Duell auf der Zugbrücke

Es war kurz vor vier, als Tom mit Frau Kümmelsaft auf die Zugbrücke hinaustrat. Pechschwarz hing die Nacht über der alten Burg, nur der Schnee schimmerte in der Dunkelheit. Es schneite nicht mehr, aber ein ei­siger Wind strich um die Mauern und fuhr in den Glo­ckenturm der Kapelle. Unheimlich wehte ihr Läuten herüber, das war das einzige Geräusch in der nächtli­chen Stille.

Tom schauderte.

Er fühlte sich gräßlich. Das Kleid der Baronin flatter­te ihm um die Glieder, und obwohl er Jeans und Pullo­ver drunter trug, fror er erbärmlich. Auf dem Kopf hat­te er einen Schleier, damit die Baronin nicht gleich merkte, mit wem sie es zu tun hatte.

»Mannomann!« murmelte Tom. »Nur gut, daß mich keiner so sieht.«

»Ach, komm!« sagte Hedwig Kümmelsaft. »In ande­ren Ländern tragen Männer ständig Kleider, oder? Mach bitte den Spukenergie-Visualisator an.«

»Okay!« Tom knipste ein Ding an, das haargenau wie eine Taschenlampe aussah. Nur daß es eine selt­sam geformte blaue Birne hatte. Langsam ließ er den blauen Strahl über die Brücke wandern.


»Da!« flüsterte er. »Da muß es passiert sein.« Ganz rechts, am Rand der Brücke, begann der Schnee zu leuchten, als das blaue Licht auf ihn fiel. Er wirbelte hoch und rieselte bläulich schimmernd auf das dunkle Wasser des Burggrabens hinab. Ein leiser Seufzer strich durch die Nacht.

»Haben Sie etwas gefunden?« rief Herr Wurm.

Zusammen mit seiner Frau saß er in einem Ruder­boot unter der Brücke. Die beiden hatten darauf be­standen, nun auch bis zum bitteren Ende mit dabeizu­sein.

»Ja, wir haben die Stelle!« antwortete Frau Küm­melsaft.

»Aber nun keinen Laut mehr da unten, verstanden?

Sonst greift die Baronin womöglich nach Ihnen und nicht nach unserem Gutgekleideten Freund hier.«

Tom schluckte. Er sah plötzlich bleiche, lange Finger vor sich, die nach ihm griffen. Entschlossen schüttelte er den Kopf.

»Irgendwas nicht in Ordnung?« fragte Frau Küm­melsaft besorgt.

»Nein, nein«, antwortete Tom. Erste Regel der Ges­pensterjägerei: Stell dir nie zu genau vor, was auf dich zukommen könnte, rief er sich ins Gedächtnis.

Entschlossen raffte er das lange Kleid zusammen und stellte sich genau auf die Stelle, an der vorhin der Schnee aufgewirbelt war.

Sie leuchtete immer noch, aber als Tom den Spuk- energie-Visualisator ausknipste, verschwand das blaue Licht, als hätte es jemand weggewischt.

»Komisches Gefühl«, dachte Tom. »Genau da zu stehen, wo der Tod die Baronin geschnappt hat.« Für einen kurzen Augenblick fühlten seine Füße sich ganz heiß an.

Frau Kümmelsaft sah auf die Uhr. »Vier Uhr. Zeit, daß sie kommt. Bist du bereit? Deine Zähne klap­pern.«

»Das ist bloß die Kälte«, brummte Tom.

»Gut, dann geb' ich Hugo das Zeichen!« Mit einem weißen

Taschentuch winkte Frau Kümmelsaft zum Glocken­turm hinauf. Dort wartete Hugo auf seinen Einsatz.

»Hör mal, mein Lieber.« Frau Kümmelsaft legte Tom den Arm um die Schultern. »Versprich mir, nicht den Helden zu spielen. Wenn dir irgendwas komisch vor­kommt, renn weg. Oder spring in den Wassergraben. Versprochen?«

Tom nickte und blickte hinunter auf das schwarze

Wasser. An den Rändern des Grabens bildete sich schon eine Eisschicht.

»Na, da muß es aber schon sehr schlimm kommen, daß ich da reinspring«, sagte er. »Mit dem Kleid würde ich doch untergehen wie 'ne Bleiente. Kein Wunder, daß die Baronin mit dem schweren Fummel ertrunken ist.«

»Nun, notfalls können die Wurms dich ja rausfi­schen«, sagte Frau Kümmelsaft. »Aber ich hoffe, daß solche Maßnahmen nicht nötig sein werden. Boccabella hat mir übrigens berichtet, daß die Stelle, an der der Geist ihn berührt hat, sofort zu prickeln begann. So, als hätte ihn eine Brennessel berührt. Solltest du ir­gendwas anderes spüren, dann renn, verstanden? Ich warte mit dem Auto am Ende der Brücke. Du mußt al­so nur ein paar Meter zurücklegen, klar?«

»Ja, klar«, sagte Tom.

»Gut!« Frau Kümmelsaft klopfte ihm noch mal auf die Schulter. »Ich wünschte wirklich, ich könnte statt deiner hier stehen, aber meine verflixte Länge...«

»Booooohhhhh!« klang es vom Burghof herüber. »Dooos üst jötzt moiiinö Buuuuurg. Joooooo, dos üst jötzt moiiiinö, altös Mööödchön. Ooooch, nun guck doch nücht so bööösö. Komm schohoon, hol ühn dür, hoool dür dön Kohopf, Jospoooro!«

»Es hat geklappt!« flüsterte Frau Kümmelsaft. »Hu­go hat sie rausgelockt. Also, viel Glück!«

Dann rannte sie hastig über die Brücke zu ihrem Au­to.

Tom blieb allein zurück.

Der Wind fuhr ihm in das gräfliche Gewand und riß an dem langen Schleier. Tom hörte, wie Hugo näher kam, immer näher. Und er wußte, wer dem MUG folg­te, wütend und mächtig von der langen Nacht: die Blu­tige Baronin.

»Trölöööööh!« flötete Hugo und schwabbelte hastig aus dem dunklen Portal in Richtung Burggraben. »Ho- hoool ühn dür, Gröööfün!«

Unter seinem bleichen Arm klemmte wieder der Kopf des Burggespensts. Mit einem fiesen Grinsen schwebte Hugo hinauf zu den Zinnen der Burgmauer und zwinkerte Tom von oben zu. Seine giftgrünen Au­gen leuchteten wie die einer Eule in der Dunkelheit.

Hugos Verfolgerin ließ nicht lange auf sich warten.

Mit einem gräßlichen Kreischen kam die kopflose Baronin auf die Brücke geschwebt. In ihrer Wut fla­ckerte sie so hell, daß das Wasser des Burggrabens silbern schimmerte. Suchend tasteten ihre Arme durch die kalte Luft. Hugo schwebte lautlos zu ihr hinab und setzte ihr den Kopf wieder auf den Hals. Verkehrt her­um. Dann schwebte er schleunigst zurück auf die Burgmauer.

»Aaaaahhhh!« heulte die Baronin. »Du wunderlicher Witzbold!« Wütend nahm sie ihren Kopf ab und setzte ihn richtig herum wieder auf. »Veeeerschwinde endlii- iich! Hier ist kein Platz für zweiiiii Geister, hiiier.«

In dem Moment erblickte sie Tom.

Wie erstarrt hielt sie in ihrer Bewegung inne. Ihre Augen traten fast aus den dunklen Höhlen. Wahrhaft furchterregend sah das aus.

»Duuuuuuuuuuu!« hauchte sie drohend. »Weeheer bist duuu denn?«

Toms Zähne klapperten wie eine alte Schreibma­schine. Ärgerlich biß er sie zusammen.

Langsam schwebte die Baronin auf Tom zu. Sie war immer noch gewaltig groß. Tom reichte ihr kaum bis zum Bauchnabel.

»Waaaas willst du hiiieeer?« zischte sie. »Das ist

meeeiiiin Reviieeer, verstanden?«

Tom atmete ganz tief durch. Bisher klappte ihr Plan. Jaspara ahnte nicht, wer da vor ihr stand. Und sie war wütend. Das machte sie blind.

»Hallo, Jaspara!« flötete Tom mit hoher Stimme. »Scheuuuußlich siiiehst du auuus. Scheußlich wie ii- iimmer.«

Verdammt, war das schwer, wie ein Geist zu reden.

»Waaaas?« kreischte Jaspara. »Waaas sagst du da- aaa, duuu Krööötengesicht?«

Jaspara stand jetzt so nah vor Tom, daß er sie hätte berühren können. Ihr schauriger Modergeruch nahm ihm fast den Atem. Aber wenn er auch nur einen Schritt von der Stelle wich, an der Jaspara damals das Schicksal ereilt hatte, dann war alles verloren.

Also nahm Tom allen Mut zusammen und reizte sie noch mehr: »Duuu Eeekelpakeeeheet!« rief er mit ho­her Fistelstimme. »Duuuu altes Scheusaaaal.«


Da packte die Baronin zu.

Sie ergriff Toms Schleier und riß ihn ihm mit einem Ruck vom Kopf.

» Aaah!« Überrascht fuhr sie zurück. »Was iiiist da­aas? Waaas soll das? Welches Spiehiehiel treibst duu- uu kleiner Kniiiirps mit miiihiiir? Mit miiiir, Jaspara von Duuhusterberg zuhuhu Krötenstein?«

Was sollte Tom darauf antworten? Daß er sie vernichten und in wabernden Nebel verwandeln

Jetzt ist es aus, dachte er, und ich steck' in diesem verdammten Kleid! Na ja, wenn sie 'ne Pfütze aus mir macht, ist das auch egal.

»Lauf, Tom!« rief Frau Kümmelsaft ihm durch das offene Autofenster zu. »Schnell!«

Aber Tom dachte gar nicht daran. Dieser Boccabella war schließlich auch nicht weggerannt. Statt dessen rief er mit bebender Stimme: »Verschwinde hier!« Seinen Kopf mußte er in den Nacken legen, um der Baronin in die bösen roten Augen zu sehen. »Ver­schwinde! Als Mensch warst du schon ein Scheusal, aber als Gespenst bist du wirklich das allerletzte!«

»Sooooo?« heulte Jaspara und beugte sich über ihn. Tom erstarrte. Ihm wurde so kalt, daß er kaum noch etwas spürte. Den Wind nicht, die Angst nicht - und schon gar nicht seine Füße.

Frau Kümmelsaft sprang aus dem Auto und kam auf sie zugerannt. Aber kurz vor der Brücke rutschte sie auf einer vereisten Pfütze aus und plumpste kopfüber in den Burggraben.

»Hierher!« hörte Tom Herrn Wurm rufen. »Hierher, Frau Kümmelsaft!«

Die Blutige Baronin beachtete den Tumult im Burg­graben gar nicht. Sie hatte nur Augen für Tom. Immer tiefer beugte sie sich über ihn, mit einem Lächeln, das so abgrundtief böse war, daß Toms Zähne wieder un­kontrolliert zu klappern begannen.

»Looß üüühn!« heulte Hugo plötzlich. Blau vor Wut schwabbelte er von der Burgmauer herunter. »Loß ühn ün Ruuuuhö!«

»Ach? Maaaagst du den Kleiiiinen?« hauchte Jaspara boshaft. »Daaaann siiiieh mal, waaas ich mit ihm ma- cheeeee.«

Wieder versuchte Hugo, nach ihrem Kopf zu greifen, aber diesmal war Jaspara auf der Hut. Heulend wirbel­te sie herum, holte Luft und pustete das MUG in den nächsten Baum.

Na toll, dachte Tom, vielleicht sollte ich jetzt auch verschwinden. Aber seine Beine bewegten sich nicht von der Stelle.

»Soooooooo!« heulte die Blutige Baronin und fun­kelte ihn mit ihren roten Augen an. Diese Augen hatte er schon bei seiner Ankunft auf der Burg gespürt.

»Jetzt wiiieeeeder zuuuu diiir, Bürrrrschchen.« Wie­der lächelte sie ihr abscheuliches Lächeln. »Aufschlüü- üürfen werde ich diiich!« hauchte sie. »Aaaah, das wird mir schmeeecken!«

Dann streckte sie ihre Hände aus.

Wie die Krallen eines Raubvogels schlossen sich ihre bleichen Finger um Toms Arme. Dabei berührten sie auch das Kleid - jenes Kleid, das ihren menschlichen Körper gewärmt hatte. Vor vielen hundert Jahren.

Tom spürte das Prickeln sofort, genau wie der be­rühmte Boccabella es beschrieben hatte.

»Iiiiiiiihhh!« kreischte Jaspara, und ihr Schrei klang so furchtbar und durchdringend, daß Tom sich die Hände auf die Ohren preßte.

Aber das gräßliche Zischen hörte er trotzdem - das Zischen, mit dem Jaspara sich auflöste. Ihr ganzer Körper wurde zuerst durchsichtig wie Milchglas. Dann zerriß er wie zerschlissenes Tuch und trieb mit dem Wind davon.

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