»Zuerst zum Sicherungskasten«, sagte Frau Kümmelsaft.
»Oh, dafür benutzen wir am besten den alten Geheimgang«, sagte Herr Wurm. »Sonst müßten wir nämlich extra nach draußen.«
Er führte die beiden Gespensterjäger durch mehrere lange Flure, bis sie in einen Saal kamen, dessen Holztäfelung besonders kunstvoll mit Schnitzereien verziert war.
»Wo war es denn noch?« murmelte Herr Wurm. »Ah ja.«
Mit schnellen Schritten ging er an der linken Wand entlang. Etwa in der Mitte blieb er stehen und tastete suchend über die geschnitzten Fratzen, Ranken und Tierfiguren.
»Was sieht am scheußlichsten aus?« fragte er Tom.
»Das da.« Tom zeigte ohne Zögern auf eine Fratze mit aufgerissenem Maul.
Herr Wurm steckte seine Hand zwischen die nadelspitzen Holzzähne. Klack, machte es leise, und rechts von ihnen schwang ein Stück Täfelung nach innen. Gebückt schlüpften sie hindurch. Direkt hinter dem Eingang hing eine alte Laterne. Herr Wurm zündete sie an und führte Tom und Frau Kümmelsaft über eine muffig riechende Treppe in die Tiefe. Tom zählte die Stufen, aber irgendwann gab er es auf. Endlich schob Herr Wurm den Deckel eines riesigen
Herr Wurm den Deckel eines riesigen Weinfasses zur Seite, und die drei standen im Keller der Burg.
»Interessante Tarnung«, murmelte Tom.
Neugierig sah er sich um. Mächtige Kreuzgewölbe trugen die Burgmauern. Zwischen ihnen stapelten sich Kisten, Bretter und Haufen alter Steine. Ein paar Ratten huschten ins Dunkel.
Riesige Spinnweben hingen wie staubgraue Vorhänge von der Decke.
»Mann, hier würde es Hugo gefallen«, sagte Tom. Er blickte auf den GEMEG-Seismographen, aber der gab keinen Ton von sich. »Unsere Baronin mag wohl keine feuchten Keller.«
»Oh, ich glaube, das hat einen anderen Grund«, sagte Hedwig Kümmelsaft. »Sind dir die kleinen Bißspuren hier überall noch nicht aufgefallen? Und die bläulichen Schleimspuren ringsum? Hier wimmelt es von WIBEIGEIs.«
»Wi - ehm, wie? WIBEIGEIs?« fragte Herr Wurm beunruhigt.
»Winzige beißende Geister«, erklärte Tom. »Harmlose Dinger, für Menschen völlig ungefährlich. Aber ihre großen Artgenossen haben ziemlichen Respekt vor ihnen. Die WIBEIGEIs knabbern ihnen nämlich Löcher in die Schwabbelhülle. Manchmal zwacken sie ihnen sogar ganze Körperteile ab. Das bringt die großen ziemlich durcheinander, und sie verbrauchen unheimlich viel Spukenergie, um sich wieder zusammenzusetzen. Deshalb traut sich Ihr Burggespenst wahrscheinlich nicht hier runter.«
»Wie sehen diese, diese WIBEIGEIs denn aus?« fragte Herr Wurm. Unbehaglich sah er sich um.
»Och, etwa so groß wie 'ne Apfelsine«, sagte Tom. »Und auch ungefähr die Form, aber die kleinen Biester sind grün wie Flaschenglas und haben lange spitze Zähne.«
»Aha«, murmelte Herr Wurm. Von da an guckte er sich in einem fort hektisch um, aber nur zweimal huschte ihnen ein kleines Rudel WIBEIGEIs über den Weg.
»Vielleicht sollten wir ein paar mitnehmen«, schlug Tom vor. »Um die Baronin ein bißchen zu ärgern.«
»Keine schlechte Idee«, sagte Hedwig Kümmelsaft. »Erledige du das, wir gehen schon mal zum Sicherungskasten.« »Hier entlang«, sagte Herr Wurm, und schon waren er und Frau Kümmelsaft hinter dem nächsten Pfeiler verschwunden. Tom blieb allein in der Dunkelheit zurück.
»Na, dann«, murmelte er und zog aus seinem Rucksack eine Tüte mit klebrigen, kleinen Papierstreifen, die scheußlich nach Mäusedreck rochen, dem Lieblingsduft der WIBEIGEIs.
»Kommt, kommt, ihr kleinen Dinger«, flüsterte Tom, während er die Papierstreifen auf dem Boden auslegte. »Kommt, wir haben nicht viel Zeit.«
Er zog ein Netz aus der Hosentasche und versteckte sich damit hinter einem Stapel großer Steine. Lange
brauchte er nicht zu warten. Erst tauchte nur eine Ratte auf, die interessiert an seinen Schuhen schnüffelte, aber dann war plötzlich das leise Knurren zu hören, das so typisch für die WIBEIGEIs ist.
Flackernd schwebten sie näher, acht waren es. Ihre kleinen Augen leuchteten in der Dunkelheit. Knurrend näherten sie sich den Papierchen, schubsten sich gegenseitig weg und schnappten mit spitzen Zähnen nacheinander - bis plötzlich drei von ihnen festklebten. Kreischend versuchten sie sich zu befreien, während ihre Artgenossen mit aufgeregtem Geheul das Weite suchten.
Tom sprang blitzschnell heran, warf das geistersichere Netz über die drei und stopfte sie in seinen Rucksack. Wütend bohrten sie ihre Zähnchen in seine Hand, aber alles, was er spürte, war ein feines Kitzeln. Für Menschenhaut waren die Geisterzähnchen der WI- BEIGEIs vollkommen harmlos.
»Hast du welche?« fragte Hedwig Kümmelsaft.
Herr Wurm leuchtete Tom mit der Laterne ins Gesicht.
»Klar«, antwortete Tom und grinste. »Habt ihr die Sicherungen gefunden?«
Hedwig Kümmelsaft nickte. »Jetzt ist unser Gespenst auf Diät.«
»Hugo«, raunte Tom ins Funkgerät. »Alles in Ordnung bei euch?«
»Ollös ün Ordnung«, säuselte Hugo.
»Gut«, sagte Tom. »Dann gehen wir jetzt am besten in die Bibliothek.«
Als Herr Wurm die Tür der Burgbibliothek öffnete, wehte ihnen ein eiskalter Wind entgegen. Die großen Fenster standen weit offen, und Tom hörte, wie draußen der Regen in den Burggraben prasselte.
Hastig schlossen sie die Fenster und sahen sich um. Kaum noch ein Buch stand in den hohen Holzregalen. Wild durcheinander lagen sie auf dem Teppich: in meterhohen Stapeln, aufgeschlagen, zerrissen, die alten Seiten verknickt, die Lederrücken schlammbeschmiert.
»O nein!« rief Herr Wurm. »All die wunder-, wunderbaren Bücher!«
Entsetzt hielt er die Laterne hoch.
»Tja, da war jemand vor uns hier«, seufzte Frau Kümmelsaft.
»Unsere liebe Baronin hat ganze Arbeit geleistet.«
Tom sah nach draußen. In den großen Bäumen hing schon die Dämmerung.
»Es wird bald dunkel«, sagte Hedwig Kümmelsaft. »Aber wir müssen es riskieren. Suchen wir nach Büchern, die die Burggeschichte behandeln. Das siebzehnte Jahrhundert interessiert uns besonders.«
»Am besten fangen wir mit den untersten an«, schlug Tom
vor. »Wenn sie bestimmte Bücher verstecken wollte, liegen die sicher da.«
»Ich hoffe nur, sie liegen nicht da draußen«, sagte Frau Kümmelsaft und warf einen besorgten Blick aus dem Fenster, wo tief unten der Wassergraben schmatzend gegen die Mauern schwappte.