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Familie
Man meint, die Verstorbenen wären irgendwo aufbewahrt. Man meint, dem Universum blieben ihre Spuren eingeschrieben. Aber das stimmt nicht. Was dahin ist, ist dahin. Was war, wird vergessen, und was vergessen ist, kommt nicht zurück. Ich habe keine Erinnerung an meinen Vater.
Er schrieb Gedichte. Ich habe keines gelesen. Er schrieb sie auf kleine Zettel, er schrieb sie an den unteren Rand von Speisekarten und auf Briefkuverts, achtlos und aus Vergnügen. Manche nahm er mit, andere ließ er liegen, ihm fielen ständig neue ein, und er wusste, es war nur ein Anfang.
Auf der Universität erst hatte er erfahren, dass er Jude war, bis dahin hatte er gedacht, so etwas hätte nicht mehr Bedeutung als ein Sternzeichen. Seine Mutter war Jüdin, obwohl sie an nichts glaubte, ihr Großvater war ein Händler mit langem Bart aus der Bukowina gewesen.
Nie ging er zu den Vorlesungen. Ein Mädchen, das er durch gemeinsame Freunde kennengelernt hatte, erklärte sich bereit, ihn zu heiraten. Eines Nachmittags sah er einen Aufmarsch, Männer schwenkten Fäuste und Fahnen, er wollte es sich näher ansehen, aber ein Kommilitone zog ihn am Ärmel und sagte, sie sollten besser verschwinden. Ihm kam es albern vor. Sein Vater war im Krieg gefallen, er war der Sohn eines Helden, was konnte passieren?
Als ich geboren wurde, arbeitete er in einer Fabrik, man hatte ihn von der Universität relegiert. In der Fabrik wurden Metalldinge hergestellt, wofür sie gebraucht wurden, wusste er nicht. Einmal nahmen zwei Arbeiter ihn zur Seite: Sie wüssten, dass er Saboteur sei, aber er brauche keine Angst zu haben, sie würden ihn decken. Als er verblüfft antwortete, er habe in der Fabrik immer sein Bestes gegeben, sagten sie lachend, sie glaubten kein Wort, so ungeschickt könne niemand sein. An diesem Tag, auf dem Heimweg, komponierte er im Kopf ein Gedicht über die dröhnenden Propeller eines Flugzeugs, dessen Pilot für einen Moment eingenickt ist und von einer Ameise träumt, die einen Halm emporklettert, der im Wind zittert, in dem noch das ferne Dröhnen eines Flugzeugs schwingt. Nicht schlecht, dachte er, das hat Rhythmus und Einfachheit, wenn das so weitergeht, kann man bald etwas drucken lassen. Daheim erwartete ihn ein Behördenbrief, der ihn in kühlem Ton aufforderte, sich am Bahnhof einzufinden, mit Kleidern zum Wechseln und einer Decke.
Fahrt besser in die Schweiz, sagte er meiner Mutter. Sobald es geht, komme ich nach. Es gibt da einen Beamten, der war ein Bewunderer meines Großvaters, er hat ihn als Karl Moor gesehen, er wird helfen.
Zunächst wollte sie nicht, aber er redete ihr zu. Allzu schlimm könne es nicht werden. Er habe doch bisher immer Glück gehabt.
Ich weiß nicht, wie er aussah. Kein Foto zeigt sein Gesicht.
Der Vater meines Vaters wurde nicht einmal zwanzig, dabei hatte er das erste Kriegsjahr überlebt. Tausende Stunden in aufgewühltem Lehm, Stacheldraht, Granaten, das Pfeifen in der Luft, die Splitter. Als er im Fronturlaub seine Frau und den winzigen Sohn sah, kamen sie ihm wie Fremde vor. Er überlebte ein weiteres Jahr. Inzwischen war er so gewöhnt an den Gedanken, dass er sterben würde, dass er nicht mehr glaubte, es könne tatsächlich passieren. Aber dann traf ihn doch eine Kugel, Stiefel traten auf ihn, und aus reiner Gewohnheit überlegte er, wie er wohl diesmal entkommen werde. Er erstickte am Dreck und kam nie zurück.
Der Großvater meines Vaters lebte fürs Theater und bekam nie die richtigen Rollen. Nicht Hamlet, sondern Güldenstern, nicht Marc Anton, sondern Cicero, nicht Franz, sondern Karl Moor. Seinen zwei Söhnen und zwei Töchtern beschrieb er ausführlich, welche Opfer die Kunst fordere, aber keines der Kinder war begabt. Die Jahre vergingen, nun hoffte er auf König Lear und Prospero. Sein älterer Sohn starb an der Spanischen Grippe, sein jüngerer heiratete ein jüdisches Mädchen, das war ihm nicht angenehm, aber er hatte auch nicht die Kraft, es zu verhindern. Die ältere Tochter heiratete einen Lehrer, die jüngere blieb missmutig im Haus und kochte für ihn und seine Frau.
Er sah seinen ersten Film. Bleiche Figuren tummelten sich auf einer weißen Wand. Er verstand nicht, worüber die Leute lachten, er sah nur Untote, und der Gedanke, dass man bald Menschen dabei würde zusehen können, wie sie einander Kuchen ins Gesicht warfen, lange nachdem sie gestorben waren, kam ihm entsetzlich vor. Ein kleiner Mann mit Schnurrbart, ein riesenhafter Dicker, ein Clown mit grotesk nach unten gezogenem Mund. Die Welt geht unter, dachte er. Eine Weile mag sie noch bestehen, aber es ist alles Täuschung, wie diese Bilder.
Von diesem Tag an stand er nicht mehr auf. Sogar der Ausbruch des Krieges war ihm gleichgültig. Als sein Sohn kam, in Uniform, um sich zu verabschieden, brachte er es fertig, so würdevoll auszusehen, wie der Anlass es erforderte. Er war ja nicht umsonst Schauspieler.
Der Urgroßvater meines Vaters war Arzt gewesen, wenn auch kein guter. Er hatte nur Medizin studiert, weil auch sein Vater Arzt gewesen war. Er betrieb eine kleine Praxis, viele Kranke starben ihm, manche konnte seine Frau behandeln, die klüger war als er. Oft wusste sie, welche Kuren halfen. Dann starb sie ihm auch. Damit sich jemand um die Kinder kümmerte, heiratete er ein zweites Mal. Die neue Frau machte ihn traurig, und noch mehr Kranke starben.
Wann immer er Gelegenheit dazu bekam, erzählte er, dass er als junger Mann Napoleon begegnet sei. In Wirklichkeit hatte er nur einen gebauschten Mantel über einem Pferderücken gesehen, dazu eine Hand in weißem Handschuh. Als er sich endlich zur Ruhe setzen durfte, kam es ihm vor, als hätte der große Feldherr weniger Menschen getötet als er, der schlechte Arzt. Dann starb auch seine zweite Frau. In seinen letzten Lebensjahren war er vollkommen glücklich.
Der Vater des Arztes, ein Arzt auch er, hatte das Talent, die Kranken zu beruhigen, indem er mit ihnen sprach. Meist ahnte er, woran einer litt. Er beschäftigte sich mit den Experimenten Mesmers und lernte, einen Leidenden in den magnetischen Schlaf zu versetzen. Als sein Sohn ebenfalls Arzt wurde, war er froh. Seine Tochter hätte auch gern studiert, sie war klug und begabt, aber er musste es verbieten. Zum Ausgleich fand er ihr einen braven Mann, der gut arbeitete und sie nicht schlug. Mit sechzig Jahren legte er sich ins Bett, atmete aus und kam nie zurück.
Seinen Vater kostete ein Streifschuss die Hand. Er hatte dunkle Haut, keiner wusste, warum, die Mutter hatte ihn allein aufgezogen, irgendwo in Armut. Er wurde Soldat, weil die Werber dachten, dass ein schwarzer Mann stärker sei als ein Weißer. Er marschierte viel, wurde manchmal befördert, zeugte zwischendurch drei Kinder, alle weiß. Schließlich traf eine Kugel seinen Hals, er erstickte am Blut und kam nie zurück.
Sein Vater war nach England gegangen, für die Überfahrt hatte er sich als Schiffsjunge verdingt. Er sparte ein wenig, er versuchte sich als Kaufmann, aber er hatte nicht viel Glück. Einmal kam er mit einem jungen Franzosen ins Gespräch, der die Börse von London besuchte, um darüber zu schreiben. Schwächlich und dürr war der, aber klug, blitzschnell in den Augen und von einer Geisteskraft, wie er sie noch nie erlebt hatte. Wenn man so wäre, dachte er, alles könnte man schaffen, Dinge wären nicht so schwer, die Welt nicht so voll Widerstand. Zum Abschied fragte er den Fremden nach seinem Namen. Arouet, sagte der und war schon weitergegangen, denn der Mann hatte ihn gelangweilt.
Von dieser Begegnung erholte er sich nie. Er war müde. Er brachte es noch fertig, nahe der Fleet Street ein kleines Geschäft für Krüge, Schüsseln und Krimskrams aufzumachen, eine Frau zu heiraten, die ihm nicht gefiel, und ein Kind zu zeugen; ihm schien, als wäre die Kraft dazu schon nicht mehr aus ihm selbst gekommen, sondern von dem Sohn, der unbedingt in die Welt wollte. Als es geboren war, hatte das Kind dunkle Haut, aber er selbst war doch weiß wie Schnee, und seine Frau war es auch, also hatte sie ihn betrogen. Er schrie, sie weinte, er brüllte, sie schwor, er rief den Herrgott an, sie tat es auch, mit letzter Kraft verstieß er sie. Da schmerzte sein Magen schon sehr, einen Monat später war er tot und kam nie zurück.
Sein Vater fuhr zur See. Die Traurigkeit seiner Ahnen war stark in ihm. Im Hafen von Hamburg lag er mit einer Frau im Bett, er wusste ihren Namen nicht und sie nicht seinen, ja eigentlich mochte er gar keine Frauen, aber sie sah aus wie ein Mann, das half. Er heuerte als Küchenmatrose auf einem Schiff an, das nach Indien sollte, doch es sank schon drei Wochen nach dem Ablegen. Fische, so fremd, wie er sie sich nie hätte vorstellen können, fraßen sein Fleisch, seine Knochen wurden zu Korallen, die Haare zu Seegras, seine Augen zu Perlen.
Sein Vater hatte dunkle Haut. Er war der Sohn eines Gutsherrn und einer Magd aus Trinidad, schwarz wie die Mitternacht. Niemand kümmerte sich um ihn, während er heranwuchs, vielleicht war das sein Glück, aber als er fünfzehn war, steckte sein Vater ihm Geld zu, und er brach auf. Er wusste nicht, wohin, ein Ort schien wie der andere, und Pläne hatte er nicht. Zeit, dachte er, während er den Kopf ans Fenster der Postkutsche lehnte, reine Täuschung. Vor ihm waren andere über diese Hügel gefahren, nach ihm würden andere kommen, aber es blieben dieselben Hügel, derselbe Himmel und derselbe Erdboden. Im Grunde waren es auch dieselben Pferde, wo lag der Unterschied? Und bei den Menschen, dachte er, sind die Unterschiede auch nicht groß. Wie, wenn wir immer derselbe sind, in immer anderen Träumen? Nur die Namen täuschen uns. Lass sie beiseite, und du siehst es sofort.
In einem kleinen Dorf ließ er sich nieder. Die Menschen fanden es wunderlich, dass er schwarz war, sie hatten so einen noch nie gesehen. Zunächst beschlug er Pferde, dann heilte er sie, er hatte ein Gespür dafür, wo es sie schmerzte. Ein Segen lag auf ihm. Die Tiere hatten Vertrauen, und die Menschen hassten ihn nicht. Er heiratete und zeugte sieben Kinder, manche starben bei der Geburt, andere überlebten, zu seiner Überraschung waren sie alle weiß. Gott schickt uns auf seltsame Wege, sagte er zu seiner Frau, und wir müssen sie gehen, ohne zu klagen.
So wurde er alt. Er war zufrieden, als Erster in der Reihe seiner Ahnen. Eines regnerischen Nachmittags sank er vor dem Haus in die Knie, blickte neugierig um sich, schloss die Augen, legte den Kopf hin, als ob er an der Erde horchen wollte, und kam nie zurück.
Sein Vater, der Gutsherr, war ein Alchimist, der es nie fertigbrachte, Gold zu machen, aber das war nicht erstaunlich, denn es brachte auch kein anderer fertig. Er hauste in einem zugigen Herrenhaus, zeugte mehr als ein Dutzend Kinder mit den Mägden, darunter eine Schwarze aus Trinidad, die zaubern und heilen konnte, heiratete nie und dachte viel darüber nach, ob er katholisch oder protestantisch sein wollte. Die Schwarze hingegen dachte oft an den Ort, von dem sie kam: Sie erinnerte sich an Wärme, sie erinnerte sich an Regen, der leicht war wie die Luft, sie erinnerte sich an eine Sonne, die Kraft hatte, und sie erinnerte sich an duftende Pflanzen. Sie pflegte ihren dunklen Sohn, sie küsste und drückte ihn an sich, wann immer es möglich war, und das war es nicht oft, denn sie musste hart arbeiten, und als er sich schließlich auf den Weg machte, wusste sie, dass er nicht zurückkommen würde.
Den Gutsherrn plagten unterdessen die Zähne. Einer nach dem anderen fielen sie aus, manchmal brachten die Schmerzen ihn schier zum Wahnsinn. Eines lehmigen Morgens wurde ihm von einem Abszess im Kiefer so schlecht, dass er sich zu Bett legen musste. Jemand, den er schon nicht mehr erkannte, presste ihm Kräuter ins Gesicht, sie rochen stechend, eine halbe Stunde später starb er an vergiftetem Blut und kam nie zurück.
Seinen Vater machte der größte Krieg groß. Bei Lüttich verlor er drei Finger, vor Antwerpen ein Ohr, bei Prag eine Hand, wenn auch leider nicht jene, der schon die Finger fehlten. Aber er war geschickt im Plündern, er wusste, wo Gold zu finden war, und als er genug beisammen hatte, verließ er den schwedischen Dienst und kaufte ein Gutshaus. Er heiratete, zeugte drei Kinder und wurde kurz darauf von Marodeuren umgebracht. Es war eine langwierige Angelegenheit, denn sie wollten Verschiedenes an ihm ausprobieren, seine Frau versteckte sich unterdessen mit den Kindern im Keller. Als die Eindringlinge fort waren, war er noch am Leben, aber die Seinen erkannten ihn kaum mehr; es dauerte zwei Tage, bis er starb. Er kam zurück. Noch heute sieht man nachts jemanden, der wohl sein Geist ist, mit müdem Ausdruck durchs Haus streifen.
Seine Mutter war eine ungewöhnliche Frau. Sie hatte starke Träume, und manchmal war ihr, als könnte sie die Zukunft sehen oder Dinge, die in der Ferne geschahen. Wäre sie ein Mann gewesen, viele Wege hätten ihr offengestanden, und sie hätte ein Schicksal gehabt. Eines Nachts träumte sie von einem einäugigen und einbeinigen Alten, versteckt in einem Schuppen. Er spürte, wie sein Körper starr wurde, er spürte eine kalte Hand an seinem Hals, und er lachte, als wäre ihm etwas so Interessantes noch nie zugestoßen. Aber bevor er starb, war sie aufgewacht.
Viele Dinge trieben sie um. Heimlich zerschnitt sie Leichen, man fand genug davon, der Krieg dauerte schon so lange, dass es alte Menschen gab, die noch nie Frieden gesehen hatten. Sie beschäftigte sich mit den Muskeln, den Fasern, den Nerven, zwischendurch gebar sie ihrem Mann fünf Kinder, von denen drei die Geburt überlebten, aber dann fiel ihr ein Ziegelstein auf den Kopf. Gott hatte das nicht geplant, kein Schicksal hatte es herbeigeführt, bloß der Dachdecker war unfähig gewesen, und sie kam nie zurück.
Ihr Vater war zunächst Wegelagerer gewesen. Seine Mutter hatte ihn ausgesetzt, er war von einem Bauernpaar aufgezogen worden, die einen billigen Knecht brauchten. Sie gaben ihm wenig zu essen, und er machte sich bald davon.
Es gab unvorstellbar viel Wald. In ihm herrschte kein Gesetz, und wer ihn durchqueren musste, den beschützte Gott nicht, und dem half kein Fürst. Eine Zeitlang bestahl er Reisende und schlief in Erdlöchern, aber eines Tages stand er unversehens vor einer Hexe: einem scheußlichen Wesen voller Haare und Warzen, ein Drittel Frau, ein Drittel Mann, ein Drittel horniges Wildschwein. Sie fraß ein kleines, blutiges Ding, ein Rehkitz vielleicht, womöglich auch ein Menschenkind, er wagte nicht hinzusehen. Die Hexe hob den Kopf, ihre Augen waren giftgrün, die Pupillen nur ein Punkt. Er begriff, dass sie ihn bis ins Innerste erkannt hatte und dass sie ihn nicht vergessen würde. Er rannte los. Sein Atem ging rasselnd. Äste schlugen ihm ins Gesicht, es wurde Nacht und wieder Tag. Außer sich vor Erschöpfung, erreichte er eine ummauerte Stadt.
Dort ließ er sich nieder und arbeitete als Verwalter von Häusern, Gütern, Feldern. Er zeugte neun Kinder, von denen drei Mädchen die Geburt überlebten. Er gewann Freunde und verdiente Geld und lebte, als hätte er vergessen, dass er verdammt war. Seine Töchter unterrichtete er wie Söhne und war stolz auf sie. Sie heirateten und schenkten ihm Enkel. Die Familie war gut katholisch, weil die Stadt gut katholisch war, jeden Sonntag ging er zur Kirche und bezahlte den Priester für sein Seelenheil. Man sagte, dass es Krieg geben werde, aber er glaubte nicht daran. Und eines Nachts stand die Hexe doch vor ihm, er sah sie deutlich, obgleich es stockdunkel war im Zimmer und sie selbst noch dunkler als die Dunkelheit. Sie fanden ihn am nächsten Morgen. Er kam nie zurück.
Sein Vater war Hauslehrer im Dienst eines Grafen Schulenburg. Der Graf hatte eine Tochter, es gab heimliche Briefe, Schwüre und Pläne zu einer Flucht übers Meer, wo angeblich neues Land gefunden worden war, was aber auch ein Märchen sein konnte, wie sollte man das wissen. Ihr Schicksal kam den beiden so wichtig vor, als stünde es in einem Buch.
Aber als das Mädchen schwanger wurde, fingen den Hauslehrer zwei Männer auf der Straße ab und schlugen ihn mit Eisen, bis er tot war. Sie gebar heimlich, das Kind wurde ausgesetzt, sie musste einen Landadeligen heiraten, der nie erfuhr, dass er nicht der Erste gewesen war.
Nach einigen Jahren zog sie sich ins Kloster Passau zurück, wo sie Aristoteles’ Buch über die Wolken kommentierte. Gott, erläuterte sie, sei nicht außerhalb der Welt, er sei die Welt selbst, die deshalb auch ohne Anfang sei und ohne Ende; außerdem könne man Gott weder gut nennen noch schlecht, er sei die Fülle aller Dinge, weshalb es auch weder Zufall gebe noch Fügung, denn die Welt sei kein Theaterstück. Man würde sie heute noch kennen, hätten sich nicht die Milben über das Manuskript hergemacht.
Der Vater des glücklosen Hauslehrers war Priester. Das war nicht schlimm, Luther hatte seine Thesen noch nicht angeschlagen, die Heilige Kirche war gelassen. Er hatte viele Kinder. Pestkranken gab er die Letzte Ölung, dann ließ er sie zur Ader, und durch den Blutverlust starben sie noch schneller.
Es war eine laue Zeit für den großen Tod. Die Beulenpest war im Abklingen, die schwersten Ausbrüche fanden weiter südlich statt, aber dann steckte er sich doch am Blut der Kranken an. Er hatte es erwartet, kaum einer, der mit Pestkranken zu tun hatte, überlebte lange, fast mit Erleichterung machte er sich ans Sterben. An seinem Bett tauchte ein einäugiger Mann mit nur einem Bein auf, uralt und verwittert, der ihm eine schwere Hand auf die Schulter legte und Unverständliches zuraunte. Es schien, als hätte er die Menschensprache verlernt. Murmelnd und hüpfend zog er seiner Wege.
Der Vater des Priesters war Bauer, wohlhabend und mit viel Land. Er war fröhlichen Gemüts, ohne zu wissen, warum. Gerne spielte er mit seinen Kindern. Etliche davon starben, und wenn er an ihren kleinen Gräbern stand, dachte er, dass es ein guter Brauch sei, Kinder nicht zu früh zu lieben.
Er verließ sein Gut nie. Ohne sich zu beschweren, zahlte er Abgaben an die Obrigkeit. Zuweilen zogen Menschen vorbei, die kamen von anderen Orten und wollten anderswohin, aber sie schienen ihm unwirklich wie Gespenster. Einmal tauchte ein alter Mann auf, dem ein Auge fehlte und ein Bein; der behauptete, mit ihm verwandt zu sein. Er blieb einige Wochen, aß viel und erschreckte nachts die Knechte mit seinem Geschrei. Dann hüpfte er auf seinen Krücken davon.
Eines Nachts überfiel den Bauern das Gefühl, dass jemand ihn verflucht hatte, und er bekam solche Angst, dass er keinem mehr in die Augen sehen wollte, nicht seiner Frau, nicht seinem Gesinde und auch nicht den Kindern. Eine Zeitlang plagte die Lust ihn schwer, aber er wusste, dass er ihr zu widerstehen hatte, um nicht in die Hölle zu kommen. Er widerstand nicht. Dann widerstand er eine Weile, dann widerstand er wieder nicht. Als er starb, weinte er sehr, aus Angst vor der Hölle. Sein ältester Sohn, gerade zum Priester geweiht, hätte gern gewusst, wie es seines Vaters Seele denn nun ergangen war, aber er kam nie zurück, und keiner erfuhr es.
Auch sein Vater war Bauer. Er verließ sein Gut nie. Zuweilen zogen Menschen vorbei, die kamen von anderen Orten und wollten anderswohin. Er wollte das nicht.
Auch sein Vater war Bauer. Er verließ sein Gut nie. Zuweilen zogen Menschen vorbei, die kamen von anderen Orten und wollten anderswohin. Er wollte das nicht.
Auch sein Vater war Bauer. Er verließ sein Gut nie. Zuweilen zogen Menschen vorbei, die kamen von anderen Orten und wollten anderswohin. Er wollte das nicht.
Auch sein Vater war Bauer. Er verließ sein Gut nie, er wollte nicht anderswohin, er verstand nicht, warum Leute unterwegs waren, als gäbe es nicht überall die gleichen Bäume, Hügel und Seen. Er bestellte sein Land, vermied es, seine Schwestern zu sehen, starb früh und kam nie zurück.
Auch sein Vater war Bauer. Er verließ sein Gut nie und hatte viele Kinder. Zwei davon kamen zugleich auf die Welt, es waren Mädchen, die einander so ähnlich sahen, als wären sie ein und dieselbe Person. Teufelswerk, rief er. Auch der Priester sagte, dass es damit keine gute Bewandtnis habe, und seine Frau rief die Gnade des Herrgotts an. Aber er brachte es nicht über sich, sie zu ersäufen. Und so wuchsen die Mädchen heran und heirateten Bauern im nahen Dorf. Er gab ihnen gute Mitgift. Ihre Kinder sahen einander gar nicht ähnlich.
Sein Vater war ein Wanderer, ein Magier, Zähnereißer und Betrüger. Der Pest war er davongelaufen, bei Köln hatte er sich vor einer großen Menschenmenge in die Luft erhoben und war dreimal um den noch unvollendeten Dom gekreist. Später erzählte man allerhand Geschichten darüber, wie er es vorgetäuscht habe, aber in Wahrheit ist das Fliegen nicht schwer, wenn man weder Skrupel hat noch Furcht und außerdem verrückt ist. Bei Ulm bezichtigte ihn ein Kaufmann, er habe ihm Geld gestohlen, und das war auch so, doch er wusste, dass man nur schneller rennen musste als die Dummköpfe, dann drohte einem nichts. Bei irgendeinem Dorf zwischen besonders hohen Bäumen zeugte er ein Kind. Er sah es nie, seinen eigenen Vater hatte er ja auch nicht gekannt.
So verging seine Zeit. Manche sagten, dass er bei Palästina erschlagen worden sei, andere wollten wissen, dass er am Galgen geendet habe, und nur ein paar wenige behaupteten später, dass er noch lebe, da man jeden töten könne, nicht aber einen wie ihn.
Sein Vater war der Sohn eines Söldners, der sich eine Frau genommen hatte, die ihn nicht wollte, am Wegesrand, im Feld. In seiner Umklammerung hatte sie begriffen, dass Gott ihr nicht helfen würde, weil die Hölle nicht später kam, sondern jetzt war und hier. Plötzlich merkte der Söldner, dass es falsch war, also ließ er sie los, aber es war schon zu spät, und er rannte und vergaß. Das Kind ließ sie gleich nach der Geburt im Pferdestall, dann vergaß sie es auch.
Aber der Junge überlebte. Er überlebte den Pesthauch, der durchs Land zog, er überlebte Schmerz und Typhus, er wollte nicht sterben, auch wenn gar nichts dafür sprach, dass er lebte, es gab kaum Essen, aber er starb nicht, alles war voll Kot und Fliegen, aber er starb nicht, und wäre er gestorben, gäbe es weder mich noch meine Söhne. An unserer Stelle würden andere, die es nun nicht gibt, ihr Dasein für unausweichlich halten.
Er wuchs heran, wurde Schmied, fand eine Frau, eröffnete einen kleinen Laden, den kurz darauf das Feuer vernichtete, und arbeitete als Pferdeknecht. Er zeugte acht Kinder, von denen drei überlebten. Bald danach wurde er von einem Fuhrwerk überrollt, verlor ein Bein, starb aber immer noch nicht, obwohl der Wundbrand ihm den Schädel verwirrte. Er träumte, dass der Teufel zu ihm kam, er bat ihn um ein langes Leben, der Teufel fuhr zurück in die Hölle, nach kurzer Zeit ließ das Fieber nach.
Eines Morgens, Wochen später oder vielleicht auch Jahre, wachte er auf und erinnerte sich verschwommen an Karten, Wein und offene Messer. Viel wusste er nicht mehr von der Nacht zuvor, die Welt schien schmaler geworden, ein Stück fehlte, und als er an der Nase emportastete, in Richtung des Schmerzes, kam er dahinter, dass ein Auge fehlte. Kurz war er erschrocken, doch dann lachte er. Welch guter Zufall, dass ihm bloß das passiert war und nichts Schlimmeres, denn der Augen hatte man zwei. Ein Herz nur, einen Magen, eine Lunge, aber zwei Augen! Hart war das Leben, doch manchmal hatte man Glück.