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Geschäfte



Schon eine Zeitlang höre ich es schluchzen. Eben noch war es ein Geräusch in meinem Traum, aber jetzt ist der Traum vorbei, und das Schluchzen kommt von der Frau neben mir. Die Augen geschlossen, weiß ich, dass ich es bin, der weiß, dass die Stimme nun die von Laura ist oder eigentlich: dass es nun auf einmal die ganze Zeit schon ihre Stimme war. So heftig weint sie, dass die Matratze bebt. Ich liege reglos. Wie lange kann ich mich schlafend stellen? Ich würde so gern nachgeben und wieder versinken, aber es geht nicht. Der Tag hat angefangen. Ich öffne die Augen.

Morgensonne dringt durch die Schlitze der Jalousie und zeichnet dünne Linien auf Teppich und Wand. Das Teppichmuster ist symmetrisch, aber sieht man es zu lange an, fesselt es die Aufmerksamkeit, hakt sich fest und lässt einen nicht mehr los. Laura liegt in völliger Ruhe neben mir, atmet lautlos, schläft tief. Ich schlage die Decke zurück und stehe auf.

Während ich durch den Flur tappe, kehrt die Erinnerung an den Traum zurück. Kein Zweifel, es war Großmutter. Müde sah sie aus, abgekämpft und nicht ganz vollständig, als hätte nur ein Teil ihrer Seele es geschafft, bis zu mir vorzudringen. Schief stand sie vor mir, gestützt auf einen Krückstock, und in ihrem Haarknoten steckten zwei Kugelschreiber. Sie öffnete und schloss den Mund, mit den Händen machte sie Zeichen, etwas wollte sie mir unbedingt sagen. Unendlich müde sah sie aus, die Lippen gespitzt, die Augen flehend, bis im nächsten Moment irgendeine Traumverwandlung sie wegspülte und ich anderswo war, umgeben von anderem. Nie werde ich erfahren, was sie mir mitteilen wollte.

Ich rasiere mich, steige in die Dusche und drehe am Heißwasserhahn. Das Wasser ist warm, dann heiß, dann sehr heiß, so mag ich es. Ich beuge den Hals nach hinten, lasse das Wasser auf mich prasseln, höre dem Rauschen zu, spüre den Schmerz und vergesse für einen Moment alles.

Es währt nicht lange. Schon kommt wie eine Welle die Erinnerung zurück. Vielleicht kann ich noch zwei Monate durchhalten, vielleicht sogar drei. Aber länger nicht.

Ich stelle das Wasser ab, steige aus der Dusche und drücke das Gesicht ins Frottee des Handtuchs. Wie immer reagiert mein Gedächtnis auf den Geruch, indem es Bilder herbeiruft: Eingewickelt ins Handtuch werde ich von Mama ins Bett gebracht, Papas hohe Gestalt vor der Deckenlampe, seine wirren Haare nachgezeichnet vom Gegenlicht, Iwan ist schon eingeschlafen im Bett daneben; unser Sandkasten, in dem ich immer die Türme umwarf, die er aufgebaut hatte; eine Wiese, er hatte einen Regenwurm gefunden, ich riss ihn entzwei, er weinte furchtbar. Oder war es umgekehrt? Ich ziehe den Bademantel an. Jetzt brauche ich meine Medikamente.

In meinem Arbeitszimmer ist alles beim Alten. Das beruhigt mich. Der Schreibtisch mit dem großen Bildschirm, der Paul Klee an der einen Wand, der Eulenböck an der anderen, die leeren Aktenordner. Ich habe hier nie gearbeitet. Auch die Schubladen sind leer, und von den Nachschlagewerken wurde kein einziger Band je geöffnet. Aber wenn ich hier sitze und mich versunken stelle, kommt keiner herein, und das allein zählt.

Zwei Thropren, ein Torbit, ein Prevoxal und ein Valium – ich darf den Tag nicht mit zu viel beginnen, schließlich muss ich die Dosis erhöhen können, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Ich schlucke sie alle auf einmal; das ist unangenehm, und ich biete meine ganze Willenskraft auf, um gegen den Würgreflex anzukämpfen. Warum ich sie immer ohne Wasser nehme, weiß ich nicht.

Schon spüre ich, wie sie wirken. Wahrscheinlich ist es Einbildung, es kann nicht so schnell gehen, aber ist das wichtig? Wattige Gleichgültigkeit legt sich auf mich. So lässt es sich weitermachen. Eines Tages verlierst du alles, man wird den Namen Eric Friedland mit Abscheu nennen, wer dir jetzt noch vertraut, wird dich verfluchen, deine Familie wird zerfallen, und dich sperrt man ein. Aber noch nicht heute.

Nie darf ich jemandem sagen, wie sehr ich diesen Paul Klee hasse. Schiefe Karos, rot auf schwarzem Untergrund, daneben ein windschiefes, rundum erbärmliches Strichmännchen. Auch ich hätte das malen können. Ich weiß, dass ich diesen Satz nicht denken soll, er ist streng verboten, aber ich kann mir nicht helfen, auch ich hätte das malen können, keine fünf Minuten hätte ich gebraucht! Stattdessen habe ich siebenhundertfünfzigtausend Euro dafür bezahlt, aber ein Mann in meiner Position muss nun mal ein sehr teures Gemälde besitzen: Janke hat einen Kandinsky, Nettelbeck von BMW hat einen Monet, vielleicht ist es auch ein Manet, was weiß ich, und der alte Rebke, mit dem ich Golf spiele, hat einen Richard Serra auf dem Rasen, groß, rostig und bei den Gartenpartys sehr im Weg. Und so habe ich Iwan vor Jahren gebeten, mir auch ein Bild zu besorgen, nur sicher solle es sein.

Prompt hat er so getan, als würde er mich nicht verstehen. Das macht er gern, das macht ihm Spaß. Was denn das heißen solle, sicher?

«Sicher heißt, dass es jeden beeindruckt. Dass kein Fachmann etwas gegen den Maler hat. Wie bei Picasso. Oder Leonardo. Einer von diesen Leuten.»

Da hat er mich ausgelacht. Auch das macht er gern. Picasso? Es gebe Hunderte Fachleute, die Picasso nicht ernst nähmen, und erwische man die falsche Phase, sei man sowieso blamiert. Kaum einer sage zum Beispiel etwas Gutes über sein Spätwerk! Aber Paul Klee, den könne man nehmen, gegen den habe keiner was.

«Und Leonardo?»

«Gibt es nicht auf dem Markt. Nimm Klee.»

Dann war er für mich bei der Versteigerung. Bei fünfhunderttausend hat er angerufen, um zu fragen, ob er höhergehen soll. Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt. Aber hätte er denken sollen, ich kann mir nicht einmal ein Strichmännchen leisten? Eine Weile hing es im Salon, dann mochte Laura es plötzlich nicht mehr. Also hängt es seither über meinem Schreibtisch, sieht mich aufdringlich an und stiftet Schaden in meinen Träumen. Ich kann es nicht verkaufen, zu viele Leute haben es im Salon gesehen, wo ich ja immer darauf hingewiesen habe, sehen Sie meinen Klee, was sagen Sie zu meinem Klee, ja natürlich ist er echt! Sobald sich die Fahnder an die Arbeit machen, wird eine ihrer ersten Fragen sein, wo denn der Klee geblieben sei. Die Kunst ist eine Falle, sonst nichts, schlau ausgedacht von Menschen wie meinem Bruder!

Noch im Bademantel gehe ich den Flur entlang, die Treppe hinunter, ins Medienzimmer. Es gibt eine Leinwand mit Videobeamer, die schwarzen Würfel der Lautsprecher wären leistungsstark genug, um ein Fußballstadion zu beschallen. Davor steht eine weiche Ledercouch.

Auf dem Tisch liegt die Fernbedienung. Ohne nachzudenken, setze ich mich, greife danach und drücke ein paar Knöpfe. Summend erwacht die Leinwand zum Leben: das Fernsehprogramm des frühen Morgens, ein Naturfilm. Eine Libelle landet auf einem Halm. Sie hat haardünne Beine, ihre Flügel zittern, und die Fühler betasten das schrundige Grün. Interessant, aber es erinnert mich an die Kamera.

In einem der Geräte ist eine versteckt. Es wäre seltsam, wenn da keine wäre, da man ja so leicht eine darin verstecken kann, nie würde ich sie finden zwischen all den Linsen. Ich drücke wieder auf einen Knopf, die Wiese verschwindet, stattdessen steht ein Staatssekretär hinter einem Stehpult und redet so schnell, als hinge viel davon ab, dass er bald fertig wird.

«Nein», sage ich. «Nein, nein, nein, nein. Nein!»

Das hilft zum Glück. Er spricht langsamer.

Aber leider hat er mich bemerkt. Ohne mit dem Sprechen aufzuhören, wirft er einen raschen Blick in meine Richtung. Sehr unauffällig hat er das gemacht, aber es ist mir nicht entgangen.

Ich halte den Atem an. Jetzt darf ich nichts Falsches tun. Denn ohne Frage ist das unsinnig, ich weiß es ja, die Sendung mit dem Staatssekretär ist eine Aufzeichnung, so früh am Morgen gibt man keine Pressekonferenz.

Aber ich weiß auch, dass er mich angesehen hat.

«Ganz ruhig. Immer mit der Ruhe.»

Mit kaltem Schrecken wird mir klar, dass ich das laut gesagt habe. So eine Blöße darf ich mir nicht geben! Und der Staatssekretär, dessen Name mir plötzlich einfällt – er heißt Obermann, Bernd Richard Obermann, und ist für Strom zuständig oder für Erziehung –, hat es gehört, denn ein spöttisches Lächeln gleitet über sein Gesicht. Ich lasse mir nichts anmerken, so leicht verliere ich nicht die Fassung. Ganz ruhig, sage ich erneut zu mir, aber diesmal lautlos und ohne die Lippen zu bewegen, tu so, als wäre alles in Ordnung! Irgendwie muss ich es schaffen, von der Leinwand wegzuschauen. Ich konzentriere mich auf den Rand meines Blickfelds, und da sehe ich verschwommen etwas auf dem Teppich, eine Störung der Symmetrie: ein Rotweinfleck. Zum Teufel, dieser Teppich hat fünfunddreißigtausend Euro gekostet!

Die Wut hilft mir dabei, den Blick von der Leinwand abzuwenden. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, dass Staatssekretär Obermann vom Schirm verschwunden ist. Ein harmloser Herr spricht jetzt ins Mikrophon und interessiert sich nicht für mich. Schnell hebe ich die Fernbedienung, das Bild flammt auf und erlischt.

Das war knapp. Ich stehe auf, bemerke jemanden in der Tür und zucke zurück.

«Habe ich dich erschreckt?»

«Nein, wieso denn? Nein, nein. Nein!» Ich sehe meine Tochter an, meine Tochter sieht mich an, und um etwas zu sagen, frage ich: «Schreibst du heute eine Arbeit?»

«Ja, in Mathematik.»

Ich gratuliere mir, jetzt wirke ich wie ein Vater, der die Dinge im Blick hat und Anteil nimmt, dabei weiß ich einfach, dass Kinder ständig Schularbeiten schreiben. Irgendeine Prüfung ist immer abzulegen, jeden Tag findet zuverlässig eine Gemeinheit statt.

«Weißt du etwas über diesen Rotweinfleck?»

Sie schüttelt den Kopf.

«Wenn du das warst, sag es ruhig. Du wirst nicht bestraft.»

«Ich trinke keinen Wein!»

Das hat sie schön gesagt. Am liebsten würde ich sie jetzt auf beide Wangen küssen, aber ich denke an die Kamera und lasse es sein. «Und?», frage ich stattdessen. «Gut gelernt? Gut vorbereitet?»

Sie zuckt die Achseln, als würde sie nicht glauben, dass mich das interessiert. Das kränkt mich. Denn obwohl es mich wirklich nicht interessiert, tue ich mein Bestes, um mich so zu verhalten, als wäre es mir wichtig. Eine kleine Spinne fällt mir auf – ein Pünktchen, das sich neben der Tür die Wand emporbewegt. Wovon lebt sie eigentlich, was frisst, was trinkt sie, oder trinken Spinnen nicht? Ich würde Marie gern fragen, sie lernt bestimmt genau so etwas in der Schule, aber stattdessen frage ich: «Was kommt dran heute, seid ihr schon bei der Differenzialrechnung?»

«Was ist das?»

«Das weißt du nicht?»

«Ich bin zehn, Papa.»

Auf alles hat sie eine Antwort. Die Spinne ist inzwischen auf der anderen Seite der Tür, wie hat sie es so schnell dorthin geschafft?

«Was?», fragt sie.

«Wie bitte. Du musst ‹wie bitte› sagen, nicht ‹was›.»

«Wie bitte?»

«Was?»

«Was für eine Spinne, Papa?»

Habe ich eben laut gesprochen? Um Himmels willen!

«Du hast gesagt –»

«Nein!»

«Du hast doch –»

«Nichts habe ich gesagt!»

Das war zu laut, ich will meine Tochter nicht erschrecken, und ich darf die Kamera nicht vergessen. Bestürzt streiche ich Marie über den Kopf. Sie lächelt mich an, dann dreht sie sich um und geht, wie Kinder es immer tun, mit springendem, holperndem, springendem Laufschritt davon.

«Beeil dich!», rufe ich ihr nach. «Du bist spät dran, die Schule beginnt gleich!» Ich habe keine Ahnung, wann die Schule beginnt. Aber es wird wohl stimmen.

Was wird sie von mir denken, wenn ich im Gefängnis bin? Auf dem Weg zum Ankleidezimmer im Obergeschoss frage ich mich wieder einmal, warum ich nicht den Mut aufbringe, es abzukürzen. So viele haben es geschafft: Pistole, Tabletten, ein Sprung aus einem hohen Fenster. Warum nicht ich?

Ich bin wohl zu stark dafür. Stark zu sein hat nicht nur Vorteile. Man hält mehr aus, man kann sich in schlimmere Verwicklungen bringen, und es fällt schwerer, aufzugeben. Die Blassen, die Leeren und die Kraftlosen, die nichts zu verlieren haben, wenn sie sich selbst verlieren, die können sich einfach irgendwo aufhängen. Aber in mir ist etwas, das es nicht zulässt.

Im Ankleidezimmer bin ich gerne, hier gibt es selten Probleme. Nebeneinander aufgereiht hängen siebzehn schwarze Maßanzüge, in den Fächern stapeln sich neununddreißig weiße Hemden, und an der Krawattenhalterung hängen fünfundzwanzig fleckenlose Krawatten in ein und demselben Rot. Manchmal schenken Leute mir andere Krawatten, meist mit raffinierten Mustern, die werfe ich weg. Nur eine schwarze habe ich noch, für Begräbnisse. Auf dem Boden stehen einundzwanzig Paar gut polierte Schuhe.

Aber an den Wochenenden ist es schwierig. An freien Tagen kann man keinen Anzug tragen, man kann auch schlecht immerzu das gleiche karierte Hemd anziehen. Es wäre sinnvoll und vernünftig, daher würde man jemanden, der es tut, für sonderbar halten. Und so habe ich auch einen Schrank für Wochenenden, Freizeit, Ferien. Darin befinden sich bunte Hemden aller Art: einfarbige, karierte, gestreifte und sogar eines mit Punkten. Laura mag es nicht, aber ich behaupte, es sei mein Lieblingshemd. Menschen sollten ein Lieblingshemd haben, man erwartet das und findet es sympathisch. Es gibt in dem Schrank auch Jeans, Cordhosen, Ledergürtel, Jacken aller Art, Sportschuhe, Wanderschuhe und Angelschuhe, obwohl ich noch nie angeln war und auch nicht die Absicht habe, das je zu ändern.

Zum Glück ist heute ein Wochentag, darum bin ich nach fünf Minuten fertig. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, rote Krawatte. Alles fühlt sich besser an, wenn man einen Anzug trägt. Ich nicke in den Wandspiegel, mein Spiegelbild nickt ohne Verzögerung zurück. Die Welt funktioniert.

Als ich den Flur betrete, steht Laura vor mir.

«Hast du gut geschlafen?», frage ich. Ich frage sie das jeden Morgen, dabei weiß ich gar nicht, was das soll. Entweder man schläft, oder man ist wach, doch ich weiß aus dem Fernsehen, dass Leute einander diese Frage stellen.

Sie tritt einen Schritt zurück, um sich Raum für die Antwort zu nehmen.

Wie schön sie noch immer ist! Ich nicke und sage: «Aha», und: «Ach», während sie von einer Reise und einem Zauberer und einem Rosenbeet erzählt, Abertausende Rosen, ein weites Meer. Kann man wirklich so etwas träumen? Vielleicht erfindet sie es ja auch, so wie ich fast alles erfinde, was ich erzähle.

«Hörst du mir zu?», fragt sie.

«Natürlich. Rosenbeet.»

Als sie weiterredet, schalte ich unauffällig mein Telefon ein: 8. August 2008, zweitausendsiebenhunderteinunddreißig ungelesene E-Mails. Und genau in dem Moment, da ich auf den Schirm blicke, kommen zwei hinzu.

«Interessiert dich das mehr als das, was ich sage?»

«Liebste!» Schnell stecke ich das Gerät ein. «Prinzessin! Gar nicht interessiert es mich! Sprich weiter.»

Das stimmt sogar, ich lese seit Wochen keine E-Mails mehr. Aber weil es die Wahrheit war, hält sie es für eine Lüge und schiebt schmollend ihre Unterlippe vor.

«Laura! Bitte weiter! Bitte!»

Offenbar treffe ich heute nicht den richtigen Ton, denn ihre Stirn kräuselt sich vorwurfsvoll. «Marie braucht Nachhilfe in Mathematik. Du musst einen Lehrer finden. Herr Lakebrink sagt, es ist dringend.»

Das geht mir zu schnell. Gerade noch Rosen, jetzt dieser Lakebrink. «Ist das ihr Lehrer?»

Ihre Stirnfalten werden tiefer.

«Lakebrink», sage ich. «Ich weiß schon. Dieser Lakebrink. Dieser Mensch.»

Sie tritt noch einen Schritt zurück.

«Also gut, wer ist das?»

«Eric, was ist los mit dir?»

«Wollen wir wegfliegen?», frage ich hastig. «Nächstes Wochenende, nur du und ich …» Jetzt muss mir schnell ein scheußlich heißer Ort einfallen; wo waren wir neulich? «Nach Sizilien?» Es war Sizilien, da bin ich ziemlich sicher. Womöglich war es auch Griechenland. Feucht und warm wie in der Hölle, absurd hoch die Preise, frech tuschelnde Kellner sowie räudige Katzen, die böse von spitzen Felsen herabstarren, aber Laura war sehr glücklich.

Sie breitet die Arme aus, legt den Kopf an meine Brust, umschlingt mich. Ihr Haar duftet süßlich – ein wenig nach Salbei, ein wenig nach Zitrone, eigentlich riecht sie immer gut. Sie murmelt, dass ich wunderbar sei, großzügig, einzigartig; ich höre sie schlecht, weil sie das Gesicht in mein Jackett drückt, und streiche ihr über den Rücken.

«Der Direktor», sagt sie.

«Was?»

«Herr Lakebrink ist der Direktor von Maries Schule. Du hast letzte Woche mit ihm gesprochen. Auf der Elternversammlung.»

Ich nicke, als wüsste ich das längst. Selbstverständlich muss ich mir einen überzeugenden Grund ausdenken, warum wir doch nicht nach Sizilien können. Sie wird so enttäuscht sein, dass ich mir ein noch größeres Versprechen einfallen lassen muss, um sie zu besänftigen, und auch das werde ich brechen. Alles wegen dieser Elternversammlung, an die ich mich sogar gut erinnere: die Decke niedrig, der Fußboden aus Kunststoff, grelle Lampen und ein Plakat mit dem Aufruf, sich dringend bald gegen irgendwas impfen zu lassen.

«Eines noch, Eric!» Sie streicht mir über die Wange. Ihre Berührung erinnert mich daran, wie sehr ich sie noch vor kurzem begehrt habe. «Vorgestern hast du Marie gesagt, das Wichtigste ist, nicht aufzufallen. Niemals den Neid der anderen zu erregen.»

«Na und?»

«Sie hat das sehr ernst genommen.»

«Gut so.»

«Aber gestern hast du ihr gesagt, man soll nie Kompromisse machen. Immer kämpfen und immer versuchen, der Beste zu sein. Keinem Streit aus dem Weg gehen.»

«Und?»

«Jetzt ist sie verwirrt.»

«Warum?»

«Weil sich das widerspricht!»

«Sizilien!», rufe ich.

Sofort hellen sich ihre Züge auf.

Wir umarmen uns von neuem, und ein schwindelerregend starkes Déjà-vu überkommt mich. Ich erinnere mich, dass ich schon einmal hier gestanden und sie in den Armen gehalten und ebendieses Gespräch mit ihr geführt habe, in einem Traum oder in einem anderen Leben oder auch in diesem Leben, vor zwei oder drei Tagen. Und in Kürze werden wir abermals hier stehen, und vermutlich kommt dann wieder Herr Lakebrink vor, bis irgendwann das Beil fällt und die Polizei hereinstürmt und es sich nicht mehr wiederholt. Ich gebe ihr einen grässlich keuschen Kuss auf die Stirn, gehe schnell zur Treppe und sage: «Ich liebe dich», ohne mich umzudrehen. Warum, wo es doch wahr ist, fühlt es sich an wie eine Lüge?

«Ich dich auch», ruft sie, und obwohl es sich falsch anhört, weiß ich, dass es stimmt.

Aus Zerstreutheit nehme ich die erste Treppenstufe mit dem linken Fuß. So etwas sollte nicht passieren, besonders in diesem Haus darf ich auf keinen Fall unvorsichtig sein. Von Anfang an, schon bei der ersten Besichtigung, hatte ich hier kein gutes Gefühl.

Bloß jetzt nicht an die Dachkammer denken. Ich muss so tun, als hätte ich vergessen, dass es sie gibt. Alles in ihr ist abstoßend: Die Dachschräge trifft den Boden in einem besonders hässlichen Winkel, auf die Tapete sind schlammbraune Rechtecke gedruckt, wegen der Schmutzflecken im Glas wirft die alte Lampe das abscheulichste Fünfeck auf die Dielen, und hinter dem schmalen Tisch, aufgestellt von irgendjemandem vor vielen Jahren, klafft eine Lücke. Man muss nur ein paar Minuten in dem Raum verbringen, dann weiß man, dass dort einer gestorben ist.

Daran ist an sich nichts Ungewöhnliches. In fast jedem Zimmer eines alten Hauses ist schon jemand verreckt. Aber in dieser Dachkammer war es ein besonders schwerer Tod. Er hat sich lange hingezogen, unter großen Schmerzen. Geister sind erschienen, Dämonen sichtbar geworden, vom Todeskampf angelockt. Aber wie hätte ich das Laura erklären sollen? Siebeneinhalb Millionen. Das Haus gefiel ihr sofort. Maurische Fliesen auf der Terrasse, fünf Badezimmer, ein Medienraum. Was hätte ich tun sollen?

Also bin ich eines Nachts hinaufgestiegen. Denn es ist möglich: Man kann dem Schrecken gegenübertreten, bis er nachgibt und sich zurückzieht. Fast drei Stunden habe ich ausgehalten. Der Tisch, die Schatten, die Lampe, ich. Und noch jemand.

Dann bin ich gerannt. Die Treppen hinunter, durch die Halle, in den Garten. Am Himmel der Halbmond, umgeben von schillernden Nachtwolken. Wohl eine Stunde habe ich im Gras gelegen, und als ich zurück ins Bett geschlichen bin, ist Laura aufgewacht und hat mir von ihrem Traum erzählt, einem bunten Vogel, einem freundlichen Briefträger und einer Lokomotive. Und ich habe zur Decke hinaufgesehen und daran gedacht, dass es das Zimmer da oben geben wird, solange wir leben. Auch wenn wir nicht mehr hier wohnen, auch wenn hier längst andere sind, ist es noch da.

Ich öffne die Haustür. Mein Gott, ist das heiß. Das Auto wartet mit laufendem Motor, Knut sitzt missmutig am Steuer. Er hasst das Warten. Ich weiß nicht, wieso einer wie er Chauffeur geworden ist. Außerdem ist mir ein Rätsel, warum er Knut heißt. Er ist Grieche und sieht auch so aus: Bartstoppeln, schwarze Haare, braune Haut. Auf einer langen Fahrt hat er mir einst die Geschichte seines Namens erzählt, ich habe nicht zugehört, und wenn ich jetzt noch einmal danach fragen würde, wäre er beleidigt. Ich steige ein, Knut fährt ohne Gruß los.

Ich schließe die Augen. Schon höre ich ihn hupen.

Er ruft: «Idiot!», und hupt wieder. «Haben Sie das gesehen, Chef?»

Ich öffne die Augen. Die Straße ist völlig leer.

«Einfach von links!», ruft er.

«Unglaublich.»

«Der Idiot!»

Während er auf das Lenkrad klopft und schimpfend dahin und dorthin zeigt, frage ich mich zum tausendsten Mal, wie ich ihn loswerden soll. Leider weiß er zu viel über mich; ich bin sicher, dass er schon am Tag nach der Kündigung anonyme Briefe schreiben würde – an Laura, an die Polizei, was weiß ich, wer ihm noch einfiele. Die einzige Möglichkeit wäre ein diskreter Mord. Aber wollte ich tatsächlich jemanden töten, wüsste ich niemand anderen als ihn, den ich um Hilfe bitten könnte. Es ist verzwickt. Ich ziehe das Telefon hervor und betrachte die Kurse. Die Rohstoffpreise sind gefallen, der Euro hat sich gegenüber dem Dollar nicht erholt, und die überbewerteten IT-Papiere stehen genau dort, wo sie gestern standen. Ich begreife es nicht.

«Heiß!», ruft Knut. «So heiß, so heiß!»

Ich war überzeugt, die IT-Werte würden fallen. Andererseits habe ich kommen sehen, dass das nicht geschieht – nicht aus Einsicht in den Markt, sondern weil ich mich inzwischen daran gewöhnt habe, dass stets das Gegenteil von dem eintritt, was ich erwarte. Aber wem soll ich denn folgen: meiner Einschätzung oder dem Wissen, dass ich fast immer unrecht habe?

«März, April!», ruft Knut. «Immer Regen. Mai – Regen. Immer! Und jetzt das!»

Aber Verluste erschrecken mich nicht mehr. Hätten die Kurse sich entwickelt, wie ich es vorhergesagt habe, es hätte nichts verändert. Steigende Kurse retten mich nicht mehr. Nur ein Wunder könnte das.

Das Telefon vibriert, auf dem Bildschirm steht: Kommst du heute?

Jederzeit, tippe ich.

Während ich auf die Sendetaste drücke, denke ich darüber nach, welche Ausrede ich gebrauchen könnte, falls sie schreibt, ich soll sofort kommen. Denn ich habe ja keine Zeit: Adolf Klüssen hat sich angemeldet, mein wichtigster Klient. Aber sie ist tagsüber ohnehin meist beschäftigt, und wenn sie schreibt, dass ich erst am Abend kommen soll, wird sie sich schuldig fühlen, und das ist hilfreich, darauf lässt sich aufbauen.

Ich starre das Telefon an. Der Bildschirm starrt grau zurück. Keine Antwort.

Und noch immer keine Antwort.

Ich schließe die Augen und zähle langsam bis zehn. Knut redet, ich achte nicht darauf. Bei sieben verliere ich die Geduld, öffne die Augen und blicke auf den Schirm.

Keine Antwort.

Na gut, vergiss es. Ich brauche sie nicht, es geht mir besser ohne sie! Vielleicht ist es ja ihre Rache für letzten Sonntag.

Wir trafen uns vor dem Eingang, es war ein Programmkino, gezeigt wurde Orson Welles’ letzter Film, sie wollte ihn unbedingt sehen, mich interessierte er nicht, aber das war mir egal, weil mich ja auch kein anderer Film interessiert hätte. In der Lobby roch es nach Bratfett, beim Schlangestehen vor der Kasse ging uns der Gesprächsstoff aus, und gerade als wir uns setzen wollten, sprang in der Reihe vor uns ein Mann auf und brüllte meinen Namen.

Vor Schreck erkannte ich ihn zunächst gar nicht. Dann erst ordneten sich die Gesichtszüge: Mund, Nase, Augen und Ohren kehrten an ihre Plätze zurück, und die Erscheinung verwandelte sich in Dr. Übelkron, den Mann von Lauras bester Freundin, der noch auf keiner unserer Gartenpartys fehlte.

Ich umarmte ihn wie einen verlorenen Bruder. Dann boxte ich ihm ein paarmal auf die Schulter und fing an, ihm Fragen zu stellen: wie es der Gattin gehe und der Tochter und der Mutter und was man wohl halten solle von der Hitze. Der Film hatte schon angefangen, Leute um uns zischten, und auch Dr. Übelkron war anzusehen, dass er es gern hätte gut sein lassen, aber ich hörte nicht mit dem Reden auf, fragte weiter, ließ ihn nicht zum Antworten kommen und bearbeitete gnadenlos seine Schulter. Als ich endlich von ihm abließ, sank er erschöpft in seinen Sitz, ohne noch zu fragen, wer denn die Frau bei mir sei. Ich sah auf die Uhr, wartete genau vier Minuten, zog mein Telefon hervor, rief laut: «Oje», «O Gott», und: «Komme sofort», sprang auf und lief hinaus. Dass Sibylle noch im Kino saß, fiel mir erst im Taxi auf.

Das Telefon vibriert. Gut, komm!

Wann?

Nach drei Sekunden die Antwort: Jetzt.

Kann nicht, tippe ich. Wichtiger Klient. Aus Gewohnheit kommt es mir wie eine Ausrede vor, dabei ist es die Wahrheit. Ich drücke die Sendetaste und warte.

Nichts.

Aber was soll das, warum antwortet sie nicht? Unter Aufbietung aller Willenskraft stecke ich das Telefon ein. Wir sind da.

Wie immer steige ich auf der Straße aus und lasse Knut allein in die Tiefgarage fahren, ich kann nicht da hinunter, es geht einfach nicht. Schnell durch die Gluthitze, schon öffnen sich Glastüren, und ich betrete die Lobby. Die Liftkabine trägt mich in den zwölften Stock. Ich eile durch das Großraumbüro, sehe überall ähnliche Gesichter vor ähnlichen Bildschirmen. Einige kenne ich, andere nicht, ich bin froh, dass keiner mich anspricht, in letzter Zeit habe ich zu viele Namen vergessen.

Meine Sekretärinnen begrüßen mich schweigend. Die eine ist schön, die andere kompetent, sie hassen einander, und mich mögen sie auch nicht sehr. Mit der schönen, die Else heißt, habe ich sechs- oder siebenmal geschlafen. Ich hätte sie längst entlassen, aber sie könnte mich erpressen. Mit der anderen, Kathi, habe ich nur ein einziges Mal geschlafen, unter dem Einfluss neuer Medikamente, die mich dazu gebracht haben, allerlei Dinge zu tun, an die ich nicht mehr denken möchte.

«Herr Klüssen wartet schon», sagt Kathi.

«Fein!» Ich gehe in mein Büro, setze mich hinter den Schreibtisch, falte die Hände und zähle langsam bis zehn. Dann erst hole ich mein Telefon aus der Tasche. Keine Antwort. Warum behandelt sie mich so?

Ich verwalte das gesamte Vermögen von Adolf Albert Klüssen, und ich habe alles verloren. Alle Auszüge und Aufstellungen, die er in den letzten zwei Jahren bekommen hat, waren gefälscht. Der Mann ist alt und nicht sehr klug, und wenn ich auch nicht mehr imstande bin, sein Geld zurückzugewinnen, so kriege ich es doch noch hin, beeindruckende Bilanzen zu erfinden und Gewinne auszuweisen, die ich gemacht hätte, hätte ich die Entwicklung des Marktes vorausgesehen. Ich füge den Zahlen dann allerlei Kurven hinzu, in Rot, Blau und Gelb, das stärkt das Vertrauen. Aber jedes Gespräch mit ihm birgt Gefahren.

Ich stehe auf und trete ans Fenster. Die Aussicht ist spektakulär, man kann sich schwer gewöhnen an so viel Weite und Helligkeit. Wie immer, wenn die Welt mich ungefragt mit Glanz und Glitzern bedrängt, muss ich an Iwan denken, an einen fernen Nachmittag in Arthurs Bibliothek. Wir waren zweiundzwanzig, Weihnachten stand bevor, Iwan war aus Oxford gekommen, ich aus dem Sanatorium.

«Erzähl!», sagte er.

Ich hatte kaum Erinnerungen an die letzten Monate. Alles war eierschalengelb gewesen, die Wände, der Boden, die Zimmerdecke, die Kittel der Pfleger. Nachts wusste man nicht, ob die Stimmen, die man hörte, von den anderen Patienten kamen oder aus dem eigenen Kopf.

«Du musst mitspielen», sagte Iwan, «das ist der ganze Trick. Lügen musst du. Du denkst, die Leute durchschauen dich, aber keiner durchschaut irgendwen. Man kann in Menschen nicht lesen. Du denkst, die anderen kriegen mit, was in dir vorgeht, aber das stimmt nicht.»

«Ich weiß nicht, wovon du sprichst.»

«Das ist die richtige Antwort. Beobachte, leite die Regeln ab. Menschen sind nur selten spontan, meist sind sie Maschinen. Was sie tun, tun sie aus Gewohnheit. Du musst Regeln ableiten, und dann musst du dich an sie halten, als ob dein Leben davon abhinge. Denn das tut es ja. Dein Leben hängt davon ab.»

Ich starrte auf den Tisch. Uraltes Holz, ein Erbstück der Familie, er hatte unserem Ururgroßvater gehört, der angeblich Schauspieler gewesen war. Die schwarze Maserung bildete ein Muster von eigentümlicher Schönheit. Es überraschte mich, dass ich so etwas überhaupt bemerkte, aber dann wurde mir klar, dass nicht ich es war, der das wahrnahm. Es war Iwan.

«Wahrheit, schön und gut», sagte er. «Aber manchmal hilft sie nicht weiter. Frag dich immer, was man von dir verlangt. Sag, was alle sagen, tu, was alle tun. Überleg dir genau, wer du sein möchtest. Frag dich, was der, der du sein möchtest, tun würde. Und dann tu genau das.»

«Wenn die Zelle sich damals nicht geteilt hätte», sagte ich, «es gäbe nur einen von uns.»

«Konzentrier dich!»

«Aber wer wäre das? Ich, du oder ein Dritter, den wir nicht kennen? Wer wäre das?»

«Der Trick ist, dass du es mit dir selbst ausmachen musst. Das ist das Schwierigste. Erwarte von niemandem Hilfe. Und lass dir nicht etwa einfallen, eine Therapie zu machen. Dort lernt man nur, mit sich einverstanden zu sein. Man lernt gute Entschuldigungen.»

Ich sollte ihm sagen, dass er recht hatte, denke ich jetzt, ich hätte keine Therapie machen sollen. Ich möchte mit ihm reden, heute noch, ich muss ihn sehen, ich brauche seinen Rat. Vielleicht könnte ich mir Geld von ihm ausleihen und verschwinden. Ein falscher Pass, ein Flugzeug nach Argentinien, nur ich allein. Noch wäre es möglich.

Ich nehme das Telefon und höre Elses, leider nicht Kathis Stimme. «Ich muss meinen Bruder sprechen. Rufen Sie ihn an, bitten Sie ihn her.»

«Welchen Bruder?»

Ich reibe mir die Augen. «Na welchen wohl!»

Sie schweigt.

«Also rufen Sie ihn an! Jetzt! Sagen Sie ihm, es ist wirklich wichtig. Und schicken Sie endlich Klüssen herein.»

Ich lege auf, verschränke die Arme und versuche, so auszusehen, als wäre ich tief in Gedanken versunken. Plötzlich fällt mir auf, dass ich Klüssen nicht draußen im Vorzimmer gesehen habe. Die Couch war leer. Aber hat sie nicht gesagt, er sei schon gekommen? Wenn er aber schon hier und nicht im Vorzimmer war, bedeutet das …? Besorgt sehe ich mich um.

«Hallo, Adolf!»

Da sitzt er und starrt mich an. Er muss die ganze Zeit schon dagewesen sein. Ich lächle und versuche so dreinzublicken, als wäre es ein Scherz gewesen.

Adolf Albert Klüssen, ein kräftiger Greis von Mitte siebzig, gut angezogen, befehlsgewohnt, die Haut sonnenfaltig, die Augenbrauen buschig, blickt mich an, als hätte er einen Frosch verschluckt, als hätte er heute schon seinen Schlüssel, seinen Pass und seine Brieftasche verloren und wäre dafür noch ausgelacht worden, als hätte man ihn beraubt und danach seinen Sportwagen zerkratzt. Unter den Achseln seines Polohemds hat er dunkle Schweißflecken, aber das liegt wohl an der Hitze und hat nichts zu bedeuten. Adolf Albert Klüssen, Sohn des Kaufhausbesitzers Adolf Ariman Klüssen, Enkel des Kaufhausgründers Adolf Adomeit Klüssen, Spross einer Familie, deren älteste Söhne so lange schon den Namen Adolf tragen, dass sich niemand dazu hat aufraffen können, diese Tradition aufzugeben, sieht mich an, als wäre die ganze Welt verachtenswert. Und dabei weiß er noch nicht einmal, dass er mittellos ist.

«Adolf! Wie schön, dich zu sehen!»

Seine Hand fühlt sich an wie knotiges Holz. Ich hoffe, die meine ist nicht feucht von der Nervosität. Immerhin habe ich meine Stimme gut im Griff, sie zittert nicht, und auch mein Blick ist fest. Er sagt etwas darüber, dass ich seine E-Mails nicht beantwortet hätte, und ich rufe, dass das ein Skandal ist und dass ich meine Sekretärin hinauswerfen werde. Schnell lege ich ihm drei bedruckte Blätter hin: Zahlen, die gar nichts bedeuten, darunter die Namen der bekanntesten risikolosen Blue-Chips: Apple, Berkshire Hathaway, Google und Mercedes-Benz, viele Tortengraphiken, alles so leuchtend bunt wie nur möglich.

Aber heute hilft das nicht. Er blinzelt, dann legt er die Blätter weg, beugt sich vor und sagt, er habe etwas Grundsätzliches auf dem Herzen.

«Etwas Grundsätzliches!» Ich stehe auf, gehe um den Tisch herum und setze mich auf die Tischkante. Immer ein wenig höher sein als das Gegenüber – ein alter Verhandlungstrick.

Er sei nicht mehr der Jüngste, sagt er. Er wolle nichts mehr riskieren.

«Riskieren?» Ich falte die Hände. «Beim Leben meines Vaters!» Händefalten ist hilfreich, es sieht ehrlich aus. Ganz falsch hingegen ist es, die Hand aufs Herz zu legen. «Wir haben nie etwas riskiert!»

Warren Buffett, sagt Klüssen, habe geraten, nie in etwas zu investieren, das man nicht verstehe.

«Aber ich verstehe es doch. Das ist mein Beruf, Adolf.» Ich stehe auf und trete ans Fenster, damit er mein Gesicht nicht sieht.

Vor ein paar Jahren war noch alles in Ordnung. Die Investitionen waren ertragreich, die Bilanzen passabel. Dann gab es einen Engpass in der Liquidität, und mir fiel auf, dass mich nichts daran hinderte, einfach zu behaupten, ich hätte Gewinne gemacht. Verkündet man Verluste, ziehen die Investoren ihr Geld ab, behauptet man einen Gewinn, bleibt alles beim Alten – man kann fortfahren, man gleicht den Verlust aus, niemand ist geschädigt, es sind nur Zahlen auf Papier. Also tat ich es, und nach ein paar Monaten war das Geld wieder da.

Aber ein Jahr später war ich in der gleichen Situation. Im schlechtesten Augenblick wollte mein zweitwichtigster Klient drei Millionen abheben. Ich hatte Positionen, die ich nicht ohne Verlust auflösen konnte, also wies ich falsche Gewinne aus, akquirierte dadurch neue Anleger und bestritt die Auszahlung mit deren Kapital. Ich war sicher, die Kurse würden sich schnell erholen und alles wieder in Ordnung bringen.

Doch dann fielen sie weiter. Mehr Anleger wollten Geld abziehen, und hätte ich nicht noch größere Bestände vom Kapital angegriffen, wäre alles aufgeflogen. Als die Kurse sich tatsächlich erholten, fehlte schon zu viel.

Aber ich hatte noch Hoffnung. Ich galt als erfolgreich, neue Anleger strömten mir zu, und ich verwendete ihr Geld, um die Rendite der alten Anleger zu bezahlen: zehn, zwölf, manchmal sogar fünfzehn Prozent, so viel, dass kaum einer auf die Idee kam, sein Kapital abzuziehen. Lange dachte ich, es werde sich plötzlich ein Ausweg auftun. Vor zwei Jahren dann, in einer Nacht endlosen Rechnens, begriff ich, dass das nicht geschehen konnte.

Argentinien oder Venezuela, Ecuador, Liberia, die Elfenbeinküste: neuer Pass, neuer Name, ein neues Leben. Ich hätte es tun sollen. Marie wäre vielleicht begeistert gewesen, Laura hätte auch anderswo Partys geben können. Das Wetter ist ohnehin überall besser als hier.

Aber dann war der Moment verstrichen. Ich war zu langsam gewesen, zu unentschlossen. Man braucht viel Geld, um mit Komfort zu verschwinden. Jetzt habe ich rein gar nichts mehr. Alles Kapital ist dahin, alle Kredite sind ausgeschöpft.

«Kennst du die Bhagavad Gita?», frage ich.

Klüssen starrt mich an. Damit hat er nicht gerechnet.

«Der Gott Krishna sagt zum Feldherrn Arjuna: Du wirst nie klären können, wieso alles so ist, wie es ist. Du kannst die Verstrickungen nicht auflösen. Aber du stehst hier, großer Krieger. Also frag nicht, steh auf und kämpfe.»

Ich habe das mal im Autoradio gehört. Das Zitat hat mir so gut gefallen, dass ich Else beauftragt habe, es nachzuschlagen.

«Na wo denn?», hat sie gefragt.

«In der Bhagavad Gita.»

«Wie soll ich es finden?»

«Indem Sie es lesen.»

«Das Ganze?»

«Nur bis zu dem Satz.»

«Und wenn er am Schluss steht?»

Sie hat ihn nicht gefunden, und ich zitiere aus dem Gedächtnis. Klüssen wird schon nicht nachschauen.

Er schweigt. Wie auch immer, sagt er dann. Er wolle sein Vermögen neu aufstellen.

«Adolf!» Ich schlage ihm so fest auf die Schulter, dass der Körper des Alten bebt. Für einen Moment verliere ich den Faden; das liegt wohl an seinen Augenbrauen. Bei so buschigen Brauen ist es kein Wunder, wenn man konfus wird. «Wir beide haben zusammen viel verdient. Und es wird mehr werden. Die Immobilienpreise steigen und steigen! Wer sich jetzt zurückzieht, wird es bedauern.»

Wie auch immer, wiederholt er und reibt sich die Schulter. Seine Frau, er und sein Sohn hätten gemeinsam beschlossen, die Assets neu zu streuen. Sein Sohn meine, das ganze System bewege sich auf einen Kollaps zu. Alle seien verschuldet. Kapital sei viel zu billig. Es könne nicht gutgehen.

«Assets streuen? Du weißt doch nicht mal, was das heißt!» Nein, jetzt bin ich zu weit gegangen. «Ich meine, natürlich weißt du das, aber es klingt nicht nach dir, das sind nicht deine Worte, das ist nicht der Adolf, den ich kenne.»

Sein Sohn, sagt er, habe gerade seinen MBA gemacht, und –

«Adolf! Die Universität ist eine Sache, aber die Wirklichkeit …!» Was soll denn das, was mischt dieser Sohn sich ein! Ich schweige kurz, dann hole ich Luft und rede lange. Es kommt nicht darauf an, was ich sage, Klüssen versteht wenig und merkt sich noch weniger. Es kommt darauf an, dass gesprochen wird, ohne Unterbrechung und Zaudern, es kommt darauf an, dass er meine Stimme hört und einsieht, dass er es mit einer größeren Kraft zu tun hat als der seinen und mit einem Intellekt, dem er nicht gewachsen ist.

Bald werde ich so vor Gericht sprechen müssen. Mein Anwalt wird mir raten, keine Aussage zu machen, das raten sie immer. Sie haben Angst, man verwickelt sich in Widersprüche, sie trauen einem nicht zu, mit dem Staatsanwalt fertigzuwerden, sie denken, man hat keine Überzeugungskraft. Womöglich werde ich mich dann von meinem Anwalt trennen müssen, was mitten im Verfahren einen schauderhaften Eindruck machen wird. Vielleicht ist es besser, ich verteidige mich gleich selbst. Aber Leute, die sich selbst verteidigen, hält man für Narren, ein respektabler Angeklagter muss auch einen teuren Verteidiger haben, einen pompösen, raumgreifenden Menschen. Daran führt kein Weg vorbei. Aber das Aussagen lasse ich mir nicht nehmen.

«Wieso?», fragt Klüssen.

«Bitte?»

«Wo willst du aussagen?»

Er sieht mich an, ich sehe ihn an. Es kann nicht sein, dass ich das laut gesagt habe, es muss ein Missverständnis sein. Also mache ich eine wegwerfende Handbewegung und spreche weiter: von Derivaten und Derivaten zweiter Ordnung, von unterbewerteten Immobilienfonds, von Risikostreuung und statistischer Arbitrage. Ich zitiere die Fachzeitschrift Econometrica, von der ich ein einziges Exemplar besitze, erwähne Spieltheorie und Nash-Gleichgewicht und unterlasse auch nicht die Andeutung, dass ich Verbindungen zu Leuten in Schlüsselpositionen unterhalte, die mir Insiderinformationen geben – am Rand der Legalität, aber sehr profitabel.

Schließlich verstumme ich. Man muss einem Gegner die Möglichkeit geben, sich zu besinnen. Er muss zu sich kommen und begreifen können, dass er verloren hat. Ich falte die Hände, beuge mich vor und sehe ihm in die Augen. Er holt ein Taschentuch hervor und putzt sich umständlich die Nase.

«Handschlag, Adolf!» Ich strecke die Hand aus. «Ein Mann, ein Wort, wir machen zusammen weiter. Ja?»

Er sei verwirrt, sagt er.

«Handschlag!»

Er sei verwirrt.

Mit meiner Linken fasse ich seinen rechten Arm und versuche, seine Hand in meine zu legen. Er widersteht. Ich ziehe, er widersteht weiterhin, er ist überraschend stark.

Er müsse nachdenken, sagt er. Er werde mit seinem Sohn sprechen, er werde mir einen Brief schreiben.

«Denk nur nach!», rufe ich mit belegter Stimme. «So lange du willst! Nachdenken ist wichtig.»

Nun schütteln wir einander doch die Hände, aber nicht zur Besiegelung unserer Geschäftsbeziehung, sondern zum Abschied. Ich drücke so fest zu, dass alle Sonnenbräune aus seinem faltigen Gesicht weicht. Ich weiß, dass ich verloren habe. Er wird sein Geld zurückverlangen. Und er weiß, dass ich das weiß. Was er nicht weiß, ist, dass ich sein Geld nicht mehr habe.

Für einen Moment kommt mir die Idee, ihn schnell umzubringen. Ich könnte ihn erwürgen oder ihm mit etwas Hartem den Schädel einschlagen. Aber dann? Wie schaffe ich die Leiche weg? Außerdem ist es wahrscheinlich, dass es auch in diesem Raum eine Kamera gibt. Müde lasse ich mich in den Sessel fallen. Ich stütze den Kopf in die Hände.

Als ich aufsehe, ist Klüssen gegangen. Statt seiner ist ein hochgewachsener Mann im Zimmer. Er lehnt an der Wand und sieht mich an. Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Er ist noch da. Er hat eine hässliche Zahnlücke ganz vorne.

Nicht gut, denke ich.

«Nein», sagt der Mann. «Gar nicht gut.»

Ich schließe die Augen.

«Wird nicht helfen», sagt der Mann.

Und tatsächlich, ich sehe ihn noch.

«Misch dich nicht ein», sagt der Mann. «Geh einfach vorbei. Wenn du sie siehst, misch dich nicht ein. Lass es bleiben. Sprich die drei nicht an, geh weiter.»

Mir ist schwindlig. Nicht einmischen? Weitergehen? Ich kann dem jetzt nicht nachforschen, ich muss mich um Klüssen kümmern. Ein paar Wochen kann ich es wohl hinauszögern, ich werde Klüssen in einen komplizierten Schriftverkehr verwickeln, werde nicht erreichbar sein und alles durch endlose Einwände und Fragen behindern. Irgendwann wird er mich verklagen, dann wird die Staatsanwaltschaft mit ihren Ermittlungen beginnen, aber Zeit wird vergehen, und bis dahin kann ich noch mein Haus bewohnen und morgens zur Arbeit fahren. Es wird Herbst werden, Blätter werden fallen, und mit etwas Glück bin ich noch nicht verhaftet, wenn der Schnee kommt.

Der Mann ist nicht mehr da. Ich halte mir die Hand vor die Augen. Das Sonnenlicht im Fenster ist so grell, dass es die Tönung des Glases zu durchdringen scheint. Ich nehme den Telefonhörer und bitte Else um ein Glas Wasser. Da steht es schon, ich trinke. Als ich es absetze, sehe ich einen Priester, den ich kenne. Er ist noch dicker als beim letzten Mal. Wann ist mein Bruder hereingekommen? Und das Glas in meiner Hand, wer hat es so schnell gebracht?

«Kann ich etwas für dich tun?», frage ich vorsichtig. Gut möglich, dass ich ihn mir nur einbilde. Ich darf mir keine Blöße geben.

Er druckst herum, murmelt etwas, will sich offenbar nicht festlegen.

Ich nehme ein Blatt Papier und tue, als ob ich lese. Meine Hände zittern. Die Sache mit Klüssen hat mich mitgenommen.

Er fragt irgendetwas.

Also wohl keine Einbildung, Phantome fragen nie. Aber seine schwarze Kleidung verunsichert mich, ich muss an Exorzismen denken. Dann sagt er etwas über einen Würfel, und erst denke ich, er spricht vom Glücksspiel, aber da stellt sich heraus, dass er sein Hobby gemeint hat, und um mir den Schwachsinn nicht anhören zu müssen, frage ich ihn, ob er schon gegessen hat, stehe auf und gehe hinaus. Draußen bleibe ich bei Elses Tisch stehen, beuge mich vor, rieche ihr Parfum, zwinge mich, sie nicht anzufassen, und frage, warum in aller Welt mein Bruder hier ist.

Das sei doch ihre Aufgabe gewesen, sagt sie. Meinen Bruder anrufen! Und ihn bitten, schnell herzukommen. Das hätte ich angeordnet.

«Ach so», sage ich. «Klar. Richtig. Ich weiß.» Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht. Warum sollte ich das angeordnet haben?

Schnell gehe ich zum Lift. Das Telefon vibriert in meiner Tasche, ich nestle es hervor. Also was jetzt, willst du kommen oder nicht?

Jetzt?, schreibe ich zurück. Ich warte, mein Bruder ist nicht zu sehen. Warum sind alle immer so schwerfällig? Elende, das Leben vergällende Langsamkeit! Und warum antwortet sie nicht?

Da kommt er. Die Lifttüren gehen auf, wir betreten die Kabine, und mir fällt wieder Der Exorzist ein. Man darf Priester nicht unterschätzen. Ich erkundige mich nach Horoskopen. Das wollte ich immer schon wissen: Ob sie funktionieren, müsste man doch statistisch prüfen können. Man braucht nur hundert Leute, die am gleichen Tag ums Leben gekommen sind, entweder gibt es signifikante Gemeinsamkeiten in ihrem Horoskop oder nicht! Warum macht das keiner?

Er glotzt mich dumm an. Offenbar habe ich ihn gekränkt. Wein in Blut verwandeln, das geht in Ordnung, aber Horoskope sind unter seiner Würde. Ich ziehe das Telefon heraus. Keine Antwort. Da kommen wir auch schon unten an.

Wir gehen durch die Eingangshalle, die Glastüren öffnen sich. Großer Gott, ist das heiß. Mein Telefon vibriert. Kannst du um fünf?

Warum nicht jetzt???, schreibe ich. Neben mir hupt ein Auto, mir fällt auf, dass ich mitten auf der Straße bin. Da drüben ist schon das Restaurant, ich gehe jeden Tag dorthin. Die Einrichtung ist abscheulich, die Kellner sind herablassend, das Essen schmeckt mir nicht. Aber das ist gleichgültig, ich habe ohnehin selten Hunger, die Medikamente verhindern es.

Der Kellner rückt den Tisch weg, damit mein fetter Bruder sich auf die Sitzbank zwängen kann. Ich bestelle für uns beide, was ich jedes Mal bestelle: Spaghetti alle vongole. Ich mag keine Muscheln, aber es ist ein standesgemäßes Gericht, nicht zu viel, nicht zu schwer, nicht zu wenige Kalorien, nicht zu billig.

Das Telefon vibriert. Gut, dann jetzt.

Martin fragt mich nach Wirtschaft und Prognosen, ich antworte irgendetwas. Warum sitzen wir hier, was will er? Jetzt kann ich nicht, schreibe ich. Wie stellt sie sich mein Leben vor, glaubt sie, ich kann jederzeit alles stehen und fallen lassen, nur weil sie sich gerade allein fühlt? Am späten Nachmittag, ja?

Ich warte. Keine Antwort. Mein Bruder fragt, ich antworte, ohne mir selbst zuzuhören. Ich sehe auf das Telefon, lege es weg, nehme es wieder, lege es weg, nehme es wieder, warum antwortet sie nicht?

«Wenn du jemandem eine Nachricht schickst», frage ich, «und er antwortet, und du antwortest wieder und bittest um schnelle Antwort, und es kommt keine, würdest du dann davon ausgehen, dass er die Nachricht nicht bekommen hat oder dass er einfach nicht antwortet?»

«Er oder sie?»

«Was?»

Er blickt mich verschlagen an. «Du hast einmal ‹er› und einmal ‹sie› gesagt.»

Was für ein Unsinn. Ich weiß, was ich gesagt habe. Eine lächerlich plumpe Falle. «Und?»

«Nichts», sagt er lauernd.

Was will er mir entlocken, wie hat er es geschafft, dass ich über persönliche Dinge mit ihm spreche? Diese Priester sind geschickt. «Was willst du wissen?»

«Nichts!»

Sein Mund ist verschmiert von Sauce. Teller stehen jetzt zwischen uns, seiner ist schon fast leer, meiner unberührt. Wann sind sie gebracht worden? «Es ist völlig egal, was für eine Nachricht», sage ich. «Es spielt keine Rolle.»

Er murmelt etwas, versucht, sich herauszureden.

Warum antwortet sie nicht? «Vielleicht gehört es ja zu deinem Beruf. Vielleicht müsst ihr so neugierig sein.»

Mein Telefon vibriert. Na dann eben später.

Wann?, schreibe ich und frage mich zum wohl tausendsten Mal, über wie viele Server diese Nachricht laufen wird und wie viele Unbeteiligte sie lesen können. Jeder von ihnen könnte mich erpressen. Warum zwingt sie mich zu so unvorsichtigem Verhalten? «Führt ihr noch Exorzismen durch? Dämonische Besessenheit. Macht ihr das noch? Habt ihr Leute dafür?»

Er sieht mich dumm an.

«Was ist die klassische Lehrmeinung? Muss man einen Dämon zulassen, wenn er kommt? Braucht er eine Einladung, oder kann er einen einfach in Besitz nehmen?»

«Warum willst du das wissen?»

Immer diese Gegenfragen. Warum kann er einem nicht sagen, was man wissen will? Weil ich Angst vor Geistern habe, jeden Tag, immer – soll ich das antworten? «Ein Buch, nur ein Buch. Ich habe so ein Buch gelesen. Ein seltsames Buch. Egal.»

Das Telefon vibriert. Hab schon gebucht, Flug und Hotel, Samstag frueh los, Sonntagnacht zurueck, freue mich so ;-)

Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass das von Laura ist. Seit wann bucht sie selbst Flüge? Wunderbar!, schreibe ich zurück. Ich werde wirklich eine gute Ausrede brauchen.

Kaum habe ich die Sendetaste gedrückt, vibriert das Telefon schon wieder. Wie geht es dir, ruf mich doch an, wenn du mal Zeit hast! Martin.

Gut. Ganz ruhig. Immer mit der Ruhe. Ich blicke auf, da sitzt er vor mir. Martin. Mein Bruder. Ich blicke aufs Telefon, die Nachricht steht noch da. Ich blicke in sein Gesicht. Ich blicke aufs Telefon. Ist es doch Einbildung? Sitze ich allein hier? Sein Teller ist leer, meiner ist voll, das spricht dagegen.

Aber warum sollte es dagegensprechen? Ich weiß es nicht mehr, der Gedanke ist mir abhandengekommen. Wer sich einen Bruder einbildet, kann sich auch einen leeren Teller einbilden. Keine Panik. Das Wichtigste ist, dass man ruhig bleibt. Vorsichtig, um keine falsche Taste zu erwischen, lösche ich die Nachricht. Dann lege ich das Telefon weg und sage, um irgendetwas zu sagen: «Diese Hitze!»

Er fragt nach Laura und Marie, ich antworte ihm. Ich erzähle von Mutters neuer Fernsehsendung, dann erkundige ich mich nach seiner Mutter. Offenbar ist er ständig bei ihr, der arme Hund, es ist ein Jammer. Dabei mag ich seine Mutter, mag sie auf jeden Fall mehr als meine. Gerade als ich ihn fragen will, ob das wirklich nötig ist, diese ständigen Besuche, und ob man daran nichts ändern sollte, schlägt mir jemand auf die Schulter: Lothar Remling. Das Telefon vibriert, aber jetzt kann ich nicht nachsehen, ich springe auf: Schulterklopfen, Oberarmschlag, Fußballgespräch. Dann trollt er sich. Ich kann den Kerl nicht leiden, er hat mir vor ein paar Jahren fast den Ostermann-Deal ruiniert. Endlich kann ich nachsehen. Drei Nachrichten.

Ich halte das nicht mehr aus.

Komm später oder jetzt, egal.

Komm jetzt, oder komm nicht.

Ich stehe auf, sage etwas von einem dringenden Termin und renne los.

Die Hitze scheint noch schlimmer geworden zu sein, der Weg ist kurz, sie wohnt nur zehn Blocks weiter. Schnell merke ich aber, dass ich heute besser den Wagen genommen hätte.

Ich bleibe stehen, ziehe das Telefon hervor. Das Freizeichen: einmal, zweimal, ein drittes und ein viertes Mal. Geht sie nicht mehr ran, wenn ich anrufe, sind wir schon so weit?

Sibylle hebt ab. «Was ist denn, Eric?»

«Ich muss dich sehen!»

«Ich habe doch geschrieben, du kannst jetzt kommen.»

«Aber jetzt kann ich nicht!»

Schon denke ich, sie hat aufgelegt. Aber sie ist noch da. «Eric, das ist nicht auszuhalten. Erst die Sache im Kino, und jetzt –»

«Sprich nicht weiter! Nicht am Telefon.»

«Aber –»

«Weißt du, wie viele Leute uns zuhören könnten?»

«Du hast mich angerufen!»

«Weil ich dich sehen muss.»

«Und ich habe gesagt, komm.»

«Aber jetzt geht es nicht.»

«Dann komm nicht.»

Mir ist schwindlig. Hat sie wirklich gesagt, ich soll nicht kommen? «Bist du zu Hause?»

Sie schweigt.

«Warum sagst du nichts?»

Ich horche, und erst nach einer Weile begreife ich, dass sie aufgelegt hat.

Ich muss mich setzen. Neben der Straße ist ein Sportplatz aus Asphalt, umgeben von Drahtzaun, am Rand eine Bank.

Da sitze ich einige Zeit mit geschlossenen Augen. Ich höre den Verkehrslärm: Hupen, Motoren, einen Presslufthammer. Die Sonne brennt. Mein Herzschlag wird ruhiger.

Als ich die Augen öffne, sitzen zwei Kinder neben mir. Ein Junge mit Schirmkappe und ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren und einer blauen Schleife. Sie ist etwa sechs Jahre alt, er ungefähr zehn.

«Was machst du hier?», fragt er.

«Ich sitze», sage ich. «Was machst du?»

«Ich sitze auch.»

Wir sehen das Mädchen an.

«Ich auch», sagt es.

«Wohnt ihr hier in der Gegend?», frage ich.

«Weit weg», sagt sie. «Du?»

«Auch sehr weit weg», sage ich.

«Wie alt bist du?», fragt der Junge.

«Siebenunddreißig.»

«Das ist alt», sagt das Mädchen.

«Ja», sage ich. «Das ist alt.»

«Stirbst du bald?»

«Nein.»

«Aber irgendwann stirbst du.»

«Nein!»

Wir schweigen eine Weile.

«Seid ihr zum Spielen hier?»

«Ja, aber es ist zu heiß», sagt der Junge.

«Man kann gar nichts machen, wenn es so heiß ist», sagt das Mädchen.

«Hast du Kinder?», fragt er.

«Eine Tochter. Sie ist ungefähr so alt wie du.»

«Ist sie auch hier?»

«In der Schule. Sie ist in der Schule. Warum seid ihr nicht in der Schule?»

«Wir schwänzen», sagt sie.

«Das solltet ihr nicht.»

«Warum nicht?»

Ich denke nach. Mir fällt beim besten Willen kein Grund ein. «Weil das doch nicht geht», sage ich zögernd. «Ihr müsst lernen.»

«Man lernt da nicht viel», sagt sie.

«Wenn man einen Tag nicht hingeht, versäumt man gar nichts», sagt er.

«Also morgen geht ihr wieder hin?»

«Vielleicht», sagt er.

«Ja», sagt sie.

«Vielleicht», sagt er wieder.

«Wie heißt ihr denn?»

Das Mädchen schüttelt den Kopf. «Wir dürfen Fremden unsere Namen nicht sagen.»

«Ich glaube, ihr dürft mit Fremden gar nicht reden.»

«Doch. Reden schon. Aber nicht den Namen verraten.»

«Das ist merkwürdig», sage ich.

«Ja», sagt er. «Das ist merkwürdig.»

«Ist sie deine Schwester?», frage ich.

«Er ist mein Bruder», sagt sie.

«Geht ihr in dieselbe Schule?»

Die beiden sehen einander fragend an. Er zuckt die Achseln.

Ich weiß genau, dass ich es eilig habe, dass ich weitergehen sollte, dass ich zu Sibylle muss und danach zu der Konferenz. Aber statt aufzustehen, schließe ich erneut die Augen.

«Warst du mal in einem Flugzeug?»

«Ja, wieso?»

«Warum kann das fliegen?»

«Wegen der Flügel.»

«Aber ein Flugzeug ist so schwer. Warum kann es fliegen?»

«Der Auftrieb.»

«Was ist das?»

«Ich weiß nicht.»

«Aber warum fliegt es?»

«Der Auftrieb.»

«Was ist das?»

«Ich weiß nicht.»

«Das weißt du nicht?»

«Nein.»

«Aber du warst in der Schule.»

«Ja.»

«Also warum fliegt es?»

Die Dunkelheit hinter meinen Lidern ist hell vom Sonnenlicht. Leuchtendes Orange, darin gelbe Kreise, die wandern, steigen, sinken. Selbst das Geräusch des Presslufthammers kommt mir auf einmal friedlich vor.

«Lass die drei», sagt der Junge. «Misch dich nicht ein, geh weiter.»

«Was?» Ich blinzle in die Sonne. «Was hast du gesagt?»

«Ich habe gesagt, wir müssen jetzt weiter.»

Schnell stehe ich auf. «Ich auch.»

«Josi», sagt der Junge. «Ich heiße Josi. Das ist Ella.»

«Und wie heißt du?», fragt das Mädchen.

«Hans.» Es rührt mich, dass sie mir ihre Namen verraten haben, aber das ist kein Grund, unvorsichtig zu sein.

«Auf Wiedersehen, Hans!»

Ich gehe und fühle mich so leicht, als könnte ich mich vom Boden lösen. Vielleicht liegt es an der Sonne, vielleicht am Hunger. Ich hätte die Muschelnudeln vorhin essen sollen. Um nicht ohnmächtig zu werden, bleibe ich an einer Imbissbude stehen.

Es dauert lange, bis ich an der Reihe bin. Vor mir stehen drei Halbwüchsige und streiten sich mit dem Verkäufer. Einer trägt ein T-Shirt, auf dem MorningTower steht, auf dem des zweiten steht bubbletea is not a drink I like, auf dem des dritten prangt ein grellrotes Y. Bescheuert, sagt der eine gerade zum Verkäufer, absoluter Bullshit, worauf der Verkäufer sagt, sie sollten abhauen, worauf einer von ihnen antwortet, er solle selber abhauen, worauf der Verkäufer sagt, lieber sollten sie abhauen, worauf ein anderer von ihnen antwortet, er solle doch selber lieber abhauen, und so geht es eine Weile. Ich will schon weitergehen, aber dann ziehen sie schimpfend ihrer Wege, verschwinden ins nächste U-Bahn-Loch, und ich kann ein Hotdog kaufen. Es schmeckt gar nicht schlecht. Mein Telefon läutet. Es ist Iwan. Unschlüssig drücke ich die Annahmetaste.

«Ich dachte mir, ich sollte mal anrufen», sagt er.

«Warum?»

«Nur so ein Gefühl. Alles in Ordnung?»

«Natürlich.»

«Warum habe ich dann so ein Gefühl?»

«Vielleicht, weil ich heute mit dir … Ach so!» Da begreife ich. Vor Überraschung bleibe ich stehen. Autos hupen, ein Polizist schreit mich an, schon wieder bin ich auf die Straße geraten, ohne es zu merken.

«Warum lachst du?»

«Ich hatte meiner Sekretärin gesagt, sie soll dich anrufen, aber sie hat … Stell dir vor, sie hat Martin angerufen!»

«Martin!»

«Wir waren mittagessen. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, warum.»

«Wie gehen die Geschäfte?»

«Gut. Wie immer. Und die Kunst?»

«Ich muss die Auktionshäuser im Auge behalten. Man darf nicht die Kontrolle über die Preise verlieren. Außerdem –»

«Hast du in der letzten Zeit mit Mutter gesprochen?»

«Ja richtig, ich muss sie bald anrufen. Sie hat mir drei Nachrichten hinterlassen. Aber irgendwas ist mit dir. Ich merke das. Du kannst es leugnen, aber –»

«Muss jetzt aufhören!»

«Eric, du kannst mir alles –»

«Alles in Ordnung, wirklich, muss jetzt aufhören.»

«Aber wieso –»

Ich drücke die Auflegetaste. Es ist seltsam, mit Iwan zu reden, beinahe ein Selbstgespräch, und plötzlich wird mir wieder klar, warum ich ihn meide. Es fällt schwer, vor ihm ein Geheimnis zu bewahren, er durchschaut mich, wie ich ihn durchschaue, dabei darf er doch nicht wissen, wie schlecht es um mich und die Geschäfte steht, es wäre zu peinlich, wäre eine zu große Niederlage, und ich könnte auch nicht sicher sein, dass er es für sich behalten würde. Die alte Regel: Ein Geheimnis bleibt nur dann eines, wenn wirklich niemand davon weiß. Hält man sich daran, ist es nicht so schwer zu bewahren, wie die Leute meinen. Man kann jemanden fast so gut kennen wie sich selbst, und man liest doch nicht seine Gedanken. Ich darf Iwan nicht um Geld bitten. Ich darf ihn nicht bitten, mir beim Verschwinden zu helfen. Er ist zu rechtschaffen und würde es nicht verstehen.

Ich wünschte, er wäre nicht homosexuell. Als ich es erfahren habe, hat es mich wochenlang ganz verrückt gemacht. Jemand, der mir so ähnlich ist – was sagt das über mich aus, was bedeutet es? Nichts, ich weiß, nichts, nichts, es bedeutet rein gar nichts, aber ich habe es ihm nie verzeihen können.

Ich schicke eine Nachricht an Knut – die Adresse und dazu die Anweisung, gleich loszufahren. Dann drücke ich Sibylles Haustür auf, laufe in den ersten, zweiten, dritten Stock hinauf, will vor ihrer Wohnungstür warten, bis ich wieder zu Atem gekommen bin, bin aber zu ungeduldig dafür und klopfe an. Ich könnte auch klingeln, aber nachdem sie mich so abgefertigt hat, brauche ich einen stärkeren Auftritt.

Sie öffnet die Tür. Sofort bemerke ich, wie gut sie aussieht. Sie ist nicht so schön wie Laura, aber aufregender: die langen Haare, der schmale Hals, die entblößten Arme mit den bunten Reifen. Sie war meine Therapeutin, aber seit einem halben Jahr behandelt sie mich nicht mehr, sie sagt, das würde gegen ihr Berufsethos verstoßen. Das macht aber nichts, die Therapie war ohnehin sinnlos, ich habe ihr nur Lügen erzählt.

«Ist die Klingel kaputt?»

Ich gehe durch den Flur ins Wohnzimmer. Dort hole ich Luft, suche nach Worten und finde keine.

«Armer Kerl. Komm her.»

Ich balle die Fäuste, hole Luft, öffne den Mund. Aber ich bringe nichts heraus.

«Armer Kerl», sagt sie wieder, und schon sind wir auf dem Teppich. Ich will protestieren und uns zur Ordnung rufen, denn das ist ja das Wichtigste, dass man sich zur Ordnung zu rufen weiß, aber es hilft nichts, denn plötzlich begreife ich, dass ich uns doch nicht zur Ordnung rufen will, ich will ja das, was hier passiert, in und über und an ihr, und warum auch nicht, denn sonst hat man ja nichts auf der Welt.

«Aber –»

«Schon gut», flüstert sie mir ins Ohr. «Schon gut.»

Heiß ist es, sie hat keine Klimaanlage, von so etwas, meint sie, wird man krank. Und mir ist, als stünde ich auf, träte zurück und sähe uns zu: Ein wenig sonderbar das Ganze, eher albern als peinlich, und ich frage mich, ob die Leute, die so gern von der Würde des Menschen sprechen, das hier eigentlich schon einmal nüchtern betrachtet haben. Aber zugleich bleibe ich der auf dem Teppich, und ich spüre, dass der Moment gleich da sein wird, in dem ich nicht mehr gespalten bin, sondern eins, und nur für Sekundenbruchteile taucht in mir der Gedanke auf, dass ich mich erpressbar mache, falls es in diesem Raum eine Kamera gibt, und dann ist da das Bild Lauras, die ich schon wieder hintergehe und der ich unrecht tue, indem ich sie ständig belüge, aber im nächsten Augenblick ist das Bild wieder verschwunden, und ich weiß nur noch, dass jeder Mensch tun muss, was ihn rettet, und alles ist endlich das, was es ist und nichts sonst, alles ist endlich gut.

Wir liegen auf dem Rücken, ihr Kopf auf meiner Brust. Ich will nirgendwohin, nichts macht mir Sorgen. Lang wird das nicht anhalten.

«Wie geht es ihr?», fragt Sibylle.

Ich muss überlegen, um zu verstehen, wen sie meint. Ich wiege den Kopf und streiche über ihr seidiges Haar. Schon wird alles, was mich bedrängt, wieder wirklich.

«Vielleicht könnte ich ihr helfen.»

Ich ziehe meine Hand zurück.

«Ich meine, ich könnte einen Kollegen empfehlen. Begleitende Gesprächstherapie. Wenn sie wieder gesund ist, führen wir alle unser Leben weiter. Sie ihres. Und wir beide unseres. Zusammen.»

Am Anfang verfolgte ich noch keine Absicht damit, es war eine Geschichte von vielen, die ich erzählt habe, aber später erwies sie sich als hilfreich: Niemand kann eine krebskranke Ehefrau verlassen, niemand darf das verlangen. Und manchmal kommt es mir vor, als wäre diese Version tatsächlich wahr – als spielte sie sich in einem anderen Weltall genau so ab, wie ich sie Sibylle erzählt habe. Ich könnte darüber mit einem Therapeuten reden, aber Sibylle will mich nicht mehr behandeln, und mit jemand anderem möchte ich es nicht versuchen, ich habe schon genug Probleme.

«Ich muss gleich los», sage ich.

Wie seltsam, dass ich den ganzen Tag an sie denke und doch nur verschwinden will, sobald ich bei ihr bin. Sanft schiebe ich ihren Kopf beiseite, stehe auf und beginne, meine Kleider zusammenzusuchen.

«Immer hast du es eilig.» Sie lacht traurig. «Du lässt mich im Kino sitzen, und dann schreibst du solche Nachrichten! Mein Therapeut hat mich gefragt, warum ich mir das antue. Weil du gut aussiehst? Ich habe gesagt, so gut sieht er nicht aus, aber dann wollte er dein Foto sehen, und ich konnte es nicht leugnen. Oder wegen dem hier?» Sie deutet auf den Teppich. «Ja, es ist gut, wirklich gut, aber das liegt auch an der Übertragung. Mein Therapeut meint, dass ich Reaktionen zeige, die ganz automatisch getriggert werden vom Zusammentreffen von Regression und Aggressivität. Was soll man da tun!»

Ich räuspere mich zustimmend, steige in meine Hosenbeine, knöpfe das Hemd zu, binde ohne Spiegel die Krawatte und bringe es fertig, so zu blicken, als verstünde ich, was sie meint.

«Keine Sorge», sagt sie. «Du schaffst das. Du bist stärker, als du denkst.»

«Ich weiß.»

Sie lächelt, als hätte sie einen hintergründigen Scherz gemacht, ich lächle auch und gehe aus dem Zimmer. Ich haste die Treppe hinunter und laufe auf die Straße. Auf der anderen Seite ist ein Bürohaus, ich nehme den Hintereingang, fahre in den ersten Stock, stelle mich bei Starbucks an und hole mir einen geschäumten Sojamilchcappuccino, damit Knut sieht, dass ich wirklich in dem Haus gewesen bin. Dann fahre ich wieder hinunter und gehe auf der anderen Seite hinaus. Ich sehe Knut sofort.

Er hat Streit mit einem Straßenkehrer, die Lage sieht ernst aus. Der Mann hat seinen Besen zum Schlag erhoben, Knut ballt die Fäuste, beide sondern einen unaufhörlichen Strom von Schimpfwörtern ab. Das macht die Hitze, alle sind heute gereizt. Interessiert höre ich zu.

«Schweinvieh!», brüllt Knut.

«Dreckshund!», brüllt der Straßenkehrer.

«Scheißmaul!»

«Drecksau!»

«Sauschwein! Schwein! Schwein!»

Das gefällt mir, aber ich habe keine Zeit. Also nehme ich einen Schluck Kaffee, stelle den Becher auf den Boden und gehe auf Knut zu.

«Mieses altes fettes Schwein!», schreit Knut. «Glatzkopf! Scheißschwein!»

Ich schiebe ihn auf die Fahrertür zu, dann steige ich hinten ein.

Herrlich kühl ist es im Auto. Während Knut leise fluchend losfährt, vibriert mein Telefon. Ich sehe die Nummer und nehme das Gespräch beklommen an.

«Mutter?»

«Sei still, hör zu. Ich –»

«Wie läuft die Praxis?»

«Viel zu gut. Das ganze Land will von mir behandelt werden. Alles wegen der Sendung. Ich –»

«Sie ist ja auch sehr interessant, die Sendung.» Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen. «Wir versäumen keine Folge.»

«Ich bin Augenärztin. Von all den Krankheiten verstehe ich nichts. Ich sage den Leuten nur, sie sollen zum Arzt gehen.»

«Mir ist das nicht aufgefallen.»

«Ich wollte dir eine Investition vorschlagen.»

«Eine … Aha.»

«Es geht um ein Grundstück. Unterhalb meines … unseres Hauses. Jemand will es kaufen, um zu bauen. Wir müssen ihm zuvorkommen. Es würde die Aussicht ruinieren.»

«Ach.»

«Es wäre eine gute Investition.»

«Ich weiß nicht.»

«Was soll das heißen?»

Ich versuche, an die Minuten vorhin auf dem Teppich zu denken. An Sibylles Atem an meinem Ohr, an ihren Körper in meinen Armen, an ihr Haar und an ihren Geruch. Aber es hilft nichts. Ich müsste sofort wieder bei ihr sein, sofort wieder nackt auf dem Teppich, und wahrscheinlich würde nicht einmal das reichen.

«Warum sagst du nichts?», fragt Mutter. «Warum kann man nicht normal mit dir sprechen?»

«Ich höre dich nicht mehr!», rufe ich. «Schlechte Verbindung!»

«Ich höre dich gut.»

«Was sagst du?» Ich drücke die Auflegetaste.

«Schlechte Verbindung», sage ich zu Knut. «Man kann ja heute gar nicht mehr telefonieren.»

«Die gehören alle eingesperrt!»

«Wieso?»

«Die sind alle bestochen!»

«Wer?»

«Alle eingesperrt, habe ich gesagt. Alle bestochen!»

Das Telefon vibriert. Ich lege den Daumen auf die Auflegetaste, aber dann nehme ich doch an.

«Hörst du mich jetzt besser?», fragt sie. «Man kann ja heute gar nicht mehr telefonieren.»

«Die Verbindung war in Ordnung. Ich habe aufgelegt.»

«Hast du nicht.»

«Doch.»

«Du würdest nicht einfach auflegen, wenn du mit deiner Mutter sprichst. Du würdest das nicht tun.»

«Kauf das Grundstück selber. Du machst genug Geld mit der Sendung.»

«Aber es ist eine gute Investition.»

«Wie soll es eine gute Investition sein? Du sagst, ich darf nicht einmal etwas bauen

«Willst du mir die Aussicht ruinieren? Was willst du bauen?»

«Ich will nicht bauen! Ich will es gar nicht haben!»

«Schrei mich nicht an! Wenn deine Mutter dich bittet –»

Ich drücke die Auflegetaste. Nach wenigen Sekunden vibriert das Telefon wieder, ich ignoriere es. Dann überlege ich eine Weile, starre aufs Telefon, reibe mir die Augen und rufe zurück.

«Du hast aufgelegt!», sagt sie. «Ich weiß es. Leugne nicht!»

«Ich will es gar nicht leugnen.»

«Das würde ich auch nicht glauben.»

«So.»

«Mach das nie wieder!»

«Ich mache, was ich will. Ich bin erwachsen.»

Sie lacht höhnisch auf, mit zitternder Hand drücke ich die Auflegetaste.

Ich warte, aber sie ruft nicht mehr an. Zur Sicherheit schalte ich das Gerät aus. Mir fällt ein, dass Sibylle neulich etwas erstaunlich Richtiges über meine Mutter gesagt hat, was umso überraschender war, als sie ja nichts über meine Mutter weiß; es war offenbar so treffend, dass ich es sofort verdrängen musste, denn ich erinnere mich nur noch daran, dass es treffend war.

Knut beginnt, eine Geschichte zu erzählen, in der ein Marinesoldat, ein alter Affe und ein thailändischer Gärtner vorkommen, auch eine Gießkanne, ein Flugzeug und, wenn ich es richtig verstehe, ein Professor für Münzkunde. Ich nicke von Zeit zu Zeit und gewinne die Überzeugung, dass das alles auch dann keinen Sinn ergäbe, wenn ich aufmerksam zuhören würde. Als wir ankommen, ist es zehn nach vier. Die Konferenz hat schon begonnen.

Ich steige aus dem Wagen, gehe durch die Hitze in die kühle Lobby, betrete den Lift. Vielleicht haben sie ja doch auf mich gewartet.

Schon setzt sich der Lift in Bewegung. Er hält im dritten Stock, keiner steigt zu, und da ich nicht aussteige, steigt auch keiner aus. Kaum fährt er weiter, knicken meine Knie ein, und mein Kopf prallt an die Wand.

Ich höre etwas. Um mich ist es dunkel. Das, was ich höre, ist ein Schluchzen. Ich richte mich ein wenig auf. Nach und nach weicht der Schatten. Ich taste meinen Kopf ab: kein Blut. Jetzt sehe ich die schmutzigen grünen Faserchen des Teppichs. Der da schluchzt, das bin ich selbst. Ich weiß nicht, was, aber etwas Schreckliches ist geschehen. Etwas, das nicht hätte geschehen dürfen. Etwas, das nie wieder gut wird.

Ich stehe auf. Es bin nicht nur ich, der schwankt, es ist auch die Kabine: siebter Stock, achter, neunter. So etwas ist mir noch nie zugestoßen. Ich wische mir die Tränen weg und sehe auf die Uhr, vierzehn Minuten nach vier. Merk dir den Tag, merk dir die Zeit: 8. August 2008, vierzehn Minuten nach vier. Was es ist, wirst du früh genug erfahren. Die Kabine hält, die Türen öffnen sich. Im letzten Moment, bevor sie sich wieder schließen, springe ich hinaus.

Eine Weile muss ich mich noch an die Wand lehnen, dann gehe ich benommen durchs Büro. Alles scheint anders als vorhin, jeder Tisch, jedes Gesicht, jedes Ding. Ich betrete das Konferenzzimmer und murmle eine Entschuldigung, denn sie haben natürlich ohne mich angefangen. Ich ziehe mein Jackett aus, werfe es über einen leeren Stuhl, setze mich und schaffe es wohl, so auszusehen, als wäre alles in Ordnung. Darin bin ich ja Spezialist.

Der Anblick meiner Mitarbeiter bedrückt mich noch mehr als sonst: all die Trägheit, all das Mittelmaß. Vermutlich liegt das auch daran, dass ich nur mittelmäßige Leute anstelle. Das Letzte, was ich brauche, ist jemand, der mich durchschaut. Lehmann und Schröter sind da, Kelling, dessen Tochter mein Patenkind ist, Pöhlke, den ich sofort entlassen würde, wenn er mir nur einen Grund gäbe, denn ich mag ihn einfach nicht. Maria Gudschmid ist da und auch der Kerl, dessen Name mir nie einfällt. Und Felsner. Ihn mag ich, aber ohne zu wissen, warum. Als ich hereingekommen bin, hat gerade Lehmann gesprochen. Jetzt sind sie alle still, sehen mich an und warten.

Ich hole Luft. Heiser bin ich, und mir ist, als müsste ich wieder in Tränen ausbrechen, aber irgendetwas muss ich doch sagen. Also stammle ich ein paar Sätze über angenehmes Arbeitsklima und die guten Dinge, die wir machen, und zitiere die Bhagavad Gita: Du stehst hier, Arjuna, also frage nicht, steh auf und kämpfe, denn Gott verabscheut die Lauen. Keine schlechte Ansprache, denke ich. Sie wissen nicht, dass sie bald arbeitslos sein werden, einige wird man als Mittäter verdächtigen, aber die Wahrheit wird ans Licht kommen: Sie sind nicht kriminell, nur unfähig.

Das mit Gott und den Lauen, sagt Maria Gudschmid, stehe aber nicht in der Bhagavad Gita, das sei aus der Bibel.

Die Gefahr, sagt Kelling, dass die mit Triple-A bewerteten Anleihen je signifikant verlieren könnten, sei praktisch zu vernachlässigen. Triple-A sei und bleibe klassisches Value Investing und damit risikofrei.

Ein Problem entstehe dadurch, sagt Pöhlke, dass die Investmentbanken bekanntlich in jene Positionen investierten, die sie kleineren Firmen aktiv zum Kauf anböten. Sie bestimmten somit selbst den Wert dessen, was sie verkauften, mit anderen Worten, sie entschieden autonom, wie viel Geld man ihnen schulde.

Irgendwann, sagt Felsner, werde es in den USA eine Sammelklage gegen dieses System geben. Aber im Augenblick könne man nur abwarten. Es gebe die Ankündigung, dass sich Krishnas nächster Avatar noch in diesem Weltalter zeigen werde.

Womit nicht ausgemacht sei, dass der Avatar ein Mensch sein müsse, sagt Maria Gudschmid.

Wenn man zum Beispiel signifikante Versicherungspositionen halte, sagt Lehmann, könne man gar nicht abschätzen, wie exponiert man im Fall eines Wertverlustes der großen Derivativkonglomerate sei. Es gebe einfach keinen Schlüssel für vernünftige Risikoeinschätzung.

«Klüssen will sein Geld abziehen», sage ich.

Auf einen Schlag ist es still.

Aber das sei doch hoffentlich noch nicht definitiv, sagt Felsner dann. Da könne man bestimmt noch etwas tun.

Es sei kein guter Moment, um den wichtigsten Account zu verlieren, sagt Maria Gudschmid.

Im Notfall gebe es Tricks, sagt Lehmann. Wenn zum Beispiel einer rechtlich angreifbaren Marktasymmetrie halber ein Vermögenswert nicht zuverlässig festgestellt werden könne, sei der Treuhänder berechtigt, die Mittel vorübergehend einzufrieren. Auch gegen den Willen des Eigentümers.

Reine Theorie, sagt Schröter. Kein Gericht werde dieses Argument akzeptieren.

Noch einmal zu dem Problem mit den Investmentbanken, sagt Pöhlke. Er schlage vor, ein paar von ihnen zu shorten, ohne großen Kapitaleinsatz.

Nur wer wage, sagt Lehmann, dem werde Krishna geben.

Mancher wage, sagt Pöhlke gereizt, und Krishna gebe nicht. Der Gott handle in Freiheit, denn er sei die Freiheit selbst.

Weshalb die Üblen manchmal alles bekämen, sagt Kelling, und die Besten nichts. Man könne das Risikopotenzial der niedrigeren Level im Hypotheken-Pool nicht gut abschätzen, und –

«Danke!» Ich stehe auf. Bis jetzt habe ich keine Miene verzogen, ich bin aufrecht sitzen geblieben und habe mir nichts anmerken lassen. Nun reicht es.

«Eine Frage noch», ruft Schröter.

Die Tür fällt hinter mir zu.

Auf dem Weg zum Lift denke ich darüber nach, wie sich feststellen lässt, ob man richtig verstanden hat, was man gehört zu haben meint. Aber wenn ich jemanden befrage, könnte er lügen, und selbst eine Tonaufnahme lässt sich manipulieren.

«Jetzt ist es passiert», sagt der Mann neben mir im Lift. «Jetzt geht es zu Ende.»

Er hat einen Hut und hässliche Zähne. Ich habe ihn heute schon gesehen, aber ich weiß nicht mehr, wo. Er sieht mich nicht direkt an, sondern spricht zu meinem Spiegelbild an der Rückwand der Liftkabine, sodass wiederum nicht er, sondern sein Spiegelbild mich unverwandt ansieht. Außer uns stehen noch zwei Männer mit Aktentaschen da, doch sie blicken vor sich hin und kümmern sich nicht um uns.

«Was haben Sie gesagt?», frage ich.

«Nichts», sagt er.

Ich wende mich ab.

«Manchmal ist jeder Weg falsch», sagt er.

Ich starre ihn an.

«Die Wahrheit macht dich frei», sagt er. «Schön wär’s. Aber manchmal macht einen gar nichts mehr frei. Das Lügen nicht und auch nicht die Wahrheit.» Er rückt mit einer gezierten Bewegung seinen Hut zurecht. «Im Grunde gibt es dann auch keinen Unterschied mehr zwischen den beiden, Iwan.»

«Bitte?»

Er runzelt die Stirn.

«Was haben Sie gerade gesagt?», frage ich. «Über Lüge und Wahrheit? Haben Sie mich Iwan genannt?»

Jetzt sehen mich die beiden Männer mit den Aktentaschen besorgt an. Ja, so geht es, so bringen sie einen dazu, die Nerven zu verlieren. Und ehe man sichs versieht, packt man jemanden und schreit und schlägt zu, und schon können sie Maßnahmen ergreifen. Aber so leicht mache ich es ihnen nicht.

«Entschuldigung», sage ich. «Ich habe mich verhört.»

«Glaubst du wirklich?», fragt der Mann mit Hut.

Der Aufzug hält, einer der Aktentaschenleute steigt aus, eine Frau in schwarzer Jacke kommt herein. Sie haben das gut vorbereitet, alles wirkt natürlich. Stundenlang könnte man zusehen, ohne Verdacht zu schöpfen.

«Du hältst das nicht mehr lang durch», sagt er.

Ich reagiere nicht.

«Lauf nur. Siehst fein aus in deinem Anzug. Lauf, so weit du kannst. Siehst mitgenommen aus.»

Ich reagiere nicht.

«Du musst wissen, heute ist kein Tag wie alle. Manchmal wird es leichter für uns. Der Tod bringt uns näher heran.»

Die Kabine hält, die Türen öffnen sich, ich gehe hinaus, ohne mich umzudrehen. Ich trete auf die Straße, die Hitze ist nicht mehr ganz so schlimm, bald wird es Abend sein. Knut sitzt im Auto, der Motor läuft. Wieso eigentlich? Habe ich ihm gesagt, er soll auf mich warten? Ich steige ein.

«Eine Frage», sagt er.

«Nicht jetzt.»

«Kommunalobligationen. Soll man, soll man nicht, wie sieht das aus?»

Wie kühl und still es im Wagen ist. Ein gutes Auto, sauber und vollgetankt, mit einem Chauffeur am Steuer, so etwas schenkt mehr Ruhe als die beste Religion.

«Weil nämlich», sagt Knut. «Meine Tante. Gestorben. Üble Sache. Ich habe es Ihnen ja erzählt. Die Baustelle, der Kran.»

«Ja, ich weiß.» Wie immer habe ich keine Ahnung.

«Aber es war auch ihre Schuld. Sie hätte sich dort nicht verstecken müssen. Hat sie ja keiner gezwungen, oder?»

«Nein.»

«Jedenfalls, keiner von uns hätte gedacht, dass sie hunderttausend Euro hat. Haben wir nicht gewusst. Vor allem nicht nach der Sache mit dem Wirt und den Einbrechern. Und auch weil sie so geizig war immer. Nie etwas zu Weihnachten. Oder den Kindern. Also jetzt, was tun? Wir haben diesen alten Kerl nebenan, sein Sohn ist bei der Bank. Ich mag ihn ja nicht. Er mag mich auch nicht. Erst recht nicht seit der Geschichte mit seinem Hund. Er hat behauptet, das Vieh wäre nicht bei uns im Garten gewesen, aber ich habe zwei Zeugen. Also: Kommunalobligationen. Hat sein Sohn empfohlen. Mitznik.»

«Was?»

«So heißt der alte Kerl. Und er stottert! Kommunalobligationen. Mitznik heißt er. Also was jetzt, Chef, ist das gut? Kommunalobligationen?»

«Ja, schon.»

«Aber bringen die auch was?» Ohne erkennbaren Grund bremst er scharf, zum Glück bin ich angegurtet. Er hupt und fährt wieder an. «Ich will nämlich auch daran verdienen! Wenn nichts zu holen ist, will ich nicht!»

«Je sicherer eine Investition, desto weniger Gewinn. Am meisten gewinnen kann man im Casino, weil dort die Chancen so schlecht sind. Investieren ist Wetten mit günstigen Chancen.»

«Kann ich es Ihnen geben, Chef?»

«Mir?»

«Legen Sie es für mich an?»

«So kleine Einlagen nehmen wir nicht.»

«Aber mir zuliebe? Als Gefallen. Für einen Freund.»

Hat er mich wirklich einen Freund genannt? Das Manöver ist durchsichtig, aber es rührt mich. «Hunderttausend?»

«Etwas mehr sogar.»

Immerhin würde das reichen, um noch eine Weile die Miete für die Büroräume zu bezahlen. Später wird er dann ein Nebenkläger unter vielen sein, darauf kommt es nicht mehr an.

Ich schüttle den Kopf.

«Chef!»

«Es wäre nicht richtig. Glauben Sir mir.»

«Warum?» Er keucht. Dann gibt er hohe, spitze Laute von sich. Es könnten Geräusche der Wut, aber auch Schluchzer sein.

«Das müssen Sie mir einfach glauben. Es ist besser so.»

Er bremst, lässt das Fenster herunter und schreit irgendjemanden an. Ich kann nicht alles verstehen, aber die Wörter Dummvieh, Fratzenschwein und Kinderschreck kommen vor, auch vom Erwürgen ist die Rede. Schon fährt er weiter.

«Also gut», sage ich.

«Wirklich?»

«Für Sie mache ich eine Ausnahme.»

«Chef!»

«Ist gut.»

«Chef!»

«Bitte, es ist gut.»

Aber er bremst wieder, dreht sich um und versucht, nach meiner Hand zu greifen. Zunächst entkomme ich ihm, aber dann kriegt er meinen Ärmelaufschlag zu fassen. «Ich würde für Sie sterben.»

«Das ist wirklich nicht nötig.»

«Ich würde auch jemanden umbringen.»

«Bitte!»

«Im Ernst. Nennen Sie mir einen Namen.»

«Ich bitte Sie!»

«Ich töte ihn.»

«Fahren Sie weiter!»

«Das ist kein Witz.»

Wie soll ich vermeiden, an Klüssen zu denken? Ein Autounfall, ein rätselhafter Herzstillstand, geschickt eingefädelt … Zum Glück lässt Knut los und fährt weiter. Ich schließe die Augen und schaffe es, seinem Gerede nicht mehr zuzuhören. Mir fällt ein, dass mein Telefon noch immer abgeschaltet ist. Das erklärt auch, warum mich noch niemand aus dem Büro angerufen hat, um zu fragen, wohin ich verschwunden bin.

Schon sind wir zu Hause. Wenn man früh fährt, kommt man nicht in den Berufsverkehr. Ich wehre Knuts letzte Dankesbezeugung ab, steige aus und gehe mit kraftvollen Schritten, ganz wie ein Mann, der Widerstände überwindet, den Kiesweg entlang durch den Garten. Ich schließe die Haustür auf, trete ein und rufe: «Bin zu Hause!»

Niemand antwortet.

Es ist nicht vorgesehen, dass ich um diese Zeit schon zurückkomme. Das Haus schweigt, als hätte ich es bei etwas ertappt. So also ist es, wenn ich nicht da bin. Ich rufe noch einmal. Meine Stimme klingt verloren in der großen Halle.

Da höre ich etwas.

Kein Klopfen, eher ein Schaben. Es klingt, als würden Gegenstände aus schwerem Metall geschoben. Ich lausche, doch es hat schon aufgehört. Gerade als ich beschlossen habe, dass ich mich geirrt haben muss, fängt es wieder an.

Es kommt von unten, aus dem Keller. Soll ich jemanden rufen, einen Klempner oder die Feuerwehr? Aber wenn dann jemand käme, und da wäre nichts mehr zu hören, wie würde das aussehen, wie stünde ich da? Ich gehe in die Küche und wasche mir die Hände. Da ist es wieder. Das Fenster vibriert, die Gläser im Schrank klirren leise. Ich trockne mir die Hände ab. Jetzt ist es still.

Und jetzt höre ich es wieder.

Unter keinen Umständen werde ich allein in den Keller gehen.

Ich horche. Es hat aufgehört.

Es fängt wieder an.

Ich durchquere die Halle und öffne den schweren Riegel der Kellertür. Ich war noch nie dort unten, wozu auch? Im Keller lagern unsere Weinflaschen, aber das geht mich nichts an, darum kümmert sich Laura.

Eine Treppe führt hinunter, zwei nackte Glühbirnen werfen fleckiges Licht auf die Stufen. An der Ziegelwand kleben drei alte Poster: Yoda, Darth Vader und eine nackte Frau, die ich noch nie gesehen habe. Unten ist eine Metalltür. Ich öffne sie, taste nach dem Lichtschalter und finde ihn. Es riecht nach abgestandener Luft. Knackend schaltet sich eine Glühbirne ein.

Ein länglicher Raum, eine niedrige Decke, an der Wand ein Flaschenregal, halb leer. Das soll meine Weinsammlung sein, dafür habe ich so viel ausgegeben? In einem Winkel liegt ein Blecheimer, auf der Seite gegenüber sehe ich eine zweite Tür. Das Geräusch ist nicht mehr zu hören. Langsam gehe ich durch den Raum, lege die Hand auf die Klinke, horche in die Stille und drücke die Klinke nach unten. Ich spüre einen kalten Luftzug: wieder eine Treppe. Ich taste nach dem Schalter, das Licht geht an.

Die Glühbirne hier ist schmutzig und flackert stark, sie muss schon alt sein. Die Stufen sind schmal. Ich trete mit dem rechten Fuß vorsichtig auf die oberste, halte einen Moment inne und gehe dann langsam hinunter.

Da ist es wieder. Ein dumpfer Schlag, ein Zerren und ein Quietschen wie von den Kolben einer großen Maschine. Aber ich kann nicht umkehren. Zu oft der Angst nachgeben, und man wird klein und kümmerlich. Das ist mein Haus. Vielleicht ist das die Prüfung, auf die es ankommt, vielleicht wird sich jetzt alles ändern.

Es verstummt.

In völliger Stille komme ich unten an. Ich höre meinen Atem, und ich höre mein Herz schlagen. Kalt ist es. Wie tief mag ich schon sein? Ich öffne noch eine Tür, auch hier ein Lichtschalter.

Ich höre es wieder. Der Raum ist überraschend groß, wohl fünfzehn mal dreißig Meter. Die Wände aus Stein, der Untergrund harter Lehm, an der Decke zwei Glühbirnen, von denen nur eine funktioniert. Ich sehe ein zerknülltes Tuch, daneben eine gebogene Metallstange, das eine Ende rund wie der Knauf eines Spazierstocks, das andere spitz zugefeilt. Zwei Türen: Ich probiere die eine, sie ist verschlossen. Ich rüttle, sie bewegt sich nicht. Aber die andere lässt sich öffnen, und hinter ihr ist wieder eine Treppe. Kein Lichtschalter zu finden.

Ich starre ins Dunkel hinunter. Ich versuche, die Stufen zu zählen. Mehr als neun kann ich nicht ausmachen.

Genug, weiter gehe ich nicht!

Ich gehe weiter, einen Schritt nach dem anderen, die linke Handfläche an der Wand, in der Rechten das schwach glimmende Telefon. Wann hat das Geräusch aufgehört? Ich habe es gar nicht gemerkt. Ich steige noch zwei Stufen hinunter. Noch eine Stufe. Und noch eine. Jetzt ist die Treppe zu Ende.

Vor mir ist eine Tür. Ich will sie öffnen, aber sie ist fest verschlossen. Ich verspüre Erleichterung. Es geht nicht weiter, ich darf zurück. Als ich es noch einmal versuche, öffnet sie sich ohne Widerstand.

Ich taste mich voran. Unter mir eine Treppenstufe aus Stahl, die Wand neben mir ist gewölbt. Ein Moment vergeht, bis ich begreife: eine Wendeltreppe. Der Schacht führt senkrecht in die Tiefe. In meiner Tasche finde ich einen Kugelschreiber aus Plastik. Ich halte ihn mit ausgestrecktem Arm und lasse ihn fallen.

Ich warte. Kein Aufprall zu hören. Wahrscheinlich war der Kugelschreiber zu klein und zu leicht. Ich durchsuche meine Taschen und finde eine Brieftasche, ein Feuerzeug aus Metall, einen Schlüsselbund, Münzen. Das Feuerzeug habe ich nur, um Rauchern Feuer anzubieten, ich lasse den Verschluss aufschnappen. Im Licht der Flamme, viel heller als das Telefon, sehe ich die Stufen besser. Ich halte sie über den Schacht, sie flackert. Von unten strömt also Luft herauf. Ich zögere, dann lasse ich es fallen. Die Flamme schrumpft und wird vom Dunkel geschluckt. Kein Aufprall zu hören.

Aber ich höre etwas anderes. Ich horche, warte, horche, die Erschütterungen werden stärker: Etwas stößt gegen die Stufen. Erst nach ein paar Sekunden wird mir klar, dass jemand die Treppe heraufkommt. Auf mich zu.

Dann wird es dunkel.

Und langsam wieder hell. Wir sitzen beim Abendessen: Laura, Marie, Lauras Vater, Lauras Mutter, Lauras Schwester, deren Mann und zwei Töchter, alle um den gedeckten Tisch.

«Die ganze Woche soll es so heiß bleiben», sagt Laura.

«Jeder Sommer schlimmer als der davor», sagt ihre Schwester. «Man weiß ja gar nicht, wohin man gehen soll mit den Kindern.»

«Ein Haus in Skandinavien», sagt mein Schwiegervater. «Oder an der Nordsee.» Er sieht mich an. «So wie dein Bruder eines hat. Das bräuchte man.»

«Wir könnten ihn besuchen», sage ich gepresst. Ich würde gern essen, denn ich habe Hunger, aber meine Hände zittern zu stark.

Jetzt spricht mein Schwiegervater über Politik. Ich nicke in regelmäßigen Abständen, die anderen tun das Gleiche. Er ist Architekt, hat in den Siebzigern einige der hässlichsten Zementbauten des Landes errichtet und dafür das Bundesverdienstkreuz bekommen. Er gestikuliert mit Bedacht, und er setzt lange Pausen, bevor er etwas sagt, das er für wichtig hält. So muss man es wohl machen, so muss man sein, so dreinschauen, dann wird man respektiert. Ich bewundere ihn, ich wollte immer sein wie er; und wer weiß, vielleicht ist er in Wirklichkeit ja auch ein wenig wie ich.

Das Zittern hat nachgelassen. Vorsichtig schiebe ich mir Essen in den Mund. Zum Glück beachtet mich keiner.

Oder? Jetzt sehen mich alle an. Was ist denn, was habe ich versäumt, was falsch gemacht? Offenbar hat Laura etwas über eine Reise nach Sizilien gesagt. Alle lächeln und freuen sich und gratulieren.

«Entschuldigt mich bitte», sage ich. «Dringender Anruf. Bin gleich wieder da.»

«Du arbeitest zu viel», sagt Laura.

«Man muss sich auch etwas gönnen», sagt mein Schwiegervater. Er überlegt einen Moment und fügt dann in einem Ton, als hätte er eine verborgene Weisheit mit uns zu teilen, hinzu: «Ein Mann muss zu leben wissen.»

Ich frage mich, ob er in seinem ganzen Leben auch nur einmal etwas geäußert hat, das nicht eine tausendfach vorgeprägte Phrase ist. Ich beneide ihn sehr.

Auf dem Weg zum Arbeitszimmer komme ich an der offenen Tür zum Salon vorbei. Ligurna, unsere litauische Hausangestellte, grüßt mich mit trauriger Miene. Ich nicke ihr zu und gehe schnell weiter. Vor einem Jahr habe ich in einem schwachen Augenblick mit ihr geschlafen. Leider passierte es nicht in der Küche oder auf dem Schreibtisch, sondern im großen Schlafzimmer, im Ehebett. Ligurna hat danach mit detektivischer Hingabe Teppich und Nachttisch nach Haaren, Wimpern und anderen Spuren abgesucht; dennoch hatte ich wochenlang Angst, sie könnte etwas übersehen haben. Seither spreche ich nur mit ihr, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Hinauswerfen kann ich sie nicht, sie könnte mich erpressen.

Ich setze mich hinter den Schreibtisch, schlucke zwei Beruhigungstabletten ohne Wasser, betrachte den Paul Klee, betrachte den Eulenböck an der Wand gegenüber: eine mit Zeitungsausschnitten bedeckte Leinwand, in deren Mitte eine zerdrückte Coca-Cola-Dose und ein Teddybär befestigt sind. Man muss nahe herangehen, um zu erkennen, dass alles Illusion ist, Bär und Dose sind nicht echt, auch nicht das Zeitungspapier, alles ist in Öl gemalt. Wenn man die Zeitungsausschnitte mit der Lupe untersucht, sieht man, dass es Kunstkritiken über Collagen sind.

Das Bild stammt aus Eulenböcks später Periode, seiner teuersten. Ich habe den alten Angeber ja noch kennengelernt, er war sehr herablassend, sehr weißhaarig und hat nicht aufgehört, über Iwan und mich und unsere Ähnlichkeit dumme Witze zu machen; ganz offensichtlich glaubte er, mich gut zu kennen, weil er Iwan gut kannte. Hundertsiebzigtausend hat es gekostet, angeblich ein Freundschaftspreis. Aber immerhin gibt es darauf den Teddybären. Er macht mir Freude. Ich weiß, dass alles eine Parodie auf irgendetwas ist und nichts das bedeutet, was es zu bedeuten scheint, aber das ist mir egal. Auf der kurzen Liste der Dinge, die nicht entsetzlich sind in meinem Leben, steht dieser Bär weit vorn.

Was für ein Glück, dass man heute alle Medikamente im Internet bestellen kann. Wie hätte einer wie ich es vor fünfzehn Jahren geschafft? Ich verschränke die Arme und lehne mich zurück. Ich würde gern arbeiten, um mich abzulenken, aber ich habe nichts zu tun. Ohne Hoffnung hat man wieder Muße.

Es klopft, Laura sieht herein. «Hast du Zeit?»

«Leider nicht.»

Sie setzt sich, schlägt die Beine übereinander und blickt zuerst den Paul Klee an und dann mich.

«Geht es um Marie?»

«Es geht um mich.»

«Dich?»

«Stell dir vor, Eric. Es geht um mich.»

Das hat mir noch gefehlt. Will sie mir wieder einen Traum erzählen? Oder hat ihr gar jemand eine Rolle angeboten? Das wäre wirklich eine schlechte Nachricht.

«Ich habe ein Angebot. Eine Rolle.»

«Das ist ja wunderbar!»

«Keine große, aber wenigstens ein Anfang. Es ist nicht leicht, nach fünfzehn Jahren zurückzukehren.»

«Du bist schöner als damals!»

Nicht übel. Keine halbe Sekunde habe ich gebraucht, um das zu sagen, der Satz ist gut vorbereitet und jederzeit zur Hand. Selbstverständlich ist sie nicht schöner als damals, wie sollte sie auch, aber sie ist schlanker und durchtrainiert, und die feinen Linien der Reife um ihre Augen stehen ihr gut. Ohne weiteres könnte sie in Filmen spielen. Ich muss es verhindern.

«Ich habe nachgedacht.»

«Ja?»

«Ich will mich nicht aufgeben. Ich muss mich auf mich selbst konzentrieren.»

Sie schweigt, offenbar um mir Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. Aber welcher?

«Es ist nur für einige Zeit, Eric. Zunächst. Wir trennen uns noch nicht. Alles wird sich zeigen.»

Sie sieht mich an. Ich sehe sie an.

«Eric, was soll das?»

Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht und wartet. Wahrscheinlich ist es an mir, etwas zu sagen, aber was will sie hören, wovon redet sie?

«Ich würde ausziehen, aber das wäre unpraktisch. Ich muss mich um Marie kümmern, ich brauche auch Ligurna. Es ist besser, du suchst dir etwas anderes. Dann musst du nicht immer so weit zur Arbeit fahren.»

«Zur Arbeit?»

«Außerdem ist das Haus in der Nähe der Schule. Ich werde nicht viel daheim sein können während der Dreharbeiten. Natürlich kannst du Marie sehen, wann immer du willst.»

Ich nicke, denn ich verstehe jetzt, was sie sagt, auch wenn es keinen Sinn ergibt. Die Wörter ergeben Sinn, die Sätze scheinbar auch, aber stellt man sie zusammen, sind sie so leer, als spräche sie im Wahnsinn.

«Eric, ich kann mich jetzt nicht auf deine Spiele einlassen.»

Ich nicke, als verstünde ich. Glücklicherweise muss ich fürs Erste nichts sagen, denn sie steht auf und redet weiter. Ich höre gedämpft ihre Stimme von langen und einsamen Stunden sprechen, davon, dass ich immer beschäftigt sei und dass Geld und kalte Vernunft nicht über allem stünden. Nach einer Weile verstummt sie, setzt sich, wartet. Ich sehe sie hilflos an.

«Mach das nicht mit mir», sagt sie. «Deine Tricks. Deine Verhandlungstricks. All deine Tricks. Ich kenne dich. Bei mir funktioniert das nicht.»

Ich öffne den Mund, hole Luft, schließe ihn wieder.

Sie spricht weiter. Ihre Arme sind so schmal, ihre Hände zart und elegant, wieder und wieder lässt die Tischlampe den Diamantring an ihrem Mittelfinger aufblitzen. Gerade sagt sie, dass ich auf keinen Fall glauben solle, dass es mit einem anderen Mann zu tun habe, es gebe keinen, wenn ich so etwas dächte, sei ich im Unrecht, denn einen anderen Mann gebe es gewiss nicht, und etwas anderes solle ich nicht denken.

Ich konzentriere mich darauf, weiterhin aufmerksam zu blicken und mich nicht davon ablenken zu lassen, dass die Farbe aus allen Dingen gewichen ist und mein Gesicht sich anfühlt, als wäre es aus Watte.

«Antworte mir, Eric! Hör damit auf! Sag etwas!»

Aber als ich nach einer Antwort suchen will, weicht alles noch weiter zurück. Ich bin wieder im Keller, weit unten, tiefer noch als vorhin, und etwas kommt die Treppe herauf, jemand spricht. Wörter setzen sich zusammen, dunkel ist es, und auf mir liegt Zentnergewicht. Die Stimme kommt mir bekannt vor, und irgendwo öffnet sich ein Spalt Helligkeit. Das Fenster am Schreibtisch. Mir ist, als wäre viel Zeit vergangen, aber Laura sitzt noch da und redet.

«Fürs Erste kann alles weitergehen wie bisher», sagt sie. «Man kann tun, als wäre nichts. Wir fliegen nach Sizilien. Nächste Woche gehen wir gemeinsam auf den Empfang bei Lohnenkovens. Inzwischen kannst du dir eine Wohnung suchen. Wir müssen uns das nicht schwermachen.»

Ich räuspere mich. Bin ich wirklich ohnmächtig geworden, hier an meinem Schreibtisch, vor ihren Augen, ohne es mir anmerken zu lassen? Wer zur Hölle sind die Lohnenkovens?

«Von Scheidung rede ich noch nicht. So weit muss es nicht kommen. Aber wenn doch, müssen wir vernünftig sein. Du hast natürlich gute Anwälte. Das gilt für mich allerdings auch. Ich habe mit Papa gesprochen. Er steht hinter mir.»

Ich nicke. Aber wer sind sie nur, wer sind die Lohnenkovens?

«Na gut.» Sie steht auf, streicht sich die Haare aus dem Gesicht und geht.

Ich öffne die Schublade und pflücke drei, vier, fünf Tabletten aus den Plastikbriefchen. Als ich das Zimmer verlasse, ist mir, als gehörten meine Beine einem anderen, als wäre ich eine Marionette, gesteuert von einem nicht sehr geschickten Puppenspieler.

Im Esszimmer sitzen alle noch am Tisch.

«Erledigt, dein Anruf?» Mein Schwiegervater lächelt mir zu.

Laura neben ihm lächelt auch. Die Schwiegermutter lächelt, die Schwester lächelt, die Töchter lächeln, nur Marie gähnt. Ich habe keine Ahnung, von was für einem Anruf er redet.

«Laura», sage ich langsam. «Haben wir gerade … Hast du …» Es könnte auch an den Tabletten liegen. Sie sind stark, und ich habe viele genommen. Ich könnte es mir eingebildet haben.

Oder? Ich habe die Tabletten doch Lauras wegen genommen. Wäre sie nicht zu mir gekommen, ich hätte nicht so viele Tabletten geschluckt. Also können die Tabletten nicht die Ursache dafür sein, dass ich mir einbilde, Laura habe Dinge gesagt, die mich dazu gebracht haben, die Tabletten zu nehmen. Oder?

«Schlechte Nachrichten?» Mein Schwiegervater lächelt noch immer.

«Du solltest dich hinlegen», sagt Laura.

«Ja», sagt meine Schwiegermutter. «Du bist blass. Geh lieber ins Bett.»

Ich warte, aber keiner sagt mehr etwas. Alle lächeln. Mit unsicheren Schritten verlasse ich das Zimmer.

Den rechten Fuß auf die erste Stufe und hinunter. Ich vermeide es, in Richtung der Kellertür zu blicken, denn ich weiß: Ist der Riegel nicht fest geschlossen, ja steht die Tür gar offen, bleibt mein Herz stehen. Ich gehe durch die Halle und öffne die Haustür.

Dunkel ist es, aber immer noch sehr heiß. Rechts neben mir, an die Mauer geschmiegt, kauert ein struppiges Fellwesen und sieht mich an. Sein Geruch ist beißend streng. Als ich stehen bleibe, springt es mit Bocksfüßen davon und verschwindet im Schwarz der Hecke.

Ich wuchte das Garagentor hoch. Knut hat schon Feierabend, ich muss selbst fahren. Das sollte ich vielleicht nicht in diesem Zustand, aber irgendwie wird es schon gehen. Mit tiefem Brummen springt der Motor an, und der Wagen rollt auf die Straße. Im Rückspiegel sehe ich mein Haus. Aus dem Fenster der Dachkammer dringt blasser Lichtschein. Wer ist da oben?

Aber schon bin ich um die Ecke.

Jetzt bloß kein Unfall, nicht nach all den Tabletten. Diesmal rufe ich Sibylle nicht an, ich will sie überraschen.

Und wenn sie nicht allein ist?

Der Gedanke durchschneidet meine Benommenheit. Der Wagen gerät in die Mitte der Straße, Hupen brüllen auf, aber ich bekomme ihn wieder unter Kontrolle. Wenn ein Mann bei ihr ist, muss ich ihn töten! Ich kurble am Lenkrad, und ein Müllcontainer aus gelbem Plastik gleitet mir in den Weg. Ich weiche aus, aber er prallt so fest gegen die rechte Flanke des Wagens, dass sein Deckel auffliegt und Pappkartons über die Straße segeln. Ich bremse, der Wagen steht. Fußgänger starren mich an. Auf der anderen Straßenseite hält ein Auto, zwei Männer steigen aus und kommen auf mich zu.

Schon will ich Gas geben und sie überfahren, aber genau auf so etwas haben sie es abgesehen, ich soll die Fassung verlieren. Die Fäuste geballt, steige ich aus.

«Brauchen Sie Hilfe?», fragt der eine.

«Sind Sie verletzt?», fragt der andere.

Ich laufe los. Ich renne durch eine schmale Straße, springe über den Absperrzaun einer Baustelle, klettere über eine Baggerschaufel und über noch einen Zaun und renne immer weiter, bis ich mich atemlos und mit stechendem Herzen umsehe. Niemand scheint mir zu folgen. Aber wie kann ich sicher sein? Sie sind so schlau.

Eine Fußgängerzone. Ich weiche zwei Frauen, einem Polizisten, zwei Jugendlichen, Adolf Klüssen und zwei weiteren Frauen aus. Klüssen? Ja, ich habe ihn deutlich gesehen, entweder war er es selbst, oder sie haben jemanden geschickt, der aussieht wie er. Unter einer Laterne taucht für einen Augenblick das Gesicht von Maria Gudschmid auf, aber das wenigstens hat nichts zu bedeuten, unzählige Frauen ähneln ihr. Ich lasse die Fußgängerzone hinter mir, überquere eine Straße, laufe eine schmale Auffahrt empor und erreiche Sibylles Haustür. Sie ist verschlossen. Ich drücke auf den Klingelknopf.

«Ja?» Ihre Stimme im Lautsprecher, und zwar so schnell, als hätte sie an der Tür gewartet – aber nicht auf mich, sie wusste ja nicht, dass ich komme, also auf wen sonst?

«Ich bin es», sage ich ins Mikrophon.

«Wer?»

Wenn sie mich jetzt nicht hereinlässt, wenn sie nicht sofort öffnet, wenn sie mich zwingt, auf der Straße stehen zu bleiben, ist es aus.

«Eric?»

Ich antworte nicht. Summend öffnet sich die Tür.

Jemand berührt meinen Arm. Hinter mir steht ein schmaler Mann mit langer Nase und dünnem Kinn. In der einen Hand hält er den Lenker eines Fahrrads, in der anderen eine schlaffe Einkaufstasche aus Plastik.

«Du hättest dich nicht einmischen sollen», sagt er. «Hättest du bloß die drei in Ruhe gelassen. Es war nicht deine Sache.»

Ich schlage die Tür hinter mir zu und laufe die Treppe hinauf. Wenn sie einen Mann bei sich hat, wenn sie einen Mann, wenn sie, wenn – ihr Stockwerk. Sie steht im Flur.

«Was ist denn los?», fragt sie.

«Das mit dem Auto hätte nicht passieren dürfen. Einfach so stehen gelassen. Wie sieht das denn aus!»

«Wovon redest du?»

«Ich muss es als gestohlen melden.»

Ich gehe an ihr vorbei in die Wohnung. Hier ist niemand. Sie ist allein. Ich sinke auf den nächstbesten Stuhl und schalte mein Telefon an. Neun Anrufe, drei von meinem Büro, sechs von daheim, drei Nachrichten. Ich schalte es wieder aus.

«Was ist passiert, Eric?»

Ich will antworten, dass gar nichts passiert ist, dass mir bloß alles zu viel wird. Ich will antworten, dass ich nicht mehr herausfinde. Aber ich sage nur: «War ein schwerer Tag.» Und während ich sie ansehe, wird mir klar, dass ich gar nicht bei ihr sein möchte. Ich will nach Hause.

«Ich wollte bei dir sein», sage ich.

Sie kommt näher, ich stehe auf und bringe es fertig, alles zu tun, was nötig ist. Meine Hände finden dorthin, wo sie sein sollen, meine Bewegungen sind die richtigen, und es gelingt mir sogar, ein wenig Freude darüber zu empfinden, dass sie das hier so sehr will und weich ist und gut riecht und mich vielleicht sogar ein wenig liebt.

«Ich dich auch», flüstert sie, und ich frage mich, was ich jetzt schon wieder gesagt habe.

Danach liege ich wach, höre ihrem Atem zu und blicke zur dunklen Fläche der Zimmerdecke auf. Ich darf nicht einschlafen, ich muss zu Hause sein, bevor der Morgen anbricht und Laura mir ihren Traum erzählt.

Lautlos stehe ich auf und ziehe mich an. Sibylle erwacht nicht. Auf Zehenspitzen schleiche ich aus dem Zimmer.


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