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Die Bäume waren schon bunt, aber das Laub fiel noch nicht. Marie kam von der Schule, den Rucksack über der Schulter, ihr Telefon in der Hand, als sie sah, dass ein Mann am Gartentor wartete.
«Marie?»
Sie nickte.
«Hast du Zeit?»
Arthur war groß und blass und stand ein wenig zur Seite geneigt, als hätte er Rückenschmerzen, seine Haare waren sehr unordentlich. Er hielt ihr die Autotür auf, die Sitze rochen nach frischem Leder, auf dem Boden lag weder Schmutz noch das kleinste Stück Papier.
Zwei Monate waren vergangen, seit Marie seinen Brief bekommen hatte. Es war der erste richtige Brief in ihrem Leben gewesen, Ligurna hatte ihn einfach so neben ihren Teller gelegt, als wäre das nichts Besonderes. Aber Ligurna interessierte sich ohnehin kaum mehr dafür, was bei ihnen vorging: Seit Mama ihr gekündigt hatte, schmeckte das Essen noch schlechter als früher, und auf den Regalen sammelte sich Staub. Sie würden auch das Haus nicht mehr lange halten können, hatte Mama gesagt, sogar mit Hilfe der Großeltern sei es zu teuer. Mama fand das traurig, aber Marie war es recht. Sie hatte das Haus nie gemocht.
In dem Kuvert war nur ein einziges Blatt gewesen, beschrieben in einer erstaunlich lesbaren Handschrift. Bedauerlicherweise, schrieb Arthur, seien sie einander noch unbekannt, aber sie könne ihm jederzeit eine Nachricht schicken. Darunter stand eine E-Mail-Adresse, darunter seine Unterschrift.
Lieber Arthur, hatte sie geantwortet, danke für deinen Brief, das ist Marie, geht es dir gut? Das ist meine Mailadresse. Mit freundlichen Grüßen, Marie.
Eine Woche später war Antwort gekommen. Er wollte wissen, an welchem Tag sie Geburtstag hatte, in welche Klasse sie ging und ob gern oder ungern, neben wem sie saß, wie ihr dümmster Lehrer hieß, welche Fernsehsendung sie sehr und welche sie gar nicht mochte, ob sie gern rechnete, was sie über ihren Vater dachte, was über ihre Mutter, was über Iwan und Martin, welche ihre Lieblingsfarbe war, ob Regen sie niedergeschlagen machte, wie oft sie über Iwans Verschwinden nachdachte, ob sie fand, dass man Tiere essen durfte, ob sie Mittwoch für einen besseren Tag hielt als Montag und, wenn ja, ob immer oder nur manchmal, und ob sie der Meinung war, dass man besser einem König gehorchen sollte, einem Präsidenten oder überhaupt niemandem. Er befragte sie zu Luftballons und Büchern, er befragte sie zu Teddybären und Puppen, er befragte sie zu ihren Freunden. Er fragte, warum sie seine Fragen bis zu dieser Stelle überhaupt beantwortet hatte, oder falls nicht, warum sie sie nicht hatte beantworten wollen, er bat sie, sich nicht zum Antworten gedrängt zu fühlen, bedankte sich für ihre Antworten und schloss mit einem knappen Gruß, ohne etwas von sich preisgegeben zu haben.
Sie hatte vor kurzem erst ein Telefon bekommen. Rot, glatt und kühl lag es in der Hand, hinten flach, vorn über die gesamte Fläche der Bildschirm, aber an das Tippen ohne Tasten hatte sie sich noch nicht gewöhnt. Ständig irrte man sich, immer wieder ersetzte das Korrekturprogramm die Wörter, die man geschrieben hatte, durch andere, die keinen Sinn ergaben, doch sie tippte und tippte. Schließlich war sie schon dreizehn, da brachten einen Fragen nicht so leicht in Verlegenheit. Als nach zwei Tagen noch nichts zurückgekommen war, schrieb sie: Lieber Arthur, hast du meine Mail bekommen, wie geht es dir? Können wir uns treffen? Mit freundlichen Grüßen, Marie.
Das Auto fuhr fast lautlos, sie sah sich um. Sie kannte diesen Stadtteil nicht und hatte keine Ahnung, wohin ihr Großvater sie brachte. Verputz blätterte von den Mauern, auf der Straße lagen weggeworfene Dosen.
«Weiß man inzwischen etwas?», fragte Arthur.
Sofort verstand sie, dass er Iwan meinte. «Nein, aber es gab neulich einen Artikel.»
Sie begann, auf ihrem Telefon zu suchen. Lesezeichen, Linkliste, hier war er schon: www.kunstkritikonline.de/sebastianzoellnersmeinung/eulenboeck. Sie räusperte sich. Sie las gern vor und freute sich, wenn sie in der Schule zum Vorlesen drankam, auch wenn sie immer so tat, als wäre es ihr unangenehm, denn wer wollte schon ein Streber sein. Sie betonte richtig, sie verlas sich selten, und bei schwierigen Wörtern musste sie kaum je stottern. Nie würde sie so schön wie Mama werden, aus ihr würde keine Schauspielerin, aber ihre Stimme war tadellos.
Was sagt es aus über diese fragmentierte Gesellschaft, dass ausgerechnet Heinrich Eulenböck Nationalkünstler der Stunde ist? Brauchen wir so sehr einen Dandy für die Mittelklasse, ja haben wir wirklich so große Angst vor der Unsicherheit, dass wir es für nötig halten, uns in den Schutzpanzer der Ironie zu hüllen? Offenbar lautet die Antwort: ja. Nur wenige Künstler konnten in der Krise ihren Preis halten, ihn erhöhen konnte kaum einer. Verschreckte Sammler traten lieber leise und investierten in Betongold oder gleich in Nuggets für den Tresor im Keller. Bluechips-Maler wurden rar wie fliegende Elefanten. Wieso erwies sich ausgerechnet dieser handwerklich solide Ironie-Klassizismus plötzlich als sichere Bank? Eulenböcks Bilder werden Händlern und Auktionshäusern für Rekorderlöse aus den Händen gerissen wie geschnitten Brot.
«Machen wir uns nichts vor», erklärt der Chefkurator der Freien Galerie Bochum, Hans-Egon Eggert. «Es liegt an der Politik des neuen Nachlassverwalters: eine hundertachtzig-Grad-Kurskorrektur mit dem Ziel, Kohle zu machen.» Der Hintergrund: Seit August vorigen Jahres wird Iwan Friedland, der umtriebige Erbe des Meisters, spurlos vermisst. «Friedlands Hauptaugenmerk galt der Pflege von Eulenböcks Renommee», erläutert Eggert. «Da hat sich, um es vorsichtig auszudrücken, der Schwerpunkt verschoben.» Kritischer noch sieht es der Direktor des Hamburger Koptmanmuseums, Karl Bankel: «Das Werk eines bedeutenden Künstlers zu betreuen ist eine hochkomplexe Aufgabe. Die wenigsten sind ihr gewachsen. Iwan Friedland war es nicht. Sein Nachfolger ist es noch weniger.»
In der Kunstszene war es stets ein offenes Geheimnis, dass Friedland seine Position nicht etwa besonderer Kompetenz, sondern einem Naheverhältnis zum greisen Malerfürsten verdankte. Seine umstrittene Tätigkeit verunsicherte Sammler, aber hielt die Preise moderat. Unter Eric Friedland, dem zunächst provisorischen und inzwischen wohl auch permanenten Nachfolger seines Bruders, hat sich diese Politik geändert: Plötzlich sind Eulenböcks Bilder in Allerweltsausstellungen von diversen Privatsammlungen zu finden: Kunstforum Rottweil, Telefonica Kunstcenter in Madrid, Kunstverein Bingen, Projektraum Städtische Bank Brüssel, Sparkassenstiftung Ebersfeld, you name it. Der einstmals vorgetäuschte Mangel an Werken ist dem Überangebot einer wahren Bilderflut gewichen, und sogar Merchandising-Artikel hat man schon in Museumsshops gesichtet: Tassen, Bettwäsche, Handtücher, versehen mit den beliebten ruralen Landschaften aus Eulenböcks Frühwerk. Längst haben sich die namhaften Museen dies- wie jenseits des Atlantiks von dem Künstler zurückgezogen. Ein Schelm, wer das alles in einen Zusammenhang mit Eric Friedlands angeblich prekärer wirtschaftlicher Lage brächte.
Schon kündigt sich an, dass die Preise stagnieren. Man muss kein Prophet sein, um zu vermuten, dass sich auch hier der Höhenflug als Vorspiel des Desasters entpuppen wird – wenig bedauerlich angesichts eines Werks, das nach Meinung der Kenner eher dünne Suppe ist als Substanz. Aber sobald die kurzlebigen Moden nicht mehr unseren Blick vernebeln, werden wir vielleicht reif sein für eine andere Kunst, eine leise, eine subtilere, aber auch mutige Kunst, die nicht in die Vergangenheit blickt, sondern in die Zukunft. Das wird die Stunde der Stillen sein, fernab von Hype und Hektik, die Stunde, um nur ein Beispiel zu nennen, von Krystian Malinowski. Sein Werk profitiert nicht von der Krise, sondern überwindet sie. Gefragt, wie er sich eine Zeit vorstelle, in der –
«Aber das widerspricht sich, oder?» Marie sah auf. «Einmal nennt er ihn bedeutend, dann sagt er –»
«Du musst darüber nicht nachdenken.»
«Soll ich weiterlesen?»
«Es genügt.»
«Papa sagt, so viel können die Bilder gar nicht einbringen, dass davon seine Schulden verschwinden. Papa sagt, Kunst ist nicht genügend wert. Aber immerhin vertröstet es die Bank, sagt er. Sie pfänden jeden Cent, aber sie lassen ihn leben, solange Geld hereinkommt. Deshalb wohnt er auch im Pfarrhaus, das darf ich aber nicht weitersagen. Wo wohnst du?»
«Ich bin viel unterwegs.»
«Schreibst du noch?»
«Nein.»
«Warum bist du erst jetzt gekommen?»
«Ich habe zu tun.»
«Und was?»
«Nichts.»
«Du tust nichts?»
«So leicht ist das gar nicht.»
Arthur bog ab und steuerte einen fast leeren Parkplatz an. Über einem Tor grinsten Clownsgesichter aus Kunststoff, dahinter ragten die Umrisse einer Achterbahn auf.
«Ein Jahrmarkt», sagte Marie enttäuscht. «Schön.»
Sie stiegen aus. Ein Mann führte zwei Jungen an den Händen, eine Frau schob einen Kinderwagen, ein paar junge Männer tranken aus Bierflaschen, ein Mann und eine Frau standen untergehakt vor einer Schießbude.
«Warum bist du damals weggegangen?», fragte sie.
«Man wird dir sagen, das Leben besteht aus Verpflichtungen. Vielleicht hat man es dir schon gesagt. Aber das muss nicht stimmen.»
Marie nickte. Sie verstand nicht, was er meinte, aber sie hoffte, dass er ihr das nicht ansah.
«Es geht auch ohne Kompromisse. Man kann leben, ohne ein Leben zu haben. Ohne Verstrickungen. Das macht vielleicht nicht glücklich, aber es macht leicht.»
«Wie wär’s damit?» Marie zeigte auf ein Labyrinth. Labyrinthe waren nie schwer. Wenn man an der rechten Wand entlangging und den Blick auf den Boden heftete, ohne sich von den Spiegeln ablenken zu lassen, war man sofort wieder draußen.
Sie holte ihr Telefon heraus. Stellt euch vor, tippte sie, bin auf dem Jahrmarkt. Während Arthur bezahlte, ging sie auf den Eingang zu. Summend öffnete sich die Tür.
What the hell Jahrmarkt?, fragte Georg.
Gibts eine Luftburg??, schrieb Natalie.
Sag mir wo ich komm auch, schrieb Jo.
Sie tastete sich an der Wand entlang. Durch eine Glasscheibe sah sie die Buden und das Halbrund des Riesenrads, sie sah die Achterbahn. Ein kleiner Junge leckte an einer Eistüte und starrte durch sie hindurch, als wäre sie unsichtbar.
Sehr witzig!, schrieb sie.
Gar nicht, antwortete Jo, ich mag jahrmaerkte waere wirklich gern dabei.
Wo war Arthur geblieben? Aber Situationen wie diese war sie gewohnt, so war es auch, wenn ihr Vater mit ihr in den Zoo ging: Sie tat es für ihn, er tat es für sie, beide wären sie lieber zu Hause geblieben. Sie tastete sich weiter an der Wand entlang, dann um die Ecke, dann wieder um die Ecke, dann noch einmal um die Ecke, dann hätte sie beim Ausgang sein müssen. Aber der Ausgang war hier nicht, sie stand vor einem Spiegel, es ging nicht weiter.
Aber wir wollten doch zu Matthias Geburtstagsparty, schrieb Lena.
Später, antwortete sie und steckte das Telefon ein, sie musste sich konzentrieren.
Auf dem Boden war ein blauer Farbfleck. Sie ging am Spiegel vorbei und noch einmal um eine Ecke und noch einmal, und hier war endlich das Drehkreuz des Ausgangs, aber sie sah es nur durch Glas, denn der Weg führte in die andere Richtung, nach links und dann noch einmal nach links, zurück in Richtung des Eingangs. Wieder war da der blaue Fleck. Daneben lag eine gebogene Metallstange, das eine Ende rund wie der Knauf eines Spazierstocks, das andere spitz zugefeilt. Sie bückte sich. Kein Zweifel, es war derselbe Fleck. Aber vor ihr war kein Spiegel, konnte der Fleck den Ort gewechselt haben? Und wo kam die Stange her? Also noch einmal: rechts und wieder rechts, und wieder war da der Fleck. Da stimmte etwas nicht. Noch einmal: rechts und rechts, und da war er wieder, aber jetzt war die Stange nicht mehr zu sehen. Sie ging in die andere Richtung. Nach links und wieder nach links, bis sie vor einer Glaswand stand und nicht weiterkonnte. Sie ging zurück und fand den Eingang. Er war verschlossen.
Sie tastete, rüttelte, klopfte. Vergeblich. Sie klopfte fester. Nichts geschah. Sie schlug mit der Faust. Nichts.
Sie trat vor die Glasscheibe, durch die man auf den Jahrmarkt hinaussah, und versuchte, dem Mann an der Kasse zuzuwinken, aber der Winkel war ungünstig, sie konnte ihn nicht sehen und er nicht sie. Der Notruf? Aber sie hatte sogar Eintritt bezahlt, um sich zu verirren, sie würde sich lächerlich machen. Sie ging nach links und nach rechts und wieder nach links und wieder nach rechts, zweimal an der Glasscheibe entlang, dreimal an Spiegelwänden, dann stand sie wieder vor dem blauen Fleck. Jenseits der Scheibe ging ein Mann in die Knie und sah sie an; sie zuckte zusammen. Dann erst erkannte sie Arthur.
Sie klopfte gegen das Glas. Er lachte und klopfte zurück, offenbar hielt er es für einen Scherz. Sie zeigte nach rechts und links und hob die Hände, um ihm zu bedeuten, dass sie nicht herausfand. Arthur stand auf und schlenderte aus ihrem Blickfeld. Ihr Hals schnürte sich zusammen, wütend spürte sie, dass ihr die Tränen aufstiegen. Gerade als sie den Notruf wählen wollte, tippte ihr jemand auf die Schulter.
«Neben dir», sagte Arthur.
«Was?»
«Na, der Ausgang! Neben dir. Was ist los, weinst du?»
Es stimmte, der Ausgang war nur ein paar Meter entfernt. Einmal nach links, dann nach rechts, hier war schon das Drehkreuz. Wie hatte sie es nicht sehen können? Sie murmelte, dass sie natürlich überhaupt nicht geweint habe, wischte die Tränen ab und lief ins Freie.
Arthur zeigte auf ein Zelt. Klein und blau war es, vor dem Eingang hing ein roter Vorhang, darüber blinkten elektrische Sterne. Ihre Zukunft, stand da, gelesen im Tarot.
«Lieber nicht», sagte Marie.
«Komm», sagte Arthur. «Vielleicht sagt er dir gute Dinge voraus.»
«Und wenn er mir schlimme Dinge voraussagt?»
«Dann glaubst du einfach nicht daran.»
Sie gingen hinein. Eine Leselampe warf gelbliches Licht auf einen Holztisch, bezogen mit fleckigem Filz. Dahinter saß ein alter Mann, der einen Pullover trug. Er hatte eine Glatze mit nur zwei Haarbüscheln an den Ohren und eine Brille. Vor ihm lagen ein Paket Karten und eine Lupe.
«Treten Sie ein, treten Sie näher», sagte er, ohne aufzusehen. «Kommen Sie her, nehmen Sie Karten, erfahren Sie Ihre Zukunft. Treten Sie näher.»
Marie sah zu Arthur, aber der stand schweigend und mit verschränkten Armen da.
«Treten Sie näher», sagte der Wahrsager mit Leierstimme, «kommen Sie her, nehmen Sie drei Karten. Erfahren Sie die Zukunft.»
Marie trat an den Tisch. Seine Brillengläser waren enorm dick, seine Augen dahinter kaum zu erkennen. Blinzelnd hielt er ein Kartenpäckchen hoch.
«Suchen Sie zwölf aus, lesen Sie Ihr Schicksal.»
Zögernd nahm Marie das Paket. Die Karten waren speckig und abgegriffen. Es waren keine Karten, wie sie sie kannte. Seltsame Figuren sah man darauf: einen fallenden Stern, einen gehängten Mann, Ritter mit Lanzen, eine vermummte Gestalt in einem Boot.
«Nehmen Sie zwölf», leierte der Wahrsager. «Nehmen Sie. Zwölf Euro kostet es. Für zwölf Karten. Jede Karte ein Euro.»
Arthur legte fünfzehn Euro auf den Tisch. «Machen Sie das schon lange?»
«Wie?»
«Ob Sie das schon lange machen!»
«Vorher habe ich anderes gemacht und davor wiederum anderes, aber ich hatte nicht viel Glück.»
«Schwer zu glauben», sagte Arthur.
«Ich habe Säle gefüllt.»
«Große?»
«Die größten.»
«Was ist passiert?»
Der Wahrsager blickte auf.
«Was ist passiert?», wiederholte Arthur.
Der Wahrsager blinzelte und hielt sich die Hand vor die Stirn. «Nichts», sagte er dann. «Schlechte Zeiten sind passiert. Pech ist passiert. Die Jahre sind vergangen, das ist passiert. Man ist nicht mehr der Alte.»
«Und doch ist man es jetzt erst», sagte Arthur.
«Was ist man jetzt erst?»
«Der Alte.»
«Wie meinen Sie?»
«Nur ein Scherz.»
«Wieso?»
Arthur schwieg, Marie blickte auf die Karten in ihren Händen und wartete. Der Wahrsager saß reglos.
«Wir haben nicht so viel Zeit», sagte Arthur dann.
Der Wahrsager nickte, tastete nach dem Geld, fand es, steckte es ein, kramte in seiner Tasche und legte umständlich drei Münzen Wechselgeld auf den Tisch. «Nehmen Sie Karten», sagte er zu Marie. «Aus der Mitte, von oben, von unten. Wie Sie mögen. Machen Sie die Augen zu. Horchen Sie nach innen.»
«Zwölf?», fragte Marie.
«Legen Sie sie hierhin. Eine neben die andere, hier auf den Tisch.»
«Zwölf soll ich nehmen?»
«Hierhin. Eine neben die andere.»
Sie warf Arthur wieder einen fragenden Blick zu, aber der starrte mit merkwürdigem Ausdruck den Wahrsager an. Wie sollte sie die Karten aussuchen? Sie konnte jede einzeln ziehen, oder sie konnte zwölf aufeinanderliegende aus der Mitte nehmen. Unschlüssig drehte sie das Paket.
«Ganz egal», sagte Arthur.
«Wie bitte?», fragte der Wahrsager.
«Wenn es funktioniert, funktioniert es, egal, wie du die Karten aussuchst», sagte Arthur. «Wenn es nicht funktioniert, ist es erst recht egal.»
«Ihre Zukunft», sagte der Wahrsager. «Ihr Schicksal. Hier auf den Tisch, bitte.»
Marie zog eine Karte aus der Mitte und legte sie verdeckt hin. Dann noch eine, dann noch eine. Dann, von verschiedenen Stellen des Stapels, neun weitere. Sie wartete, aber der Wahrsager rührte sich nicht.
«Fertig», sagte sie.
Der Wahrsager blinzelte in ihre Richtung. Sein Mund stand offen. Er holte ein grünes Seidentuch aus der Brusttasche und tupfte sich die Stirn ab.
«Fertig!», sagte sie noch einmal.
Er nickte, dann zählte er, indem er jede Karte kurz mit dem Finger berührte. «Zwölf», sagte er leise, halb zu ihr und halb zu sich selbst, rückte an seiner Brille und schob die Karten zu einem Halbkreis zurecht.
«Was immer es kostet», sagte Arthur. «Man muss sich nur bemühen. Was immer es kostet.»
«Wie bitte?», fragte der Wahrsager.
Arthur antwortete nicht.
Der Wahrsager begann, die Karten umzudrehen. Etwas Erschreckendes ging von den Bildern aus, sie kamen Marie hässlich vor, urtümlich und brutal. Von Gewalt schienen sie zu künden, von einer Welt, in der kein Mensch freundlich zu einem anderen war, in der einem alles zustoßen konnte und in der man besser niemandem glaubte. Eine Figur war in einem springenden Tanzschritt begriffen, auf einer anderen Karte war ein gelber Kreis, umgeben von Wolken. Der Wahrsager beugte sich vor, die Stirn ganz nahe über dem Tisch, man konnte deutlich seine Glatze sehen. Er nahm die Lupe und betrachtete eine Karte nach der anderen.
«Die Drei der Schwerter. Auf dem Kopf stehend.»
«Das sind nicht drei», sagte Arthur.
Der Wahrsager hob den Kopf. Seine Augen schimmerten winzig hinter den Gläsern.
«Zählen Sie noch einmal!», sagte Arthur.
Es waren fünf Schwerter, Marie konnte es auf einen Blick erkennen. Der Zeigefinger des Wahrsagers bewegte sich von einem Schwert zum nächsten, aber seine Hand zitterte, und die Schwerter waren so schmal, dass er sie immer wieder verfehlte.
«Sieben», sagte er. «Auf dem Kopf stehend.»
«Das sind nicht sieben», sagte Marie.
Der Wahrsager blickte auf.
«Fünf!», rief sie.
«Fünf Schwerter», sagte der Wahrsager und legte den Finger auf die nächste Karte. «Fünf Schwerter, auf dem Kopf stehend, neben der Sonne und den Liebenden.»
«Das ist der Mond!», sagte Arthur.
Der Wahrsager nahm seine Brille ab und wischte sich mit dem grünen Tuch übers Gesicht.
«Sonne und Mond stehen doch im Gegensatz», sagte Arthur.
«Was für ein Satz?», fragte der Wahrsager.
«Beim Tarot, meine ich. Die stehen im Gegensatz, hat man mir gesagt. Ich kenne mich ja nicht aus. Haben Sie kein Hörgerät?»
«Das pfeift immer. Dann versteht man erst recht nichts.»
«Mit pfeifendem Hörgerät kann man sicher nicht gut hypnotisieren.»
«Nein», sagte der Wahrsager. «Das geht dann nicht mehr.»
«Aber das Kartenlegen läuft gut?»
«Zu hohe Standmiete. Alles Verbrecher. Zu wenig Kunden. Ich habe mal Säle gefüllt.»
«Die größten», sagte Arthur.
«Bitte?»
«Machen Sie weiter!»
Der Wahrsager senkte den Kopf, seine Nasenspitze hing einen Zentimeter über den Karten. Er zog eine davon in die Mitte. Auf ihr sah man eine Festung und einen Blitz, und da waren Figuren, erstarrt in wilden Verrenkungen.
«Der Turm», sagte Arthur.
«Bitte?»
«Ist das der Turm?»
Der Wahrsager nickte. «Der Turm. In Verbindung mit der auf dem Kopf stehenden Fünf der Schwerter. Dazu der Mond. Das kann bedeuten –»
«Aber das ist er nicht!», rief Arthur. «Das ist ja gar nicht der Turm.»
«Was ist es denn?», fragte der Wahrsager.
«Sie sehen nichts», sagte Arthur. «Stimmt’s? Sie hören nichts, und Sie sehen nichts mehr.»
Der Wahrsager starrte auf den Tisch. Langsam legte er die Lupe weg.
Arthur zeigte auf den Ausgang.
Marie nickte.
«Auf Wiedersehen!», rief Arthur.
Der Wahrsager schwieg. Sie gingen hinaus.
«Aber du hast ihn trotzdem bezahlt», sagte Marie.
«Er hat sein Bestes gegeben!»
«Was hieß das? Der Turm, die Fünf der Schwerter, und war das jetzt wirklich der Mond oder doch die Sonne? Was hatte das zu bedeuten?»
«Dass er nichts lesen konnte.»
«Aber meine Zukunft!»
«Such sie dir aus. Such dir aus, welche du haben willst.»
Sie fragte sich, warum Arthur so erleichtert war. Sie wäre gern noch mit der Geisterbahn gefahren, aber er schien es jetzt eilig zu haben. Sie gingen zum Parkplatz, leise summte er vor sich hin. Noch immer lächelnd, schloss er das Auto auf.
«Ich habe ein Haus», sagte er beim Losfahren. «Es liegt an einem kleinen See, und weit und breit ist kein anderes Haus. Dort kann ich den ganzen Tag arbeiten. Es regnet viel. Ich dachte, die Natur tut mir gut, aber da wusste ich noch nicht, dass es in der Natur meistens regnet. Manchmal reise ich irgendwohin, dann komme ich wieder zurück. Meine Arbeit war lange Zeit besser als mittelmäßig, dann war sie es nicht mehr, und jetzt lese ich nur noch die Bücher anderer Leute. Bücher, die so gut sind, dass ich sie nicht hätte schreiben können. Du hast gefragt, was ich mache – das mache ich.»
«So hast du die ganze Zeit verbracht?»
«Sie ist schnell vergangen.»
«Wohin jetzt?»
Arthur antwortete nicht. Eine Zeitlang fuhren sie, ohne zu sprechen. Dann bremste er und parkte ein.
Marie sah sich um. Hier war sie schon gewesen, vor gar nicht langer Zeit mit ihrer Klasse. Jeder Schulausflug war langweilig, aber das war mit großem Abstand der schlimmste gewesen.
«Gehen wir ins Museum?»
«Ja.»
Marie seufzte.
Sie stiegen aus und gingen eine Marmortreppe hinauf und durch einen langen Korridor.
«Ich muss bald heim», sagte sie. «Aufgaben machen.»
«Hast du viel Hausaufgaben?»
Sie nickte. Es war Samstag, und zum Glück bekamen sie nie Aufgaben übers Wochenende. «Sehr viel.»
Was denn jetzt mit Matthias Geburtstags Party???, schrieb Lena.
Ja ja ja später, antwortete Marie.
Ein Bild hing neben dem anderen, einige zeigten bloß Linien, auf anderen waren verschmierte Flächen zu sehen, auf wiederum anderen erkannte man etwas: Landschaften, Gebäude, Gesichter. Es gab Wirbel, Strudel, Ströme, Explosionen von Farbe. Jemanden, den so etwas interessierte, dachte sie, hätte das bestimmt interessiert. Aber so jemand war sie nicht.
«Ich muss wirklich nach Hause.»
Arthur blieb vor einem Bild stehen. «Schau es an.»
Sie nickte. Es hatte einen goldenen Rahmen, und es zeigte das Meer. Es gab auch ein Schiff.
«Nein», sagte Arthur. «Schau es an.»
Das Meer war so blau, wie Meer es eben war, unter wolkenlosem Himmel und einer großen Sonne. Dem Schiff folgte ein Möwenschwarm.
«Nein», sagte Arthur. «Schau wirklich!»
Tatsächlich war das Meer nicht ganz blau. Es gab Schaum auf den Wellen, und das Wasser hatte dunkle und hellere Bereiche. Auch der Himmel hatte viele Farben. Am Horizont gab es eine Zone dunstigen Übergangs, und um die Sonne verschwamm alles in dick aufgetragenem Weiß. Wenn man es ansah, fühlte man sich geblendet. Dabei war es bloß Farbe.
«Ja», sagte Arthur. «So.»
Das Schiff hatte einen langen Kiel, fünf Schornsteine und blitzende Bullaugen. Bänder mit Fähnchen flatterten im Wind, auf den Decks tummelten sich Menschen, und am Heck thronte ein Anker auf einem Gestell. Vorne, am Bug, stand eine Skulptur: eine jener übergroßen gekrümmten Uhren, wie Marie sie in der Schule auf Dias gesehen hatte, ein sehr berühmter Künstler hatte sie gemacht, aber sein Name fiel ihr nicht ein. Sie sah auf das kleine Schild an der Wand: Meerfahrt mit teurer Plastik, H. Eulenböck, 1989.
Sie trat noch näher heran, und sofort hatte sich alles aufgelöst. Da waren keine Menschen mehr, auch keine Fähnchen, kein Anker und keine schiefe Uhr. Es gab nur ein paar bunte Flecken oberhalb des Schiffsdecks. An mehreren Orten schimmerte das Weiß der Leinwand durch, und auch das Schiff war bloß eine Ansammlung von Strichen und Tupfen. Wo war alles hin?
Sie trat zurück, und es setzte sich wieder zusammen: das Schiff, die Bullaugen, die Menschen, obwohl sie gerade gesehen hatte, dass nichts davon da war. Sie trat noch einen Schritt zurück, und jetzt schien es, als ob das Bild etwas zu ihr sagte, das mit dem, was es zeigte, nichts zu tun hatte. Eine Botschaft, die eher in der Helligkeit lag, in der Weite des Wassers oder darin, wie das Schiff in die Ferne zog.
«Fatum», sagte Arthur. «Das große F. Aber der Zufall ist mächtig, und plötzlich bekommt man ein Schicksal, das nie für einen bestimmt war. Irgendein Zufallsschicksal. So etwas passiert schnell. Aber malen konnte er. Denk daran, und vergiss es nicht. Malen konnte er.»
«Wer?»
«Iwan.»
«Aber das ist nicht von Iwan.»
Arthur sah sie aufmerksam an. Sie wartete, doch er schwieg.
«Können wir jetzt gehen?», fragte sie.
«Ja», sagte er. «Jetzt bringe ich dich heim.»