Dick Francis Gefilmt

Kapitel 1

Naßgeschwitzt, durstig, eingeengt und zum aus der Haut fahren müde.Zynisch zählte ich meine Leiden.Sie waren beträchtlich. In mehr als einer Hinsicht beträchtlich.

Ich saß auf dem Fahrersitz einer aerodynamischen Sportwagen-Sonderanfertigung, dem ausrangierten Spielzeug des Sohnes eines Ölscheichs. Ich saß nun bereits seit fast drei Tagen dort. Vor mir erstreckte sich die sonnendürre Ebene bis hin zu ein paar fernen, braun und violetten Hügeln, und deren bucklige Formen blieben Stunde um Stunde genau, wo sie waren, am Horizont, denn der 150 Meilen schnelle Sportwagen bewegte sich nicht von der Stelle.

Und ich auch nicht. Verdrießlich sah ich auf die massiven blanken Handschellen, die sich um meine Handgelenke spannten. Einer meiner Arme war von innen durch das Lenkrad geführt, der andere außen rum, so daß ich regelrecht an das Steuer gefesselt war und daher fest mit dem Wagen verbunden.

Dazu kam noch die Kleinigkeit mit dem Sicherheitsgurt. Der Sportwagen sprang nur an, wenn man den Gurt geschlossen hatte. Jetzt steckte zwar kein Schlüssel in der Zündung, aber festgeschnallt war ich trotzdem: Der Gurt lag quer über meinem Magen und schräg über meiner Brust.

Ich bekam die Beine nicht aus ihrer gestreckten Sportflitzerposition heraus, um das Lenkrad mit den Füßen zu attackieren. Ich hatte es versucht. Ich war zu groß und konnte die Knie nicht weit genug anziehen. Außerdem war das Steuer auch nicht aus — möglicherweise zerbrechlichem — Kunststoff. Wer sündhaft teure Autos wie diese Spezialanfertigung baute, hatte mit Plastiklenkrädern nichts im Sinn. Das Teil hier war aus lederbezogenem Metall, mit kleinem Durchmesser, so beständig wie der Mont Blanc.

Ich hatte es gründlich satt, in dem Wagen zu sitzen. Jeder Muskel in meinen Beinen, dem Rücken und den Armen protestierte energisch gegen das Eingezwängtsein. Eine harte, schwere Eisenklammer hinter meinen Augen zog sich zu einem spürbaren Schmerz zusammen.

Es war wieder einmal Zeit für einen entschlossenen Ausbruchsversuch, wenn ich auch von zahllosen ähnlichen Versuchen wußte, daß es nicht zu schaffen war.

Ich zerrte und zog mit aller Kraft an dem Gurt und an den Handschellen, kämpfte, bis mir erneut der Schweiß übers Gesicht lief — und kam, wie zuvor, nicht einen Millimeter frei.

Ich lehnte den Kopf gegen die gepolsterte Nackenstütze und drehte mein Gesicht zu dem offenen Fenster rechts neben mir.

Ich schloß die Augen. Wie einen Hieb fühlte ich das Sonnenlicht mir auf Wangen, Hals und Schulter knallen, mit der ganzen Glut eines Julinachmittags um drei auf 37 Grad nördlicher Breite. Ich spürte die Hitze auf meinem linken Augenlid. Ich ließ Falten der Frustration und des Schmerzes auf meiner Stirn entstehen, gab meinem Mund einen Zug ins Grimmige, ließ einen Muskel am Unterkiefer zucken und schluckte wie einer, der alle Hoffnung aufgegeben hat.

Danach saß ich reglos und wartete.

Die Wüstenlandschaft war sehr still. Ich wartete.

Dann rief Evan Pentelow mit erkennbarem Zögern:»Schnitt«, und die Kameraleute nahmen ihre Augen vom Sucher. Nicht ein Windhauch fuhr in die großen bunten Schirme, die ihnen und ihrer Ausrüstung Schatten boten. Evan fächelte sich heftig mit seinem Drehplan, um so den Luftzug zu erzeugen, für den die Natur nicht gesorgt hatte, und andere aus der kleinen Gruppe unter den tragbaren grünen Polystyrol-Sonnnendächern erwachten träge zum Leben, nachdem die erbarmungslose Hitze sie vor Stunden schon ihrer Energie beraubt hatte. Der Tonmann nahm die Kopfhörer ab, hängte sie über die Stuhllehne und drehte langsam an den Knöpfen seines Nagra-Aufnahmegerätes herum, während die Beleuchter freundlicherweise den Haufen Minibrute-Lampen ausschalteten, die die Sonne unbarmherzig verstärkt hatten.

Ich sah in das Objektiv der Arriflex, die aus zwei Metern Abstand von meiner rechten Schulter jede schwitzende Pore aufgenommen hatte. Terry, hinter der Kamera, wischte sich mit einem staubigen Taschentuch den Hals, und Simon ergänzte den Bildnegativbericht für das Kopierwerk.

Von weiter hinten, aus einem anderen Winkel, hatte die Mitchell mit ihrem 300-Meter-Magazin dieselbe Szene aufgenommen. Lucky, der sie bediente, wich geflissentlich meinem Blick aus, wie er es schon seit dem Frühstück tat. Er dachte, ich sei sauer auf ihn, weil sich herausgestellt hatte, daß seine letzten Aufnahmen von gestern — auch wenn er schwor, daß er nichts dafür konnte — verschleiert waren. Ich hatte ihn unter den Umständen recht mild gebeten, darauf zu achten, daß heute nicht wieder was danebenging, da ich glaubte, nicht mehr allzu viele Wiederholungen von Szene 623 ertragen zu können.

Seitdem hatten wir sie sechsmal neu aufgenommen. Unterbrochen allerdings von einer kurzen Mittagspause, das gebe ich zu.

Evan Pentelow hatte sich laut und oft bei jedermann entschuldigt, daß wir die Szene eben immer wieder drehen müßten, bis ich sie richtig hinbekäme. Nach jeder zweiten Aufnahme änderte er seine Meinung darüber, wie sie sein sollte, und obwohl ich mich ziemlich genau an seine minutiösen Regieanweisungen hielt, hatte er sich noch kein einziges Mal zufrieden geäußert.

Jedes einzelne Mitglied des Teams, das zum Abschluß der Außenaufnahmen nach Südspanien gekommen war, wußte, welche Feindseligkeit hinter der disziplinierten Höflichkeit lag, mit der er mich ansprach — und mit der ich ihm antwortete. Angeblich hatten sie Wetten darauf abgeschlossen, wie lange ich mich beherrschen würde.

Das Mädchen, das den kostbaren Schlüssel für die Handschellen verwahrte, kam langsam von dem am weitesten entfernten grünen Sonnendach herüber, unter dem das Scriptgirl, die Maskenbildnerin und die Kostümfrau erschöpft auf ausgebreiteten Handtüchern saßen. Feuchte Haarkringel klebten am Hals des Mädchens, als sie die Wagentür öffnete und den Schlüssel ins Loch steckte. Es waren die bei der britischen Polizei üblichen Handschellen mit der Schraube, die zu öffnen man Kraft braucht, und sie hatte immer etwas Mühe, den Schlüssel um die entscheidenden letzten Widerstände herumzudrehen.

Sie sah mich ängstlich an, da sie wußte, daß ich vom Überkochen nicht weit entfernt sein konnte. Ich brachte wenigstens die Muskelbewegung eines Lächelns zustande, und die Erleichterung darüber, daß sie nicht angeschnauzt wurde, verlieh ihr den nötigen Schwung, um die Handschellen jetzt flott herunterzubekommen.

Ich schnallte den Sicherheitsgurt los und trat steif hinaus in die Sonne. Es war gut zehn Grad kühler draußen als in dem Sportwagen.

«Steigen Sie wieder ein«, sagte Evan.»Wir müssen es noch mal machen.«

Ich zog eine Lunge voll reinster Saharaluft ein und zählte im Geist bis fünf. Dann sagte ich:»Ich fahre jetzt rüber zum Wohnwagen, ein Bier trinken und pinkeln, und wir schießen das noch mal, wenn ich wiederkomme.«

Dafür würden sie den Pott nicht austeilen, dachte ich belustigt. Das mochte ein Riß im Vulkan sein, aber es war nicht der große Krakatau-Ausbruch. Ich fragte mich, ob sie auch von mir selbst eine Wette auf den Zeitpunkt der Eruption annehmen würden.

Niemand hatte daran gedacht, die Plane über den Minimoke zu decken, um ihn gegen die Sonne zu schützen. Ich stieg in den kleinen offenen Wagen, der hinter dem größten Sonnendach abgestellt war, und fluchte, als ich mich durch die dünne Baumwollhose am Leder des Sitzes verbrannte. Das Steuer war heiß genug zum Eierbacken.

Meine Hosenbeine waren bis zu den Knien hochgerollt, und an den Füßen hatte ich Strandschuhe. Sie bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu dem förmlichen weißen Hemd und der dunklen Krawatte, die ich dazu trug, doch schnitt die Arriflex mich bei der Aufnahme ja in Kniehöhe ab und die Mitchell noch weiter oben, über der Taille.

Ich fuhr den Moke ohne Hast zu der zweihundert Meter entfernten Senke, in der im Halbkreis die Wohnwagen standen.

Ein armseliger Baum warf einen dünnen Schatten, besser als nichts für den Moke, und so hielt ich dort an und ging zu Fuß zu dem Wohnwagen hinüber, der mir als Garderobe zugeteilt war.

Die klimatisierte Luft im Innern wirkte wie eine frische Brise und fühlte sich fantastisch an. Ich lockerte meinen Schlips, knöpfte den obersten Knopf an meinem Hemd auf, holte ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich müde auf die Liege, um es zu trinken.

Evan Pentelow war damit beschäftigt, eine alte Rechnung zu begleichen, und leider gab es für mich keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern. Ich hatte bisher erst einmal mit ihm gearbeitet, bei seinem ersten großen Film und meinem siebten, und zum Schluß konnten wir uns nicht mehr ausstehen. Die Lage hatte sich auch nicht dadurch gebessert, daß ich es anschließend abgelehnt hatte, unter seiner Regie zu filmen, ein Umstand, durch den ihm mindestens zwei Kassenknüller entgangen waren, die er sonst hätte ergattern können.

Evan war der Liebling jener Kritiker, die glaubten, daß Schauspieler nur spielen können, wenn der Regisseur ihnen haarklein sagt, was zu tun ist. Evan machte keine halben Sachen: Er sah es gern, wenn seine Filme als» der neue Pentelow «bezeichnet wurden, und das erreichte er, indem er die Leichtgläubigen überzeugte, daß die ganze Kiste von A bis Z auf sein Talent zurückging — und nur auf seines. Egal, was für ein alter Hase ein Schauspieler war, Evan brachte ihm rigoros sein Handwerk bei. Evan erörterte nicht, wie eine Szene gespielt, ein Wort betont werden sollte. Er schrieb es vor.

Er hatte etliche große Namen auf Normalmaß gestutzt, ihnen zweifelhaftes Lob eingebracht wie etwa:»Pentelow ist es gelungen, ein ansprechendes Spiel aus Miss XY Superstar herauszuholen. «Und er merkte sich jeden, der ihm, wie ich, keine Gelegenheit dazu gab.

Zweifellos war er ein hervorragender Regisseur, begabt mit einer außerordentlich lebhaften visuellen Vorstellungskraft. Die meisten Schauspieler arbeiteten ausgesprochen gern mit ihm, da ihnen hohe Gagen winkten und seine Filme niemals unbeachtet blieben. Nur unverbesserliche Hornochsen wie ich waren der Ansicht, daß eine Darbietung zu wenigstens neun Zehnteln die Eigenleistung des Schauspielers sein sollte.

Ich seufzte, trank das Bier, ging aufs Klo und dann hinaus zu dem Moke. Apoll, um es einmal poetisch zu sagen, wütete noch immer am gleißenden Himmel.

Der ursprüngliche Regisseur des heißen Action-Krimis, für den wir engagiert waren, war ein ruhiger Intellektueller gewesen, der sich meistens vor dem Frühstück schon einen angezischt hatte und eines Morgens um zehn nach einer Überdosis Scotch tot umfiel. Das passierte an einem freien Wochenende, das ich wandernd allein in den Bergen von Yorkshire verbracht hatte, und als ich dienstags zum Drehort zurückkehrte, hatte Evan sich bereits häuslich eingerichtet und alle in die Zange genommen.

Es war noch ungefähr ein Achtel von dem Film zu drehen. Das durchtriebene Lächeln, das er aufgesetzt hatte, als er mich kommen sah, war reine, knüppeldicke Bosheit gewesen.

Eine Beschwerde bei der Produktion hatte nur beschwichtigende Worte, aber keine erfreulichen Ergebnisse gebracht.

«Sonst war niemand von dem Kaliber frei… Wir können doch das Geld unserer Sponsoren nicht aufs Spiel setzen, oder? Nicht, wie die Dinge heute liegen. Das müssen wir realistisch sehen… Natürlich weiß ich, daß Sie normalerweise nicht mit ihm arbeiten, Link, aber hier handelt es sich um einen Notfall, verdammt noch mal… Es steht auch diesmal nicht schwarz auf weiß in Ihrem Vertrag, müssen Sie wissen, denn ich habe nachgesehen. Na ja, wir haben wohl eigentlich auf Ihre Gutmütigkeit vertraut — «

«Und darauf«, unterbrach ich trocken,»daß ich vier Prozent von den Bruttoeinnahmen kassiere?«

Der Produktionsleiter räusperte sich.»Ehm, wir hätten unsererseits nicht den Fehler gemacht, Sie daran zu erinnern, aber da Sie es schon sagen, ja.«

Belustigt hatte ich schließlich nachgegeben, wenn auch mit einem unguten Gefühl, da die Außenaufnahmen in dem Wagen alle noch bevorstanden. Ich hatte gewußt, daß Evan schwierig war, hatte aber nicht damit gerechnet, daß er es fast bis zum Sadismus treiben würde.

Mit einem Ruck brachte ich den Moke hinter dem Sonnendach zum Stehen und legte die Plane darüber, damit er nicht wieder zu glühen anfing. Ich war genau zwölf Minuten weggewesen, doch als ich in den Unterstand trat, entschuldigte Evan sich gerade bei den Kameraleuten, daß ich sie in dieser Hitze herumhängen ließ. Terry, der eben erst die Arriflex mit einem frischen Magazin aus der Kühlbox versorgt hatte, machte eine wegwerfende Handbewegung, aber niemand raffte sich zu einer Widerrede auf. Bei vierzig Grad im Schatten hatte außer Evan niemand mehr einen Funken Energie.

«Also gut«, sagte er munter.»Steigen Sie in den Wagen, Link. Szene 623, die zehnte. Und daß es in drei Teufels Namen diesmal klappt.«

Ich sagte nichts. Von den neun vorhergehenden Aufnahmen waren drei verschleiert; blieben die sechs von heute, und ich wußte genau wie alle anderen, daß Evan jede einzelne davon hätte verwenden können.

Ich stieg ein. Wir filmten die Szene noch zweimal.

Evan brachte es fertig, selbst danach noch zweifelnd den Kopf zu schütteln, doch der Chefkameramann sagte ihm, das Licht werde zu gelb und weitere Aufnahmen seien sinnlos, da sie sich nicht auf die Szene davor abstimmen ließen. Evan gab nur nach, weil ihm kein plausibler Grund zum Weitermachen einfiel, und dafür dankte ich Apoll.

Das Team packte zusammen. Das Mädchen kam schlapp herüber und nahm mir die Handschellen ab. Zwei Arbeiter begannen den Sportwagen in Staubdecken und Planen einzumummeln, die sie am Boden festpflockten, und Terry und Lucky bauten ihre Kameras ab und machten sie transportfertig.

Zu zweit oder zu dritt zottelten alle zu den Wohnwagen hinüber, während ich Evan in dem Moke mitnahm und unterwegs nicht ein Wort zu ihm sagte. Der Bus aus der nahen Kleinstadt Madroledo war eingetroffen und hatte die beiden Nachtwächter mitgebracht. Die Bezeichnung» Bus «war schmeichelhaft für ihn — ein alter Flughafenpendler mit viel Gepäckraum und wenig Sitzkomfort. Die Firma behauptete, sie habe sich einen klimatisierten Luxus-Reisebus ausbedungen, doch tatsächlich aufgetaucht war diese Klapperkiste.

Das Hotel in Madroledo, in dem die ganze Crew wohnte, gehörte so ziemlich zur gleichen Kategorie. Die kleine Stadt im Landesinneren, weitab vom Fremdenverkehr, bot Vorzüge, über deren Bescheidenheit jeder Pauschalreiseunternehmer erblaßt wäre, doch die Produktion sagte, sie hätte uns dort unterbringen müssen, da die besten Hotels an der Küste, in Almeria, von Hunderten von Amerikanern belegt seien, die im benachbarten Wüstenabschnitt ein Westernepos drehten.

Eigentlich waren mir selbst die strapaziösen Teile dieses Films noch erheblich lieber als das letzte kleine Abenteuer, in dem ich agiert hatte, eine nebelum waberte Kletterjagd, bei der ich tagelang an Felsvorsprüngen hing, während die Requisite mir eimerweise künstlichen Gewitterregen über den Kopf schüttete. Es nützte nicht viel, wenn ich mich über die Hämmer beschwerte, die mir mitunter zugemutet wurden: Ich hätte als eine Art Stuntman angefangen, hieß es dann, was machte es da schon aus, wenn es ein bißchen kalt, ein bißchen heiß sei? Steigen Sie auf die Felskante, sagte man mir. Steigen Sie in den Wagen. Und denken Sie einfach daran, wieviel Kohle das gibt, mit der Sie sich später über Ihre Arthritis hinwegtrösten können. Nur keine Angst, sagte man, wir lassen nicht zu, daß Ihnen ernstlich was passiert — nicht bei den hohen Versicherungsprämien und nicht, solange noch fast jeder Film, den Sie drehen, die Herstellungskosten innerhalb eines Monats einspielt. Reizende Menschen, die Produzenten, mit Dollarzeichen statt Augen, Registrierkassen statt Herzen.

Abgekühlt und erfrischt traf sich das ganze Team zum Aperitif in Madroledos Vorstellung von einer amerikanischen Bar. Draußen in der Wüste stand der Sportwagen von Scheinwerfern bewacht in der warmen Nacht, ein vermummtes Etwas, das heute nicht mehr gebraucht wurde. Morgen abend oder spätestens übermorgen, dachte ich, würden wir alle Szenen abgedreht haben, für die ich ans Steuer gekettet sein mußte. Vorausgesetzt, daß Evan kein Vorwand einfiel, Szene 623 noch mal zu drehen, fehlten uns bloß noch 624 und 625, die Rettung aus höchster Not. Szene 622 und 621, in denen der Mann aus einem drogeninduzierten Schlaf erwacht und seine mißliche Lage abschätzt, hatten wir fertig, und auch die Helikopterschüsse waren im Kasten: weit ausgreifende und dann näher herangehende Luftaufnahmen, die den Sportwagen auf seinem öden, einsamen Terrain zeigten und den zusammengesackten Mann im Wageninneren erkennen ließen. Das sollten die ersten Bilder des Films sein und der Hintergrund zum Vorspann; der Hauptteil der Geschichte wurde anschließend in einer einzigen langen Rückblende erzählt, aus der hervorging, wie der Wagen und der Mann dorthin gekommen waren.

In der Bar unterhielten sich Terry und der Chefkameramann lang und breit über Brennweiten, wobei sie jeden klugen Gedanken mit einem Schluck Sangria begossen. Der Chefkameramann, im Fach auch als» Lichtsetzender «bekannt und privat als Conrad, klopfte mir sacht auf die Schulter und drückte mir ein beinah kaltes Glas in die Hand. Wir alle hatten diesen einheimischen Durstlöscher schätzengelernt, einen herben Rotwein, verdünnt mit Eis und etwas Fruchtsaft.

«Da, lieber Junge; das wirkt Wunder gegen die Austrocknung«, sagte er und nahm im gleichen Atemzug das unterbrochene Gespräch mit Terry wieder auf.»Der hat also 18 Millimeter Weitwinkel benutzt, und natürlich ist jedes bißchen Spannung aus der Szene verschwunden.«

Conrad sprach mit der Autorität dessen, der einen Oscar im Schrank stehen hat, und sagte zu jedermann» lieber Junge«, vom Generaldirektor abwärts. Mit seiner von Natur aus volltönenden Baßstimme und dem gepflegten Hängeschnurrbart hatte er den beachtlichen Status eines» Originals «erlangt in einer Branche, die auf Originale spezialisiert ist, doch hinter der Extravaganz lag ein scharfer technischer Verstand, der das Leben in vierundzwanzig Bilder pro Sekunde zerlegte und in Eastman Color dachte.

Terry sagte:»Die Beale-Film nimmt ihn nicht mehr, seit er in Ascot damals 700 Meter ohne 85 er-Filter gedreht hat und sie einen Monat überziehen mußten, bis da das nächste Rennen stattfand.«

Terry war dick, kahlköpfig, vierzig und hatte den einstigen Ehrgeiz, es zum Chefkameramann zu bringen und seinen Namen groß im Vorspann zu sehen, aufgegeben. Jetzt begnügte er sich damit, ein solider, erfahrener, gut ausgelasteter Handwerker zu sein, und Conrad hatte ihn immer gern in seinem Team.

Simon stieß zu uns, und Conrad gab auch ihm ein Glas Sangria. Simon, der Materialassistent von Terrys Crew, war unsicherer, als er es mit dreiundzwanzig hätte sein sollen, und manchmal so naiv, daß man dachte, er sei geistig zurückgeblieben. Seine Aufgabe bestand darin, vor jeder Aufnahme die Klappe zu schlagen, genau darüber Buch zu führen, wieviel Meter welchen Filmtyps verwendet wurden, und das für die Aufnahmen bestimmte Material in die Kassetten einzulegen.

Terry selbst hatte ihm gezeigt, wie man die Magazine lädt, ein Vorgang, bei dem man in völliger Dunkelheit, sozusagen blind, die unbelichtete Filmrolle in die Transportspulen einsetzt. Jeder angehende Materialassistent übt zuerst mit schon belichteten Filmresten im Hellen, so lange, bis er es auch mit geschlossenen Augen kann. Als Simon es aus dem Effeff konnte, beauftragte ihn Terry, ein paar Kassetten richtig zu laden, und erst am Ende eines langen Drehtages wurde im Kopierwerk entdeckt, daß der ganze Film vollkommen schwarz war.

Simon hatte offenbar genau das getan, was man ihm beigebracht hatte: Er war in die Dunkelkammer gegangen und hatte den Film mit geschlossenen Augen eingelegt. Und das Licht dabei brennen lassen.

Er nippte an seiner rosa Erfrischung, sah die anderen verwirrt an und sagte:»Evan hat mich sämtliche Aufnahmen, die wir heute gemacht haben, als Kopierer eintragen lassen. «Er erwartete, in unseren Gesichtern Verwunderung zu lesen, und fand keine.»Na hört mal«, fuhr er auf,»wenn doch die ersten Aufnahmen so gut waren, daß man sie kopieren kann, warum hat er dann noch so viele gemacht?«

Keiner antwortete ihm außer Conrad, der ihn mitleidig ansah und meinte:»Denk mal scharf nach, Junge. Denk nach. «Aber das war von Simon zuviel verlangt.

Die Bar war ein großer, kühler Raum, mit weiß getünchten Wänden und braun gefliestem Boden, und tagsüber angenehm, (nur daß wir dann selten da waren), abends aber ungemütlich wegen der grellen Sofittenbeleuchtung, die irgendein Banause an der Decke installiert hatte. Die vier Mädchen, die lustlos vor halbleeren Gläsern mit Limonensaft, Bacardi und Soda an einem Tisch saßen, bekamen, als es draußen dunkel wurde und das Licht anging, einen Stich ins Grüne und wurden auf einen Schlag zehn Jahre älter. Conrads Tränensäcke warfen dunkle Schatten, und Simons Kinn trat einen wenig schmeichelhaften Rückzug an.

Ein weiterer langer Abend lag vor uns, genau wie die neun vorher: stundenlange Fachsimpelei und Klatsch, unterbrochen durch einen gelegentlichen Kognak, eine Zigarre und ein spanisches Abendessen. Ich hatte noch nicht einmal einen Text für den nächsten Tag zu lernen, da mein ganzer verbaler Beitrag zu Szene 624 und 625 aus wechselndem Gestöhn und Gemurmel bestand. Was war ich froh, bei Gott, was war ich froh, bald wieder nach Hause zu kommen.

Wir setzten uns zum Essen in unseren Speiseraum, der so wenig einladend war wie die Bar. Wir setzten uns, wie es gerade kam, und ich landete zwischen Simon und der Handschellenfrau im letzten Drittel des langen Tisches. Wir waren etwa fünfundzwanzig insgesamt, alles technische Mitarbeiter außer mir und dem Schauspieler, der mir als mexikanischer Bauer zu Hilfe kommen sollte. Die Belegschaft war auf ein Minimum, unser Aufenthalt auf wenige Tage reduziert worden; die Produktion hatte die Wüstenszenen sogar, wie den übrigen Film, in Pinewood drehen wollen oder zur Not auf einem dürren Landstrich anderswo in England; doch der damalige Regisseur hatte auf dem authentischen Flirren echter Hitze bestanden — Gott schenke seiner armen Seele trotzdem Frieden.

Auf der anderen Tischseite war ein Platz frei.

Kein Evan.

«Er telefoniert«, sagte das Handschellenmädchen.»Ich glaube, das tut er schon seit wir zurückgekommen sind.«

Ich nickte. Evan rief meistens abends die Produktion an, wenn auch normalerweise nicht besonders lange. Wahrscheinlich hatte er Mühe durchzukommen.

«Ich bin froh, daß ich nach Hause kann«, meinte das Mädchen seufzend. Ihr erster Job bei Außenaufnahmen, auf den sie sich gefreut hatte, war letztlich eine Enttäuschung gewesen: eintönig, zu heiß, bierernst. Jill — ihr richtiger Name war Jill, aber Evan hatte sie bald nur noch Handschelle genannt, und die meisten vom Team hatten das übernommen — sah mich lauernd von der Seite an und fragte:»Geht’s Ihnen nicht auch so?«

«Doch«, sagte ich unverbindlich.

Conrad, der uns gegenübersaß, schnaubte laut auf:»Handschelle, meine Liebe, das gilt nicht. Wer nachhilft, fliegt raus aus der Wette.«

«Das war nicht nachgeholfen«, verteidigte sie sich.

«Aber so gut wie.«

«Wie viele von Euch sind denn an dem Pott beteiligt?«fragte ich sarkastisch.

«Alle außer Evan«, gab Conrad vergnügt zu.»Da ist auch ganz schön was zusammengekommen.«

«Und hat schon jemand sein Geld verloren?«

Conrad lachte leise in sich hinein.»Die meisten, lieber Junge. Heute nachmittag.«

«Und Sie?«sagte ich.»Sie auch?«

Er kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schräg.»Sie können zwar gewaltig in die Luft gehen, doch in der Regel für die anderen.«

«Er darf Ihre Frage nicht beantworten, verstehen Sie«, erklärte mir Jill.»Das ist auch gegen die Spielregeln.«

Aber ich hatte schon bei drei früheren Filmen mit Conrad gearbeitet, und er hatte mir tatsächlich verraten, worauf er gesetzt hatte.

Evan kam vom Telefonieren zurück, ging zielbewußt zu dem freien Platz und machte sich über seine Schildkrötensuppe her. Gleichzeitig starrte er angestrengt auf den Tisch und konnte oder wollte auf Terrys Versuche, eine Konversation in Gang zu bringen, nicht eingehen.

Ich sah Evan nachdenklich an. Er war vierzig, mittelgroß, drahtig und geladen mit aggressiver Energie. Er hatte widerspenstiges schwarzes Lockenhaar, ein Gesicht, in dem sogar die Knochen entschlossen wirkten, und stechende braune Augen. An diesem Abend waren die Augen nach innen, auf Bilder in seinem Kopf gerichtet, und das turbulente Treiben, das dort herrschte, spiegelte sich deutlich in seinen angespannten Muskeln. Verkrampft hielt er den Löffel in den Fingern, und Hals und Rücken waren stocksteif.

Ich mochte seine Verbissenheit nicht, von jeher nicht und unter keinen Umständen. Sie hatte zur Folge, daß ich mich wie blöd gegen alles sperrte, was er so beharrlich wollte, auch wenn seine Ideen Hand und Fuß hatten. An diesem Abend brodelte es wieder gewaltig in ihm, und meine Antipathie wuchs entsprechend.

Er schaufelte die britannisierte Paella, die auf die Suppe folgte, flott in sich hinein und schob dann energisch seinen leeren Teller weg.

«Also…«sagte er, und alle hörten zu. Seine Stimme war laut und höher als sonst, wie unter großem inneren

Druck. Es war unmöglich, in diesem Raum zu sitzen, ohne ihn zu hören.

«Wie Sie wissen, heißt der Film, den wir drehen, Der Mann im Wagen.«

Wir wußten es.

«Und wie Sie wissen, kommt der Wagen in mindestens der Hälfte der gedrehten Szenen vor.«

Das wußten wir auch, sogar besser als er, da wir von Anfang an dabeigewesen waren.

«Also…«Er hielt inne, schaute in die Runde, zog die Blicke auf sich.»Ich habe mit dem Produzenten gesprochen, und er ist einverstanden… Ich möchte den Schwerpunkt verlagern — die ganze Form des Films ändern. Es wird jetzt nicht nur eine, sondern mehrere Rückblenden geben. Die Handlung springt jedesmal von der Wüstenszene zurück, und jede Wüstenaufnahme wird zeigen, wie die Zeit vergeht und der Mann von Tag zu Tag schwächer wird. Eine Rettung als solche gibt es nicht mehr. Womit Ihr Part, Stephen«- damit wandte er sich direkt an den anderen Schauspieler —,»leider ganz wegfällt, aber Sie bekommen selbstverständlich die vereinbarte Gage. «Dann wandte er sich wieder dem Rest der Belegschaft zu:»Die trockenen, witzigen Szenen vom Wiedersehen mit dem Mädchen, die Sie in Pinewood gedreht haben, werfen wir raus. Statt dessen beenden wir den Film mit der Umkehrung des Anfangs. Das heißt, mit einer Hubschrauberaufnahme, die erst den Wagen groß einfängt und dann allmählich von ihm weggeht, bis er nur noch ein Punkt im Gelände ist. Ganz zum Schluß erweitert sich das Blickfeld noch, so daß ein Bauer sichtbar wird, der mit seinem Esel einen Bergrücken entlangzieht, und jeder Betrachter des Films kann für sich entscheiden, ob der Bauer den Mann rettet oder vorbeiläuft, ohne ihn zu sehen.«

Er räusperte sich in eine gebannte Stille hinein.»Das bedeutet natürlich, daß wir vor Ort hier noch viel Arbeit dranhängen müssen. Ich schätze, wir werden mindestens noch zwei Wochen hier sein, denn wir brauchen noch viel mehr Szenen mit Link in dem Auto.«

Jemand stöhnte. Evan blickte grimmig in die Richtung des Protestes und erstickte ihn im Keim. Nur Conrad traute sich, etwas zu sagen.

«Ich bin froh, daß ich hinter der Kamera stehe und nicht davor«, meinte er langsam.»Link ist schon ziemlich mitgenommen.«

Ich schob die letzten beiden Stückchen Huhn mit meiner Gabel umher, ohne richtig den Teller zu sehen. Conrad starrte mich über den Tisch hinweg an; ich spürte seinen Blick. Und auch die Blicke aller anderen. Ich wußte, es war der Schauspieler in mir, der sie warten ließ, während ich einen Bissen aß, einen Schluck Wein trank und schließlich Evan ansah.

«Geht in Ordnung«, sagte ich.

Eine Art Beben lief durch das Team, und ich begriff, daß sie in Erwartung der Explosion des Jahrhunderts den Atem angehalten hatten. Ließ ich meine Gefühle aber beiseite, mußte ich zugeben, daß Evans Vorschlag filmisch ausgezeichnet war, und ich vertraute seinem Instinkt, wenn auch nicht seiner Menschlichkeit. Für einen guten Film nahm ich vieles in Kauf.

Er war erstaunt über meine bedingungslose Zustimmung und auch begeistert. Die Bilder sprudelten nur so aus ihm hervor, schneller, als er sie in Worte fassen konnte.

«Da gibt es Tränen — und Risse in der Haut und Hitzeblasen — und furchtbaren Durst — und Muskeln und Sehnen, die vor Anspannung zittern wie Geigensaiten, und Hände, die zu Klauen verkrampft sind — und Qualen und entsetzliche Verzweiflung — und die sengende, unerbittliche, dröhnende Stille — und gegen Ende den allmählichen Zerfall der Seele eines Menschen, so daß er, selbst wenn er gerettet wird, nachher nicht mehr derselbe ist. Und es wird keinen geben, der sich diesen Film ansieht und nicht hinterher erschöpft ist und gebeutelt und erfüllt von Eindrücken, die er niemals vergißt.«

Die Kameraleute hörten zu, als würden sie das alles schon kennen, und die Maskenbildnerin sah Arbeit auf sich zukommen. Wie es schien, konnte ich mich als einziger in die Geschichte hineinversetzen, und ich spürte, wie mich innerlich ein Schauder durchlief, als ob ich wirklich sterben müßte und nicht nur so tun. Es war albern. Ich schüttelte mich; schüttelte die Illusion der persönlichen Betroffenheit ab. Wenn es etwas taugen sollte, mußte das Spiel eines Schauspielers vom Verstand, nicht vom Gefühl geleitet sein.

Er unterbrach sich in seiner Rede, wartete mit starrem Blick darauf, daß ich ihm antwortete, und ich nahm an, wenn ich mich nicht völlig von ihm überrollen lassen wollte, war es Zeit, selbst etwas beizusteuern.

«Krach«, sagte ich ruhig.

«Bitte?«

«Krach«, wiederholte ich.»Er würde anfangs auch Lärm schlagen. Um Hilfe schreien. Brüllen vor Wut, vor Hunger und Entsetzen. Halb tot würde er sich schreien.«

Evans sich weitende Augen gaben mir recht.

«Ja«, sagte er. Er holte tief Luft, hingerissen von der Art, wie seine Idee Gestalt annahm.»Ja.«

Ein Teil des inneren Brandes kühlte zu einer gesünderen, eher nüchternen Erregung ab.

«Machen Sie’s?«fragte er.

Ich wußte, daß er damit nicht meinte, ob ich die Szenen irgendwie durchziehen, sondern ob ich mein Bestes in sie hineinlegen würde. Und so, wie er sich an diesem Tag mir gegenüber benommen hatte, war die Frage auch berechtigt. Ich würde es machen, dachte ich; ich würde etwas Fabelhaftes daraus machen, aber ich antwortete ihm schnoddrig:

«Es wird kein Auge im Publikum trocken bleiben.«

Er blickte verärgert und enttäuscht drein, aber das schadete nichts. Die anderen entspannten sich und begannen wieder zu plaudern, doch etwas von seiner Erregung war auf sie übergesprungen, und es wurde der beste Abend seit unserer Ankunft.

Wir gingen also für weitere zwei Wochen in die Wüste, und sie waren lausig, aber das raffiniert gemachte kleine Abenteuer entpuppte sich schließlich als ein Kassenschlager, den auch die Kritiker zu mögen schienen.

Ich überstand die ganzen vierzehn Tage mit ungetrübter Gelassenheit, und als Folge davon gewann Conrad, der richtig geraten hatte, seine Wette und bekam den Pott.

Загрузка...