die Welt lieben, wenn sie nicht gewollt wird von dem, der der gute Wille selbst ist?»

Ron fällt mir wieder ein, das ist wichtiger, darüber sollte ich sprechen. Aber etwas hält mich ab, mir ist, als hätte ich etwas Größeres und Bösartigeres berührt, als ich es in diesem Moment verstehen kann; mir ist, als wäre es besser, die Sache zu vergessen.

«Und was heißt schon ‹glauben›! Der Begriff ist logisch verschwommen, Martin. Wenn du dir eines Satzes sicher bist, dann weißt du ihn doch. Wenn du meinst, dass etwas sein könnte, aber gleichzeitig weißt, es ist vielleicht nicht so, dann nennst du das Glaube. Es ist eine Spekulation über Wahrscheinlichkeit. Glauben heißt: annehmen, dass es wahrscheinlich so ist, obwohl es auch nicht so sein könnte. Nicht glauben heißt: annehmen, dass es wahrscheinlich nicht so ist, auch wenn es durchaus so sein könnte. Ist der Unterschied wirklich groß? Das ist sehr vage, das sind Abstufungen. Wichtig ist, dass wir unsere Arbeit machen.»

Stufe um Stufe gehen wir hinauf. Unsere Schritte hallen durchs Treppenhaus.

«Hast du im Ernst gefragt?»

«Ich war nur neugierig.»

«Und was glaubst du?»

«Ich glaube, ich sollte auch in Rom sein.»

«Ja, gerecht ist das nicht. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.»

Wir erreichen den ersten Stock. Eine Heiligenstatue mit würdevoll gefalteten Händen sieht uns an.

«Welche Frage?»

«Die Frage, was denn du selbst glaubst.»

Ich bleibe stehen, stütze mich aufs Geländer und warte darauf, dass mein Herzschlag sich beruhigt. «Ich glaube, dass wir bald essen sollten.»


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