Kapitel 5

Die Damen und Herren von der Presse (oder anders gesagt, ein teilweise rasierter, Rollkragen tragender, kunstvoll-lässiger und uninformierter Verein) gähnten zum Steinerweichen, als ich im Dettrick-Saal von Randfontein House eintraf, während die Uhrzeiger noch auf halb zwölf standen.

Clifford Wenkins hatte mich in der Halle empfangen, flatterig wie zuvor und mit noch feuchteren Händen. Wir fuhren zusammen mit dem Lift hoch, wobei er mir genau erklärte, wen er eingeladen hatte und wer gekommen war. Interviewer von zwei Rundfunksendern; ich hatte doch hoffentlich nichts dagegen? Sie wollten nur gern meine Antworten auf ihre Fragen auf Band aufnehmen. Ich würde also in ein Mikrofon sprechen müssen. Schlimm? Außerdem waren da noch die Tageszeitungen, die Wochenzeitungen, die Frauenzeitschriften und ein, zwei Leute, die eigens mit dem Flugzeug von Kapstadt und Durban angereist waren.

Ich wünschte, ich hätte das Ganze nicht vorgeschlagen. Jetzt war es zum Weglaufen zu spät.

Es blieb nur eins, dachte ich, als der Lift zischend anhielt und die Tür zurückglitt, nämlich so etwas wie eine Vorstellung zu geben. Zu schauspielern.

«Warten Sie mal«, sagte ich zu Wenkins.

Er blieb mit mir vor dem Lift stehen, als die Tür sich hinter uns schloß.

«Was ist?«fragte er bang.

«Nichts. Ich brauche nur ein paar Sekunden Zeit, bevor wir reingehen.«

Er verstand es nicht, dabei war das, was ich machte, ein keineswegs nur Berufsschauspielern geläufiges Verfahren. Die Lenden gürten, nannte es die Bibel. Das Adrenalin in Bewegung bringen. Den Herzschlag ankurbeln. Geistig in den höchsten Gang schalten. Politiker konnten das in knapp drei Sekunden.

«Okay«, sagte ich.

Er seufzte erleichtert, überquerte den Korridor und öffnete eine schwere, polierte Tür auf der anderen Seite.

Wir gingen hinein.

Sie kamen von Sofas und vom Teppichboden hoch, stießen sich müde von den Wänden ab, stupsten ein oder zwei Zigaretten aus, steckten sich neue an.

«Tag«, sagte einer von den Männern, und die anderen sahen wie ein Rudel Urwaldtiere abwartend zu. Er gehörte zu denen, die am Flughafen gewesen waren. Wie sie alle hatte er keinen Grund anzunehmen, daß ich jetzt anders sein würde.

«Hallo«, sagte ich.

Nun, salopp sein konnte ich immer, wenn ich es wirklich wollte. Fast jeder gutgeschulte Schauspieler kann es.

Ich sah, wie sie sich entspannten, sah die Müdigkeit aus ihren Mienen verschwinden und das Lächeln in ihren Augen aufglimmen. Sie würden mich in ihren Artikeln jetzt nicht mehr zerreißen, auch wenn sie nachher noch mit den bissigen Fragen kamen, die sie in ihren Notizbüchern bereithielten.

Der Mann, der» Tag «gesagt hatte, offenbar ihr natürlicher Anführer, streckte zur Begrüßung die Hand aus und sagte:»Ich bin Roderick Hodge vom Rand Daily Star. Redakteur für Titelgeschichten.«

Ende Dreißig, aber bemüht zu übersehen, daß die Zeit verging: jugendlicher Haarschnitt, jugendliche Kleidung, auf jung getrimmte Art zu reden. Hatte eine gewisse Großspurigkeit an sich, aber auch etwas von dem skrupellosen Zynismus erfahrener Journalisten.

Ich gab ihm die Hand und lächelte ihn wie einen Freund an. Ich brauchte ihn als Freund.

«Also«, sagte ich,»wenn Sie es nicht alle ganz eilig haben, sollten wir uns ruhig wieder hinsetzen, und Sie können mich alles fragen, was Sie wollen… Vielleicht, daß Sie Grüppchen bilden, zwischen denen ich ein bißchen herumgehe — so nutzen wir die Zeit am Ende besser, als wenn ich mich hier einfach vor Sie hinstelle.«

Das fanden sie in Ordnung. Niemand hatte es besonders eilig, sagten Sie. Roderick meinte trocken, es werde jedenfalls niemand gehen, bevor der Alkohol anrollte, und die Atmosphäre wurde zusehends gelöster, wie bei einer Zusammenkunft von Geschäftsfreunden.

Sie stellten die persönlichen Fragen weitgehend zuerst.

Ihrer Rechnung nach war ich dreiunddreißig. Stimmte das?

Es stimmte.

Verheiratet? Ja. Glücklich? Ja. Meine erste oder meine zweite Ehe? Die erste. Für sie auch die erste? Ja.

Sie wollten wissen, wie viele Kinder ich hatte, mit Namen und Alter. Sie fragten mich, wie viele Zimmer mein Haus hatte und wie teuer es gewesen war. Wie viele Autos, Hunde, Pferde, Yachten ich besaß. Wieviel ich im Jahr verdiente, wie hoch meine Gage für Felsen gewesen war.

Wieviel gab ich meiner Frau zum Kleiderkaufen? War ich der Ansicht, daß der Platz einer Frau im Haus sei?

«Im Herzen«, sagte ich scherzhaft, und das gefiel der Fragestellerin, dem Mädchen von der Frauenzeitschrift, während es allen anderen etwas sauer aufstieß.

Warum lebte ich nicht in einer Steueroase? Ich mochte England. Ein teurer Luxus? Sehr. Und war ich Millionär? An manchen Tagen vielleicht, auf dem Papier, wenn die Aktienkurse stiegen. War ich so reich, warum arbeitete ich dann? Um Steuern zu zahlen, sagte ich.

Clifford Wenkins hatte bei einem Gastroservice Kaffee, Käsegebäck und Scotch bestellt. Die Presseleute kippten den Whisky in den Kaffee und seufzten zufrieden. Ich hielt beides getrennt, hatte aber große Mühe, dem Kellner begreiflich zu machen, daß ich meinen Alkohol ungern mit neunmal soviel Wasser verdünnt trank. In Südafrika, so hatte ich bereits festgestellt, neigte man dazu, die Gläser bis obenhin aufzufüllen, und vermutlich hatte Whisky als Longdrink in einem heißen Klima auch etwas für sich; solange es aber kalt war, verdarb man damit nur guten Scotch.

Clifford Wenkins betrachtete meinen kleinen Drink in dem großen Glas.

«Warten Sie, ich hole Ihnen Wasser.«

«Nicht nötig. Pur ist mir lieber.«

«Oh… wirklich?«

Er hastete geschäftig davon und kam mit einem ernsten, bärtigen Menschen zurück, der ein Handmikrofon mit einem langen Kabel anschleppte. Da hinter dem Bart kein Funken Humor lebte, fiel das Interview, wie ich fand, ziemlich steif aus, doch er versicherte mir anschließend, es sei genau richtig, die ideale 5-Minuten-Einlage für seine Samstagabendsendung. Er nahm das Mikrofon, das ich gehalten hatte, wieder an sich, schüttelte mir ernst die Hand und verschwand in einer Ecke, in der eine große Anzahl von Aufnahmegeräten stand.

Danach sollte ich noch ein zweites Interview geben, diesmal für ein Frauenprogramm, doch eine technische Störung war aufgetreten.

Ich wanderte mit der Zeit durch den ganzen Raum, setzte mich auf den Fußboden, auf Sessellehnen, lehnte an den Fensterbänken oder stand einfach herum.

Durch den Scotch lockerer geworden, stellten sie die anderen Fragen.

Was hielt ich von Südafrika? Es gefiel mir.

Welche Meinung hatte ich zu den politischen Verhältnissen? Gar keine, sagte ich. Ich sei erst einen Tag in ihrem Land. So schnell könne man sich keine Meinung bilden.

Die meisten Leute kamen mit vorgefaßten Meinungen angereist, bemerkten sie. Ich sagte, das hielte ich nicht für vernünftig.

Tja, und wie stand ich zur Rassendiskriminierung? Ich sagte ohne Eifer, daß jede Form von Diskriminierung meiner Ansicht nach zu Ungerechtigkeiten führen mußte. Ich sagte, ich fände es bedauerlich, daß Menschen es immer wieder für nötig hielten, andere Menschen zu diskriminieren, seien es Frauen, Juden, australische Ureinwohner, die Indianer Amerikas oder ein Freund von mir in Nairobi, der trotz überragender Leistungen beruflich nicht aufsteigen konnte, weil er weiß war.

Ich sagte auch, daß ich keine weiteren Fragen dieser Art mehr beantworten könne; und wir möchten doch bitte weggehen von der Politik und den Bürgerrechten, es sei denn, sie wollten, daß ich ihnen die Unterschiede zwischen den Wirtschaftstheorien der Tories und der Arbeiterpartei erklärte.

Sie lachten. Nein, sagten sie; das wollten sie nicht.

Sie kamen wieder aufs Kino zurück und stellten Fragen, die zu beantworten ich mich eher imstande fühlte.

Traf es zu, daß ich als Stuntman angefangen hatte? So ungefähr, sagte ich. Ich hatte Pferde durch alle möglichen Filmkulissen geritten, durch die Wälder von Robin Hood über Bosworth Field hin zum Angriff der leichten Kavallerie. Bis mich eines Tages während einer kleinen Soloszene ein Regisseur zu sich rief, mir ein paar Worte zu sprechen gab und mir sagte, ich sei im Geschäft. Eine richtig romantische Geschichte, tut mir leid, doch manchmal passiert es eben tatsächlich so.

Und dann? Oh, dann bekam ich einen besseren Part in seinem nächsten Film. Und wie alt war ich damals? Zweiundzwanzig, frisch verheiratet, lebte in einer Souterrainwohnung in Hammersmith von Bohnen aus der Dose und nahm abends immer noch Sprach- und Schauspielunterricht wie schon seit drei Jahren.

Ich stand mehr oder weniger in der Mitte des Raums, als die Tür sich hinter mir öffnete. Clifford Wenkins wandte den Kopf, um zu sehen, wer es war, zog verwirrt die Stirn kraus und eilte hinüber, um die Situation zu klären.

«Hier können Sie leider nicht rein«, sagte er.»Der Saal ist reserviert. Privater Empfang. Tut mir leid, aber würden Sie bitte — na hören Sie, das geht doch nicht… der Saal ist reserviert. Ja, hat man noch — «

Ich entnahm daraus, daß Wenkins den kürzeren zog. Eigentlich nicht überraschend.

Dann spürte ich die Pranke auf der Schulter und hörte die vertraute sonore Stimme.

«Link, mein lieber Junge. Sagen Sie diesem — äh — Menschen, daß wir gute alte Freunde sind. Er möchte anscheinend nicht, daß ich hereinkomme. Also, ich bitte Sie!«

Ich drehte mich um. Staunte nicht schlecht. Sagte zu Wenkins:

«Vielleicht kann er doch bleiben. Ich kenne ihn. Es ist ein Kameramann.«

Conrad zog jäh die Brauen hoch.»Chefkameramann, mein Junge! Als ob ich ein Schwenker wär’.«

«Verzeihung«, sagte ich ironisch.»Ein Scotch gefällig?«

«Na, so, mein Junge, ist das schon besser.«

Wenkins gab sich geschlagen und ging einen Drink für Conrad holen. Conrad schaute sich die entspannte Atmosphäre an, den wabernden Qualm, die leeren Tassen und halbleeren Gläser und die freundlichen Medienvertreter, die sich in Gruppen beieinandersitzend unterhielten.

«Mein Gott«, sagte er.»Du meine Güte. Das haut mich um. Ich hab’ es wirklich nicht geglaubt, als die mir sagten, Edward Lincoln gäbe in diesem Moment hier in Johannesburg eine Pressekonferenz. Ich hab’ gewettet, daß das nicht stimmt. Da sagten sie mir, wo. In dem Nobelzimmer oben im Randfontein. Ich solle mich selbst überzeugen. Und es stimmt.«

Gelächter stieg grollend irgendwo in seinem Bauch auf und brach als schallender Lachhusten hervor.

«Seien Sie doch still«, sagte ich.

Er breitete die Arme in einer den Raum umfassenden Gebärde.»Die wissen nicht, die wissen einfach nicht, was sie hier sehen, ja? Die haben keine Ahnung.«

«Seien Sie doch still, Conrad, verdammt«, sagte ich.

Er keuchte und schnaufte, so schwer fiel es ihm, das Lachen zu unterdrücken.»Mein lieber Junge. Ich habe nicht gewußt, daß Sie das können. Außer vor der Kamera, meine ich. Ein Dompteur und lauter zahme Tiger, die ihm aus der Hand fressen. Na, wenn das Evan hört.«»Wird er wohl kaum«, sagte ich beruhigt.»Nicht auf der anderen Seite des Erdballs.«

Er schüttelte sich vor Vergnügen.»O nein, mein Junge. Der ist hier mitten in Johannesburg. Praktisch eine Straße weiter.«

«Sagen Sie bloß!«

«Wir sind seit Sonntag hier. «Er würgte den letzten Rest seines Gelächters ab und wischte sich mit dem Daumen über die Augen.»Essen Sie mit mir zu Mittag, Junge, dann erzähl’ ich Ihnen alles genau.«

Ich sah auf meine Uhr. Zwanzig nach zwölf.

«Ja, gut. Ich muß nur erst noch was auf Band sprechen, wenn die hier ein Ersatzmikrofon aufgetrieben haben.«

Roderick Hodge löste sich von einer Gruppe am Fenster und kam mit einem herausgeputzten Mädchen an, während Clifford Wenkins mit Conrads Drink herbeieilte.

Das Mädchen, die vorgesehene Interviewerin für das Frauenprogramm, hatte ein Gesicht, das bei jeder anderen reizlos gewesen wäre; aber sie hatte auch einen wuscheli-gen braunen Lockenkopf, eine riesige, gelbgerahmte Sonnenbrille auf der Nase und eine besenstielartige Figur, die in einem braun-orange karierten Hosenanzug steckte. Die spontane Freundlichkeit ihres Auftretens bewahrte sie davor, als Karikatur zu erscheinen. Conrad würdigte ihre Farbwerte mit anerkennenden Blicken, während er erklärte, daß er in jüngster Zeit vier Filme mit mir gedreht habe.

Rodericks Aufmerksamkeit konzentrierte sich wie ein scharf eingestelltes Objektiv.

«Wie ist er bei der Arbeit?«wollte er wissen.

«Das ist nicht fair«, sagte ich.

Weder Roderick noch Conrad hörten mir zu. Conrad sah mich abwägend an, schürzte die Lippen, hielt eine Hand hoch und bog einen Finger nach dem anderen um, während er sich die Worte auf der Zunge zergehen ließ.

«Patent, potent, pünktlich, professionell und puritanisch.«

Und weithin hörbar flüsterte er mir zu:»Na, wie war das?«

«Dilettant«, sagte ich.

Roderick stürzte sich wie vorauszusehen auf den letzten Punkt.»Puritanisch. Wie meinen Sie das?«

Conrad amüsierte sich glänzend.»Seine Filmpartnerinnen bemäkeln alle, daß er sie gekonnt, aber nicht mit Gefühl küßt.«

Ich konnte förmlich sehen, wie die Schlagzeilen in Rodericks Kopf entstanden. Seine Augen strahlten.

«Meine Söhne mögen das nicht«, sagte ich.

«Was denn?«

«Als der ältere mich mal im Film eine Frau hat küssen sehen, die nicht seine Mutter war, hat er eine Woche nicht mit mir geredet.«

Sie lachten.

Aber damals war das keineswegs lustig gewesen. Peter hatte zudem — mit fünf Jahren — wieder angefangen, sein Bett naßzumachen, und sehr viel geweint, und ein Kinderpsychiater hatte uns gesagt, er tue das, weil er verunsichert sei; er habe das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, weil Papi andere Frauen küßte und sich mit Mami zu Hause zankte. Das war so bald nach Libbys Unfall eingetreten, daß wir uns fragten, ob er sich darüber auch grämte; aber wir hatten ihm nie gesagt, daß Libby krank geworden war, weil er sie fallengelassen hatte, und hatten auch nicht vor, es zu tun. Man durfte ein Kind nicht mit solchen Erkenntnissen belasten, denn ein sinnloses, unnützes Schuldgefühl konnte es in seiner ganzen Entwicklung fehllenken.

«Was haben Sie dagegen gemacht?«fragte das Mädchen mitfühlend.

«Ihn zum Ausgleich in ein paar gute, anständige Horrorfilme mitgenommen.«

«Ganz bestimmt«, sagte Conrad.

Clifford Wenkins kam aufgeregt von einer seiner hurtigen Beschaffungstouren zurück. Wieder lag der Schweiß in perlengroßen Tropfen auf seiner faltigen Stirn. Ich fragte mich flüchtig, wie er wohl zu Rande kam, wenn es Sommer wurde.

Er drückte mir triumphierend ein Mikrofon in die Hand. Das Kabel lief in die Ecke, wo die Aufzeichnungsgeräte standen.»So, das wär’s — äh — das hätten wir. «Er blickte in unnötiger Verwirrung von mir zu dem Mädchen.»Bitte schön, Katya. Ähm — alles klar, denke ich.«

Ich blickte zu Conrad. Ich sagte:»Gestern beim Pferderennen habe ich genau ein Wort Afrikaans gelernt, und das können Sie jetzt mal machen, während ich das Interview aufnehme.«

Conrad sagte argwöhnisch:»Was für ein Wort?«

«Voetsek«, sagte ich im Plauderton.

Alle kringelten sich höflich. Voetsek hieß»zieh Leine«.

Als man es ihm übersetzte, bekam Conrad einen seiner glucksenden Lachanfälle.

«Wenn bloß Evan das sehen könnte«, meinte er schnaufend.

«Vergessen wir Evan«, schlug ich vor.

Conrad legte Roderick die Hand auf den Arm und zog ihn mit sich fort, während jeder über etwas anderes lachte.

Katyas eher kleine Augen lachten hinter der riesigen, gelbgefaßten Brille.»Und dabei hieß es, auf dem Flughafen seien Sie kalt wie ein gefrorener Fisch gewesen.«

Ich lächelte sie von der Seite an.»Vielleicht war ich müde. «Ich beäugte das Notizbuch, das sie in der einen Hand hielt.»Was wollen Sie denn so fragen?«

«Ach, genau das gleiche wie die anderen, würde ich meinen. «Aber da war ein schelmisches Zähneblitzen, das nichts Gutes ahnen ließ.

«Wir können, Katya«, rief ein Mann von dem Elektronik-Arsenal herüber.»Wann immer du willst.«

«Gut. «Sie sah auf das Notizbuch nieder und dann zu mir hoch. Ich stand etwa einen Meter von ihr weg, hielt mein Glas in der einen Hand und das Mikrofon in der anderen. Sie schaute sich das mit zur Seite geneigtem Kopf an und trat dann einen großen Schritt näher. Fast auf Tuchfühlung.

«So ist das glaub’ ich besser. Es gibt zuviel Hintergrundrauschen, wenn einer von uns zu weit weg von dem Mikro steht. Ein altes Ding, wie’s scheint. Oh, und vielleicht halte ich es mal. Sie sehen etwas unglücklich damit aus. «Sie nahm das Mikrofon und rief durch den Raum:»Okay, Joe, schalt ein.«

Joe schaltete ein.

Katya zuckte entsetzlich von Kopf bis Fuß, flog mit durchgebogenem Rücken nach hinten und stürzte zu Boden.

Die leise miteinander plaudernden Leute drehten sich um, schnappten nach Luft und schrien auf, ihre Gesichter vor Schreck verzerrt.

«Ausschalten!«rief ich scharf.»Schalten Sie alles aus. Sofort!«

Roderick machte zwei Schritte und beugte sich mit ausgestreckten Händen über Katya, um ihr zu helfen, doch ich zog ihn zurück.

«Joe soll erst das verdammte Mikrofon abschalten, sonst kriegen Sie den Schlag auch mit.«

Der fragliche Joe kam mit bleichem Gesicht herübergelaufen.

«Ist gemacht«, sagte er.»Es ist jetzt abgeschaltet.«

Ich dachte, sie alle, jeder von ihnen, wüßte, was zu tun war, und würde es tun. Aber sie standen und knieten einfach rings herum und sahen mich an, als hätte ich Bescheid zu wissen und zu handeln, als hätte ich der findige Kopf aus all den Filmen zu sein, der immer, aber auch immer die Führung übernahm.

O Gott, dachte ich. Sieh dir die bloß an. Und es war keine Zeit zu verlieren. Keine Sekunde. Sie atmete nicht mehr.

Ich kniete mich neben sie und nahm ihr die Brille ab. Riß den Kragen ihres Hemdes auf. Bog ihr den Kopf zurück. Drückte meinen Mund auf ihren und blies ihr meinen Atem in die Lunge.

«Ruft einen Arzt«, sagte Roderick.»Und einen Rettungswagen. O verdammt… Beeilt euch. Schnell!«

Ich atmete in sie hinein. Nicht zu fest. Mit normaler Atemstärke. Aber immer und immer wieder, so daß ihre Brust sich hob und senkte.

Ein starker elektrischer Schlag bringt das Herz zum Stillstand.

Ich versuchte, einen Puls an ihrem Hals zu ertasten, fand aber keinen. Roderick verstand, was ich wollte, und ergriff ihr Handgelenk, aber auch da tat sich nichts. Sein Gesicht sah gequält aus. Katya war offenbar viel mehr für ihn als nur eine Kollegin.

Zwei Minuten zogen sich wie zweitausend Jahre. Roderick legte ein Ohr an Katyas linke Brust. Ich beatmete sie weiter, obwohl ich mit jeder Sekunde mehr das Gefühl bekam, daß es keinen Zweck hatte, daß sie tot war. Ihre Haut hatte die Farbe des Todes und war sehr kalt.

Er hörte den ersten Klopfer, bevor ich ihn spürte. Ich sah es an seinem Gesicht. Dann kamen zwei einzelne Stöße in dem Blutgefäß an ihrem Hals, auf das ich die Finger hielt, danach ein paar ungleichmäßige, stockende kleine Schläge und unglaublicherweise dann schließlich langsam, rhythmisch und zusehends stärker das lebensspendende Ba-bum, ba-bum, ba-bum eines Herzens, das seine Funktion wieder ausübte.

Rodericks Lippen wurden schmal und verzogen sich, als er den Kopf hob, und die Sehnen an seinem Hals traten hervor, so angestrengt war er bemüht, nicht zu weinen. Aber die Tränen der Erleichterung liefen ihm dennoch über die Wangen, und er versuchte sie mit den Fingern wegzuwischen.

Ich tat, als sähe ich es nicht, falls es ihm darum ging. Aber ich wußte — der Himmel möge mir verzeihen —, daß ich eines Tages dieses Gesicht, diese Reaktion in einen Film einbringen würde. Was immer man lernte, was immer man sah und wie privat es auch sein mochte, als Schauspieler verwertete man es irgendwann.

Sie atmete krampfhaft aus eigener Kraft ein, während ich gerade durch die Nase Atem holte. Es war ein seltsames Gefühl, als sauge sie die Luft aus mir heraus.

Ich löste meinen Mund von ihrem und hörte auf, ihre Kiefer mit den Händen offenzuhalten. Sie atmete weiter, ein bißchen schwach erst, aber dann ganz gleichmäßig, in flachen, den Körper durchbebenden, hörbaren Zügen.

«Sie muß wärmer liegen«, sagte ich zu Roderick.»Sie braucht Decken.«

Er sah mich benommen an.»Ja, Decken.«

«Ich hol’ welche«, sagte jemand, und die atemlose Stille, die den Raum erfüllt hatte, schlug um in plötzliche Geschäftigkeit. Aus lähmendem Entsetzen wurde banger Schrecken, daraus nachlassender Schrecken, und darauf trank man erst mal wieder einen Schluck Whisky.

Ich sah Clifford Wenkins auf Katyas immer noch bewußtlose Gestalt herunterschauen. Sein Gesicht war grau und sah aus wie zerlaufender Kitt; der Schweiß hatte keine Zeit zum Trocknen gehabt. Ausnahmsweise aber hatte es ihm einmal die Sprache verschlagen.

Auch Conrad schien das» lieber Junge «vorübergehend vergangen zu sein. Dabei merkte ich genau, daß die Aus-druckslosigkeit seines Gesichts nicht vom Schrecken herrührte. Er war bei der Arbeit, wie ich vorhin — er betrachtete einen Elektrounfall im Hinblick auf Kamerawinkel, Licht und Schatten, Farbeffekte. An welchem Punkt, fragte ich mich, wurde die Ausbeutung des Leidens anderer eigentlich zur Sünde?

Jemand kam mit ein paar Decken wieder, und mit zitternden Händen wickelte Roderick Katya darin ein und schob ihr ein Kissen unter den Kopf.

Ich sagte zu ihm:»Erwarten Sie nicht zuviel, wenn Sie aufwacht. Sie ist wahrscheinlich verwirrt.«

Er nickte. Ihre Wangen bekamen wieder Farbe. Sie schien über den Berg zu sein. Die Zeit der schlimmsten Befürchtungen war vorbei.

Er sah plötzlich zu mir hoch, dann auf sie runter, dann wieder zu mir hoch. Der erste Gedanke, der nicht mehr rein vom Gefühl bestimmt war, faßte Wurzeln.

Als wäre es eine plötzliche Erkenntnis, sagte er langsam:»Sie sind Edward Lincoln.«

Auch für ihn erhob sich die Gewissensfrage: Sollte er aus dem Beinah-Tod seiner Freundin Profit schlagen oder nicht?

Ich blickte mich im Raum um und er auch. Die Reihen hatten sich merklich gelichtet. Ich begegnete Rodericks Augen und wußte, was er dachte; die Presse war ans Telefon gestürzt, und er war hier der einzige vom Rand Daily Star.

Er sah erneut auf das Mädchen nieder.»Sie kommt doch jetzt in Ordnung, nicht?«sagte er.

Ich machte eine unentschiedene Gebärde mit den Händen und antwortete nicht direkt. Ich wußte nicht, ob sie in Ordnung kommen würde. Ich nahm an, daß ihr Herz kaum länger als drei Minuten ausgesetzt hatte; mit etwas Glück würde ihr Gehirn also nicht geschädigt sein. Aber meine Kenntnisse waren nur die dürftigen Überbleibsel eines lange zurückliegenden Erste-Hilfe-Kurses.

Der Journalist in Roderick trug den Sieg davon. Er stand abrupt auf und sagte:»Tun Sie mir einen Gefallen? Sehen Sie zu, daß man sie nicht ins Krankenhaus oder sonstwohin bringt, bevor ich zurück bin.«

«Ich will’s versuchen«, sagte ich; und er trat schleunigst ab.

Joe, der Tontechniker, rollte das Kabel des defekten Mikrofons zusammen, nachdem er es vorsichtig aus der Steckdose gezogen hatte. Er betrachtete es zweifelnd und sagte:»Das ist so alt — ich wußte gar nicht, daß wir’s haben. Es lag eben in der Kiste. Ich wünschte zu Gott, ich hätte es nicht genommen. Dachte bloß, das geht schneller, als wenn wir auf den Ersatz aus dem Studio warten. Jedenfalls sorge ich dafür, daß es nicht noch mehr Schaden anrichtet. Ich nehme es gleich auseinander und werfe es weg.«

Conrad kam wieder an meine Seite und sah auf Katya nieder, die Anzeichen von wiederkehrendem Bewußtsein zeigte. Ihre Augenlider flatterten. Sie bewegte sich unter den Decken.

Conrad sagte:»Es ist Ihnen doch wohl klar, mein Junge, daß Sie dieses Mikrofon bis ganz kurz vor dem Unfall selbst gehalten haben.«

«Ja«, sagte ich unverbindlich.

«Und«, sagte Conrad,»wie viele Leute hier im Raum hatten auch nur die leiseste Ahnung davon, daß die einzige Hoffnung für das Opfer eines Stromschlags in sofortiger künstlicher Beatmung besteht?«

Ich sah ihm gerade ins Gesicht.

«Haben Sie es gewußt?«

Er seufzte.»Sie sind ganz schön zynisch, lieber Junge. Nein, ich wußte es nicht.«

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