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Von der Schönheit
Haben Sie Carrières neue Ausstellung gesehen?»
«Ja, und ich bin etwas ratlos.»
«Ach.»
«Man sagt, er befragt unsere Sehgewohnheiten. Er sagt das ja auch selbst. In jedem Kunstmagazin sagt er das zurzeit. Aber im Grunde läuft es bei ihm auf die Erkenntnis hinaus, dass Bilder nur Bilder sind und nicht die Wirklichkeit. Auf die ist er stolz wie ein Kind, das entdeckt hat, dass es keine Osterhasen gibt.»
«Das ist böse.»
«Aber ich schätze ihn sehr.»
«Und das erst recht.»
Wir lächeln beide. Die Situation ist kompliziert. Es geht in meinem Beruf nicht bloß darum, Bilder zu verkaufen, es müssen auch die richtigen Käufer sein. Natürlich muss ich Eliza davon überzeugen, dass ihre Sammlung einen weiteren Eulenböck braucht, aber zugleich muss Eliza mich davon überzeugen, dass ihre Sammlung der richtige Ort für Eulenböck ist. Es werden nicht mehr viele Eulenböcks auf den Markt kommen, inzwischen interessieren sich die öffentlichen Museen für ihn, die zwar weniger bezahlen, aber das Renommee eines Künstlers enorm steigern können, was wiederum dazu führt, dass die Auktionspreise auf dem Sekundärmarkt in die Höhe schnellen. Man muss vorsichtig sein: Steigen die Preise zu schnell, fallen sie auch bald wieder, worauf es in den Magazinen heißt, der Markt habe sein Urteil gesprochen, und davon erholt sich der Ruf eines Künstlers nie. Eliza muss mich also davon überzeugen, dass sie das Bild, das ich ihr verkaufe, nicht sofort wieder abstößt, sobald dadurch Gewinn zu machen ist; sie muss mich von ihrem Ernst als Sammlerin überzeugen, so wie ich sie davon überzeugen muss, dass Eulenböcks Wert auf lange Sicht nicht fallen wird.
Über all das reden wir aber nicht. Wir sitzen jeder vor einem Teller Salat, nippen an unserem Mineralwasser, lächeln viel und sprechen über allerlei, nur nicht über das, worum es geht. Ich bin ein guter Nachlassverwalter, sie ist eine gute Sammlerin, wir kennen das Spiel.
Also sprechen wir über venezianische Terrassen. Eliza hat eine Wohnung in Venedig, von der aus man den Canal Grande sehen kann. Einmal war ich zu Besuch, doch es hat die ganze Zeit geregnet, Nebel kroch übers Wasser, und die Stadt schien träge, dunkel und faulig. Wir lachen über die Partys auf der Biennale, wir sind uns einig, dass sie anstrengend sind, laut, mühsam, eine wahre Zumutung, und doch müsse man hingehen, was bleibe einem übrig. Wir finden, dass große Schönheit überfordern kann: Hilflos stehe man ihr gegenüber, es scheine, als müsste man handeln, etwas tun, auf sie reagieren, aber sie bleibe stumm und weise einen in souveräner Langmut zurück. Selbstverständlich fällt jetzt der Name Rilke. Wir sprechen über seine Zeit bei Rodin, wir sprechen kurz über Rodin selbst, dann, es ist unvermeidlich, über Nietzsche. Wir bestellen Kaffee, keiner von uns hat den Salat aufgegessen, an einem so heißen Tag hat niemand Appetit. Und jetzt, da die Stunde sich ihrem Ende zuneigt, sprechen wir doch noch kurz über Eulenböck.
Schwierig, sage ich. Es gebe mehrere Interessenten.
Das könne sie sich vorstellen, sagt Eliza, aber wenn man einem Bild eine Heimat gebe, komme es auf die Umgebung an, die Nachbarschaft. Sie habe schon manches von Eulenböck. Daheim in Gent habe sie Werke von Richter, Demand und Dean, sie habe einiges von Kentridge und Wallinger, sie habe einen Borremans, dessen Stil ja dem Stil Eulenböcks nicht unähnlich sei, und sie habe etwas von John Currin. Außerdem habe sie ja das Glück gehabt, den Meister persönlich zu kennen – nicht so gut wie ich zwar, aber doch gut genug, um zu wissen, dass er kein Freund des Musealen gewesen sei. Sein Werk gehöre in die Mitte der Gegenwart, nicht in die Abstellkammern der Galerien.
Ich nicke unbestimmt.
Diese Hitze, sagt sie.
Sie fächelt sich mit der Hand Luft zu, und obwohl das Restaurant lautlose Ventilatoren hat, sieht die Geste nicht lächerlich bei ihr aus. Sie ist elegant, auf mühelose Weise. Würden mir Frauen gefallen, ich wäre verliebt in sie.
So ein Wetter, sagt sie, flöße einem von neuem Respekt ein vor der maurischen Kultur. Wie bringe man es fertig, eine Alhambra zu errichten, während man tödlicher Hitze ausgesetzt sei?
Andere Zeiten, antworte ich, hätten unsere Gattung robuster gesehen. Der Mensch sei nichts fest Definiertes, er entwerfe sich selbst. Die Marschrouten der römischen Legionen hätten Leistungen vorausgesetzt, die man in unserer Welt nur Olympiasiegern zutrauen würde.
Ein Gedanke, sagt sie, der Nietzsche gefallen hätte.
Aber einer, sage ich, den man nur als Gesunder denken wolle. Sobald ein Zahn schmerze, sei man heilfroh über Moderne und Entfremdung.
Wir erheben uns und umarmen einander schnell mit angedeuteten Küssen auf beide Wangen. Sie geht, ich bleibe und bezahle. Wir werden uns erneut treffen, demnächst zu einem gemeinsamen Abendessen, dann vielleicht zu einem Frühstück, dann wird sie mich in Heinrichs altem Atelier besuchen, und vielleicht ist dann der Moment gekommen, da wir tatsächlich über Geld sprechen.
Ich habe es nicht weit bis nach Hause, ich wohne neben dem Restaurant. Im Wohnungsflur bleibe ich, wie immer, vor der kleinen Tiepolo-Zeichnung stehen, froh darüber, dass ich etwas so Perfektes mein Eigen nennen darf. Dann höre ich den Anrufbeantworter ab.
Nur eine einzige Nachricht. Das Auktionshaus Weselbach teilt mit, ein Kunsthändler aus Paris habe für übernächste Woche einen Eulenböck in Auktion gegeben, Der alte Tod in Flandern, zum Glück ein eher unwichtiges Werk. Bisher keine Käufer-Anfragen, aber der Händler wolle das Bild nicht zurückziehen.
Nicht gut! Keine Anfragen im Voraus, das bedeutet, das Interesse bei der Versteigerung wird sich in Grenzen halten, und ich muss das Bild wahrscheinlich selbst kaufen, um Eulenböcks Wert zu stützen. Der Rufpreis liegt bei vierhunderttausend – viel Geld, für das ich nichts bekomme außer einem Bild, das ich vor sechs Jahren für zweihundertfünfzigtausend selbst verkauft habe. In diesem Jahr habe ich schon drei Eulenböcks kaufen müssen, und es ist erst August. Ich muss etwas unternehmen.
Ich rufe Wexler an, den neuen Chefkurator des Clayland-Museums in Montreal. Eigentlich will ich nur eine Nachricht hinterlassen, aber trotz der Zeitverschiebung ist er sofort am Apparat. Er habe den Büroanschluss aufs Mobiltelefon geschaltet, und nein, er schlafe nicht, das habe er sich abgewöhnt.
Wir plaudern eine Weile – übers Wetter, übers Fliegen von einem Kontinent zum anderen, über Lokale in Manhattan, Lima und Moskau. Ich warte darauf, dass er die Eulenböck-Ausstellung erwähnt, die er übernächstes Jahr machen will und die sehr wichtig für mich wäre, aber natürlich hätte er gern, dass ich als Erster danach frage, und so reden wir noch eine Viertelstunde übers Skifahren, über den neuen Film von Haneke und über Lokale in Paris, Berlin und Buenos Aires. Schließlich merkt er, dass das Stichwort nicht von mir kommen wird, und bringt die Sprache selbst darauf.
«Reden wir ein andermal darüber», antworte ich.
Er komme in zwei Monaten nach Europa, sagt er enttäuscht. Vielleicht könne man sich treffen. Zum Frühstück oder Lunch.
Wunderbar, sage ich.
Sehr schön, sagt er.
Großartig, sage ich.
Gut, sagt er.
Ich lege auf. Und plötzlich, ohne Anlass, ist mir, als sollte ich Eric anrufen. Ich sehe in meinem Adressbuch nach, ich kann mir keine Zahlen merken, nicht einmal die Nummer meines Bruders.
«Ja?» Seine Stimme klingt noch angespannter als sonst. «Was?»
«Ich dachte mir, ich sollte mal anrufen.»
«Warum?»
«Nur so ein Gefühl. Alles in Ordnung?»
Er zögert einen Moment. «Natürlich.» Es klingt nicht, als wäre alles in Ordnung, es klingt sogar, als wollte er mich wissen lassen, dass er lügt.
«Warum habe ich dann so ein Gefühl?»
«Vielleicht, weil ich heute mit dir … Ach so!»
Ich höre Gehupe und Motoren, und dann ist da ein Zischen: Ich glaube, er lacht.
«Ich hatte meiner Sekretärin gesagt, sie soll dich anrufen, aber sie hat … Stell dir vor, sie hat Martin angerufen!»
«Martin!»
«Wir waren mittagessen. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, warum.»
Ich erkundige mich nach seinen Geschäften, wie immer antwortet er ausweichend. Etwas ist nicht in Ordnung, er würde mir gern eine Frage stellen, aber er bringt es nicht über sich. Stattdessen erkundigt er sich nach meiner Arbeit, und obwohl sie ihn nicht interessiert, sage ich, dass man die Auktionshäuser im Auge behalten und die Preise kontrollieren muss. Er unterbricht mich auch sofort und fragt nach unserer Mutter, das leidige Thema, aber ich hake weiter nach.
«Irgendwas ist mit dir. Ich merke das. Du kannst es leugnen, aber –»
«Muss jetzt aufhören!»
«Eric, du kannst mir alles –»
«Alles in Ordnung, wirklich, muss jetzt aufhören.»
Schon hat er aufgelegt. Es ist seltsam, mit Eric zu reden, beinahe ein Selbstgespräch, und plötzlich wird mir wieder klar, warum ich ihn seit einiger Zeit meide. Es fällt schwer, vor ihm ein Geheimnis zu bewahren, er durchschaut mich, wie ich ihn durchschaue, und ich könnte nicht sicher sein, dass er es für sich behalten würde. Die alte Regel: Ein Geheimnis bleibt nur dann eines, wenn wirklich niemand davon weiß. Hält man sich daran, ist es nicht so schwer zu bewahren, wie die Leute meinen. Man kann jemanden fast so gut kennen wie sich selbst, und man liest doch nicht seine Gedanken.
Das Gespräch mit Eric hat mich daran erinnert, dass ich unsere Mutter anrufen muss. Drei Nachrichten hat sie mir hinterlassen, da hilft nichts. Zögernd wähle ich ihre Nummer.
«Na endlich!», ruft sie.
«Ich hatte zu tun. Entschuldige.»
«Du hattest zu tun?»
«Ja, es fällt viel Arbeit an.»
«Mit deinen Bildern.»
«Ja, mit den Bildern!»
«Essen gehen.»
«Das gehört dazu. Besprechungen.»
«Besprechungen?»
«Was soll der Unterton?»
«Ich freue mich, dass du einen interessanten Beruf hast. Offenbar ernährt er dich ja. In jeder Hinsicht.»
«Was wolltest du eigentlich von mir?»
«Das Grundstück vor meinem Haus. Du weißt ja, das große, das von meinem Zaun bis zum Ende des Abhangs reicht, mit den vielen Birken. Es steht zum Verkauf.»
«So.»
«Stell dir vor, da könnte jemand bauen. Denn warum sonst sollte es jemand kaufen! Wer immer es kauft, wird doch bauen wollen.»
«Vermutlich.»
«Und meine Aussicht? Ich meine, unsere? Ihr werdet das Haus erben, dann ist die Aussicht auch für euch wichtig. Selbst wenn ihr es verkaufen solltet. Ihr werdet es ja verkaufen, keiner von euch wird hier wohnen wollen, nehme ich an.»
«Aber das dauert noch.»
«Hör auf damit.»
«Womit soll ich aufhören?»
«Ich wollte vorschlagen, dass du das Grundstück kaufst, bevor jemand anders zuschlägt und es bebaut. Damit erhältst du den Wert unseres Hauses. Es ist auch eine gute Investition.»
«Wieso ist es eine gute Investition, wenn ich nichts bauen soll?»
«Tu nicht so, als ob du etwas von Geschäften verstehst, du bist … Na, was auch immer du bist.»
«Ich bin jemand, der weiß, dass ein Grundstück, auf dem man nichts bauen soll, keine gute Investition ist.»
«Du könntest Getreide darauf anbauen.»
«Was soll ich mit Getreide?»
«Raps oder so etwas.»
«Ich weiß nicht einmal, was das ist!»
«Damit können Autos fahren.»
«Sprich mit Eric darüber. Er hat Geld, und vom Investieren versteht er viel mehr.»
«Aber ich habe dich gefragt.»
«Sprich mit Eric, Mutter. Ich habe jetzt zu tun.»
«Mittagessen?»
«Sprich mit Eric.»
Sie legt auf, und ich mache mich auf den Weg. Die Treppe hinunter, quer über den von der Sonne aufgeheizten Platz, zum Eingang der U-Bahn. Die Rolltreppe trägt mich ins kühle Zwielicht des Schachts.
Der Zug fährt sofort ein, der Waggon ist halb leer. Ich setze mich.
«Friedland!»
Ich sehe auf. Neben mir steht, die Hand am Haltegriff, der Kunstkritiker der Abendnachrichten.
«Sie hier?», ruft er. «Sie?»
Ich zucke mit den Achseln.
«Das gibt es ja nicht!»
Ich lächle. Hauptsache, er setzt sich nicht zu mir.
Er schlägt mir auf die Schulter. «Ist hier noch frei?»
Er hieß Willem und war ein flämischer Kunststudent, genialisch, laut, liebenswürdig, aufbrausend und leider nicht sehr begabt. Als Verehrer von Nicolas de Staël malte er abstrakt, was ich ihm vorwarf, ich nannte es feige und epigonal, weil ich Realist war, Verehrer von Freud und Hockney, was er mir vorwarf, er nannte es feige und epigonal. Wir stritten viel, wir tranken viel, wir nahmen Drogen in moderater Dosis, wir trugen Seidenhemden und ließen unsere Haare wachsen bis auf die Schultern. Kurz teilten wir ein Atelier in Oxford, das eigentlich nur ein Raum über einer Wäscherei war, er malte am Nord-, ich malte am Westfenster, es gab ein Klappbett, wir benützten es ausgiebig und kamen uns dabei vor, als sähe die Zukunft zurück auf uns, als hätten uns spätere Kunsthistoriker fest im Blick. Als er sein Studium abbrach, nannte ich ihn faul und brach meines nicht ab, weshalb er mich einen Spießer nannte.
In den Ferien wanderten wir durch das feuchte Grün von Wales, wir stiegen auf Hügel in der Dämmerung, wir suchten hohe Klippen und schroffe Schluchten auf, und einmal liebten wir uns auf einer runenbedeckten Steinplatte, was noch viel unbequemer war, als wir es uns vorgestellt hatten. Wir diskutierten, wir drohten einander, wir schrien, wir tranken zur Versöhnung und gerieten betrunken von neuem in Streit. Wir füllten Skizzenblöcke, wir wanderten bei Nacht, wir erwarteten in klammen Morgenstunden den Sonnenaufgang über der bleigrünen Fahlheit des Wassers.
Am Ende der Ferien kehrte ich zurück nach Oxford, und er fuhr nach Brüssel, um seinen Vater zu überzeugen, dass er ihm weiterhin Geld gab. Es war das Jahr 1990, das östliche Europa hatte sich befreit, und da man gerade noch keine E-Mails schrieb, schickten wir einander Karten, fast jeden Tag. Bis heute bin ich in Sorge, dass all meine Ausbrüche – all das Philosophieren, all die Romantik, Hoffnung und Wut – vielleicht noch in irgendeiner Schublade aufbewahrt sind. Seine Post habe ich, da es mir zu theatralisch vorgekommen wäre, sie zurückzuschicken, später vernichtet.
Denn als ich in den Ferien darauf nach Brüssel kam, merkte ich, dass etwas sich geändert hatte. Wir sahen aus wie zuvor, wir taten, was wir immer getan hatten, wir führten die gleichen Gespräche, aber etwas war anders geworden. Vielleicht lag es nur daran, dass wir so jung waren und befürchteten, etwas zu versäumen, doch wir hatten angefangen, einander zu langweilen. Um es auszugleichen, sprachen wir noch lauter und stritten noch mehr. Drei Nächte hintereinander blieben wir wach, im rhythmisch dröhnenden Flackern wechselnder Clubs, trunken von Müdigkeit und Aufregung, bis alle Orte zu einem Ort wurden und alle Gesichter in eins flossen. Irgendwann standen wir im Museum und stritten über Magritte, dann lagen wir wieder im Gras, dann waren wir in seiner Wohnung, und auf einmal hatten wir uns getrennt, wir wussten beide nicht, wie, und eigentlich auch nicht, weshalb es geschehen war. Willem warf eine Flasche nach mir, ich duckte mich, sie zerbrach über mir an der Wand, zum Glück war sie leer. Ich lief die Treppe hinunter, meinen Koffer hatte ich stehen gelassen, er schrie mir nach, seine Stimme hallte durchs Treppenhaus, dann schrie er aus dem Fenster, dass ich zurückkommen, dass ich mich ja nicht mehr blicken lassen, dass ich zurückkommen solle, und erst als ich seine Stimme nicht mehr hörte, fragte ich nach dem Weg zum Bahnhof. Eine Frau zeigte mir besorgt die Richtung, ich war wohl sehr blass, und plötzlich sah ich das Plakat. Es war noch dasselbe Foto, es war auch derselbe Wortlaut: Lindemann lehrt Sie, Ihre Träume zu fürchten.
Gegen Ende der Vorstellung, die ich mir nicht ansehen konnte – ich hatte mich kurz auf einer Parkbank ausruhen wollen, und dort hatte ich geschlafen bis in den frühen Abend –, stand ich vor dem Theater. Die Leute kamen gerade heraus. Ich suchte nach der Kantine. Lindemann saß vorgebeugt an einem Tisch, löffelte Suppe und sah irritiert auf, als ich mich zu ihm setzte.
«Mein Name ist Iwan Friedland. Geben Sie ein Interview? Für Oxford Quarterly?» Ich wusste nicht, ob es ein Oxford Quarterly gab, aber es war die Zeit vor dem Internet, man konnte Dinge schwer überprüfen.
Er hatte sich äußerlich nicht verändert, seine Brillengläser spiegelten, in seiner Brusttasche steckte das grüne Tuch. Als ich begann, ihm Fragen zu stellen, bemerkte ich, wie schüchtern er war. Ohne Scheinwerfer und Publikum schien er verloren in seiner Unsicherheit. Er rückte seine Brille zurecht, lächelte verkrampft und fasste sich immer wieder tastend an den Schädel, als wollte er sich vergewissern, dass die wenigen verbliebenen Haare noch an ihrem Platz waren.
Bei der Hypnose, sagte er, handle es sich nicht um ein einzelnes Phänomen, sondern um eine Vielzahl davon: die Bereitschaft, sich einer Autorität zu fügen, eine allgemeine Schwäche, eine generelle Offenheit für Suggestionen. Nur selten wirkten noch rätselhaftere Mechanismen des Bewusstseins hinein, noch nicht erforscht, weil keiner sie erforschen wolle. All das führe dazu, dass man die oberflächliche Kontrolle über den eigenen Willen für kurze Zeit verliere.
Er bekam einen Hustenanfall, Suppe rann ihm übers Kinn.
Er sage ‹oberflächlich›, erklärte er dann, weil sich normalerweise nichts, was ein Mensch nicht zu erleben oder zu tun wünsche, durch Trance in ihn hineinzwingen lasse. Nur selten lasse sich in einer Seele etwas Profundes in Bewegung setzen.
Ich fragte, was er damit meine, aber er war in Gedanken schon anderswo und begann, sich zu beschweren. Er klagte über die geringen Gagen, er klagte über die Arroganz der Fernsehredakteure. Er klagte über eine Sendung, aus der sein Auftritt herausgeschnitten worden war. Er klagte über die Gewerkschaft der Bühnenkünstler, er klagte besonders über deren Pensionskasse. Er klagte über die vielen Eisenbahnreisen, die Verspätungen, die dilettantisch organisierten Fahrpläne. Er klagte über schlechte Hotels. Er klagte über gute Hotels, weil sie zu teuer seien. Er klagte über dumme Leute im Publikum, über betrunkene Leute im Publikum, über aggressive Leute im Publikum, über Kinder im Publikum, über Schwerhörige im Publikum, über Psychopathen. Es sei erstaunlich, wie viele Psychopathen in eine Hypnosevorstellung kämen. Dann klagte er von neuem über die Gagen. Ich fragte, ob er noch etwas essen wolle, das Oxford Quarterly bezahle, und er bestellte Schnitzel mit Pommes frites.
«Noch einmal zurück», sagte ich. «Die Mechanismen des Bewusstseins.»
Richtig, sagte er. Rätselhafte Mechanismen, ja, das habe er gesagt. Rätselhaft auch für ihn, obwohl er so viel gesehen habe. Aber er sei ja kein Intellektueller und nicht imstande, Erklärungen zu geben. Er sei wider Willen in dieses Metier geraten, gelernt habe er ganz andere Dinge.
«Und zwar? Was haben Sie gelernt? Welche anderen Dinge?»
Die Kellnerin brachte das Schnitzel. Er fragte, wie mir die Vorstellung gefallen habe.
«Sehr beeindruckend.»
«Sie brauchen nicht zu schwindeln.»
«Sehr beeindruckend!»
Nicht groß genug, sagte er, und ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er das Schnitzel meinte. Für die Größe zu teuer. Aber teuer sei ja alles heutzutage, der kleine Mann werde ständig ausgenommen.
Ich fragte, ob es wenigstens gut schmecke, das Schnitzel.
Zu dick, sagte er. Ein Schnitzel gehöre flach geklopft, warum wisse das keiner mehr? Er zögerte, bevor er fragte, wo mein Tonbandgerät sei.
«Ich habe ein gutes Gedächtnis.»
Gedächtnis sei ein überschätztes Phänomen, sagte er kauend. Ganz und gar erstaunlich, wie leicht es sei, ihm falsche Erinnerungen einzugeben, und wie leicht auch, Erinnerungen spurlos zu löschen. Wirklich kein Tonbandgerät?
Um das Thema zu wechseln, bot ich ihm Nachtisch an, er bestellte Sachertorte. Dann legte er den Kopf schief und erkundigte sich, ob das Oxford Quarterly eine Studentenzeitung sei.
«Es wird weithin gelesen.»
«Was studieren Sie, junger Mann?»
«Kunstgeschichte. Aber ich bin Maler.»
Er blickte auf den Tisch. «Wir haben uns schon einmal gesehen?»
«Ich glaube nicht.»
«Nein?»
«Ich wüsste nicht, wo.»
«Maler», wiederholte er.
Ich nickte.
«Maler.» Er lächelte.
Ich fragte ihn, wie groß der Einfluss sei, den ein Hypnotiseur auf Menschen nehmen könne. Könne man jemanden dazu bringen, sein Leben zu ändern? Dinge zu tun, die er nie getan hätte, wäre er nicht hypnotisiert worden?
«Jeder kann jeden dazu bringen, sein Leben zu ändern.»
«Aber man kann Menschen nicht dazu bringen, etwas zu tun, das sie nicht tun wollen?»
Er zuckte mit den Schultern. Unter uns gesagt, was heiße das eigentlich, etwas wollen oder nicht. Wer wisse schon, was er wolle, wer sei im Reinen mit sich. Man wolle so viel und jeden Moment etwas anderes. Natürlich sage man den Zuschauern zu Beginn, dass niemand zu etwas gebracht werden könne, das er nicht ohnehin zu tun bereit sei, aber die Wahrheit sei: Jeder sei fähig zu allem. Der Mensch sei offen, sei ein Chaos ohne Grenze und feste Form. Er blickte sich um. Wieso in aller Welt brauche die Torte so lange, die müsse doch nicht erst gebacken werden!
Ich sei kein Chaos ohne Grenzen, sagte ich.
Er lachte.
Die Kellnerin brachte die Torte, und ich bat ihn, Anekdoten zu erzählen. Während seines erfolgreichen Berufslebens habe er sicher manches erlebt.
Erfolgreich? Nun ja. Früher, in der großen Zeit der Varietés, in der Epoche von Houdini und Hanussen, habe ein Hypnotiseur noch erfolgreich sein können. Aber in Tagen wie diesen! Ein Leben für die Kunst lasse sich schlecht auf Anekdoten reduzieren.
«Hypnose ist eine Kunst?»
Vielleicht sei sie sogar mehr. Vielleicht leiste sie immer schon, was die Kunst erst erreichen wolle. Alle große Literatur, alle Musik, alle … Er lächelte. Alle Malerei bemühe sich, hypnotisch zu wirken, nicht wahr? Er schob den Teller weg. Er müsse jetzt schlafen gehen, ein Auftritt sei anstrengend, danach sei man zum Umfallen müde. Er stand auf und legte mir die Hand auf die Schulter. «Maler?»
«Bitte?»
Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, es war nichts Verbindliches mehr darin. «Maler – wirklich?»
«Ich verstehe nicht.»
«Ist auch egal. Ist nicht wichtig. Aber meinen Sie das ernst? Maler?»
Ich fragte, was er damit sagen wolle.
Nichts. Er sei müde. Er müsse sich hinlegen. Er blickte um sich, als wäre ihm ein Gedanke gekommen, dann murmelte er etwas, das ich nicht verstehen konnte. Klein und schwächlich sah er aus, blass sein Gesicht, die Augen waren nicht zu erkennen hinter den dicken Gläsern. Er hob grüßend die Hand und ging mit kleinen Schritten zur Tür.
Erst auf der Fähre über den Kanal wurde mir klar, dass ich seine Stimme nicht mehr aus dem Kopf bekam. Maler, wirklich? Noch nie war ich so tiefem Zweifel begegnet, nie einer solchen Intensität von Skepsis und Spott.
Kurz darauf, zurück in Oxford, erschien er mir so deutlich im Schlaf, dass es mir bis heute vorkommt, als wäre ich ihm insgesamt dreimal begegnet. Wieder war es in einer Theaterkantine, aber in meinem Traum hatte sie die Ausmaße einer Kathedrale. Lindemann stand auf dem Tisch, und sein Lächeln war zu einer derartigen Grimasse verzerrt, dass ich ihn kaum ansehen konnte.
«Ich vergesse nichts.» Er kicherte. «Kein Gesicht und keinen Menschen, der bei mir auf der Bühne war. Dachtest du wirklich, ich weiß es nicht mehr? Armes Kind. Und du glaubst, du hast es in dir? Die Kunst. Das Malen. Die Schöpferkraft. Glaubst du das wirklich?»
Ich trat zurück, wütend halb und halb voll Angst, aber ich konnte nicht antworten. Sein Lächeln wuchs und wuchs, bis es mein Blickfeld füllte.
«Du kannst, was man können muss, aber du bist leer. Hohl bist du.» Er kicherte hoch und spitz. «Geh jetzt. Geh in Unfrieden. Geh und schaffe nicht. Geh!»
Als ich zu mir kam, lag ich im Halbdunkel des Schlafzimmers und konnte nicht verstehen, worüber ich so tief erschrocken war. Ich schlug die Decke zurück. Darunter kauerte, gerollt zu einem Menschenball, mit spiegelnder Brille Lindemann. Und während er kicherte, erwachte ich ein zweites Mal, im selben Zimmer, und schlug mit klopfendem Herzen die Decke zurück, aber diesmal war ich allein und wirklich wach.
Er hatte recht, das wusste ich. Aus mir würde nie ein Maler werden.
Jetzt fällt mir sein Name ein, er heißt Sebastian Zöllner. Ich frage ihn, wohin er fährt. Nicht, dass es mich interessieren würde, aber wenn man sich flüchtig kennt und in der U-Bahn nebeneinandersitzt, muss man auch miteinander plaudern.
«Zu Malinowski. Ins Atelier.»
«Wer ist Malinowski?»
«Ja genau. Eben! Wer ist das eigentlich! Aber das Circle-Magazin bringt eine Geschichte über ihn, und wenn die erscheint, zieht art monthly sofort nach, und dann ruft mich noch am selben Tag der Chef zu sich und fragt, warum wir das schon wieder verpasst haben. Also mache ich den ersten Schritt.»
«Und wenn Circle nichts bringt?»
«Die bringen dann sicher was, weil ich ja etwas gebracht haben werde. Und ich werde schreiben, dass es eine Schande ist, wenn einer wie Malinowski nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient. Dass bei uns Lautstärke immer über Qualität triumphiert, das werde ich schreiben, gut? Lautstärke über Qualität. Gut? Spätestens dann macht sich Humpner bei art monthly gewaltig in die Hose, dann ziehen die auch nach, und schon bin ich Malinowskis Entdecker. Das ist der Vorteil, wenn man für eine Tageszeitung schreibt und nicht für ein Magazin, das mit zwei Monaten Vorlauf produziert. Man kriegt raus, was die vorhaben, und ist schneller.»
«Welche Art von Kunst macht er?»
«Wer?»
«Malinowski.»
«Das weiß ich doch nicht. Deshalb fahre ich ja hin. Um das herauszufinden.»
Aufgedunsen sitzt er neben mir, unrasiert, kaum noch Haare auf dem Kopf und das Jackett so zerknittert, als hätte er darin geschlafen. In der mittelalterlichen Kunst entspricht das Aussehen der Menschen ihren Seelen: die Bösen hässlich, die Guten schön. Das neunzehnte Jahrhundert hat uns beigebracht, das sei Unsinn. Aber mit ein bisschen Lebenserfahrung merkt man, es ist gar nicht so falsch.
«Waren Sie bei der Khevenhüller-Eröffnung?», fragt er.
Ich schüttle den Kopf. Und weil auch ich Zeitungen lese, weiß ich mit absoluter Sicherheit, dass er jetzt sagen wird, Khevenhüller habe sich seit langem nur noch wiederholt.
«Er macht nichts Neues mehr. Immer das Gleiche, Aufguss um Aufguss. Zwischen ’90 und ’98 war er originell. Da hatte er etwas zu sagen. Jetzt: Schnee von vorgestern.»
Die Bahn hält, die Türen öffnen sich, eine japanische Reisegruppe strömt herein, etwa dreißig Menschen, die Hälfte davon trägt Mundschutzmasken. Aneinandergepresst und schweigend füllen sie den Waggon.
Zöllner beugt sich zu mir. «Ich wünschte, ich hätte Ihren Beruf.»
«Sie können ihn haben», sage ich gedehnt, «Sie wären gut darin.»
Er wehrt ab, derart mit sich selbst beschäftigt, dass ihm meine Unehrlichkeit nicht auffällt. «In fünfzehn Jahren bin ich arbeitslos. Keine Zeitungen mehr. Nur noch im Netz. Und ich bin noch nicht mal fünfzig. Zu jung für die Rente. Zu alt, um noch umzusatteln.»
Mir kommt die Idee zu einem Eulenböck-Bild. Ein Porträt von Zöllner, aus nächster Nähe, wie er hier neben mir sitzt, im grünlichen Kunstlicht des Waggons, vor dem Hintergrund des Japanergedrängels, mit dem Titel Kunstrichter. Aber natürlich geht das nicht, du bist zu lange tot, armer Heinrich, keiner würde es für echt halten.
«All die jungen Leute! Frisch von der Uni, Jahr für Jahr, immer mehr. Sie machen Volontariate, bringen Kaffee, fragen mich, ob ich Zucker möchte, schauen mir über die Schulter und grübeln darüber nach, was ich eigentlich kann, was sie nicht können. Die verstehen alle etwas von Kunst, Friedland! Die sind alle nicht blöd. Die wollen alle meinen Job. Und wohin soll ich dann? Zu kunstkritik online? Da hänge ich mich lieber auf.»
«Na, na», sage ich betreten. Er wird sich an dieses Gespräch erinnern, und er wird mir nicht verzeihen.
«Aber sie haben nicht das Gespür. Sie wissen nicht, wann es Zeit ist, Malinowski zu loben, und wann die Zeit dafür vorbei ist. Sie lassen sich beeindrucken, ihnen gefällt etwas, oder es missfällt ihnen, das ist der Fehler. Sie wissen nicht, was verlangt wird.»
«Verlangt?»
«Mir macht man nichts vor. Mich beeindruckt nichts. Ob jemand steigt oder fällt, um das zu wissen, braucht man Erfahrung, man braucht Instinkt!» Er reibt sich über das Gesicht. «Aber der Druck, Sie haben ja keine Ahnung! Molkner zum Beispiel. Zuerst hat er Spengrich gelobt, den man jetzt gar nicht mehr mögen kann, dann hat er ausdrücklich Hähnel empfohlen, zwei Tage bevor sie in der Kulturkamera aufgedeckt haben, dass Hähnel Antidemokrat ist, und dann hat er den Fotorealismus die Kunstform der Zukunft genannt. Ein ganz armseliger Versuch, sich gegen Lümping und Karzel als konservative Kraft zu positionieren, aber der Trottel hat sich dafür genau den Moment ausgesucht, als Karzel bei uns in den Abendnachrichten seine Attacke gegen die neuen Realisten geritten hat, Sie erinnern sich, auch Eulenböck hat ja sein Fett weggekriegt. Übelstes Timing! Und jetzt? Was glauben Sie?»
«Ja?» Dunkel erinnere ich mich an Molkner: ein stark schwitzender kleiner Herr, sehr nervös, mit Glatze und Spitzbart.
«Jetzt ist er nur noch Pauschalist», flüstert Zöllner, als dürften die Japaner es auf keinen Fall hören. «Und sein ehemaliger Assistent, Lanzberg, dieses Stück Dreck, streicht in den Reportagen herum, die Molkner von irgendwelchen Provinzvernissagen schickt. Gnadenlos! Das können Sie mir glauben. Ein gnadenloses Geschäft.» Er nickt, horcht seinen eigenen Worten nach, springt unvermittelt auf und schlägt mir noch einmal auf die Schulter. «Tut mir leid, bin in ganz übler Stimmung. Meine Mutter ist gestorben.»
«Das ist ja furchtbar!»
Er schiebt sich zwischen den Japanern hindurch zur Tür. «Sie glauben wohl alles!»
«Dann ist sie nicht gestorben?»
«Jedenfalls nicht heute.» Er drängt einen Mann mit Mundschutz zur Seite und springt hinaus. Die Türen schließen sich, der Zug fährt an, einen Moment noch sehe ich ihn winken, dann fahren wir wieder durchs Dunkel.
Ein Japaner setzt sich neben mich und drückt kleine Knöpfe an seiner Kamera. Diese U-Bahn-Linie führt zu keinen Sehenswürdigkeiten, jetzt kommen nur noch die Industriegebiete am Stadtrand. Die Reisegruppe ist im falschen Zug. Jemand sollte es ihnen sagen. Ich schließe die Augen und schweige.
Aus mir würde also kein Maler, das wusste ich jetzt. Ich arbeitete wie zuvor, aber es hatte keinen Sinn mehr. Ich malte Häuser, ich malte Wiesen, ich malte Berge, ich malte Porträts, sie sahen nicht schlecht aus, sie waren gekonnt, aber wozu? Ich malte abstrakte Gebilde, sie waren harmonisch komponiert und farblich durchdacht, aber wozu?
Was bedeutet es, mittelmäßig zu sein – plötzlich ließ die Frage mich nicht mehr los. Wie lebt man damit, warum macht man weiter? Was für Menschen sind es, die alles auf eine Karte setzen, ihr Leben dem Schaffen verschreiben, das Risiko der großen Wette eingehen und dann, Jahr für Jahr, nichts von Bedeutung zustande bringen?
Selbstverständlich liegt es in der Natur einer Wette, dass man sie verlieren kann. Aber wenn es einem wirklich passiert – belügt man sich dann, oder kann man sich ehrlich damit abfinden? Wie macht man es, stolz seine kleinen Ausstellungen vorzubereiten, seine beschränkten Anerkennungen zu sammeln und es für naturgegeben zu halten, dass es weit über einem eine Welt des Gelingens gibt, an der man keinen Anteil hat? Wie richtet man sich ein?
«Schreib über die Mittelmäßigkeit.» Es war Martins Idee gewesen, damals im Klostergarten von Eisenbrunn. Und er hatte recht: Ich konnte immerhin ein Kunsthistoriker mit ungewöhnlichem Forschungsgebiet werden. So schrieb ich einen Brief an Heinrich Eulenböck. Ich log nicht, aber ich erwähnte auch nicht den Titel meiner Dissertation: Mediokrität als ästhetisches Phänomen. Ich schilderte nur, wie ich durch Zufall seine Bilder in einem alten Katalog entdeckt hatte: flämische Bauernhäuser, sanfte Hügel, freundliche Flussgestade und Heuballen, wirklich gut gemalt, kraftvoll und nicht ohne Seele. Das ist es, hatte ich gedacht, was aus mir geworden wäre. Dieses verstockte Könnertum, diese in sich selbst eingeschlossene Perfektion. Das wäre meine Zukunft gewesen. Das wäre ich.
Er antwortete erfreut, und ich machte mich auf den Weg. Ich war erschöpft, denn ich hatte eine kurze Affäre mit einem französischen Choreographen hinter mir, eine Affäre voller Leidenschaft, Streit, Gebrüll, Alkohol, Trennung, Versöhnung und neuer Trennung, und eine Reise kam gerade recht. Eine lange Fahrt mit dem Zug, eine lange Fahrt mit einem anderen Zug, dann eine Überfahrt mit der Fähre, dann eine lange Fahrt mit einem Bus, bis ich ihm endlich in seinem hellen Studio gegenüberstand. In den Fenstern schimmerte der nördlich-kühle Glanz des Meeres.
Er war damals Anfang sechzig und stattlicher, als ich es erwartet hatte, ein eleganter Herr mit weißem Schnurrbart, gepflegter Kleidung und Elfenbeinstock, witzig, gelassen und kultiviert. Ich hatte geplant, am nächsten Tag wieder abzureisen, aber ich blieb. Ich blieb auch den Tag darauf und noch einen Tag und die ganze Woche und das ganze Jahr und das Jahr darauf. Ich blieb bis zu seinem Tod.
Die Lichter der U-Bahn schrumpfen, werden zu einem einzigen Fleck und verlöschen. Die Schönheit braucht keine Kunst, sie braucht auch uns nicht, sie braucht keine Betrachter, im Gegenteil. Gaffende Leute nehmen ihr etwas weg, am hellsten flammt sie, wo keiner sie sieht: weite Landschaften ohne Häuser, die Wolkenspiele des frühen Abends, das verwaschene Rotgrau alter Ziegelmauern, kahle Bäume im Winternebel, Kathedralen, das Abbild der Sonne in einer Ölpfütze, die Spiegeltürme der Insel Manhattan, der Blick aus einem Flugzeugfenster, kurz nachdem man durch die Wolkendecke gestoßen ist, die Hände alter Menschen, das Meer zu jeder Tageszeit und menschenleere U-Bahn-Stationen wie diese – das gelbe Licht, das Zufallsmuster der Zigarettenstummel auf dem Boden, die abblätternden Plakate, noch immer flatternd im Fahrtwind, obwohl der Zug schon lange verschwunden ist.
Die Rolltreppe trägt mich hinauf, die Straße ordnet sich um mich, hoch oben errichtet sich das Gewölbe des Sommerhimmels. Ich blicke in alle Richtungen – nicht nur aus Vorsicht, denn es ist eine gefährliche Gegend, sondern weil wir nun einmal auf der Welt sind, um zu sehen. Die Mülltonnen werfen ihre kurzen Mittagsschatten, ein Kind zieht auf einem Skateboard vorbei, die Arme ausgebreitet, zugleich schwebend und in ständig aufgehaltenem Fall. Derselbe Lichtstrahl blitzt weit oben in einem Fenster und hier unten im Rückspiegel eines geparkten Autos. Das dunkle Viereck eines Kanaldeckels, ganz Klarheit und Muster, hoch darüber, wie mit Absicht dagegengesetzt, die zerfließende Vagheit einer Wolke. Schnell schließe ich eine Tür auf, gehe hinein und schließe hinter mir ab. Eine alte Liftkabine trägt mich rumpelnd von Stockwerk zu Stockwerk ins Dachgeschoss. Nur im zweiten Stock gibt es ein selten benutztes Warenlager, der Rest des Hauses steht leer. Der Lift hält quietschend, ich steige aus und öffne eine Stahltür. Sofort umfängt mich der Duft von Acryl, Holz und Leim, das reiche Aroma der Pigmente. Wie gut, wenn man arbeiten darf. Manchmal kommt mir der Verdacht, ich könnte ein zufriedener Mensch sein.
Niemand weiß von diesem Studio, niemand kann mich damit in Verbindung bringen. Nicht ich habe es gekauft, sondern eine Firma, die einer anderen Firma gehört, die ihren Sitz auf den Cayman Islands hat und wiederum mir gehört. Wenn einer im Grundbuch nachsähe, er fände meinen Namen nicht. Man müsste sehr viel Zeit und Mühe aufwenden, um bis zu mir vorzudringen. Grundsteuer sowie Heiz-, Wasser- und Stromkosten werden automatisch von einem Nummernkonto in Liechtenstein eingezogen. Vor mich hin pfeifend, hänge ich meine Jacke auf, kremple die Ärmel hoch und ziehe den Kittel an. An der Wand stehen ein Dutzend Gemälde, abgedeckt mit Tuch, davor ein fast fertiges Bild auf der Staffelei.
Zum Glück brauche ich keine Brille, meine Augen sind scharf wie eh und je. Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt. Also stehe ich vor dem Bild und betrachte es. Ein Dorfplatz in einer französischen Kleinstadt. Im Zentrum eine grellbunte Plastik, offensichtlich von Niki de Saint Phalle: eine übergroße bunte Frauenfigur streckt ihre Arme empor. Der Himmel ist wolkenlos, am Rand des Platzes stehen Kinder mit Fahrrädern um einen kleinen Jungen, der den Kopf in die Hände stützt und weint. Eine Frau blickt aus einem Fenster, ihr Mund steht weit offen, sie ruft jemanden. Aus einem abgestellten Auto sieht ein Mann drohend zu ihr hinauf. Am Rand des Platzes gibt es eine dunkle Pfütze, die womöglich, aber vielleicht auch nicht, ein Blutfleck ist, daraus trinkt ein Dackel. Irgendetwas Schreckliches ist passiert, und die Leute scheinen es verheimlichen zu wollen. Würde man ein wenig länger hinsehen, ein wenig besser nach Spuren suchen, man könnte darauf kommen; das glaubt man wenigstens. Aber tritt man zurück, verschwinden die Details, und es bleibt nur eine bunte Straßenszene: hell, lebendig, heiter. Großflächige Plakate werben für Bier, für einen Streichkäse, für Zigarettenmarken im Stil der frühen siebziger Jahre.
Ich arbeite schweigend, manchmal höre ich mich pfeifen. Nur ein paar Kleinigkeiten fehlen noch. Die Stille des Ateliers umgibt mich wie eine feste Substanz. Der Lärm der Stadt dringt nicht herauf, auch die Hitze scheint ausgesperrt. So kann es sehr lange gehen. Wenn ich danach an die Stunden der Arbeit zurückdenke, habe ich kaum Erinnerungen daran – als hätte die Konzentration alles ausgelöscht.
Hier oben noch ein paar Lichtspitzen, da unten ein Schatten und die Gesichtszüge dieses Kindes eine Spur verwischen. Das Nummernschild braucht einen Rostfleck. Man soll die Pinselstriche sehen können, dick und altmeisterlich! Und dann der letzte helle Punkt, ein Akzent aus Weiß, Ocker und Orange. Ich trete zurück, hebe die Palette, nehme ein wenig Schwarz und setze mit schnellem Zug Jahreszahl und Signatur in die Ecke: Heinrich Eulenböck, 1974.
Als ich jung war, eitel und ohne Erfahrung, hielt ich die Kunstwelt für korrupt. Heute weiß ich, dass das nicht stimmt. Die Kunstwelt ist voller liebenswürdiger Menschen, voller Enthusiasten, voll von Sehnsucht und Wahrhaftigkeit. Es ist die Kunst selbst, als heiliges Prinzip, die es leider nicht gibt.
Es gibt sie ebenso wenig wie Gott, wie das Ende der Zeiten, die Ewigkeit und die himmlischen Heerscharen. Es gibt nur Werke, unterschiedlich in Machart, Form und Wesen, und es gibt das Sturmgeflüster der Meinungen über sie. Wechselnde Namen gibt es, die man je nach Zeitstimmung an ein und denselben Gegenstand heftet. Von so manchem Bild Rembrandts, das lange als Höhepunkt der Malerei galt, wissen wir jetzt, dass nicht Rembrandt es gemalt hat. Ist es darum schlechter?
«Natürlich nicht!», rufen Laien eilfertig aus, aber so einfach ist das auch wieder nicht. Ein und dasselbe Bild ist nicht dasselbe, wenn es von einem anderen stammt. Ein Werk ist eng verknüpft mit unserer Vorstellung davon, wer es wann, warum und aus welcher Not in die Welt gebracht hat. Ein Schüler, der alle Fertigkeiten seines Lehrers erworben hat und nun malt wie er, bleibt dennoch ein Schüler, und wären die Bilder van Goghs von einem wohlhabenden Herrn eine Generation später gemalt worden, man schriebe ihnen nicht den gleichen Rang zu. Oder etwa doch?
Denn tatsächlich liegen die Dinge noch schwieriger. Wer kennt schon Émile Schuffenecker? Und doch stammen von ihm mehrere Bilder, für die wir van Gogh verehren. Das wissen wir seit einer Weile, aber hat van Goghs Ruf dadurch gelitten? Etliche van Goghs sind nicht von van Gogh, Rembrandts Bilder sind nicht alle von Rembrandt, und ich wäre sehr überrascht, wenn jeder Picasso ein Picasso wäre. Ich weiß nicht, ob ich ein Fälscher bin, das hängt von der Definition ab wie alles im Leben. Immerhin stammen die bekanntesten Bilder Eulenböcks, alle Werke, auf denen sein Ruhm beruht, von ein und demselben Urheber: nämlich mir. Aber stolz bin ich nicht darauf. Ich habe meine Meinung nicht geändert: Ich bin kein Maler. Dass meine Gemälde in Museen hängen, beweist nichts gegen die Museen und nichts zugunsten meiner Bilder.
Alle Museen sind voll von Fälschungen, na und? Die Herkunft von allem und jedem in dieser Welt ist unsicher, bei der Kunst ist kein Zauber im Spiel, und keines Engels Flügel hat die großen Werke gestreift. Dinge der Kunst sind Dinge wie alle anderen: Manche sind äußerst gelungen, aber keines stammt aus einer höheren Welt. Dass einige mit dem Namen dieses oder jenes Menschen verknüpft sind, dass einige teuer verkauft werden und andere billig, dass einige weltbekannt sind und die meisten nicht, das unterliegt vielen Kräften, aber keine davon ist überirdisch. Und auch Fälschungen müssen nicht gelungen sein, um ihren Zweck zu erfüllen: Perfekte Nachahmungen können entlarvt, unvollkommene aufgehängt und bewundert werden. Fälscher, die stolz auf ihre Arbeit sind, überschätzen genau wie alle Laien die Bedeutung des soliden Könnens: Handwerk kann jeder lernen, der nicht ganz ungeschickt ist und sich bemüht. Es hat schon seine Richtigkeit, dass es in der Kunst an Bedeutung verlor, es hat Sinn, dass die Idee hinter dem Werk wichtiger wurde als dieses selbst; Museen sind sakrale Institutionen, die sich überholt haben, das sagt die Avantgarde seit langer Zeit und seit langer Zeit zu Recht.
Aber Städtebesucher wollen ja irgendwohin gehen, wenn die Nachmittage lang sind, und ohne Museen blieben viele Seiten in den Reiseführern leer. Da es Museen geben muss, müssen sie auch etwas ausstellen, und das muss ein Ding sein, kein Gedanke, ebenso wie Sammler nun mal etwas aufhängen wollen, und aufhängen kann man Bilder besser als Ideen. Zwar hat einmal ein ironisch kluger Geist ein Urinal ins Museum gestellt, um die Institution zu verspotten und das heilige Getue und die Kunstfrömmigkeit, doch er wollte auch Geld und Ehre, und vor allem wollte er bewundert werden auf die alte Art, und so steht eine Replik des Originals noch immer auf ihrem Sockel, umgeben von heiligem Getue und Kunstfrömmigkeit. Obwohl die Theorie vom überholten Museum richtig ist, hat das Museum gewonnen, das Urinal wird bestaunt, und nach der Theorie fragen nur mehr Studenten im zweiten Semester.
Oft denke ich an die Künstler des Mittelalters. Sie signierten nicht, sie waren Handwerker, die Gilden angehörten, sie waren verschont von der Krankheit, die man Ehrgeiz nennt. Kann man es noch machen wie sie, kann man arbeiten, ohne sich wichtig zu nehmen – malen, ohne Maler zu sein? Anonymität hilft nicht, das ist nur ein schlaues Versteck, nur eine andere Form der Eitelkeit. Doch malen in eines anderen Namen, das ist eine Möglichkeit, das funktioniert. Und was mich jeden Tag von neuem wundert: Ich bin glücklich dabei.
Die Idee kam mir schon am dritten Tag. Heinrich schlief neben mir, das Meer warf seine Lichtreflexe an die Decke, und mir fiel ein, wie ich aus ihm einen berühmten Maler machen könnte. Was ihn auszeichnete, was ihm fehlte, was ich zu tun vermochte, das stand mir klar vor Augen. Er würde sich gut im Fernsehen und auf Magazinfotos machen, er würde blendende Interviews geben. Das einzige Hindernis waren die Bauernhäuser. Diplomatie würde vonnöten sein.
Ein paar Wochen später sprach ich zum ersten Mal davon. Wir hatten gerade die jüngsten Werke betrachtet: ein Bauernhaus mit Heuschober, ein Bauernhaus mit mähendem Bauern, ein Bauernhaus mit knorrig aufgereihter Familie sowie Hahn, Misthaufen und Wolken.
«Nehmen wir an, dass es möglich ist, berühmt zu werden, indem man ausnahmsweise die Vorgaben erfüllt und tut, was opportun ist. Was dann? Man hätte eine Welt verspottet, die es verdient, und zugleich hätte man sich geholt, was einem gebührt. Was wäre schlecht daran?»
«Dass es einem in diesem Fall nicht gebührt.» Selbstgerecht, wie nur Verlierer es sein können, stand er vor mir. Sein schmales Gesicht, die fein gezeichnete Nase, die funkelnden Augen, die grauen Haare und die Lodenjacke mit den Silberknöpfen – alles wie geschaffen für die Magazine.
«Es wäre ein Verbrechen ohne Opfer», sagte ich. «Niemand verliert etwas.»
«Man selbst verliert etwas.»
«Aber was denn? Seine Seele?» Ich zeigte auf die Bauernhäuser. «Oder die Kunst?»
«Man verliert beides.»
Und beides gibt es nicht, wollte ich antworten, aber ich schwieg. So also geht es, dachte ich: mit Stolz. Indem man stolz ist, lässt es sich aushalten, mittelmäßig zu sein. «Und wenn man es … als Experiment sozusagen, als Versuch … Wenn man beides nicht so wichtig nimmt? Sich selbst und die Kunst?»
Wir lachten, aber wir wussten, er genau wie ich, dass ich es ernst meinte.
«Und was», fragte ich eine Woche darauf, «wenn man etwas wagen würde? Man malt ein paar Bilder, von denen man sich ausrechnen kann, dass sie den Leuten, auf die es ankommt, gefallen. Die schreibt man dann dir zu. Und später macht man öffentlich, dass es ein Scherz war.»
«Witzig wäre es schon», sagte er nachdenklich.
Ich hatte die ersten drei schon fertig. Einen Boulevard bei Malaga, verunstaltet von einer Dalí-Plastik, gemalt im fahl-naturalistischen Stil Zurbaráns, eine verregnete deutsche Fußgängerzone in der verschatteten Technik des späten Rembrandt und Tristia 3, bis heute eines seiner bekanntesten Werke – ein unwirklich hoher Museumsraum, an dessen Wänden bedrohliche Fett- und Filzplastiken in Vitrinen ausgestellt sind, und in der Mitte, verstört und traurig, ein kleiner Junge neben einer ekstatisch strengen Kunsterzieherin: pastose Pinselstriche, dazwischen Lücken und Spalten, durch die das Weiß der Leinwand dringt.
«Heinrich Eulenböck», erklärte ich, als ich ihm die Bilder zeigte. «Ein zurückgezogener Aristokrat, ein stolzer Außenseiter, der die Kunst seiner Zeit mit Verachtung verfolgt und keine Entwicklung versäumt hat. Auf vielen Bildern, ausgeführt mit feinem Spott, findet sich irgendwo die Arbeit eines Künstlers jener Gegenwart abgebildet, die er für nichtswürdig hält. Alles hat er gesehen, alles hat er gezählt, alles hat er gewogen und am Ende für zu leicht befunden.»
«Aber ich bin kein Aristokrat. Mein Vater hatte eine kleine Fabrik in Ulm. Die habe ich verkauft, als ich zwanzig war.»
«Willst du sie selbst signieren?»
Er schwieg lange. «Wahrscheinlich kannst du auch das besser.»
Seine Unterschrift war tatsächlich nicht schwer zu imitieren. Ich setzte sie auf alle drei Bilder, dann machte ich Fotos und schickte sie zusammen mit einem Aufsatz über den eigenwilligen Außenseiter, den ich entdeckt hatte, an meinen Studienkollegen Barney Wesler, der gerade eine Gruppenausstellung in der Schirn vorbereitete: Realismus der Jahrtausendwende. Sofort wollte er sie präsentieren. Zwei Tage nach der Eröffnung erschienen zwei lange Artikel in Tageszeitungen, die die Bilder Eulenböcks ekstatisch priesen: Der eine stammte von einem namhaften Max-Ernst-Spezialisten, der andere von mir, beide sprachen wir von der größten Entdeckung des Jahres. Bald darauf tauchte in Heinrichs Atelier ein junger Mann auf, der für TEXTE ZUR KUNST schrieb. Sein Interview wurde einen Monat später unter dem Titel Art, For Me, Is A Cathedral publiziert, ergänzt um ein Foto, auf dem Heinrich unerhört adelig und herablassend aussah. Ein anderes Interview erschien im Stern. Sieben Seiten mit Fotos: Heinrich auf den Zinnen eines alten Festungsturms, an Bord einer Yacht, am Steuer eines Sportwagens, obwohl er gar nicht Auto fahren konnte, in einer Bibliothek, das Mundstück einer chinesischen Pfeife zwischen den Lippen. Seine Gemälde sah man nicht.
Nie habe ich jemanden besser eine Rolle spielen sehen. «Warhol? Ein Werbegraphiker!» – «Lichtenstein? Das Land oder der Scharlatan?» – «Kitschiger als Balthus ist nur der Katzenkalender.» – «Klimt, die Apotheose des Kunsthandwerks!» Solche Sätze gefielen jedem. Er wiederholte sie in Dutzenden Zeitungsinterviews, er wiederholte sie im Fernsehen, er wiederholte sie, als er seine Ausstellungen eröffnete, er wiederholte sie bei der Präsentation von Leroy Hallowans’ Buch Eulenböck oder Die große Verneinung, und er wiederholte sie wörtlich, zuverlässig und ohne Abänderung, in Godards kurzem Dokumentarfilm Moi, Eulenböck, maître.
«Und wann lassen wir es auffliegen?», fragte ich.
«Vielleicht noch nicht.»
«Jetzt wäre ein guter Moment.»
«Schon möglich, aber …»
Ich wartete, doch er sagte nichts weiter. Wir saßen in einem Pariser Restaurant, und wie schon oft in letzter Zeit sah ich seine Hand zittern; der Suppenlöffel kam immer wieder leer bei seinen Lippen an. Offenbar hatte er vergessen, worüber wir gerade noch gesprochen hatten.
Dann erschien meine Dissertation. Ich hatte das Thema gewechselt, nun lautete der Titel Heinrich Eulenböck: Von der Ironie der Tradition zum Realismus der Ironie. Auf 740 Seiten erörterte ich die Geschichte eines einsamen Spötters und spät geborenen Meisters aller Techniken der abendländischen Malerei, der erst im Alter künstlerisch zu sich selbst gefunden hatte.
Ich musste natürlich auch die Bauernhäuser loben. Inzwischen hatten ja auch sie ihre Anhänger gefunden: Einigen Sammlern galten sie als Beweis, dass schlichte Schönheit noch nicht passé war, anderen als hintergründige Satire. Ich diskutierte ausführlich beide Möglichkeiten und vermied es, mich festzulegen: Der Reichtum liege in der Ambivalenz, also darin, dass der Künstler die Ironie ironisiere und den Spott verspotte, unterwegs zu einem im Hegel’schen Sinn aufgehobenen Pathos.
«Wann lassen wir es auffliegen?», fragte ich wieder.
Wir waren in einem Hotelzimmer in London, Regen trommelte ans Fenster, das Frühstück stand unberührt auf dem Schiebetisch des Zimmerservice, und im Fernsehen nahm Saddam Hussein eine Parade ab. Heinrichs Elfenbeinstock lehnte an der Wand, daneben die silberne Krücke, die ich ihm kurz zuvor geschenkt hatte – zum Gehen brauchte er inzwischen nicht mehr einen Stock, sondern zwei.
«Du bist so jung. Du verstehst nichts.»
«Was verstehe ich nicht?»
«Du kannst das nicht verstehen.»
«Aber was denn?»
Ich starrte ihn an. Ich hatte noch nie einen Erwachsenen weinen sehen, ich war verblüfft, das hatte ich nicht erwartet. Sicher, ich hatte gewusst, dass er nie mehr den Schritt zurück würde machen können, aber was war so schlimm daran? Beim besten Willen, ich verstand nicht.
Er hatte recht gehabt. Ich war wirklich noch sehr jung.
Ein halbes Jahr nachdem Heinrich entschieden hatte, der Maler zu bleiben, für den man ihn hielt, weiterhin auszustellen, Interviews zu geben, Bilder zu verkaufen und berühmt zu sein, kam mein Vater zu Besuch.
Wir gingen im Studio unserer Arbeit nach. Ich saß vor meinem neuen PC und schrieb an dem Aufsatz Realismus als Ideologiekritik bei Heinrich Eulenböck, während Heinrich mit zitternder Hand auf seinem Skizzenblock strichelte. Das konnte er stundenlang tun, und manchmal kamen dabei noch Zeichnungen heraus. Da läutete das Telefon, und Arthur, ohne mir zu erklären, wie er an diese Nummer gekommen war, sagte, dass er in der Nähe sei und jetzt vorbeikommen könne.
«Jetzt?»
«Ja.» Wie immer klang er überrascht darüber, dass mich das überraschte. «Kein guter Moment?»
Als er eine halbe Stunde später auf der Türschwelle stand, schien er mir müde und abgekämpft zu sein, er schwitzte und war schlecht rasiert. Heinrich begrüßte ihn mit den Gesten des Grandseigneurs, sagte: «Willkommen!», und: «Viel gehört habe ich von Ihnen», und: «Welche Ehre, welche Freude», worauf mein Vater mit verhalten-ironischer Höflichkeit reagierte. Wir setzten uns zu Tisch, die Haushälterin stellte eilig in der Mikrowelle gewärmtes Essen vor uns hin. Arthurs Augen blitzten, während Heinrich über Warhol – «ein Werbegraphiker!» –, Lichtenstein, Beuys und Kaminski sprach. Leider hatte er sich angewöhnt, die gut eingeübten Interviewsätze auch dann von sich zu geben, wenn kein Mikrophon in der Nähe war. Er beschrieb ausführlich seine Begegnung mit Picasso, und ich, der ich wusste, dass er Picasso nie getroffen hatte, musste aufstehen und hinausgehen, um ihn nicht zu unterbrechen.
Als ich zurückkam, beschrieb er gerade die Vernissage, die sein New Yorker Galerist Warsinsky zuletzt für ihn veranstaltet hatte: wer da gewesen sei, was die Kritiker geschrieben hätten, welche Bilder für wie viel verkauft worden seien. Sein Schnurrbart wippte, seine Unterlippe zitterte, und wann immer er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte, klopfte er auf den Tisch.
Um das Thema zu wechseln, fragte ich Arthur, woran er zurzeit arbeite. Ich wusste, dass er die Frage nicht mochte, aber es war doch immer noch besser, als Heinrich zuzuhören.
«Wird wahrscheinlich wieder ein Krimi. Ein klassisches Locked Room Mystery. Für Leute, die Rätsel mögen.»
«Gibt es denn eine Auflösung?»
«Aber ja! Es wird sie nur keiner bemerken. Sie ist gut versteckt.»
«Ist das eigentlich auch in Familie so?»
«Nein. In dieser Geschichte ist die Auflösung wirklich die, dass es keine versteckte Auflösung gibt. Keine Erklärung und keinen Sinn. Genau darum geht es.»
«Aber genau das stimmt doch nicht! Oder vielmehr stimmt es nur, wenn man es so erzählt, dass es stimmt. Jedes Dasein, vom Ende her gesehen, besteht aus Schrecken. Jedes Leben wird zur Katastrophe, wenn man es auf so eine Art zusammenfasst, wie du es machst.»
«Weil das die Wahrheit ist.»
«Nicht die ganze. Nicht ausschließlich. Nachmittage wie heute, Orte wie dieser …» Mit unbestimmter Geste zeigte ich auf das Fenster, das Meer, unseren Tisch, auf ihn, auf mich, auf Heinrich. «Alles vergeht, aber das heißt noch lange nicht, dass es Glück nicht gibt. Glück ist sogar die Hauptsache. Es kommt auf die Momente an, die guten Momente. Für sie lohnt es sich.»
Arthur setzte zu einer Entgegnung an, aber Heinrich kam ihm zuvor. Er habe eine Frage. Wie dieser Unsinn denn bitte gemeint sei, dass es ihn nicht gebe? So habe es in diesem Buch gestanden. Da habe gestanden, ihn gebe es nicht! Aber es gebe ihn ja. Er sitze hier!
«Nicht zu leugnen», sagte Arthur.
Aber im Ernst, das sei doch absurd!
Heinrichs Ausbruch überraschte mich. Ich hatte nicht gewusst, dass er Mein Name sei Niemand gelesen hatte, wir hatten nie darüber gesprochen.
«Wenn es absurd ist, muss man sich ja nicht ärgern», sagte Arthur. «Ist doch nur ein Buch.»
«Ohne Ausflüchte: Wollen Sie etwa sagen, dass es mich nicht gibt?»
«Und wenn ich das sagen würde?»
«Das können Sie nicht sagen!»
Arthur sah mich an. «Muss das wirklich sein?»
«Wovon redest du?»
Mit einer kreisenden Handbewegung zeigte er, genau wie zuvor ich es getan hatte, auf das Fenster, das Meer und unseren Tisch, auf sich, auf mich, auf Heinrich.
Ein paar Sekunden schwiegen wir. Ich hörte Heinrichs pfeifenden Atem und hoffte, dass er nicht verstanden hatte.
«Ein Leben ist schnell vorbei, Iwan. Wenn man sich nicht in Acht nimmt, verliert man es an Albernheiten.»
«Du musst es ja wissen.»
«Richtig, das muss ich.»
«Verlassen Sie mein Haus!», sagte Heinrich.
«Malst du eigentlich auch seine Bilder?», fragte Arthur.
Eine lange Zeit war es still.
«Verlassen Sie mein Haus», flüsterte Heinrich dann.
Arthur lachte auf. «Das ist ja unglaublich! Du malst seine Bilder, und keiner merkt es?»
«Hinaus!» Heinrich stand auf. «Hinaus!» Seine Stimme bebte, aber wenn er es darauf anlegte, hatte sie noch Kraft und Volumen. Er zeigte auf die Tür. «Hinaus!»
Während ich meinen Vater in den Flur begleitete, suchte ich nach einem passenden Satz, nach irgendetwas, das ich sagen konnte. «Wann sehe ich dich wieder?», fragte ich schließlich.
«Bald.» Es klang nicht besonders glaubhaft. Er legte mir die Hand auf die Schulter, und im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Ich ziehe mir den Kittel aus und wasche meine Hände. Klar und hell der Wasserstrahl, im Abfluss wirbeln Farbschleier. Ich verspüre ein wenig Traurigkeit, ein wenig Stolz, ein wenig Besorgnis auch, wie jedes Mal, wenn ein Bild fertig ist. Aber was soll schon passieren? Wo immer es um die Echtheit eines Eulenböck geht, gibt es eine Person, die das letzte Wort hat, und das ist der Vorstand des Eulenböck-Trusts, der Alleinerbe des Künstlers, also ich.
Der Name dieses Gemäldes steht schon seit Jahren in den Verzeichnissen: Urlaubsfoto Nr. 9. Bereits Ende der neunziger Jahre habe ich es in einem Aufsatz erwähnt, und seit fünf Jahren gibt es im Archiv der Nationalgalerie ein Dossier über die Provenienz eines Gemäldes, das einen französischen Marktplatz und eine Niki-de-Saint-Phalle-Plastik zeigt. Archive treffen Sicherheitsvorkehrungen gegen Leute, die etwas stehlen wollen, aber niemand hindert einen daran, etwas hineinzuschmuggeln. In einem halben Jahr wird John Warsinskys Galerie Urlaubsfoto Nr. 9 zum Verkauf anbieten, aber nicht, bevor der Vorstand des Eulenböck-Trusts die wichtigsten Sammler darauf hingewiesen hat. Sie alle werden das Dossier studieren, um die Provenienz zu prüfen, dann wird der Eulenböck-Trust um eine Stellungnahme zur Echtheit gebeten werden. Jeder weiß, dass der Vorsitzende des Trusts auch der Verkäufer ist, aber das stört keinen, das gehört zum Spiel, und wen sollte es auch stören, denn keiner verliert dabei. Nach eingehender Prüfung wird der Trust dem Bild – einerseits seiner makellosen Provenienz wegen, das Gemälde ging aus Eulenböcks Besitz direkt in den seines Erben über, andererseits wegen seines unverwechselbaren Stils – das Siegel der Echtheit verleihen, was umso überzeugender ist, als der führende Eulenböck-Experte, also ich, das Bild schon vor Jahren als ein zu wenig bekanntes Hauptwerk bezeichnet hat.
Dennoch bin ich vorsichtig. Zweimal habe ich Bildern, die ich selbst gemalt habe, die Bestätigung der Echtheit verweigert, ein andermal habe ich eine offensichtliche Fälschung von irgendeinem Stümper für echt erklärt. Ich gelte als eine schwierige und erratische Autorität. Die Sammler fürchten mich ebenso wie die Galeristen, oft empört man sich über die Unvorhersehbarkeit meiner Entscheidungen, und nicht selten werde ich als inkompetent verhöhnt. Niemand wird Verdacht schöpfen.
Unten auf der Straße schiebt ein Mann einen Schubkarren voll Sand. Ihm entgegen kommen drei junge Männer mit Schirmmützen. Sie bleiben stehen und blicken dem Schubkarren nach, als wäre Sand etwas Interessantes, dann lehnen sie sich mit jener angespannten Lässigkeit, wie man sie jenseits der zwanzig schon nicht mehr hat, an die Mauer und zünden sich gegenseitig Zigaretten an. Zwei Autos fahren vorbei, ein einzelnes folgt, dann wieder zwei – gleichmäßige Intervalle, es könnten Morsezeichen sein. Was, wenn das Universum lesbar wäre? Vielleicht steckt ja das hinter der erschreckenden Schönheit der Dinge: Wir bemerken, dass etwas mit uns spricht. Wir kennen die Sprache. Und doch verstehen wir kein Wort.
Wie schade, dass du mich nicht hörst, armer Heinrich. Menschen, die mit den Toten sprechen, behaupten gern, sie spürten, dass da jemand sei. Ich hatte dieses Gefühl nie. Sogar in dem unwahrscheinlichen Fall, dass du noch fortlebst, unsichtbar, frei von Gestalt und Last, sind dir unsere Angelegenheiten gleichgültig. Du stehst nicht neben mir an diesem Fenster, du blickst nicht über meine Schulter, und wenn ich mit dir rede, antwortest du nicht.
Also warum spreche ich mit dir?
Er verstand mich schon nicht mehr, als er noch am Leben war. Die letzten sechs Monate lag er fast nur noch im Bett, manchmal hatte er Wutanfälle ohne Grund, hin und wieder musste er leise lachen. Unterdessen malte ich Ein französischer Film wird gedreht, Großer Gerichtstag und Marktszene bei Barcelona. Zuweilen tauchte er hinter mir auf und sah zu. Die Marktszene interessierte ihn nicht: ein dramatischer Moment in einem Auktionshaus, das Publikum starrt gebannt zum Auktionator, der im Begriff ist, den Zuschlag für eine monochrom blaue Leinwand von Yves Klein zu erteilen. Über den Gerichtstag grinste er in sich hinein: eine zerknitterte Zeitungsseite, scheinbar herausgerissen aus dem Kunstteil der New York Times, realistisch abgebildet in allen Details, darauf rechts die hymnische Besprechung einer Billy-Joel-Biographie und links der Verriss eines Gedichtbandes von Joseph Brodsky. Nur Ein französischer Film wird gedreht machte ihn vor Freude glucksen: ein Altarbild, ganz unten die Beleuchter, Kabelträger und Statisten, eine Stufe höher ein Halbkreis von Kameraleuten, darüber die in Verehrung erstarrten Schauspieler und ganz oben, flankiert von zwei erzengelhaft wuchtigen Produzenten, der Regisseur mit seiner Sonnenbrille. Ich mochte es nie, schon bei der Arbeit daran fand ich es platt, und auch technisch war es ohne Reiz, viel zu nahe an der simplen Karikatur, aber es wurde sein beim breiten Publikum bekanntestes Bild – nicht zuletzt, weil der Regisseur wie Godard aussah. Warsinsky verkaufte es für eine Million, vier Jahre später kaufte ich es für eineinhalb Millionen zurück, um es unter der Hand für drei Millionen an einen turkmenischen Sammler zu verkaufen. Ich hoffe, ich sehe es nie wieder.
Irgendwann stand er nicht mehr auf. Der Fernseher lief, er blieb im Bett und sprach leise vor sich hin. Meist erzählte er eine Anekdote aus seiner Jugend, immer wieder die gleiche: Ein Trinkgelage kam darin vor, eine Mutprobe unter Soldaten, eine Partie russisches Roulette. Ich hörte sie jeden Tag, während ich ihm Hühnersuppe einflößte, während ich ihm auf die Toilette half, während ich sein Kissen zurechtklopfte und ihn zudeckte wie ein Kind. Er wurde schmal, seine Augen wurden trübe, und mit einem Mal hatte er auch seine Anekdote vergessen. Oft saß ich an seinem Bett und dachte nach, ob der, den ich gekannt hatte, sich wirklich noch in diesem geschrumpften Wesen versteckte.
Denn es gab weiterhin klare Momente. Einmal fand ich ihn aufgerichtet, sein Kopf wandte sich mir zu, er schien mich wiederzuerkennen, und er fragte, wann wir nach Paris fliegen würden. Er gab mir den Rat, mich auch wieder meiner eigenen Malerei zu widmen. Das sagte er wirklich: auch wieder meiner eigenen. Danach versank er mit trügerisch weisem Schildkrötenlächeln in sich selbst, ein wenig Speichel lief ihm übers Kinn, und als ich die Laken wechselte, war sein Gesichtsausdruck so leer, als hätte er seit einer Ewigkeit nicht gesprochen.
Ein andermal fragte er unvermittelt nach seiner Kontonummer. Ich musste sie auf einen Zettel schreiben, denn er wollte bei der Bank anrufen, und als ich sagte, dass das um zwei Uhr morgens unmöglich sei, begann er zu schreien, zu bitten und zu drohen. Als ich dann doch das Telefon brachte, wusste er schon nichts mehr damit anzufangen.
Oft vernahm ich seine Stimme im Traum. Wenn ich ihn nach dem Aufwachen neben mir schnarchen hörte, schien es mir für ein paar Minuten gewiss, dass er wirklich mit mir gesprochen hatte, aber wann immer ich mich daran zu erinnern versuchte, wusste ich nur noch, dass er mich um etwas gebeten und dass ich es ihm zugesagt hatte. Doch was es gewesen war, wusste ich nicht mehr.
Als er im Sterben lag, saß ich unsicher und peinlich berührt daneben und fragte mich, was der Moment von mir verlangte. Ich wischte seine Stirn ab, nicht weil es nötig gewesen wäre, sondern weil mir Stirnabwischen in dieser Situation passend erschien, und wieder wollte er mir etwas mitteilen: Seine Lippen formten Worte, aber seine Stimme gehorchte nicht, und als sich Papier und Stift gefunden hatten, war er zum Aufschreiben schon zu schwach. Für eine Weile starrten mich seine Augen an, als versuchte er, mit schierer Willenskraft Gedanken zu übertragen, aber es misslang, seine Augen brachen, sein Brustkorb senkte sich, und ich dachte: So sieht das aus, so ist es also, so geht es vor sich. So.
Seither kommen regelmäßig unbekannte Eulenböck-Bilder auf den Markt. In der Hand eines anderen Erben hätte alles eine unglückliche Wendung nehmen können, aber er hatte keine Familie. Keine Tante aus Übersee und kein entfernter Cousin tauchten auf, da war zum Glück nur ich.
Ich muss mich auf den Weg machen, die Betreuung eines Nachlasses ist ein vollwertiger Beruf. Heute habe ich noch ein Treffen zum Kaffee, ein Abendessen und ein zweites Abendessen vor mir: Besprechungen, Projekte, mehr Besprechungen. Zweifelnd sehe ich noch einmal auf die Straße hinunter, auf der sich die drei jungen Männer gerade in Bewegung setzen. Ein vierter, blond und in einem roten Hemd, kommt ihnen entgegen, und die drei umringen ihn.
Ich wende mich vom Fenster ab und betrachte Urlaubsfoto Nr. 9, als sähe ich es zum ersten Mal. Die Farben, die ich verwendet habe, sind über dreißig Jahre alt, die Leinwand ebenfalls: eine von mehreren, die ich noch zu Heinrichs Lebzeiten gekauft und in seinem Atelier abgestellt habe. Er hat sie damals berührt: Sollte je ein forensischer Experte sie untersuchen, wird er des Meisters Fingerabdrücke finden.
Ich schließe die Tür auf, gehe hinaus und schließe hinter mir ab. Der bessere Teil des Tages ist vorbei, der Rest wird Verwaltung und Gerede sein. Rumpelnd macht der Lift sich auf den Weg nach unten.
Ich trete auf die Straße. Herrje, ist das heiß. Die vier jungen Männer da vorne scheinen nur Schemen, die Helligkeit erschwert es, auf einen von ihnen den Blick zu heften. Ich muss es nur bis zur U-Bahn schaffen, dort unten wird es kühler sein. Ich wünschte, ich könnte ein Taxi rufen, aber leider gibt es keine Telefonzellen mehr. Manchmal wäre es von Vorteil, wenn ich ein Mobiltelefon hätte.
Etwas stimmt da nicht. Sie streiten sich. Die drei haben den Vierten in die Mitte genommen, jetzt packt ihn einer an der Schulter und versetzt ihm einen Stoß, und ein anderer fängt ihn auf und stößt ihn zurück. Er ist eingeschlossen. Und ich muss an ihnen vorbei.
Inzwischen kann ich hören, was sie sagen, aber ich verstehe es nicht, die Worte ergeben keinen Sinn. Mein Herz klopft, doch seltsam: Plötzlich ist mir nicht mehr heiß, und mein Kopf ist klar. Das müssen sie sein, die uralten Mechanismen, aktiviert von naher Gewalt. Soll ich in die andere Richtung gehen oder meinen Weg fortsetzen, als wäre nichts? Es sieht aus, als ob sie mich nicht beachten würden, also gehe ich weiter auf sie zu. «Ich bring dich um!», ruft einer offenbar und stößt den in der Mitte wieder, und ein anderer ruft beim Zurückstoßen etwas, das wie «Ich bring dich um!» klingt, aber auch etwas anderes heißen könnte, und ich möchte dem in der Mitte zurufen, dass er es lassen soll, es sind drei, du bist einer, gib auf, aber er ist groß und kräftig und hat ein breites Kinn und – im Vorbeigehen werfe ich einen Seitenblick auf ihn – dümmlich leere Augen. Und weil es ja so nicht bleiben kann, dass man immer stößt und wieder stößt und nichts eskaliert, schlägt einer der drei mit der Faust zu und trifft den in der Mitte am Kopf.
Aber er fällt nicht hin. So läuft es wohl in Wirklichkeit nicht ab, dass einer gleich hinfällt. Er beugt sich nur vor und bedeckt das Gesicht mit den Händen, während der, der zugeschlagen hat, wimmernd seine Faust hält. Es könnte komisch aussehen, doch das tut es nicht.
Schon bin ich vorbei. Sie haben mich nicht beachtet. Ich höre einen Schrei hinter mir. Ich gehe weiter. Dreh dich nicht um. Noch einen Schrei. Einfach weiter. Und dann drehe ich mich doch um.
Meine elende Neugier. Sehen, alles sehen, also auch das. Jetzt stehen nur noch drei da, der in der Mitte ist verschwunden, wie durch ein Zauberkunststück, denke ich. Sie scheinen zu tanzen, einer vor, der andere zurück, und es vergehen ein paar Sekunden, bis mir klarwird, dass der in der Mitte nicht fort ist, sondern auf dem Boden liegt, und sie treten und treten und treten auf ihn ein.
Ich bleibe stehen.
Warum bleibst du stehen, frage ich mich. Verschwinde, damit sie in dir keinen Zeugen erkennen. Genau das schießt mir durch den Kopf: Sei kein Zeuge! Als hätte ich es mit der Mafia zu tun und nicht mit ein paar Halbwüchsigen. Ich blicke auf die Uhr, es ist kurz vor vier, und ich rede mir zu, dass ich schnell weitergehen muss, so etwas passiert sicher ständig, so etwas sieht man nun mal, wenn man ein Geheimatelier in der übelsten Gegend der Stadt hat.
Sie treten immer noch auf den am Boden ein. Von hier aus ist er nur ein gekrümmter Schatten, ein Bündel mit Beinen. Geh weiter, befehle ich mir, sei nicht neugierig, verschwinde! Also gehe ich. Schritt für Schritt – schnell, aber ohne zu rennen.
Nur ist es die falsche Richtung. Ich gehe wieder auf sie zu. Nie habe ich so stark gespürt, dass ich nicht einer bin, sondern mehrere. Einer, der geht, und einer der dem, der geht, vergeblich befiehlt, umzukehren. Und ich begreife, dass ich nicht bloß neugierig bin. Ich werde mich einmischen.
Gleich bin ich bei ihnen. Es dauert länger, als ich erwartet habe, weil mit jedem meiner Schritte die Zeit langsamer wird: Ich durchmesse die Hälfte der Strecke, die mich von ihnen trennt, dann die Hälfte der verbliebenen Strecke und wiederum die Hälfte, wie die Schildkröte in der alten Geschichte – und mit einem Mal bin ich mir fast sicher, ich werde nie ankommen. Ich sehe ihre Beine mit den schweren Schuhen vor- und zurückschnellen, ich sehe ihre Arme sich heben und senken, ich sehe die vor Anstrengung verzerrten Gesichter, ich sehe, dass hoch oben eine Fernsehantenne leuchtet, ich sehe darüber ein Flugzeug, ich sehe einen farblosen Käfer, der winzig eine Asphaltritze entlangläuft, aber ich sehe weder Autos noch Passanten, wir fünf sind allein, und wenn nicht ich mich einmische, macht es keiner.
Jetzt wäre es wirklich gut, ein Telefon zu haben. Ich gehe immer noch. Die Hälfte der verbliebenen Strecke wird wieder eine Hälfte haben und diese wieder eine, und da verstehe ich, dass Zeit nicht nur unendlich lang ist, sondern auch unendlich dicht, zwischen einem Moment und dem nächsten liegen immer unendlich viele andere Momente; wie kann sie überhaupt vergehen?
Sie beachten mich nicht, ich könnte noch umkehren. Der Junge auf dem Boden hält die Arme über den Kopf, seine Beine sind angewinkelt, sein Oberkörper ist gekrümmt. Mir wird klar, dass das vielleicht der letzte Augenblick ist, in dem ich aus der Sache herauskönnte. Ich bleibe stehen und sage krächzend: «Lasst ihn doch!»
Sie beachten mich nicht. Noch immer könnte ich umkehren. Statt einer Antwort höre ich, wie der in mir, der nicht auf den hört, der ihn anfleht zu schweigen, laut wiederholt: «Lasst ihn doch! Hört auf!»
Sie beachten mich nicht. Was tun? Dazwischengehen kommt nicht in Frage, das kann wirklich keiner von mir erwarten. Erleichtert will ich mich schon umdrehen, aber genau jetzt halten sie inne. Alle drei, im selben Moment, als hätten sie es geprobt. Sie starren mich an.
«Was?», sagt der Größte von ihnen. Sein Gesicht ist verschattet von Bartstoppeln, er hat einen dünnen Ring in der Nase, auf seinem T-Shirt steht bubbletea is not a drink I like. Er keucht wie nach harter Arbeit.
Der neben ihm – auf seinem T-Shirt steht MorningTower – sagt ebenfalls, gedehnt und zittrig: «Was?»
Der Dritte starrt nur. Auf seinem T-Shirt ist ein grellrotes Y.
Der auf dem Boden liegt reglos und atmet schwer.
Jetzt kommt es darauf an. Jetzt muss ich das Richtige sagen, das rechte Wort finden, einen Satz, der alles entspannt, verbessert, auflöst, klärt. Es heißt ja, dass Angst einen schneller denken lässt, aber ich merke nichts davon. Mein Herz klopft, in meinen Ohren rauscht es, die Straße dreht sich langsam um sich selbst. Ich wusste nicht, dass man sich so fürchten kann, mir ist, als hätte ich mich noch nie im Leben gefürchtet, als lernte ich das Fürchten erst jetzt. Gerade war doch alles noch in Ordnung, dort oben war ich, hinter einer Stahltür, umgeben von Sicherheit. Kann der Übergang sich wirklich so schnell vollziehen, kann das Schlimmste so nahe liegen? Und ich denke: Frag dich jetzt nicht so etwas, du hast die Zeit nicht, du musst das Richtige sagen! Und ich denke: Vielleicht gibt es Momente, in denen es keine richtigen Worte mehr gibt, Momente, in denen Worte nichts mehr bedeuten, in denen Worte zerfallen, in denen Worte nirgendwo hinführen, weil es einfach egal ist, was man sagt. Und ich denke: Hör endlich zu denken auf! Und ich denke …
Da tritt bubbletea is not a drink I like auf mich zu und sagt noch einmal, aber nun anders betont, nicht mehr fragend, auch nicht überrascht, sondern als reine Drohung: «Was!»
«Er ist am Ende», sage ich. «Er kann sich nicht mehr rühren. Er ist fertig.» Gar nicht schlecht, denke ich, da ist mir ja doch etwas eingefallen. «Ihr seid viel stärker. Er hat keine Chance, das bringt doch nichts.»
«Wer bist denn du?»
Das kam nicht von bubbletea is not a drink I like, es kam von Y. Von ihm hatte ich es nicht erwartet. Er war mir harmlos vorgekommen, wie ein Mitläufer, ein Beistehender, fast ein Freund.
«Ich bin …» Aber meine Stimme ist nicht zu hören. Ich räuspere mich, jetzt geht es besser. «… niemand.» Die alte Antwort des Odysseus, erprobt und bewährt in Situationen wie dieser. «Ich bin niemand!»
Sie starren.
«Wenn er stirbt, bekommt ihr lebenslänglich.»
Sofort wird mir klar, dass das ein Fehler war. Erstens wird er nicht sterben, und zweitens bekommt niemand unter zwanzig lebenslänglich. Ein Heer von Jugendanwälten, Jugendrichtern und Jugendberatern verhindert es, keinem wird mehr so früh das Leben ruiniert, das weiß ich von meinem Priesterbruder. Aber wenn ich Glück habe, wissen sie es nicht.
«Ihr macht euch unglücklich. Die Polizei ist bestimmt schon unter –»
Es setzt sich wieder zusammen: Straße, Himmel, Stimmen, schattenhafte Gestalten über mir, und ich auf dem Boden, an die Hausmauer gelehnt. Mein Kopf schmerzt. Ich muss ohnmächtig gewesen sein.
Bleib sitzen! Du hast genug getan. Bei allen Heiligen und allen Teufeln und aller Schönheit der Welt, bleib sitzen!
Ich stehe auf.
Wie eigentümlich: Normalerweise entpuppen Menschen sich in Gefahr als kleiner, mutloser, erbärmlicher, als sie es vermutet haben. So ist es normal, so gehört es sich, so erwartet man es von sich selbst. Man ist überzeugt davon, dass man sich bei erster Gelegenheit als Feigling erweisen wird. Und jetzt das. Iwan Friedland, Ästhet, Kurator, Träger teurer Anzüge, ist ein Held. Darauf hätte ich verzichten können.
Ich komme auf die Beine. Mit der einen Hand stütze ich mich an der Mauer ab, mit der anderen rudere ich um Gleichgewicht. Diesmal muss ich gar nichts sagen – die pure Unverfrorenheit, die darin liegt, dass ich aufgestanden bin, genügt: Sie wenden sich nicht ab.
«Wer bist du denn?», fragt Y von neuem.
«Wenn ich das wüsste.» Aus so mancher schlimmen Lage hat man sich mit Witzen befreit.
«Bist du irre?», fragt Y.
Und bubbletea is not a drink I like, wie überrascht von dieser Erkenntnis, sagt: «Steck es ein, Ron. Der ist irre.»
Da fällt mir auf, dass sich etwas in MorningTowers Hand entfaltet hat, etwas Kleines und silbrig Böses. Jetzt ist die Lage ernst. Auch wenn ich dachte, sie wäre es zuvor schon gewesen – ich hatte unrecht, sie war es nicht. Jetzt ist sie es. «Wollt ihr ihn umbringen?», frage ich. Aber um ihn geht es gar nicht mehr.
«Ron!», sagt MorningTower zu bubbletea is not a drink I like. «Halt die Schnauze.»
«Nein, Ron!», sagt Y. «Du hältst die Schnauze.»
Es muss an meinem Verstand liegen, es kann nicht sein, dass sie alle den gleichen Namen haben. Übertrieben laut, um mein Herzklopfen zu übertönen, frage ich: «Wollt ihr Geld?»
Aber sie starren nur und sagen nichts, und ich habe das Gefühl, dass ich schon wieder einen Fehler gemacht habe. Der pochende Schmerz hinter meiner Stirn. Vielleicht sollte ich ihnen Geldscheine zeigen. Mein Jackett, aus dünnem Stoff geschneidert bei Kilgour in London, ist so nass, als wäre ich aus dem Wasser gestiegen. Ich führe die Hand zum Portemonnaie in meiner Innentasche, nehme wahr, dass ihre Blicke sich verändern, will die Bewegung schnell zu Ende führen, damit es keine Missverständnisse gibt, und merke, während meine Fingerspitzen schon das Leder der Brieftasche spüren, dass auch das falsch war: Y duckt sich, bubbletea is not a drink I like macht einen Satz rückwärts, MorningTowers Hand schnellt vor, berührt mich und zieht sich wieder zurück, und während ich die Brieftasche hervorhole, schießt Schmerz durch meine Brust, meinen Kopf, meine Arme, strahlt flammend aus, durchdringt Asphalt, parkende Autos, Häuser, Himmel und Sonnenball, erfüllt die Welt, wird zur Welt, kehrt zurück, ist wieder in mir. Meine Brieftasche fällt zu Boden, aber ich flattere mit den Armen, kann das Gleichgewicht halten, falle nicht.
Ich sehe die drei an. Sie sehen mich an: ruhig, beinahe neugierig, als wäre ihre Wut mit einem Mal gestillt. Nicht dumm, nicht böse, bloß verwirrt. Mir scheint es, als ob bubbletea mich sogar anlächeln möchte. Ich versuche zurückzulächeln, aber es gelingt nicht, ich fühle mich sehr schwach. Y hebt meine Brieftasche auf, blickt sie fragend an und lässt sie wieder fallen. Dann laufen sie los. Ich blicke ihnen nach, bis sie um die Ecke verschwunden sind.
Der Junge zu meinen Füßen bewegt sich. Er räkelt sich, stöhnt leise, streckt die Arme, dreht sich und versucht, auf die Füße zu kommen. Sein Gesicht ist geschwollen und blutig, aber dennoch sieht er gar nicht so schwer verletzt aus. Nein, er wird nicht sterben. Wahrscheinlich muss er nicht einmal ins Krankenhaus. Er rollt vornüber, stemmt sich mit den Ellenbogen gegen den Boden und steht schwankend auf.
«Alles in Ordnung», sage ich. «Nicht aufregen. Alles gut.»
Er sieht mich blinzelnd an.
«Alles gut», sage ich. «Alles gut.»
Er geht mit unsicheren Schritten zu meiner Brieftasche, hebt sie auf und blickt hinein. Sein rechtes Auge ist geschlossen, das Augenlid zuckt, Blut läuft ihm aus einem Ohr. Auf seinem roten T-Shirt steht gar nichts. «Scheiße», sagt er.
«Ja», sage ich.
«Dem Ron habe ich es letzte Woche gegeben. Jetzt haben sie mich erwischt, und ich war allein.»
«Ja», sage ich.
«Die kommen zurück», sagt er. «Die kommen, die kommen zurück, die kommen schon. Die kommen zurück.» Tief in Gedanken steckt er meine Brieftasche ein, dann wendet er sich ab und wankt davon.
Hat er gesagt, dass sie zurückkommen werden, hat er das wirklich gesagt? Vorsichtig, Schritt für Schritt, gehe ich über die Straße. Ich darf nicht hinfallen. Liege ich erst einmal, kann ich nicht mehr aufstehen. Jedes Einatmen sticht, und immer wenn ich auftrete, zucken Blitze aus Schmerz. Da vorne ist die Tür, da muss ich hin, dahinter wartet der Lift, da oben ist mein Studio, sicher hinter der sicheren Stahltür, da können sie nicht hinein, da ist es sicher, da bin ich in Sicherheit, wenn sie zurückkommen.
Die Straße ist so breit. Ich darf nicht ohnmächtig werden, es sind doch nur ein paar Schritte.
Und weiter. Er hat meine Brieftasche genommen!
Und weiter. Wenn sie wirklich alle Ron heißen, wird es nicht schwer sein, sie zu finden. Aber vielleicht haben sie das nur gesagt, um mich zu täuschen.
Und weiter. Kann es sein, dass die Hitze den Asphalt aufweicht, ist das möglich? Meine Schuhe sinken ein, und kleine Wellen laufen über die klebrige Masse.
Und weiter. Da, die Tür, der Schlüssel in meiner Hosentasche, der Schlüssel muss in die Tür, die Tür zum Schlüssel, aber ich bin noch immer nicht angelangt. Warum ist hier niemand? Kein Auto, kein Mensch an den Fenstern, aber vielleicht ist das gut so, denn wenn jemand hier wäre, könnten es auch die drei sein, er hat gesagt, sie kommen zurück. Die Tür. Der Schlüssel. Es muss der richtige sein, der für die Haustür, nicht der fürs Atelier, auch nicht der für meine Wohnung, denn dort bin ich nicht, ich bin ja hier.
Und weiter. Nur ein paar Schritte noch. Ein paar noch. Und noch ein paar. Los. Noch ein paar. Ein paar Schritte. Der Schlüssel. Die Tür. Hier.
Er gleitet ab, schrammt übers Metall, das Schlüsselloch weicht aus, nach rechts, nach links, meine Hand zittert, aber ich kann es tasten, den Schlüssel hinein, umdrehen, die Tür geht auf, ins Haus, die Liftkabine, ich drücke den Knopf für den fünften Stock, die Kabine macht einen Ruck.
Ein Mann steht neben mir, eben war er noch nicht da. Er hat eine hässliche Zahnlücke und einen zerbeulten Hut. Er sagt: «Jägerstraße 15b.»
«Ja», sage ich. «Das ist hier. Das ist die Adresse dieses Hauses. Jägerstraße 15b.»
«Jägerstraße 15b», wiederholt er. «Fünfter Stock.»
«Ja», sage ich. «Wir fahren in den fünften Stock.»
Schon sind wir angekommen, die Kabine hält, die Tür öffnet sich, der Mann ist nicht mehr da, ich steige aus; jetzt hängt alles davon ab, den zweiten Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ich habe Glück, die Tür geht auf, ich trete ein und schließe hinter mir ab. Dann fasse ich den Riegel – kurz scheint es, als wolle er sich nicht bewegen, doch dann ruckt er quietschend seitwärts, und die Tür ist blockiert. Geschafft, ich bin in Sicherheit.
Ich will mich setzen. Der Stuhl steht an der anderen Wand, aber die Erleichterung gibt mir Kraft, ich gehe und gehe, und schließlich habe ich ihn erreicht. Am liebsten würde ich schlafen, lange und tief, bis alles besser ist.
Ich betaste meinen Bauch. Nass ist mein Hemd, mein Jackett, auch meine Hose, ich kann mich nicht erinnern, wann ich je so stark geschwitzt habe. Ich halte mir die Hand vor die Augen, sie ist rot.
Und da ist er wieder, mit seinem Hut und seiner Zahnlücke, und noch während ich ihn sehe, ahne ich, dass er gleich wieder verschwinden wird.
«Geh zu deinem Bruder», sagt er, «hilf ihm. Jägerstraße 15b, fünfter Stock. Geh dorthin!»
Anstatt ihm zu antworten, dass nicht mein Bruder hier ist, sondern ich, blinzle ich in die Richtung von Urlaubsfoto Nr. 9, und dort ist er schon wieder und blickt von außen herein, kein schlechtes Kunststück, im fünften Stock auf dem Sims das Gleichgewicht zu halten! Ich kann es an seinen Lippen ablesen: Jägerstraße 15b, fünfter Stock, und ich möchte rufen: «Sie da, ich weiß, wo ich bin!», aber es ist mir zu anstrengend, und jetzt ist er auch schon wieder weg.
Mir ist kalt.
Tatsächlich, ich schlottere. Meine Zähne klappern, und wenn ich mir die Hand vor die Augen halte, sehe ich sie zittern. Heinrich kommt herein, mit Schnurrbart, Stock und Krücke, er tritt ans Fenster. Hinter seinem Kopf bewegt sich ein Flugzeug durch die Schlieren der Scheibe, wie ein Fischchen, das durch Wasser schwimmt, und schon sind wir beide auf einer Wiese, und ich bin kleiner, als ich eben noch war, und Papa und Mama sagen, dass ich Wasser trinken soll, und ich frage Papa, ob er nicht gerade noch Heinrich gewesen ist, und er will wissen, ob ich wirklich keinen Durst habe, und ich sage: Doch, großen Durst, und etwas entfernt von mir sitzt Eric im Gras und sieht so dermaßen aus wie ich, dass mir ist, als wäre ich er. Ich grabe zwischen den Halmen, finde einen Regenwurm und hebe ihn auf, er windet sich über meine Handfläche, Papa beugt sich über meine Schulter, und das Gefühl von Sicherheit hält auch dann noch an, als ich mich umsehe, im Studio. Statt des Wurmes ist Blut auf meiner Hand, und Heinrich sagt: Du musst jetzt raus hier, sonst ist es zu spät.
Erinnerst du dich noch an Erics Anruf, frage ich. Er sagte, seine Sekretärin hat uns verwechselt, Martin und mich, sie hat den falschen angerufen. Erinnerst du dich?
Du musst hier wirklich raus, Iwan.
Wenn sie uns nicht verwechselt hätte, dann hätte ich ihn heute Mittag getroffen, und ich wäre nicht hergekommen, und das alles wäre gar nicht geschehen, ist das nicht kurios?
Sehr kurios, aber du musst hier raus. Sonst ist es zu spät.
Zu spät … Wieso habe ich ihnen eigentlich nicht meine Uhr gegeben? Eine TagHeuer, viertausend Euro, vor zwei Jahren in Genf gekauft. Wenn ich sie ihnen gegeben hätte, hätte ich nicht in die Innentasche greifen müssen. Ich sehe auf die Zeiger. Zehn nach vier. Zehn nach vier. Zehn nach vier. Elf nach vier.
Schön und gut, sagt Heinrich, aber ich schlage vor, dass du aufbrichst.
Wohin?
Na hinaus.
Wohin?
Hauptsache hinaus.
Dort hinaus?
Irgendwo hinaus.
Er hat leicht reden, aber es stimmt, es war ein Fehler zurückzukommen. Dieses Haus steht leer, bis auf ein einziges Stockwerk, das Warenlager, aber auch dort habe ich nie einen Menschen gesehen. Auf Händen und Knien muss ich zur Tür, vorbei an Urlaubsfoto Nr. 9 und den hämischen Kindern, quer über das Lichtviereck, das die Sonne auf den Boden wirft, ein paar Meter weiter ist schon die Tür, dort muss ich mich aufrichten, damit ich Klinke und Riegel erreiche, und draußen bin ich.
Also schiebe ich mich aus dem Stuhl, sinke auf den Boden und krieche los. Ich habe noch Kraft, es geht, ich werde es bis zur Tür schaffen. Erst einmal muss ich an den Schubladen vorbei, in der untersten, die ein wenig offen steht, sind die Pinsel, all meine Pinsel, aber ich weiß nicht, wie ich jetzt, genau jetzt, den richtigen finden soll. Es ist nicht leicht, es sind sehr viele, außerdem suche ich keinen Pinsel!
Aber was suche ich denn sonst?
Es wird mir einfallen. Bei den Schubladen. Kalt der Boden an meinen kalten Händen, rissig der Boden an meinen rissigen Händen, rau der Boden an meinen rauen Händen, weiter. Ich darf nicht zu dem Bild sehen, damit ich den Kindern nicht auffalle, und ich muss dem hellen Viereck ausweichen.
Aber was war denn damit? Mit dem hellen Viereck, was war damit?
Ich weiß es nicht mehr. Hilf mir, mach die Tür auf, ich schaffe das mit dem Riegel nicht. Unten auf der Straße wird mich jemand finden, man wird einen Arzt rufen. Und wenn der Arzt fragt, was ich in dieser Gegend verloren habe? Aber warum soll er das fragen, was kümmert ihn mein Studio, was eine Handvoll falscher Bilder, die man nicht einmal falsch nennen kann, sie sind echt, die Fälschung bist du, armer Heinrich, hilf mir mit der Tür! Ich muss hinaus, bevor ich ohnmächtig werde.
Wenn du das weißt, weißt du doch auch, dass du hier allein bist.
Ja, das weiß ich. Und?
Iwan.
Ja?
Wenn du allein hier bist.
Ja?
Dann kann ich dir nicht mit dem Riegel helfen.
Nein?
Iwan.
Ja, ich verstehe. Ja. Dann muss ich. Weiter. Aber wenn ich unten bin und die drei kommen zurück, was mache ich? Können sie etwa herein, haben sie einen Schlüssel? Vielleicht haben sie mit der Brieftasche auch meine Schlüssel genommen.
Wenn sie ihn genommen hätten, dann wären doch sie jetzt hier und nicht du.
Wieso?
Weil du keinen Schlüssel hättest.
Aber was wollen sie denn hier?
Gute Frage. Vielleicht kriechst du lieber weiter.
Aber –
Es ist eilig.
Aber –
Es ist wirklich eilig, Iwan.
Nie ist mir aufgefallen, dass dieses Studio groß ist. Blickt man von hier unten zum Fenster, dann ist da viel mehr Himmel, viel mehr Blau als sonst. Ich vermute, dass es draußen noch immer heiß ist, aber ich spüre es nicht, mir ist kalt. Jetzt tut es wieder sehr weh. Müsste man nicht einatmen, wäre alles leichter, man kann es einschränken, aber ein klein wenig atmen muss man doch, das brennt wie Feuer. Es ist wohl der Schmerz, der mich wach hält. Denn ich bin so müde, und immer wieder wird es kurz dunkel, aber dann atme ich wieder ein, und im selben Moment tut es so weh, dass ich wach bin, verstehst du?
Iwan, ich bin nicht hier.
Das warst du nie. Seit dem Nachmittag beim Hypnotiseur. Immer anderswo. Aber bist du gar nicht beeindruckt? Dein Sohn, der Held?
Ich werde nie davon erfahren, Iwan. Niemand wird das, wenn du es nicht bis zur Tür und nach draußen schaffst. Kriech weiter, verfang dich nicht im Gras.
Weißt du noch, wir beide im Sandkasten? Du hast Türme gebaut, und ich habe sie umgeworfen, und dann hast nicht du geweint, sondern ich, bis Papa gekommen ist und «Eric, hör auf!» gesagt hat, dabei bist du es gar nicht gewesen.
Das Gras ist so hoch. Aber wenn sie doch zurückkommen? Dort steht wieder der dürre Mann und rückt an seinem Hut und sagt: «Jägerstraße 15b, fünfter Stock!» Er hebt die Hände, um sich Gehör zu verschaffen, wippt nervös auf seinen Füßen. «Dort findest du ihn, dort ist dein Bruder!»
Nein, sage ich, ich bin dort, und das ist hier.
Aber er hört mir nicht zu, so eilig hat er es, die Information erneut loszuwerden: «Jägerstraße 15b, fünfter Stock!» Er hüpft und winkt, von seiner Ruhe ist nichts mehr übrig, tatsächlich verblasst er schon, und ich weiß, ich werde ihn nicht mehr sehen.
Eiskalt ist es, aber ich bin in Sicherheit. Die drei werden mich nicht finden. Die Tür ist versperrt, und selbst wenn sie den Schlüssel haben, ist das Gras zu dicht. Auf und ab steigt alles, vor und zurück, in Wellen alles, auf und ab. Dieses Haus steht nicht immerdar, und selbst das Blau dort draußen bleibt nicht immer blau. Nur ich bleibe, ich muss da sein, mich muss es geben, denn ohne mich wäre all das nicht, weil keiner es sähe. Der kalte Boden hart unter meiner Schläfe. Und ein Wiegen, als wäre ich wieder auf dem Boot.
Weißt du noch, als wir nach Tanger fuhren, du und ich und Mama und Papa, und die Fähre uns abends über die Meerenge trug? Sechs Jahre alt waren wir, und bei der Abfahrt in Algeciras war die Luft voll Blütengeruch und süßem Benzin, die Sterne ein Flimmern um den Kupfermond, und Papa trägt uns beide auf dem Arm, und Mama folgt uns, und auf dem Boden schläft ein dicker Kerl mit Bartstoppeln, den Mund weit offen, seine Brust hebt und senkt sich, und ich ahne, dass ich mich auch an ihn für immer erinnern werde, aber dann stach die Fähre in See, und die Küste wurde ein Lichtflimmern, und neben uns die bleichen Felsen und die Geräusche der Wellen, und alle vier gehören wir zusammen, das wird nie anders sein, und ich weiß, während ich den Kopf auf seine Schulter lege, dass ich gleich einschlafen werde, obwohl ich nicht einschlafen will, Nacht auf allen Seiten, nur die Sterne sehr nah über uns, mehr davon als je, bald wird Afrika auftauchen, nur hat mich jetzt der Schmerz beim Einatmen wieder daran erinnert, dass der Boden so hart ist, und kalt ist es auch wieder, immer geht es auf und ab, und ich denke daran, wie aufgeregt wir beide am ersten Tag gewesen sind, natürlich hat man uns nebeneinandergesetzt, es sollten ja alle merken, dass wir gleich aussehen, und die Eltern stehen hinten an der Wand, und die Lehrerin sagt, seid ihr eigentlich einer oder zwei, und die Frage kommt mir so schwierig vor, dass ich mich zu Papa und Mama umdrehe, aber die lächeln und schweigen, als wollten sie uns bedeuten, dass wir von jetzt an selbst antworten müssen, und schau, dort flattert ein Vogel am Fenster vorbei, ich sehe nicht ihn, nur seinen Schatten im hellen Viereck, ich habe noch nie einen Vogel so langsam fliegen sehen, bald werden wir in Afrika sein, und dann ist es wieder Morgen, ich könnte ihm ja auch hinterher, ich möchte so gerne wissen