Der Hilferuf

Eines Nachmittags im Februar schob sich folgende Nachricht aus dem Faxgerät von Hedwig Kümmelsaft, der berühmten Gespensterjägerin: Hochverehrte Frau Kümmelsaft!

Mein Name ist Theodor Wurm, und weder ich noch meine Frau sind sonderlich schreckhafte Menschen. Doch was uns in den letzten Tagen passiert ist, hat unsere Nerven und unsere Gesundheit ziemlich zerrüt­tet Vor nunmehr einer Woche habe ich mit meiner Frau die Verwaltung von Burg Dusterberg, einem Be­sitztum der von Dusterbergs zu Krötenstein, über­nommen.

Bei unserer Anreise kamen uns Gerüchte zu Ohren, daß auf der Burg seit Jahren ein Geist sein Unwesen treibt. Unser Arbeitgeber hatte uns nichts dergleichen mitgeteilt, so daß wir dem Gerede zunächst keine Be­achtung schenkten. Schließlich sind wir Menschen des 20. Jahrhunderts.

Doch häufen sich in dieser Burg so rätselhafte und unheimliche Geschehnisse, daß wir langsam an unse­rem Verstand zweifeln. Von der BfBSB (Behörde für die Bekämpfung von Schloß- und Burggespenstern) wurde uns Kümmelsaft & Co. als eins der erfolgreichsten Ges- pensterjäger'Teams empfohlen. Bitte helfen Sie uns! Wir sind verzweifelt!

Hochachtungsvoll (und zutiefst verstört)

Ihre

Theodor und Amalie Wurm

Viele Informationen waren das nicht, aber die drei Gespensterjäger von Kümmelsaft & Co. waren das von ihren verängstigten Klienten gewohnt. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, die Wurms telefonisch zu er­reichen, machten die drei sich kurzerhand auf den Weg. Im Kofferraum ihre Gespensterjäger­Grundausstattung, ein paar spezielle Dinge zur Be­kämpfung historischer Gespenster sowie Toms nagel­neuen Computer, mit dem sich die umfangreichen Da­tenbanken von FOG (Forschungsstelle für Gespenster­bekämpfung) anzapfen ließen.

Es war ein grauer, kalter Wintertag, und der Regen prasselte nur so auf den Asphalt, als Hedwig Kümmel­saft mit ihrem alten Kombi in den kleinen Ort Duster­stein fuhr.

»Also ich seh' keine Burg«, sagte Tom Tomsky und quetschte seine Nase gegen die beschlagenen Auto­scheiben. »Nur eine Kirche, zwei Banken und 'ne Pommesbude. Auch kein Schild ,Hier geht's zur Burg' oder so was.«

»Nun gut«, sagte Hedwig Kümmelsaft und fuhr an den Bordstein. »Dann fragen wir eben. Hugo, versteck dich.«

»Jojoooh«, säuselte Hugo und verschwand unterm Rücksitz.

»Entschuldigung«, Hedwig Kümmelsaft kurbelte die Scheibe herunter und lächelte einem Mann zu, der ge­rade mit seinem klitschnassen Dackel vorbeihastete. »Wir suchen die Burg des Barons von Dusterstein.«

Der Mann trat vor Schreck fast auf seinen Dackel. Er schluckte, sah sich um, beugte sich zu Hedwig Kümmelsaft herunter und flüsterte: »Was wollen Sie denn da?«

»Oh, ich habe beruflich dort zu tun«, sagte Hedwig Kümmelsaft.

»Du liebe Güte, sind Sie lebensmüde?« zischte der Mann. »Drehen Sie um, und fahren Sie nach Hause, solange Sie noch Ihren Verstand beisammenhaben.«

»Vielen Dank für Ihren guten Rat«, sagte Hedwig Kümmelsaft, »aber um meinen Verstand machen Sie sich mal keine Sorgen. Ich möchte nur den Weg wis­sen. Also, können Sie mir da helfen?«

Der Mann zuckte die Achseln und zeigte die Straße hinunter.

»Die erste rechts, die zweite links und danach im­mer nur geradeaus bis.«

Er starrte mit offenem Mund an Hedwig Kümmelsaft vorbei.

»Geradeaus bis?« fragte Hedwig Kümmelsaft. »Bis wo?«

»Da!« hauchte der Mann und zeigte auf die weißen Finger, die Frau Kümmelsafts Hut ganz sanft in die Höhe hoben. Sein Dackel legte den Kopf zurück und heulte.

»Das? Ach, das ist gar nichts!« Hedwig Kümmelsaft schlug Hugo ärgerlich auf die eisigen Schwabbelfinger. »Geradeaus bis wo?«

Aber der Mann bekam keinen Ton heraus. Mit offe­nem Mund stand er da, während sein Hund ihm die Leine um die Beine wickelte.

»Büs wohooooooo?« säuselte Hugo und blies dem armen Kerl seinen Moderatem ins Gesicht. »Loooooos, sog schoooon, odör soll üch düch oin büßchön kützöln, jooohh?«

»Gegegeradeau-au-aus bibibis zur Bushaltestelle, dadann den Feldweg rein«, stieß der Dackelbesitzer hervor.

»Danke«, sagte Hedwig Kümmelsaft. Dann kurbelte sie hastig die Scheibe wieder hoch und gab Gas.

Der arme Mann stand immer noch im Regen und starrte ihnen fassungslos nach.

»Höhööööhh!« johlte Hugo und winkte ihm durchs Rückfenster zu. »Höhööööh, guckt oich döööhn on.«

»Ja, bist du denn vollkommen übergeschnappt?« fuhr Tom ihn an. »Kannst du dir deine dummen Ges­pensterwitze nicht mal verkneifen?«

»Nebel«, sagte Hedwig Kümmelsaft. Mit quietschen­den Reifen bog sie um die nächste Ecke. »Dieses MUG hat nichts als Nebel im Hirn. Erste rechts, zweite links. Tom, siehst du irgendwo diese Bushaltestelle?«

»Undonkbor«, schimpfte Hugo. »Uhr soid würklüch un donkbor.«

»Ach, sei still, du nervst«, sagte Tom. »Ich hoffe nur, du benimmst dich auf der Burg nicht auch dau­ernd daneben. Da!« Er wischte mit dem Ärmel über die beschlagene Windschutzscheibe. »Da vorn ist die Bushaltestelle - und hier ist der Feldweg. Bei dem umgekippten Wegweiser.«

Holpernd fuhr Hedwig Kümmelsaft den morastigen Weg entlang. Hugo schwabbelte auf dem Rücksitz her­um wie ein schimmelgrüner Wackelpudding.

»Mür würd ühüböl!« stöhnte er. »Mür würd soooo üüüüböl!«

»Geschieht dir ganz recht«, sagte Tom. Und dann sagte er: »Donnerwetter!«

Vor ihnen lag Burg Dusterstein.

Groß und grau hockte sie da, umgeben von schwar­zen Wassergräben, in denen sich efeuberankte Mauern spiegelten.

»Donnerwetter!« sagte Tom noch mal.

Schlingernd brachte Frau Kümmelsaft ihr Auto vor der Zugbrücke zum Stehen.

Von den ekligen Steinfratzen, die überm Burgtor ih­re Zähne bleckten, tropfte der Regen.

»Göföllt mür«, säuselte Hugo. »Doch, würklüch, sö- höhör nött.«

»Nett ist nicht gerade das Wort, das mir dazu einfal­len würde«, sagte Tom. Er fischte seinen Rucksack vom Rücksitz, zog sich die Kapuze über den Kopf und öffnete die Autotür. Regen peitschte ihm ins Gesicht, und der Wind zerrte an seiner Jacke. Tom legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zu den Burgtür­men. Wie Lanzen bohrten sich ihre eisernen bewehrten Spitzen in den Himmel.

»Sehr eindrucksvoll, nicht wahr?« Frau Kümmelsaft holte die Taschen mit der Ausrüstung aus dem Koffer­raum und drückte Tom seinen Computer in die Hand. »Kommt, das übrige Gepäck holen wir später.«

Mit entschlossenen Schritten ging sie auf die Zug­brücke zu. Tom sah sich suchend nach Hugo um, aber der war nirgends zu sehen.

»Hey, Hugo«, er klopfte auf seinen Rucksack. »Komm sofort da raus. Schleim woanders rum, ja?«

»Gömoinhoit«, säuselte Hugo und schwabbelte ans Tageslicht. »Ös üst zu höll, vül zu höll!« jammerte er. »Und düsör schoißlüchö Wünd.«

Tom schüttelte nur den Kopf und folgte Hedwig Kümmelsaft über die Brücke. Die runden abgetretenen Bohlen waren glitschig vom Regen.

Tom trat an das Geländer und blickte hinunter in das schwarze Wasser des Burggrabens.

»Üch rüüüüchö Goistör!« flüsterte Hugo. »Wossör- goistör, Schlommgoistör, uuuururaltö Goistör. Buuu- huuuuu.«

Kichernd verschwand er im dunklen Torbogen in der Burgmauer.

Tom riß sich vom Anblick des dunklen Wassers los und stolperte hastig hinter Hugo her, vorbei an den Steinfratzen und den Luken, durch die man früher un­gebetenen Besuchern heißes Pech auf den Kopf gegos­sen hatte. Als er den Burghof

überquerte, hatte er plötzlich das Gefühl, daß ihn uralte Augen beobachteten. Böse Augen, voller Haß und Gemeinheit. Aber als er sich umsah, war niemand zu sehen.

Frau Kümmelsaft stand mit Hugo schon auf der brei­ten Treppe, die zur Haupttür der Burg hinaufführte. Klitschnaß und frierend kam Tom bei ihnen an. Neben der Tür stand auf einem großen Schild: Burg Düsters­tem, Besichtigung werktags von 10-12, sonntags von 10-16 Uhr, Führungen nur nach Anmeldung.

»Hugo«, sagte Hedwig Kümmelsaft, »solltest du dich wieder so danebenbenehmen wie vorhin, dann werde ich dich höchstpersönlich mit rohen Eiern be­werfen. Ist das klar?«

»Pfui Toiföl«, stöhnte Hugo und sackte in sich zu­sammen. »Koinö kloinön Schörzö?«

»Keine«, sagte Hedwig Kümmelsaft.

Dann zog sie an der Kette, die neben der großen Holztür baumelte. Tief im Innern der Burg schepperte eine Glocke...

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