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Jahreszeiten



1

Der blühende Apfelbaum stand nahe an der Mauer, man konnte durch die Fenster ins Haus blicken. Im unteren Stockwerk waren der Salon, das Wohnzimmer, das ehemalige Medienzimmer, das jetzt leerstand, und die Bibliothek. Wenn man höher kletterte, sah man durch das Oberlicht in die Eingangshalle und von noch weiter oben direkt ins Arbeitszimmer mit dem Schreibtisch und dem hellen Fleck, wo vor kurzem noch das Strichmännchen gehangen hatte. Wer dann noch Kraft hatte, konnte weiterklettern bis aufs Dach.

Allein hätte Marie sich nicht dort hinaufgewagt, aber mit Georg und Lena war es möglich, denn wenn man zu dritt war, wollte keiner feige sein, und manchmal kam auch Jo mit. Man musste einen Fuß in die Astgabel setzen und den anderen auf die Oberkante des Fensterladens, und dann war es ganz wichtig, nicht nach unten zu sehen. Bloß nicht nachdenken, sondern sich innerlich verschließen, sonst spürte man die Tiefe im Magen, der Schweiß brach einem aus, Angst schoss durch die Glieder, und man hing wie ein Sack. Richtig war es, das Blech der Regenrinne zu fassen, Schwung zu nehmen, ein Knie gegen die Mauer zu drücken und sich nach vorne abzurollen, so konnte man die Finger zwischen die Dachziegel schieben und sich hinaufziehen. Dort saß man dann, den Rücken gegen die Schräge gepresst, die Fersen in der Regenrinne, und konnte über die Baumwipfel und das Dach des Hauses, in dem Georg wohnte, bis zur übernächsten Straße sehen. Am Himmel trieben zerfranste Wolken, an denen der Wind zog und zerrte und riss. Sobald die Wolken sich aufgelöst hatten, stand die Sonne feuergroß da – selbst wenn man die Lider zukniff, brannte sie noch in den Augen.

Georg erzählte oft davon, dass sein Vater Polizist war und er daheim mit der Pistole spielen durfte, aber so oft er es auch ankündigte, er zeigte sie ihnen nie. Er erzählte auch Geschichten über Räuber, Mörder, Betrüger und Krokodile. Ein Krokodil konnte stundenlang reglos liegen, es sah dann aus wie ein Baumstamm, aber plötzlich schnappte es zu. Er war in Afrika gewesen, auch in China, in Barcelona und in Ägypten.

Sie sprachen darüber, was wohl mit Iwan geschehen war. Vielleicht war er nach Amerika gefahren. Leute reisten oft heimlich nach Amerika, ein Schiff brachte sie hinüber, manchmal auch ein Flugzeug, dort trugen sie Hüte und Stiefel.

«Oder vielleicht China», sagte Lena.

«China ist zu weit weg», sagte Marie. «Außerdem sprechen sie dort Chinesisch.» Sie spürte die Sonne auf ihrer Haut, sie hörte das Rauschen des Apfelbaumes und das leise Brummen einer Hummel an ihrem Ohr.

«Kann er nicht Chinesisch lernen?», fragte Georg.

«Niemand lernt Chinesisch», sagte Marie, denn es war zu schwierig, es hatte keinen Sinn, wie sollte man aus diesen Strichen Worte lesen? Was, wenn auch die Chinesen nur so taten, als könnten sie es? Das war doch möglich. Sie tat ja auch so, als ob sie verstünde, was ihr Vater meinte, wenn er ihr wieder einmal sagte, dass die große Krise ihn gerettet habe.

«Und wenn er tot ist?», fragte Georg.

Marie zuckte die Achseln. Wie warm die Ziegel waren. Man hätte einschlafen können, aber das durfte nicht passieren, schließlich musste man die Fersen immer fest in die Regenrinne stemmen, um nicht die Schräge hinabzurutschen. «Wenn er tot ist, hätte man ihn gefunden.»

«Er könnte im Wald sein», sagte Georg.

«In was für einem Wald?»

«Im Wald eben. Wo Wölfe sind.»

Die Hummel ließ sich irgendwo nieder, wartete kurz und flog wieder auf. Marie blinzelte. Eine Wolke sah aus wie ein Fahrrad, auf dem ein dicker Mann saß, der einen Hut hatte, aber keinen Kopf.

«Geht der Raum da oben immer weiter?», fragte Lena. «Oder hört er irgendwo auf?»

«Vielleicht gibt es eine Wand», sagte Marie.

«Aber selbst wenn», sagte Georg. «Man kann immer weiter fliegen. Man könnte ein Loch in die Wand machen. Es kann nicht zu Ende sein. Es kann nie zu Ende sein.»

«Aber wenn die Wand fest ist», sagte Lena. «Ganz, ganz fest?»

«Könnte man immer noch ein Loch machen», sagte Georg.

«Die festeste Wand der Welt?»

«Dann stell dir vor, du hast die spitzeste Spitze.»

Eine Weile sagten sie nichts. Das Gebrumm der Hummel wurde höher, tiefer und wieder höher.

«Der Matthias ist eigentlich blöd», sagte Lena dann.

«Stimmt», sagte Georg.

«Warum denn?», fragte Marie.

«Marie und Matthias», sang Lena. «Matthias und Marie. Marie und Matthias. Matthias und Marie.»

«Wann ist Hochzeit?», fragte Georg.

Ohne die Augen zu öffnen, ballte Marie die Faust und schlug zu. Sie traf so genau die Mitte seines Oberarms, dass Georg aufschrie. Marie mochte Matthias auch nicht besonders, und natürlich wussten die beiden das. Es war nur das übliche Gerede auf dem Dach.

Einmal hatte Mama sie beim Hinunterklettern erwischt. Sie hatte sich furchtbar aufgeregt, Georg und Lena hatten eine Weile nicht mehr zu Besuch kommen dürfen, auch Jo und Natalie nicht, obwohl Natalie noch nie auf dem Dach gewesen war. Marie hatte fest versprochen, etwas so Gefährliches nie wieder zu tun, aber sie hatte die Finger in der Hosentasche gekreuzt, damit es nicht galt, und zum Glück hatte Mama es bald wieder vergessen. Mama vergaß schnell. In letzter Zeit war sie selten zu Hause, Kostüme mussten probiert und Leute getroffen werden, auch zu telefonieren hatte sie viel, und regelmäßig musste sie sich mit dem Scheidungsanwalt beraten, einem höflichen Herrn mit Bart, großen Ohren und Robbenaugen.

Zweimal in der Woche kam ihr Vater und nahm sie in den Zoo oder ins Kino mit. Sie interessierte sich nicht besonders für Tiere, und die Filme waren immer falsch ausgewählt – er begriff einfach nicht, was man mit elf Jahren sehen wollte. Manchmal besuchte sie ihn auch im Pfarrhaus. Es war ein Geheimnis, dass er dort wohnte, sie durfte es niemandem erzählen, nicht den Großeltern, nicht Ligurna, keinem in der Schule und vor allem nicht Mama.

Im Pfarrhaus roch es nach Mottenkugeln und Essen. Ihr Vater schlief auf einer Couch neben dem Fernseher unter einem Bild, auf dem Jesus aussah, als hätte er Zahnweh. Er trug immer Jeans und ein rot kariertes Hemd, manchmal trug er auch eine Schirmkappe, auf der I Love Boston stand. Als sie ihn gefragt hatte, wann er das Hemd denn wasche, hatte er irritiert geantwortet, er habe noch zwei andere, die genauso aussähen. Er besaß keinen Computer mehr, kein Telefon, kein Auto und nur ein einziges Paar Sportschuhe. Sie hatte ihn noch nie so gut gelaunt erlebt.

«Die Krise!», rief er, als sie durch den Zoo gingen. «Niemand hat es geahnt. Es ist wie der Weltuntergang. Noch vor acht Monaten wusste keiner davon!»

Sie blieben stehen. Ein Gnu erwiderte mit leeren Augen Maries Blick.

«Die Immobilienderivate. Wenn man das vorhergesehen hätte! Milliarden hätte man machen können! Hat aber keiner vorhergesehen. Die Kurse sind im freien Fall, die Banken können selbst kein Geld leihen.» Er klatschte in die Hände. «Und jeder weiß es, alle reden ständig davon, keiner wundert sich, verstehst du? Keiner hat Fragen! Verstehst du?»

Marie nickte.

Er ging in die Hocke. «Alle verlieren Geld», sagte er ihr ins Ohr. «Alle verlieren alles, verstehst du?»

Marie nickte.

«Niemand fragt jetzt nach seinem Geld. Man erwartet geradezu, dass es verloren ist, man rechnet damit, weil alle verlieren. Es ist ein Wunder. Kein Klient fragt, wo seine Einlagen geblieben sind.»

Marie wusste, wie man dreinblicken musste, damit es so schien, als ob man verstünde. Sie benutzte diesen Blick in der Schule, oft reichte er schon für gute Noten. Sie setzte ihn auch immer dann ein, wenn es ihrem Vater einfiel, ihr wichtige Dinge zu erzählen. Er war der Meinung, dass sie einander ähnlich waren und dass sie ihn besser verstand als irgendjemand sonst.

«Marie», sagte er. «Du verstehst mich besser als irgendjemand sonst.»

Hilfesuchend blickte sie zum Gnu.

«Wenn man zum Beispiel … Nur ein Beispiel, Marie! Wenn man Verluste gemacht hat, und man hat darauf gewartet, dass … Aber plötzlich stellt niemand mehr Fragen!»

«Gehen wir zu den Tigern?»

Er sprang auf und klatschte wieder in die Hände, so laut, dass eine Frau, die einen Kinderwagen vorbeischob, ihn vorwurfsvoll ansah. «Und Klüssen liegt im Krankenhaus! Das kann dauern, er könnte sterben, wer weiß! Mit dem Sohn werde ich schon fertig. Wer hätte das kommen sehen!»

Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie vorwärts. Es wunderte sie nicht, dass sie zum Ausgang gingen. Auch heute würde sie die Tiger nicht sehen. Ihr Vater ging nie zu den Tigern.

«Endlich!», rief Georg, als er sie zurückkommen sah. Er hockte auf dem Gartenzaun, auf dem Kopf trug er seine Robin-Hood-Kappe, er hatte einen Köcher umgeschnallt, und in der Hand hielt er einen Bogen. Ihm war offenbar sehr langweilig gewesen.

«Sind die scharf?», fragte ihr Vater.

«Spitz. Nicht scharf, spitz. Nein, die sind gar nicht spitz.»

«Die sehen spitz aus.»

«Sind sie aber nicht.»

Er schwieg ein paar Sekunden, bevor er sagte: «Mit spitzen Pfeilen dürft ihr nicht schießen. Das ist zu gefährlich.»

«Die sind nicht spitz», wiederholte Georg.

«Wirklich nicht!», sagte Marie.

«Stimmt das auch?»

Beide nickten, Georg legte sich sogar die Hand aufs Herz. Aber ihr Vater sah es nicht, weil er zerstreut zur anderen Straßenseite blickte.

«Das Haus habe ich nie gemocht.»

«Ich auch nicht», sagte Marie.

«Warst du mal im Keller?»

«Es gibt einen Keller?»

«Nein. Gibt es nicht, und du gehst auch nicht hinunter!»

«Ist das wahr, dass Sie alles Geld verloren haben?», fragte Georg.

«Die Krise. Völlig unerwartet. Keiner hat sie kommen sehen. Siehst du dir die Nachrichten an?»

Georg schüttelte den Kopf.

«Weißt du, was Derivate sind?»

Georg nickte.

«Und was mortgage backed CDOs sind, weißt du das auch?»

«Ja.»

«Wirklich?»

Georg nickte.

«Passt mit den Pfeilen auf.» Noch einmal sah er besorgt zu dem Haus hinüber, dann strich er Marie über die Wange und ging.

«Die sind wirklich nicht spitz!», rief Georg ihm hinterher.

«Versprochen!», rief Marie.

Während sie ihrem Vater nachsah, fiel ihr wieder Iwan ein. Erst vor kurzem hatte sie verstanden, dass sich das Rätsel vielleicht nie lösen würde. Nie, das hieß: jetzt nicht und auch nicht später und auch nicht viel, viel später, ihr ganzes Leben lang nicht und auch nicht danach. Sie musste oft daran denken, wie er ihr einmal im Museum erklärt hatte, warum Künstler hässliche Sachen wie alte Fische, faule Äpfel oder gekochte Truthähne malten: weil es ihnen nämlich nicht um die Gegenstände gehe, sondern ums Malen der Gegenstände, weil sie also – und hier hatte er sie ernst angesehen und leise gesprochen, als ob er ein Geheimnis verriete – das Malen selbst malten. Dann hatte er sie gefragt, ob sie das verstanden habe, in dem gleichen Ton, in dem ihr Vater ihr immer diese Frage stellte, und sie hatte so genickt, wie sie immer nickte. Ihr Onkel war ihr stets ein wenig unheimlich gewesen, weil er ihrem Vater so ähnlich sah und dessen Stimme hatte und trotzdem ein anderer war. Es gab schon seltsame Dinge. Leute malten Fische, um das Malen zu malen, Fahrräder kippten um, wenn man sie auf ihre zwei Räder stellte, waren aber auf diesen Rädern ganz stabil, wenn man losfuhr, es gab Menschen, die genau wie andere Menschen aussahen, und manchmal verschwand jemand einfach so an einem Sommertag aus der Welt.

«Getroffen!» Georg reichte ihr den Bogen. Drüben, auf der anderen Seite des Gartens, steckte ein Pfeil zitternd in der Zielscheibe. «Aber Vorsicht, sie sind sehr spitz!»

Eine Weile schossen sie abwechselnd. Obwohl es kein großer Bogen war, war er schwer zu spannen; manchmal traf Marie, aber öfter ging es daneben. Georg hatte mehr Übung. Bald schmerzten ihre Finger von der Bogensehne.

Lena kam vorbei, kletterte auf den Zaun und sah ihnen zu. Ihre Mutter hatte sie für eine Stunde fortgeschickt. Ein Mann mit einer teuren Lederjacke, erzählte sie, sei gekommen, er habe ihr Schokolade mitgebracht.

Georg schoss und traf, Marie schoss und traf nicht, Georg schoss und traf nicht, Marie schoss und traf nicht, Marie schoss und traf nicht, Georg schoss und traf nicht, Marie schoss und traf, im Nebenhaus öffnete sich ein Fenster, und eine Frau rief, das seien doch hoffentlich keine spitzen Pfeile. Alle drei schworen, es seien keine.

Allmählich machte die Dämmerung das Zielen schwierig. Der Baum schien größer als zuvor, aber seine Konturen verschwammen, und es fiel immer schwerer, ihn ins Auge zu fassen. Marie zielte noch einmal, und der gespannte Bogen zitterte, denn ihr Arm war schon erschöpft. Sie hielt die Luft an. Der Moment dauerte und dauerte, als könnte sie mit dem Bogen die Zeit anhalten. Und er dauerte immer noch. Dann ließ sie los. Der Pfeil zeichnete seine Bahn in die Dämmerung, streifte den Stamm und verschwand im Gras.

Sie verabschiedete sich von Lena und Georg und ging über die Straße. Woher kam es, dass der Abend anders roch als der Morgen? Auch der Mittag hatte seinen eigenen Geruch. Aus einem Busch flog der Schatten eines Vogels auf, sie zuckte zurück: ein Flattern, ein Krächzen und Wirbeln, schon war er über ihr, schon in der Höhe verschwunden. Sie legte den Kopf in den Nacken. Wenn Iwan wirklich tot war, dann war er jetzt auch dort oben, und die Wolken behinderten nicht seinen Blick, weil für die Toten alle Dinge durchsichtig waren.

Der Kiesweg knirschte unter ihren Schuhen. Durch das Küchenfenster sah sie Ligurna in einem Kochtopf rühren, das Telefon festgeklemmt zwischen Wange und Schulter. Das Fenster war gekippt, es wäre ein Leichtes gewesen zuzuhören. Aber normalerweise lohnte sich das nicht, bei den Erwachsenen ging es selten um etwas Interessantes. Sollte sie noch einmal auf den Baum klettern? Nicht bis aufs Dach, das traute sie sich allein nicht, aber vielleicht bis ans Fenster des Arbeitszimmers? Dann schien es ihr doch zu gefährlich. Im Dunkeln sah man die Zweige nicht gut, man konnte fallen, und wenn unerwartet eine Hexe im Baum saß, war man ihr hilflos ausgeliefert.

Sie ging durch die Halle, die Treppe hinauf, ins Esszimmer. Hier stand schon ihr Teller: ein Stück braunrotes Fleisch mit Sauce, etwas Reis, ein Häufchen Erbsen, daneben eine Glasschüssel mit Pudding. Sie befühlte das Fleisch. Warm, weich und faserig fühlte es sich an, lebendig und tot zugleich. Sie öffnete das Fenster und warf es hinaus. So machte sie es oft. Draußen würde es wohl ein Tier holen, jedenfalls war es nie vorgekommen, dass Essen, das sie abends hinausgeworfen hatte, am nächsten Morgen noch da war. Stehenlassen durfte sie nämlich nichts. Wenn sie zweimal hintereinander nicht aufaß, erzählte Ligurna es Mama, und die kam dann, nahm ihre Hand und fragte, ob sie Sorgen habe, ob etwas sie bedrücke, ob es etwas gebe, das sie ihr nicht erzählen wolle.

Natürlich gab es das, denn es tat gut, Geheimnisse zu haben. Mama wusste nichts von dem Geld, das Marie im Kinderzimmer versteckt hatte: dreihundertzwanzig Euro, gefaltet und klein gepresst, unter dem Fuß ihres Bettes. Ein Teil war von ihrem Taschengeld, ein Teil stammte aus Großvaters Brieftasche, die er immer achtlos im Flur ablegte. Wichtig war es, nie zu viel zu nehmen, höchstens zwanzig, nie einen Fünfziger. Sobald fünfzig Euro fehlten, fiel das den Erwachsenen auf, weniger bemerkten sie nicht. Mama wusste auch nicht, dass die Brosche, die sie so lange gesucht hatte, neben dem Apfelbaum eingegraben war; Marie und Lena hatten Schatzsuche gespielt und dann die Stelle nicht mehr gefunden. Und dass Marie schon zweimal ihre Unterschrift auf Entschuldigungsschreiben nachgemacht hatte, um mit Georg angeln zu gehen, wusste sie auch nicht. Leider hatten sie keinen Fisch gefangen, weil keiner von ihnen es über sich gebracht hatte, auf den Haken einen Wurm zu spießen.

Außerdem wusste Mama sehr wenig über dieses Haus. Manche Dinge konnte man ihr nicht erklären.

Vor zwei Monaten war Marie von der Schule gekommen, hatte ihre Tasche abgestellt und sich rücklings auf den Teppich gelegt, um dem Regen zuzuhören. Manchmal hatte sie die Hände gehoben, ein Auge zugekniffen und, vor dem Weiß der Zimmerdecke, die Umrisse ihrer Finger betrachtet. Sie hatte Lena und Georg angerufen, aber beide waren nicht zu Hause gewesen, dann hatte sie es bei Natalie versucht, die schon ein eigenes Telefon hatte, aber auch die hatte nicht abgehoben. Also war sie ins oberste Stockwerk gegangen. Es gab da oben einen Raum voller leerer Koffer; früher hatte Marie sie stundenlang auf- und zumachen können, hatte Freude daran gehabt, sich hineinzusetzen und vom einen in den anderen zu klettern, aber wenn man elf war, war das nicht mehr aufregend. Im Zimmer daneben standen Schränke mit Bettwäsche, Handtüchern und allerlei besticktem Zeug, dort hatte sie sich eingeschlossen und einige Zeit dem Prasseln auf dem Dach gelauscht. Dann war sie wieder in den Flur gegangen und hatte die Tür zur kleinen Kammer nebenan geöffnet. Ein Tisch und ein Stuhl standen darin, an den Wänden waren uralte Tapeten mit verblichenen braunen Rechtecken. Das Fenster war schmutzig, offenbar putzte Ligurna hier nie. Marie hatte eigentlich hineingehen wollen, aber dann hatte sie vorsichtig die Tür geschlossen und war nach unten gegangen. Erst in ihrem Zimmer, als sie sich an den Tisch gesetzt, die Schreibtischlampe angeknipst und ihr Rechenheft aufgeschlagen hatte, war ihr vor Schreck eiskalt geworden. Jemand hatte am Tisch gesessen – vorgebeugt, den Kopf zur Tür gedreht, die Ellenbogen aufgestützt, die Hände tief in den Haaren vergraben. Sie hatte das gesehen, aber nicht gleich begriffen; erst in der Erinnerung war es deutlich geworden. Bloß das Gesicht hatte ihr Gedächtnis nicht aufbewahrt. Wie sollte man seinen Eltern so etwas erklären? Nicht einmal Ligurna hätte es geglaubt.

Sie aß die Erbsen, den Reis und den Nachtisch, ging dann zu Mamas Zimmertür, klopfte und trat ein.

«Warum klopfst du nicht?» Mama lag auf dem Bett und lernte Text. «Na komm, setz dich. Hörst du mich ab?» Sie hielt Marie die Blätter hin.

Es waren nur drei Seiten. Auf der ersten stand:


7/4 INNEN, TAG – ELKES WOHNUNG

Elke und Jens nebeneinander am Tisch.

ELKE Es kann so nicht weitergehen, Jens.

Jens schüttelt sorgenvoll den Kopf.

ELKE (cont’d) Du weißt das, und ich weiß das.

JENS Und Holger weiß es auch.

ELKE Sprich nicht von Holger.

JENS Wie soll ich nicht von ihm sprechen? Er steht zwischen uns.

ELKE Er ist mein Mann. Der Vater meiner Kinder.

JENS Und was bin ich?

Elke sieht ihm in die Augen.

ELKE Du bist alles, Jens.


«Elke ist eine widersprüchliche Frau», sagte Mama. «Manchmal fühle ich mich ihr nahe, dann wieder ist sie mir fremd.»

«Wieso gibt es die Welt?», fragte Marie.

«Elke will frei sein. Das ist das Wichtigste für sie. Aber sie spürt auch ihre Verantwortung. Sie versucht, in diesem Widerspruch zu leben.»

«Gott hat sie geschaffen, aber woher kommt Gott? Hat er sich selbst geschaffen?»

«Habe ich dir schon erzählt, wer den Jens spielt?»

«Wenn man sagt, Gott hat alles geschaffen, ist das überhaupt keine Erklärung. Wieso gibt es etwas?»

«Wieso es etwas gibt?»

«Ja, wieso?»

«Mirso Kapus.»

«Was?»

«Das heißt ‹wie bitte›. Mirso Kapus spielt die Hauptrolle. Du kennst ihn vom Fernsehen.»

«Ich sehe nicht fern. Ich sehe DVDs. Lenas Cousin hat uns gestern StarWars gebrannt.»

«Man kann gar nicht sagen, warum es die Welt gibt, die Welt braucht keinen Grund. Mirso Kapus hat den großen Fernsehpreis bekommen.»

«Es wäre viel einfacher, wenn es nichts gäbe.» Marie kroch unter die Bettdecke. «All die Leute und Autos und Bäume und Sterne. All die Ameisen und Bären und der viele Sand in der Wüste und der Sand auf anderen Planeten und das Wasser und Georg und die Chinesen und alles andere. Das ist so viel!»

«Elke kann sich entwickeln. Die Geschichte kann in die unterschiedlichsten Richtungen gehen.»

Es war nicht ganz dunkel unter der Decke, ein wenig Licht drang herein. «Kann ich hier schlafen?»

«Nicht heute. Ich muss lernen.»

«Aber es sind nur drei Seiten.» Marie hob die Decke etwas an, damit sie besser atmen konnte. Durch den Spalt sah sie Mamas Schminktisch mit dem Spiegel, sie sah das Bild mit dem Teddybären, das bis vor kurzem bei ihrem Vater gehangen hatte, und sie sah eine Ecke des Fensters.

«Drei Seiten oder zwanzig oder hundert, darauf kommt es nicht an», sagte Mama gereizt. «Man muss eine Rolle erfassen. Man muss eine Haltung finden!»

Marie schloss die Augen. Ihre Glieder kamen ihr schwer vor. Sie hörte Mama «Er ist mein Mann» murmeln, «der Vater meiner Kinder. Er ist mein Mann. Der Vater meiner Kinder». Dann musste sie für eine Weile eingeschlafen sein, denn Mama rüttelte sie sanft, und schon tappte sie an ihrer Hand durch den Flur. Im Kinderzimmer zog Mama ihr Hemd, Hose und Unterwäsche aus, streifte ihr den Pyjama über, legte sie hin, deckte sie zu, gab ihr einen Kuss, sodass die Haarspitzen auf ihrer Wange kitzelten. Die ganze Zeit über dachte Marie daran, dass sie sich nicht hatte die Zähne putzen müssen, Mama hatte es vergessen, manchmal hatte man Glück. Dann schloss sich die Tür, sie war allein.

An der Decke glommen die blassen Lichtflecken der Straßenlaterne. Sie hörte den Apfelbaum an der Mauer kratzen. Sie hörte den Wind. Sie zog sich die Decke über den Kopf, jetzt hörte sie nur noch das Rascheln des Stoffs, aber wenn man ruhig lag, wirklich ganz ruhig, ohne zu atmen, dann hörte man gar nichts mehr, dann war da keine Welt und fast keine Marie. So ungefähr musste es sich anfühlen, ein Stein zu sein und dazuliegen, während die Zeit verging. Ein Tag, ein Jahr, hundert Jahre. Hunderttausend Jahre. Hundertmal hunderttausend Jahre.

Dabei war ein Tag schon lang. So viele Tage noch bis zu den Sommerferien, so viele mehr bis Weihnachten und so viele Jahre, bis man erwachsen war. Jedes davon voller Tage und jeder Tag voller Stunden und jede Stunde eine Stunde lang. Wie sollten die vergehen, wie hatten es alte Leute nur geschafft, alt zu werden? Was tat man mit so viel Zeit?


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