ERSTES KAPITEL Zwei Gegner

Der Moseldampfer, welcher des Morgens halb sieben Uhr von Koblenz abfährt, um nach einem Übernachten in Traben-Trarbach die Passagiere nach Trier zu bringen, hatte Zell verlassen und arbeitete sich von neuem auf den Wellen des herrlichen Stromes aufwärts.

Nebst anderen Passagieren, welche meist den zweiten Platz besetzten, war eine Gesellschaft junger Herren aufgestiegen, welche sich in jener selbstbewußten, nonchalanten Weise nach dem ersten Platz begaben, die den Angehörigen einer bevorzugten Gesellschaftsklasse eigen zu sein pflegt. Sie musterten die Mitfahrenden von oben herab und nahmen unter dem gegen die Sonnenstrahlen aufgespannten Schutzdach Platz, ohne sich darum zu kümmern, ob sie anderen die wohl berechtigte Aussicht auf die lachenden Ufer raubten, oder in sonst einer Weise lästig wurden. Ihr in französischer Sprache geführtes Gespräch war so lärmend, so rücksichtslos laut, daß sich aller Blicke verweisend auf sie richteten, doch nahmen sie nicht die geringste Rücksicht darauf. Bei Leuten, welche einer der unteren Volksklassen angehörten, hätte man dieses Verhalten ungezogen genannt; hier jedoch schwieg man, indem man es vorzog, die Rücksichtslosigkeit nur im stillen zu kritisieren.

Einer von jenen, welcher ein riesiges Monokel in das Auge gepreßt hatte, deutete mit seinem Stöckchen auf das Ufer und sagte so laut, daß es jeder auf dem Schiffe hören konnte:

„Lieber Graf, ist es nicht eine Schande, daß ein so schöner Fluß und ein so reizendes Land unserem Frankreich noch immer vorenthalten werden? Wann endlich werden wir einmal marschieren, um uns die linke Seite des Rheines, welche uns gehört, zu holen! Ich hasse die Deutschen!“

„Und bereist doch ihre Länder, bester Oberst!“ meinte spöttisch derjenige, an welchen die Worte gerichtet gewesen waren.

„Pah!“ antwortete der Oberst. „Man weiß ja, weshalb man sie bereist. Muß man nicht einen Gegenstand, den man erlangen will, vorher prüfen und kennen lernen?“

Er sprach das in einem Ton, als ob man hinter seinen Worten ein wichtiges Geheimnis zu suchen habe. Er war ein wirklich schöner Mann, und da er bei seiner Jugend bereits den Rang eines Obersten bekleidete, so war anzunehmen, daß er von außergewöhnlicher Geburt sei und einflußreiche Verbindungen besitze.

„Donnerwetter, still“, sagte sein Nachbar halblaut. „Du gerätst sonst in Gefahr, von diesen guten Teutonen für einen geheimen Gesandten gehalten zu werden!“

„Mögen sie es tun! Diese Herren Spießbürger sind sehr ungefährlich. Ein Kampf mit ihren tapferen Heerscharen müßte ein wahres Vergnügen sein. Ich bin überzeugt, daß wir im Falle eines Krieges einen sehr unterhaltenden Spaziergang nach Berlin machen würden, ohne von ihnen aufgehalten zu werden!“

„Darüber gibt es gar keinen Zweifel, nämlich, was den Spaziergang betrifft; ob er aber wirklich viel Unterhaltung bringen würde, das ist sehr fraglich. Diese Deutschen sind ein höchst langweiliges Volk, roh, grob zugehackt. Blicke dich um! Findest du unter den weiblichen Passagieren ein einziges Gesicht, welches wert wäre, geküßt zu werden? Ich werde einmal nach der Kajüte gehen, um zu sehen, ob es dort vielleicht etwas Besseres gibt.“

Er erhob sich und stieg die enge Treppe hinab, welche unter Deck führte. Wer die beiden Damen sah, welche da unten auf der schwellenden Plüschottomane saßen, der mußte sich sagen, daß der Graf hier finden werde, was er suchte.

Es waren eine Blondine und eine Brünette. Die erstere war von mittlerer Größe und sehr feinen, doch jugendlich vollen Formen. Unter langen, weichen Wimpern glänzte das milde Licht zweier himmelblauer Augen, durch welche man tief auf den Grund einer sanften, hingebenden Seele blicken zu können schien. Dieses Mädchen war zwar keine imposante, hinreißende Schönheit, aber in ihrer Anmut und Lieblichkeit mußte sie selbst in einem auserwählten Damenkreis durch ihre Erscheinung hervorragen.

Ganz anders die Brünette. Von hoher, junonischer Gestalt, schien sie nur zum Gebieten bestimmt zu sein. Ihre Züge glichen denjenigen, welche die Maler jenen persischen Schönheiten zu geben pflegen, welche geschaffen sind, die Sterne eines ganzen Harems zu verdunkeln. Der herrlich modellierte Kopf trug eine Fülle kastanienbrauner Haare, welche die Zofe jedenfalls nur schwer in die moderne Frisur bändigen konnte. Auf der alabasterweißen Stirn thronte ein Adel, welcher dem Gesicht den Charakter der Unnahbarkeit verlieh. Die großen, unter herrlich geschwungenen Brauen blitzenden und von vollen, seidenen Wimpern beschatteten Augen besaßen jene mandelähnliche Form, welche nur der sonnige Orient seinen feurigen Töchtern verleiht; doch war diese Form nicht in jener Weise ausgeprägt, welche man oft an den unvermischt gebliebenen Kindern Israels bemerkt. Das nur leicht und außerordentlich graziös gebogene Näschen war zwar sehr fein geschnitten, zeigte aber doch zwei rosig angehauchte Flügel, welche sich ganz energisch aufzublähen vermochten. Der kleine Mund war geradezu wunderbar geschnitten. Ganz wie zum glühenden, überwältigenden Kuß gemacht, zeigten die granatroten Lippen doch nicht jene schwellende Fülle, welche nur das Vorrecht besonders sinnlicher Naturen zu sein scheint. Und wenn sich diese Lippen zu einem Lächeln öffneten, so erschienen zwei Reihen perlenkleiner Zähnchen, an denen sicher selbst der erfahrenste Zahnkünstler kein Fehlerchen hätte entdecken können. Dieser Mund stand eigentlich im Widerspruch mit sich selbst, doch gerade dieser Kontrast war es, der ihn bezaubernd machte. Um die eigenartig graziöse Schwingung der Lippen lagerten sich Trotz und Sanftmut, Stolz und Milde, Selbstbewußtsein und Hingebung, Kühnheit und weibliches Zagen, und es mußte der Zukunft überlassen bleiben, welche von diesen Eigenschaften die Oberhand erlangen und dem Gesichte dann sein dauerndes Gepräge erteilen würde.

Die Gestalt dieser Dame war voll, aber nicht unschön-üppig, obgleich ein pedantischer Kritikus vielleicht gesagt hätte, daß der Busen, welcher seine sommerlich leichte Hülle zu zersprengen drohte, die Blicke der Männer ein ganz klein wenig zu sehr auf sich ziehe. Das feingewebte, eng anschließende Reisekleid war nicht vermögend, die herrlichen Formen eines sinnberückenden Körperbaus ganz zu verbergen. Das kräftig gebaute Händchen schien nur bestimmt zu sein, mit Inbrunst an das Herz gedrückt zu werden, und unter dem leise emporgerafften Saum des Kleids blickte ein Füßchen hervor, welches den Neid von tausend Damen zu erwecken vermochte.

Diese beiden Mädchen waren in ein sehr eifriges Gespräch vertieft. Sie führten dasselbe, obgleich sie sich ganz allein befanden, doch mit unterdrückter Stimme. Es war daraus zu erraten, daß sie sich vielleicht sehr wichtige und doch sehr jungfräuliche Geheimnisse mitzuteilen hatten.

„Aber, liebe Marion“, sagte die Blonde, „davon habe ich bisher ja gar nichts gewußt. Ich denke, wir haben niemals ein Geheimnis gehabt, und nun erfahre ich zu meinem Erstaunen, daß du gerade das allerwichtigste, was es für ein Mädchen gibt, mir so lange Zeit und so hartnäckig verschwiegen hast!“

Die Brauen der Brünetten zogen sich leicht zusammen, und sie antwortete:

„Ich habe mich keiner ungerechtfertigten Zurückhaltung gegen dich schuldig gemacht, meine gute Nanon. Ich habe dieses Geheimnis ja erst aus dem letzten Brief erfahren, welchen Papa mir schrieb. Hier, lies selbst.“

Ihre Stimme klang kräftig, voll und rein wie Glockenton. Man hörte es ihr an, daß sie vom gebieterischsten Befehl bis herab zum süßesten Liebesgeflüster aller Modulationen fähig sei. Es war das eine Stimme von seltener Fülle und dabei doch biegsam und weich; sie besaß die Kraft des Herrschens und die Innigkeit des Einschmeichelns; sie klang so sonor und doch so warm; ihr Ton schien nicht zwischen den Ligamenten des Kehlkopfes, sondern in der Tiefe der Brust gebildet zu werden, oder aus der untersten Kammer des Herzens, dem heiligsten Innern der Seele, zu kommen. Wer die Stimme hörte, wurde gebannt und ergriffen wie einer, der im Dunkel eines hohen Doms kniet und plötzlich aus der Höhe des Orgelchores wunderbare, zauberische Klänge aus dem Mund unsichtbarer Sänger erzittern hört.

Marion griff in ein zierliches Saffiantäschchen, welches an ihrem Gürtel hing und dessen massiv goldener Bügel mit echten Ceylonperlen besetzt war; sie zog einen Brief hervor, welchen sie der Freundin reichte. Diese öffnete ihn und während sie las, nahmen ihre lieblichen Züge den Ausdruck des höchsten Erstaunens an; als sie das Blatt wieder zusammengefaltet hatte und es zurückgab, sagte sie unter einem bedenklichen Schütteln des feinen Köpfchens:

„Das ist wirklich ganz außerordentlich! Du sollst schleunigst nach Hause zurückkehren, um den dir bestimmten Bräutigam kennen zu lernen. So hast du diesen Oberst, Graf Rallion, noch niemals gesehen?“

„Nie. Ich weiß nur, daß die Rallions von sehr altem, aber verarmtem Adel sind, und daß der jetzige Chef der Familie die Gunst der Kaiserin, also auch des Kaisers, in hohem Grad besitzt. Dies ist jedenfalls der Grund, daß sein Sohn bereits Oberst ist, obgleich er ein noch jugendliches Alter zu besitzen scheint.“

„Aber wie kommt dein Papa zu dem Projekt dieser rein geschäftsmäßigen Verbindung!“

„Das ist auch mir ganz unbegreiflich. Ich werde es aber baldigst erfahren.“

Diese Worte waren in einem sehr bestimmten Ton gesprochen, und jetzt konnte man deutlich das energische Erzittern der Nasenflügel beobachten.

„Kennt der Oberst dich vielleicht, Marion? Als Freundin darf ich dir wohl sagen, daß du sehr, sehr schön bist. Es ist leicht möglich, ja wahrscheinlich, daß er dich zu besitzen wünscht, wenn er dich einmal gesehen haben sollte.“

Die Gefragte ließ ein merkwürdig geringschätziges Lächeln um ihre schönen Lippen spielen, als sie antwortete:

„Das wäre wohl ganz und gar kein Grund, ihm meine Freiheit und Selbständigkeit zu opfern. Wer mich einst besitzen will, der muß es verstehen, sich nicht nur meine Liebe, sondern auch meine größte Hochachtung zu erwerben. Ich werde mich niemals verschenken.“

So sprechend, warf sie den Kopf mit einer unnachahmlich stolzen Bewegung zurück. Man sah, daß sie sich ihres Wertes sehr wohl bewußt war.

„Ah, du hast wohl gar ein Ideal?“ fragte Nanon lächelnd.

„Ich habe eins, wie jedes junge Mädchen“, lautete die Antwort. „Ich weiß auch, daß dieses Ideal ein Unding, ein Phantasiegebilde ist. Aber eigentümlich – eigentümlich –“

Sie hielt mitten im Satz inne. Ihre vorher so selbstbewußt leuchtenden Augen nahmen plötzlich einen sinnenden Ausdruck an, mit dem sie sich durch das offene Fenster hinaus auf die Wellen richteten, welche unter dem Rad des Dampfers wild hervorschäumten und weit ausgreifende, dunkle Wasserfurchen bildeten, deren gischtgekrönte Massen die diamantenen Strahlen des Sonnenlichts zurückwarfen.

„Was?“ fragte die Freundin. „Was ist eigentümlich?“

Marion strich sich mit der Hand leise über die Stirn und antwortete langsam:

„Es ist eigentümlich, ja sogar wunderbar, daß ich einen Mann gesehen habe, welcher ganz genau den Körper, das Äußere meines Ideals besitzt. Die Seele freilich wird demselben desto unähnlicher sein. Ich war fast erschrocken, als ich die Gestalt, von welcher ich so oft geträumt hatte, plötzlich in Wirklichkeit erblickte.“

„Das ist allerdings fast ein Wunder zu nennen. Du bist glücklich, liebe Marion. Wenn doch ich auch einmal mein personifiziertes Ideal sehen könnte! Aber sag', wo hast du den Mann getroffen, und wer war er?“

„Es war in Dresden, und er war Offizier. Ich fuhr nach dem berühmten Blasewitz, welches Schiller durch seine ‚Gustel‘ verewigt hat, und begegnete da auf der Straße einer kleinen Truppe von Offizieren. Sie jagten an meinem Wagen vorüber, flüchtig wie Phantome, und doch sah ich das Bild meiner Träume unter ihnen – es war dabei.“

„Wie interessant, wie romantisch, liebe Marion, hast du ihn wiedergesehen?“

„Ihn nicht; aber – sein Bild!“

„Ach! Erzähle! Du hast dich vielleicht nach ihm erkundigt?“

„Wie wäre dies möglich gewesen? Übrigens erwartetest du mich in Berlin; ich hatte Eile. Aber du weißt, daß ich mich in Berlin photographieren ließ. Ich mußte einige Augenblicke ganz allein im Atelier warten und betrachtete die Porträts und Landschaften, welche da an den Wänden hingen und auf den Tischen lagen. Da – da erblickte ich sein Bild. Er war es, ganz genau getroffen, genauso stolz und schön, in der Ulanenuniform, wie er in Dresden an mir vorübergestürmt war. Sein Bild hatte Visitenkartenformat; es war ein Brustbild, es lagen einige Dutzend Exemplare auf einem Häufchen beisammen auf dem Tisch –“

„Welch' glücklicher Umstand!“ rief Nanon. „Weißt du, was ich an deiner Stelle getan hätte?“

„Jedenfalls dasselbe, was ich tat“, lächelte Marion. „Ich war allein; niemand sah es – ich wurde zur Diebin; ich stahl eine der Karten und steckte sie zu mir.“

Da schlug Nanon fröhlich die Hände zusammen und frohlockte:

„So werde auch ich dein Ideal zu sehen bekommen! Welch' eine durchtriebene Spitzbübin doch diese stolze, kühle Marion ist! Du hast dir die Photographie doch heilig aufbewahrt?“

„Das versteht sich!“

„Oh, wenn du sie doch bei dir hättest! Ich vergehe vor Neugierde, vor Sehnsucht, das schöne Traumbild, das sich so unverhofft verkörpert hat, zu sehen, lerne ich doch so die innersten Regungen deines Herzens kennen!“

Ihre Augen richteten sich mit wirklicher Begierde auf Marions Hände, welche nach dem bereits erwähnten Täschchen gegriffen, um dasselbe zu öffnen und die dort verborgene Karte hervorzuziehen.

„Du hast sie? Sie ist da?“ fuhr sie fort. „Nun sollte noch sein Name dabeistehen; denn du konntest den Photographen unmöglich nach demselben fragen, da der Mann sonst ja gewußt hätte, wer den Raub begangen hat.“

„Der Name steht auf der Rückseite“, bemerkte Marion. „Hier hast du sie!“

Nanon griff mit größter Schnelligkeit zu, drehte sich leicht seitwärts, damit das Licht voll auf das Bild fallen könne und betrachtete es, indem ihr Gesichtchen eine ungeheure Spannung verriet. Sie hielt die Karte abwechselnd nahe und entfernt vor die Augen, um sich ein genaues Urteil zu bilden, und sagte dann:

„Ein schöner, ein herrlicher Kopf!“



„Nicht wahr?“ bemerkte Marion mit leuchten Augen.

„Und der Name?“ Nanon drehte die Karte um und las: „Rittmeister Richard von Königsau. Auch ein schöner Name. Nicht, Marion?“

Die Gefragte nickte leise mit dem Kopf und sagte:

„Und eigentümlich ist es, daß ich meinem Ideal stets auch den Namen Richard gegeben habe. Richard Löwenherz ist mir der liebste Held der Geschichte, und Richard ist mir der liebste Mannesname.“

„Ich stelle mir Richard Löwenherz allerdings anders vor als diesen Rittmeister. Ich möchte diesen letzteren doch lieber mit dem Recken Hüon in Wielands Oberon vergleichen. Diese Stirn, diese Augen, dieser Mund, dieses ganze Gesicht, man muß es beim ersten Anblick lieben. Ich verstehe nichts, gar nichts von Physiognomik; ich lasse am liebsten mein Herz, mein Gefühl, meine Ahnung entscheiden.“

„Nun, was sagt dir deine Ahnung? Wie beurteilt sie ihn, liebe Nanon.“

„Dieser Mann ist selbstbewußt, aber nicht adelsstolz; sein starker Körper birgt ein tiefes Gemüt, er ist kühn und verwegen, scheint mir jedoch auch auf dem Felde der List ein gefährlicher Gegner zu sein. Seine Stirn ist die eines geübten Denkers, und sein Mund scheint mir der Rede mächtig zu sein, schweigende Beobachtung jedoch vorzuziehen. Sein Naturell ist jedenfalls, um mich der wissenschaftlichen Ausdrücke zu bedienen, ein cholerisch-phlegmatisches, das heißt, er ist heiß- aber langsamblütig, er fühlt und empfindet tief, läßt sich aber von der Gewalt des Augenblicks nicht beherrschen.“

Da nahm Marion mit einem erfreuten, melodischen Lachen der Freundin rasch das Bild aus der Hand und sagte:

„Halte ein! Du beschreibst ihn ja als ein wahres Wunder! Wenn er wirklich so wäre, wie du ihn beurteilst, so gliche er meinem Ideal ganz genau, und ich müßte es sehr bedauern, daß ich über die Familie der Königsau nichts, gar nichts erfahren konnte, obgleich ich dir aufrichtig gestehe, daß ich mir alle mögliche Mühe deswegen gegeben habe.“

„Du brauchtest dir ja nur den Gothaer Adelskalender zu kaufen.“

„Er war nicht vorrätig, und ich bestellte ihn mir. Da aber rief mich der Brief des Vaters ab, und ich mußte Ordre geben, mir den Kalender nachzuschicken. Bis ich ihn erhalten werde, habe ich mich in Geduld zu fassen. Ah, wie schade!“

Diese letzten Worte wurden leise gesprochen. Sie galten dem Grafen, welcher gerade in diesem Augenblick in die Kajüte trat, um zu sehen, ob sich hier ein Gesicht finde, welches wert sei, geküßt zu werden. Als er die beiden Damen erblickte, drückten seine Mienen ein schlecht verborgenes Erstaunen aus; er machte eine tiefe Verbeugung und zog sich schnell wieder zurück. Draußen auf der Treppe murmelte er:

„Die Baronesse de Sainte-Marie! Da wäre eine kleine, liebenswürdige Zudringlichkeit am unrechten Platz. Sie versteht es, sich unnahbar zu halten.“

Er kehrte auf das Deck zurück.

„Nun, etwas gefunden?“ wurde er gefragt.

„Allerdings“, antwortete er. „Aber ich habe doch recht, diese Deutschen haben gar keine charakteristischen Züge. Als ich da unten endlich eine Schönheit entdeckte, ist sie eben eine – Französin.“

„Die du aber nicht zu attackieren wagtest. Du bist schnell genug davon gelaufen.“

„Weil ich sie zufälligerweise kenne. Mit ihr ist nicht zu spaßen!“

„Ah, die muß man sich ansehen!“ lachte einer. „Ist sie es wirklich wert?“

Der Graf zuckte überlegen mit den Schultern und antwortete: „Sie gilt für die größte Schönheit nicht bloß in Paris, sondern von ganz Frankreich.“

Diese Worte brachten eine sichtbare Aufregung unter diesen Roués hervor.

„Und erbt einmal eine ganz respektable Anzahl von Millionen“, fuhr der Graf fort.

„Ihr Name?“ fragte der vorige Sprecher. „Schnell!“

„Die Dame ist die Baronesse Marion de Sainte-Marie!“

„De Sainte-Marie! Ah, die ist allerdings berühmt! Ich werde sogleich gehen, um mich ihr vorzustellen. Einer solchen Schönheit muß man huldigen.“

Der Sprecher wollte wirklich eilen, wurde aber vom Obersten am Arm gepackt und zurückgehalten.

„Halt!“ sagte dieser letztere. „Bleibe hier! Dieser Dame wird keiner von euch huldigen.“

„Warum?“ lautete die Frage.

„Weil ich allein das Recht zu dieser Huldigung habe; sie ist meine Braut.“

Sie alle blickten ihn fast bestürzt an. Keiner von ihnen wußte, daß der Oberst verlobt sei. Und nun gar mit der berühmtesten Schönheit von Paris! Er wurde mit den verschiedensten Fragen bestürmt und beantwortete sie alle in Summa, indem er erklärte:

„Die Sache ist kurz folgende: Mein Vater schreibt mir, daß er die Tochter eines Freundes mir zur Frau bestimmt habe. Ich habe die Dame zwar noch nicht gesehen, fand aber keinen Grund, mich dem Willen meines Vaters zu widersetzen. Die Dame ist die Baronesse de Sainte-Marie. Sie war ebenso verreist wie ich und kehrt ebenso wie ich auf den Ruf ihres Vaters in die Heimat zurück. Wir befinden uns auf demselben Schiffe, ohne uns gesehen zu haben, oder persönlich zu kennen. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich mein Recht auf ihre Person behaupte. Ich gehe jetzt, ihre Bekanntschaft zu machen und verbitte mir jede Einmischung von eurer Seite auf das allerstrengste.“

Sein Gesicht hatte den Ausdruck dabei gewechselt. Es schien ein vollständig anderes zu sein. Vorher hatte man es schön und regelmäßig nennen müssen, jetzt aber war es das gerade Gegenteil. Die Nase war spitz und kreideweiß geworden, die Lippen hatten sich in der Mitte geschlossen, während die beiden Mundwinkel zwei Öffnungen bildeten, aus denen er seine Worte hervorzischte. Die Stirn hatte sich so in Falten gelegt und zusammengezogen, daß das Toupet seines Kopfhaares fast die Brauen berührte. Von den aufgeblähten Nasenflügeln gingen zwei tiefe Furchen bogenförmig nach dem Kinn herab, und alles Blut seines erbleichten Gesichts schien sich nach dem muskulösen Stierhals zurückgezogen zu haben, dessen heimtückische Stärke zu dem keineswegs riesigen Bau des übrigen Körpers in gar keinem Verhältnis stand.

Die größte Veränderung aber war mit seinen Augen vorgegangen. Sie hatten vorher eine ganz entschieden graue Farbe gehabt, waren aber unter dem Einfluß des Zorns erst dunkel, fast schwarz geworden und hatten dann in schneller Folge alle Färbungen bis zu einem boshaft leuchtenden Gelbgrün durchlaufen, welches um so infernalischer glühte, als die kleinen, feinen Äderchen des Augapfels sich rasch mit Blut gefüllt hatten und mit ihrer Röte fast das Weiße verdrängten.

Als der Oberst sich jetzt umdrehte und die Treppe zur Kajüte hinabstieg, blickten ihm die anderen wortlos nach und nur der Graf sagte mit schüchternem Lachen:

„Da steckt er wieder einmal die Teufelsflagge heraus!“

Er hatte vollkommen recht. Der Ausdruck, welchen das Gesicht des Obersten gezeigt hatte, war ein geradezu diabolischer zu nennen. Ein solches Gesicht und kein anderes hatte der Teufel gemacht, als er den Grundstein zur Hölle legte. Ein solches Gesicht mußte er machen, sooft er die Seele eines Verdammten in den Pfuhl stieß, dessen Schwalch niemals verlöscht, und ein solches Gesicht muß er machen, wenn er sich an den Qualen ergötzt, welche die Gerichteten erleiden, denen jede Hoffnung genommen ist für alle Ewigkeit. Wer dieses Gesicht sah, der mußte wissen, daß dieser Graf Rallion ein Teufel sein konnte, ein hinterlistiger, grausamer, erbarmungsloser Teufel, der kein Verbrechen scheute und vor nichts zurückbebte, wenn es galt, ein Ziel zu erreichen, welches er sich gesteckt hatte. Dieses faszinierende, gelbgrüne, giftige Auge hatte den höllischen Blick, den die Italiener Malocchio nennen, und von welchem sie meinen, daß jeder, auf dem er haftet, unwiderruflich dem Unglück verfallen sei. – – –

Am frühen Morgen desselben Tages saßen in Simmern, dem Hauptstädtchen des Hunsrück, zwei Herren, ein älterer und ein jüngerer, am Tisch eines niedrigen Zimmers, um ihren Kaffee zu trinken. Ihre Mienen zeigten dabei keineswegs jene Behaglichkeit, mit welcher man sich dem Genuß des braunen Mockatrunks hinzugeben pflegt; es schien vielmehr, als sei die Unterhaltung, welche sie führten, auf einen sehr ernsten Gegenstand gerichtet.

Beide waren Offiziere, und beide trugen Uniformen, der ältere die eines Generals und der jüngere, welcher vielleicht achtundzwanzig Jahre zählen mochte, die eines Ulanenrittmeisters.

Dieser letztere war ein ausgezeichnet schöner Mann. Obgleich er auf einem tiefen Polstersessel ruhte, erkannte man doch seine hohe, breitschultrige, höchst ebenmäßige Gestalt. Sein von einem vollen blonden Bart umrahmtes Gesicht war von einem weichen, aber doch edlen, männlichen Schnitt. Aus seinen blauen, treuherzigen Augen blickte jene Gutmütigkeit, welche riesenhaft gebauten Menschen eigen zu sein pflegt; doch lag auf der Stirn eine unermüdliche Willensfestigkeit und Energie, und unter den Spitzen des Schnurrbartes versteckte sich ein leiser, schalkhafter Zug, welcher widerwillig einzugestehen schien, daß der ausgesprochenen Gutmütigkeit unter Umständen eine ganz hinreichende Menge von Verschlagenheit und Berechnungsgabe zu Gebote stehen könne.

„Also, lieber Königsau, Ihre Instruktion haben Sie begriffen?“ fragte der General.

„Sie ist nicht sehr schwer zu verstehen, Exzellenz“, antwortete der Gefragte.

„Sehr wohl! Den Feldzugsplan müssen Sie selbst entwerfen. Ich kann Ihnen dies ohne Furcht überlassen, da ich weiß, was für ein gewandter Taktiker Sie sind. Es bleibt mir also nur noch übrig, Ihnen die Namen zu nennen. Wollen Sie sich dieselben notieren?“

Der Rittmeister zog eine Brieftasche hervor, dann fuhr der General fort:

„Der Liebling Napoleons, von welchem ich sprach, ist der Graf Rallion, und der Vertraute des Kriegsministers Leboeuf, den ich Ihnen bezeichnete, ist der Baron von Sainte-Marie. Der Graf hat einen Sohn und der Baron eine Tochter; die beiden letzteren kennen sich noch nicht, sollen sich aber heiraten. Sie werden in Ortry unweit der Luxemburger Grenze in der Nähe von Thionville zusammentreffen. Ortry gehört dem Baron. Dieser hat aus der Ehe mit seiner zweiten Frau einen Knaben, den seine Lehrer leidlich verwahrlost haben; darum engagiert der Baron einen deutschen Präzeptor für den Jungen, und dieser Lehrer sollen Sie sein.“

„Unter welchem Namen, Exzellenz?“

„Hier ist Ihre Legitimation, und hier sind auch Empfehlungsbriefe. Es wird ganz auf Sie ankommen, ob Sie Erfolg haben werden. Übrigens haben wir bereits für alles gesorgt, sogar für Photographien der betreffenden Personen, damit Sie sich im voraus zu orientieren vermögen.“

Er nahm aus der Brieftasche, aus welcher er bereits die Empfehlungsbriefe und die Legitimation gegeben hatte, mehrere Photographien und legte sie dem Rittmeister einzeln vor.

„Hier“, fuhr er fort, „haben Sie das Brustbild des Grafen Rallion; hier ist sein Sohn, der Oberst; ferner sehen Sie hier den Baron de Sainte-Marie; dies ist sein Junge; der Schlingel sieht nach gar nichts Gutem aus. Desto größeren Eindruck macht seine Stiefschwester Baronesse Marion. Hier ihr Porträt. Ich muß Sie vor derselben warnen, ich gestehe, daß ich nicht weiß, ob ich in Ihren Jahren solchen Augen widerstanden hätte.“

Er hatte diese letzten Worte im Scherz gesprochen. Der Rittmeister nahm das Bild. Kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, so fuhr er vom Sessel empor.

„Was ist's?“ fragte der General. „Kennen Sie die Dame?“

Das Rot der Beschämung flog über das Gesicht des Rittmeisters. Ein wackerer Soldat darf sich nicht überraschen lassen.

„Nein, Exzellenz“, antwortete er, sich wieder setzend.

Der Vorgesetzte blickte ihm wohlwollend, aber forschend in die Augen und sagte:

„Es schien mir doch so. Warum erstaunten Sie?“

Der Rittmeister zögerte ein Weilchen mit der Antwort, erklärte dann aber:

„Ich sehe, daß ich sprechen muß, um kein Mißtrauen aufkeimen zu lassen. Ich sah auf einem Spazierritt in der Nähe Dresdens eine Dame, deren ebenso wunderbare wie eigentümliche Schönheit einen großen Eindruck auf mich machte, obgleich ich sie nur im Vorüberschreiten erblickte.“

„Ah, endlich einmal Feuer gefangen!“ lachte der General.

Richard von Königsau errötete abermals und verteidigte sich:

„Ich habe bisher nur meiner Pflicht leben wollen, denn ich bin arm und diene, wie Exzellenz wissen, auf Avancement. Darum nahm ich mir nicht Zeit, mich nach einem zarten Verhältnis zu sehnen.“

„Oh, gerade da Sie arm sind, müßten Sie nach einer reichen Hilfe trachten!“

„Ich bitte um Entschuldigung, Exzellenz, daß ich hierin meine eigene Ansicht habe. Ich mag meiner Frau nur mein Lebensglück, nicht aber äußeren Besitz und sonstige Vorteile verdanken. Ich will meinem Herzen das Recht geben, sich ein zweites Herz zu wählen. Der kurze Augenblick auf dem Ritt zwischen Dresden und Blasewitz wäre vielleicht bedeutungsvoll geworden, wenn er mir einen Anknüpfungspunkt geboten hätte. Da kam ich einige Tage später in Berlin zum Photographen, um mir bestellte Karten abzuholen, und erblickte bei ihm das – Bild jener Dame. Ich bat um einen Abzug davon, erhielt ihn aber nicht, da der Mann dies nicht mit seiner Pflicht vereinigen zu können erklärte. Ja, ich konnte nicht einmal ihren Namen erfahren, weil sie ihn nicht genannt, sondern erklärt hatte, daß sie ihre Photographien selbst abholen werde. Exzellenz werden sich nicht wundern, daß ich überrascht war, nun hier das Bild zu sehen und den Namen zu erfahren.“

Der General lächelte freundlich und meinte:

„Und ebensowenig werden Sie sich darüber wundern, daß es Leute gibt, gegen welche gewisse Photographen gefälliger sind als gegen Sie. Aber, lieber Rittmeister, die Erfüllung Ihrer Pflicht wird Ihnen jetzt bedeutend schwerer fallen, als Sie vorher dachten. Es ist kein Spaß, sich der Dame seines Herzens als Präzeptor, als Schulmeister, vorstellen zu müssen, während man ganz andere Meriten hat!“

Da trat bei dem Rittmeister jener verborgene Zug von Schalkheit und List deutlicher hervor, er machte eine unternehmende Handbewegung und antwortete:

„Erstens kann ich die Baronesse ja gar nicht als die Dame meines Herzens erklären, und zweitens glaube ich nicht, daß die Coeurdame meiner Aufgabe gefährlich werden kann.“ Und ernster fügte er hinzu: „Exzellenz wissen, daß ich nie leichtsinnig spiele.“

„Ich weiß das, Rittmeister, ich weiß es!“ versicherte der General. „Ich bin ganz und gar ohne Besorgnis und entlasse Sie jetzt mit der Überzeugung, daß Sie unsere Zufriedenheit erlangen werden. Unser Kaffee ist getrunken und unser Gespräch zu Ende. Gehen Sie mit Gott, Herr Ritt- wollte sagen, Herr Schulmeister!“

Er hatte sich erhoben und reichte Richard die Hand. Dieser drückte sie ehrfurchtsvoll und zugleich bescheiden-freundschaftlich, steckte die empfangenen Papiere und Photographien zu sich und ging.

Auf seinem Zimmer angekommen, zog er Marions Bild hervor, betrachtete es aufmerksamer, als er es vorher gekonnt hatte, drückte es dann an seine Lippen und flüsterte so innig, so zärtlich, als ob das Mädchen vor ihm stehe:

„Ja, du bist's, du bist's, nach der ich mich so heiß gesehnt habe. Oh, nun werde ich dich sehen, ich werde deine Stimme hören und in deiner Nähe sein dürfen! Aber ach, dieser Oberst, dieser Rallion! Soll er sie bekommen? Er kennt sie nicht und sie ihn auch nicht. Also eine Konvenienzheirat, oder vielleicht noch schlimmer. Pah, wir werden jetzt wohl sehen! Anstatt vor einer, stehe ich jetzt vor zwei Aufgaben, ich habe meine Pflicht zu erfüllen und meinem Herzen zu genügen. Laßt uns sehen, wer den Preis erhält, der Franzose oder Deutsche!“

Er klingelte. Sein Bursche erschien.

„Hast du alles besorgt, Fritz?“ fragte der Rittmeister.

„Alles, auch den verteufelten Buckel“, lautete die Antwort. „Wollen Sie sich das Ding denn wirklich aufschnallen, Herr Rittmeister?“

Richard brauchte doch einige Zeit, ehe er sich entschied.

„Ja. Es bleibt alles bei meinem früheren Entschluß. Der Buckel kann übrigens gar nicht weggelassen werden, da er in meiner Legitimation angegeben ist.“

„Und wann reisen Sie ab, gnädiger Herr?“

„Sobald du fertig sein wirst. Das wird nicht lange dauern, denn da du ein gelernter Friseur bist, so wird es dir von der Hand gehen.“

„Aber der prachtvolle Bart!“

„Er wird wieder wachsen, Fritz. Die Hauptsache ist, daß ich hier aus dem Haus komme, ohne daß man meine veränderte Gestalt bemerkt. Ich werde dich und den Wagen vor der Stadt erwarten. Ich fahre über Kirchberg nach Trarbach, wo ich morgen früh den Moseldampfer besteige. Doch werde ich im letzten Dorf vor Trarbach den Wagen verlassen, da es auffallen würde, wenn ein Schulmeister per Equipage ankäme. Der General wird ihn dort abholen lassen. Wir beide reisen weiter, ohne uns zu kennen. Ich gehe als Erzieher nach Ortry, und für dich wird sich in der Nähe ein Plätzchen finden lassen, wo du mir zur Disposition stehen kannst, ohne daß deine Anwesenheit auffällig erscheint oder Mißtrauen erweckt. Fang jetzt an!“

Eine Stunde später verließ ein Mann auf der Kirchberger Straße die Stadt Simmern, den man auf den ersten Blick für einen Jünger der Erziehungskunst halten mußte. Seine früher hohe Gestalt war – wohl vom vielen Studieren – vornüber gebeugt und steckte in einem engen, ziemlich verschossenen, aber sehr reinlich gehaltenen Anzug. Der Mann war bucklig, doch nahm ihm dieser bedauerliche Zustand nichts von der Würde seines Berufes, welche seinem ganzen Wesen sichtlich aufgeprägt war. Sein schwarzes, bereits spärliches Haar fiel lang bis auf den Kragen eines Fracks herab, der vor zwanzig Jahren einmal in der Mode gewesen war. Der Zylinderhut auf seinem Kopfe und der graublaue Regenschirm unter seinem Arm waren gewiß langjährige Gefährten dieses Fracks, und das einfache Messinggestell der großglasigen blauen Brille schien auch nicht kürzere Zeit auf dem Nasenrücken ihres Eigentümers gethront zu haben.

Nach einiger Zeit wurde dieser Mann von einer unbesetzten Equipage eingeholt, und der Kutscher hatte die Freundlichkeit, den Mann als nicht zahlenden Passagier aufsteigen zu lassen.

Sie erreichten Kirchberg, fuhren, ohne anzuhalten, durch diesen Ort und kamen in der Abenddämmerung an ein Dorf, vor welchem der Gast ausstieg. Er ging durch das Dorf und kam an ein kleines Wäldchen, in welchem er wartete, bis nach einer halben Stunde der Kutscher wieder zu ihm stieß, dieses Mal jedoch zu Fuß gehend.

„Alles in Ordnung?“ fragte der Mann.

„Ja, Herr Rittmeister!“

„Pst, laß den Rittmeister jetzt beiseite! Du kennst mich jetzt gar nicht, und wenn wir uns später sprechen, bin ich für dich nur der Doktor der Philosophie Andreas Müller. Verstanden?“

„Sehr wohl, Herr Doktor!“

„So komm!“

Sie wanderten miteinander durch die einbrechende Nacht und erreichten Trarbach kurz vor neun Uhr abends. Hier trennten sie sich, um jeder einen anderen Gasthof aufzusuchen. Da beide nicht bekannt hier waren, mußten sie die Wirtshäuser erst erfragen. Doktor Müller traf einen Mann, welcher auf seine Frage ihm zur Antwort gab:

„Kommen Sie, ich werde Sie führen, denn ich gehe ein Glas Wein trinken, unser Weg ist also derselbe. Große Ansprüche werden Sie allerdings nicht machen können, denn heute hat das Schiff aus Koblenz hier angelegt, und es sind viele Reisende hier ausgestiegen, welche natürlich die besten Zimmer besetzt haben.“

Müller fand die Wahrheit dieser Worte bestätigt. Es gelang ihm zwar, noch einen Platz zu erhalten, doch lag der Raum hoch unter dem Dach, woraus er sich freilich nicht viel machte.

Die Gaststube, in welcher er sein Abendbrot einnahm, war ziemlich geräumig. Es befand sich da ein Billard, an welchem die französischen Herren spielten, welche mit dem Dampfer angekommen waren. Sie traten hier ebenso laut und rücksichtslos auf, wie auf dem Fahrzeug, und taten, als ob außer ihnen niemand zugegen sei. Auch der Oberst befand sich noch bei ihnen. Er war jetzt der Übermütigste von allen. Er hatte sich der Baronesse vorgestellt und ihre Seite nicht eher wieder verlassen, als bis er ihr die besten Zimmer dieses Hauses hatte zur Verfügung stellen können. Sie hatte ihn vollständig bezaubert. Er befand sich in einer Art von Rausch und hätte, voll Glück, eine solche Braut zu besitzen, die größte Tollheit begehen können.

Marion war höchst überrascht gewesen, als er ihr seinen Namen genannt hatte. Ihre erste, augenblickliche Regung war gewesen, ihn abweisend zu behandeln, um sich gleich von vornherein ihre Freiheit zu bewahren, doch war er so tadellos, so ausgezeichnet courtois gewesen, daß sie es für ganz unmöglich gefunden hatte, die schickliche Höflichkeit außer acht zu lassen. Er hatte mit keiner Silbe des Verhältnisses erwähnt, in welches sie zueinander treten sollten, er hatte nicht in der leisesten Weise merken lassen, daß er sich die Erlaubnis nehmen könnte, zu ihr anders als zu einer vollständig fremden Dame zu sprechen, und so hatte sie ihm keine abschlägige Antwort geben können, als er sie gebeten hatte, ihr später gute Nacht sagen zu dürfen. Er war schön, er war im höchsten Grad galant; sie fühlte keine Abneigung gegen ihn und beschloß, erst dann Stellung für oder gegen ihn zu nehmen, nachdem sie seinen Charakter und die Gründe kennengelernt haben würde, welche ihren Vater veranlaßt hatten, eine Verbindung zwischen ihr und ihm nicht nur zu wünschen, sondern in einer Weise anzukündigen, welche keine Zeitversäumnis und keinen Widerspruch dulden zu wollen schien.

Die Herren befanden sich gerade inmitten einer Partie, als die Uhr die zehnte Stunde schlug. Der Oberst zog seinen Chronometer heraus, um die Zeit zu vergleichen, und sagte:

„Schon so weit! Ihr müßt mich entschuldigen. Ich muß zur Baronesse, um mich für heute bei ihr zu verabschieden.“

„Gehe!“ meinte einer. „Ich werde für dich stoßen.“

„Ich bitte dich darum. Oder – ah!“ Sein Blick war auf Müller gefallen, welcher in der Nähe des Billards saß und dem Spiel zuschaute. „Ich will dich nicht belästigen und mir lieber einen anderen Vertreter bestellen.“

Während dieser Worte trat er auf Müller zu und sagte:

„Ich bin Graf Rallion. Wer sind Sie?“

Müller hob den Kopf und betrachtete den Fragenden vom Kopf bis zu den Füßen hinab.

„Ah, Graf Rallion!“ dachte er. „Das ist ja der Gegner, mit dem du dich zu messen haben wirst!“ Und laut antwortete er: „Ich heiße Müller und bin Erzieher.“

Er hatte diese Worte trotz der rüden Anfrage des Obersten in einem höchst bescheidenen Ton gesprochen.

„Erzieher? Gut! Können Sie Billard spielen?“

„Ein wenig.“

„So vertreten Sie mich für kurze Zeit. Es ist das eine Ehre für Sie. Verstanden?“

Es machte Müller Spaß, auf die ungezogene Zumutung dieses Mannes einzugehen, darum antwortete er sehr unterwürfig:

„Ich weiß das, gnädiger Herr, und werde mir alle mögliche Mühe geben.“

„Tun Sie das! Ich sage Ihnen, wenn ich wiederkommen und sehen werde, daß Sie mir die Partie verdorben haben, so dürfen Sie wohl auf einen Lohn, aber auf keinen Dank rechnen!“

Er verließ die Stube, nachdem er seine Freunde durch einen Blick aufgefordert hatte, sich mit dem Buckligen ein Pläsir zu bereiten. Sie versuchten dies, und Müller nahm ihre losen Witze so demütig hin, als ob er gar nicht an die Möglichkeit des Widerspruches denke. Dabei spielte er so schlecht, daß er bei jedem Stoß ein schallendes Gelächter erregte.

Nach kurzer Zeit kam der Oberst zurück und blickte nach seiner Nummer. Er sah, daß sie sich verschlechtert hatte und faßte Müller am Arm.

„Herr, wie können Sie es wagen, meine Partie so zu verderben?“ rief er. „Wissen Sie, daß Sie ein dummer, deutscher Tölpel sind?“

„Sehr wohl, gnädiger Herr!“ antwortete Müller sehr ernst und mit einer tiefen, ehrerbietigen Verbeugung.

Er wurde ausgelacht, und auch der Oberst stimmte in das Lachen ein.

„Eigentlich sollte ich Sie bestrafen“, sagte er, „aber Sie sind ja ein halber Krüppel, mit dem man Nachsicht haben muß. Doch ganz und gar lasse ich Sie nicht entkommen. Sie tun, sobald die Reihe an mich kommt, noch einen Stoß für mich. Ist er gut, so dürfen Sie gehen, ist er aber schlecht, so haben Sie sich auf einen Stuhl zu stellen und uns öffentlich Abbitte zu leisten.“

„Schön, gnädiger Herr!“ sagte Müller und ergriff das Queue wieder, welches er bereits fortgelegt hatte. „Nur noch einen einzigen Stoß?“

„Ja.“

„In Ihrem Auftrag? Unter Ihrer Verantwortung?“

„Natürlich! Die Nummer ist ja die meinige!“

Müller nickte mit einem sehr devoten Gesicht, wartete, bis die Reihe an ihm war, und trat dann an die Bande. Als er das Queue anlegte, befahl der Oberst:

„Also rechte Mühe geben! Vorwärts!“

„Keine Sorge“, meinte Müller mit zuversichtlichem Lächeln. „Ich weiß ganz gewiß, daß es dieses Mal gelingen wird.“

Er holte aus, stieß mit voller Gewalt zu und – riß ein langes Loch in das Billardtuch. Die Folge war vorherzusagen. Alles lachte, der Oberst aber faßte ihn und schüttelte ihn wütend hin und her.

„Kerl, Esel, Tölpel!“ rief er. „Wissen Sie, daß ich das Tuch zu bezahlen haben werde?“

„Ja“, antwortete Müller sehr höflich, indem er sich geduldig schütteln ließ.

Gegen diese Passivität war nichts zu machen. Der Oberst ließ ihn los und rief den Wirt herbei. Dieser erklärte, daß hier der gewöhnliche Schadenersatz, der für ein kleines Loch gebräuchlich ist, nicht zureichend sei. Der gewaltige Riß war nicht zu reparieren, und der Oberst mußte sich bereiterklären, den ganzen Wert des Tuches zu bezahlen. Er ahnte dabei gar nicht, daß es Müllers wirkliche Absicht gewesen sei, ihn zu bestrafen, und befahl diesem, die öffentliche Abbitte zu tun. Müller stieg sehr bereitwillig auf einen Stuhl und sagte mit lauter Stimme:

„Ich bitte öffentlich um Verzeihung, daß der Herr Graf Rallion durch mich nichts fertigbringt als Löcher ins Tuch. Ich hoffe, daß bei der nächsten Partie nicht wieder ich derjenige sein werde, der um Verzeihung bittet. Gute Nacht!“

Er stieg vom Stuhl und war zur Tür hinaus, ehe man ihn fragen konnte, wie er seine letzten Worte gemeint habe. Die Herren dachten wohl nicht, daß das Gesagte bereits am nächsten Morgen in Erfüllung gehen würde. Müller hatte das Zimmer so schnell verlassen, um alle Weiterungen zu vermeiden und sich zur Ruhe zu begeben. Er kannte die Lage der ihm angewiesenen Kammer, da man ihm dieselbe bei seiner Ankunft gezeigt hatte, und war überzeugt, sie aufzufinden, auch ohne daß es nötig war, sich leuchten zu lassen.

Er gelangte in den ersten Stock, dessen ganzen Korridor er zu durchgehen hatte, um die Treppe zu erreichen, die ihn vollends nach oben brachte. Der Fußboden war mit einem weichen Läufer belegt, so daß seine Schritte nur ein sehr geringes Geräusch hervorbrachten. Er hatte noch nicht die Hälfte seines dunklen Weges zurückgelegt, da öffnete sich gerade vor ihm eine Tür, und eine Dame trat heraus. Sie stand nach dem Innern des Zimmers gerichtet, so daß er sie nur von hinten sehen konnte, und sagte in das Zimmer hinein:

„Nochmals gute Nacht, meine liebe Nanon. Träume nicht allzuviel von deinem Ideal, sonst verwirklicht es sich dir, wie mir das meinige!“

Sie wendete sich um und erblickte ihn. Beide standen einander gegenüber, ganz bewegungslos, sie vor Schreck und er vor glücklichem Erstaunen. Das war ja das leibhaftige Original seines Bildes! Und wie schön, wie unendlich schön war sie in dem Nachtgewand, welches ihre entzückenden Reize nicht zu verbergen vermochte. Das Blut drängte sich nach Müllers Herzen; seine Pulse stockten; er fühlte, daß dieses Mädchen sein werden müsse um jeden Preis, der sich mit der Rücksicht auf seine Ehre vertrage.

Und sie war erschrocken, hier so plötzlich einen Mann vor sich zu sehen.

„Was wollen Sie hier?“ fragte sie ihn, um nur etwas zu sagen.

„Verzeihung“, antwortete er; „der Teppich dämpfte den Schall meiner Schritte. Ich wollte vorübergehen, als Sie auf den Korridor traten.“

Er sagte dies in einem Ton, welcher ihre Bestürzung völlig beseitigte. Sie erhob das Licht, welches sie in der Hand hielt, und beleuchtete ihn, ohne daran zu denken, daß sie mit dem erhobenen Arme eine Figur von so plastischer Vollendung, so sinnverwirrender Schönheit bilde, daß er alle seine Beherrschung aufbieten mußte, um seinen Blicken zu gebieten, sich nicht zu verirren.

Jetzt fiel das Licht voll auf ihn. Ihre Augen öffneten sich; sie trat rasch einen Schritt zurück und fragte hastig:

„Wer sind Sie?“

„Ich heiße Müller und bin Lehrer“, antwortete er. Wie gern hätte er ihr seinen wahren Namen und Stand genannt und ihr gesagt: „Ich liebe dich zum Rasendwerden. Sei mein, du Krone aller Mädchen und Frauen!“

„Ah, welche Ähnlichkeit!“ sagte sie.

„Fast nur bis auf den Bart!“ erklang da eine silberhelle Stimme aus dem geöffneten Zimmer heraus.

Müller hatte bis jetzt nur Augen für die Baronesse gehabt; nun erst bemerkte er, daß eine zweite Dame im Zimmer stand und ihn betrachtete. Er konnte sich ihre Worte nicht erklären, machte eine Verbeugung und setzte seinen Weg fort.

„Mein Gott!“ hörte er hinter sich rufen. Die folgenden Worte wurden leise geflüstert, so daß er sie nicht verstehen konnte. Sie lauteten: „Der Mann ist ja – bucklig, liebe Marion. Wie schade, um dieses Gesicht!“

Marion trat wieder in das Zimmer zurück, zog die Tür heran und sagte:

„Er hat mich sehr erschreckt. Also auch du hast seine Ähnlichkeit bemerkt?“

„Mit der Photographie des Rittmeisters von Königsau? Ja. Doch gehen sie einander jedenfalls nichts an.“

„Ganz sicher. Aber im ersten Augenblicke war es mir doch, als ob er wirklich vor mir stände, ganz er selbst, nur ohne Bart. Gute Nacht, Nanon!“

„Gute Nacht, meine beste Marion!“

Die Baronesse schloß die Tür und begab sich in das nebenan liegende Zimmer, welches das ihrige war. Sie hatte es vorhin auf kurze Zeit verlassen, um noch ein paar Worte mit der Freundin zu plaudern.

Während die Damen sich zur Ruhe begaben, lehnte Müller am offenen Fenster seines Dachkämmerchens und ließ seinen Blick den dahineilenden Wolken nachschweifen. Aber er dachte an etwas ganz anderes als an die feuchten Gebilde der Luft. Er dachte an das göttliche Mädchen, das ihm jetzt erschienen war wie ein Wesen aus überirdischen Regionen. Und er dachte auch an die Worte, welche er gehört hatte, und die er nicht zu verstehen vermochte. Was hatte sie gemeint mit dem Ideal, welches ihr verkörpert worden sei? Welche Ähnlichkeit war den beiden an ihm aufgefallen? – „Bis auf den Bart“, hatte die andere gesagt.

Das meiste Nachdenken aber verursachte ihm der Umstand, daß Graf Rallion auch mit zugegen war. Hatte der General denn nicht gesagt, daß sie einander noch gar nicht gesehen hätten? Sollte dies auf einem Irrtume beruhen? Sollte vielleicht gerade dieser Oberst ihr Ideal gewesen sein?

Bei diesem Gedanken war es Müller, als ob man ihm ein Schwert mitten durch das Herz stoße. Es türmte sich vor ihm auf wie eine dunkle, verhängnisvolle Wand, bereit, über ihm zusammenzubrechen und ihn unter sich zu begraben. Er fand während der ersten Hälfte der Nacht keine Ruhe und schlief erst ein, als schüchterne Vogelstimmen bereits das Nahen des anbrechenden Morgens verkündeten.

Und dann kam der Hausknecht, um ihn mit der Bemerkung zu wecken, daß das Dampfboot in kurzer Zeit abfahren werde. Er erhob sich und fand, als er das Gastzimmer betrat, daß die Passagiere bereits alle aufgebrochen waren. Er trank seinen Kaffee schleunigst und eilte ihnen nach. Da fiel ihm unterwegs ein, daß er der Baronesse hätte sagen können, daß er als Erzieher ihres Stiefbruders engagiert sei; doch konnte er den Umstand, es unterlassen zu haben, für keinen Fehler halten. Er brauchte ja nur zu tun, als ob er ihren Namen gar nicht kenne.

Es war nach dem gestrigen schönen Tage ein minder angenehmer Morgen eingetreten. Dichter Nebel lag auf dem Fluß, und es schien nicht, daß er sich bald teilen und erheben wolle. Die Luft lag schwer und regungslos auf der Gegend, und anstatt der gewöhnlichen Morgenfrische war eine laue, unerfreuliche Pression zu bemerken, welche die feuchten Ausdünstungen der Wiesen und des Flusses beinahe greifbar machte.

Als Müller an den Fluß gelangte, stand man bereits im Begriff, das Landungsbrett vom Schiff wegzuziehen. Er sprang hinüber und löste sich an der Schiffskasse ein Billet des zweiten Platzes. Als Schulmeister konnte er nicht gut für den ersten Platz bezahlen. Da er hinten eingestiegen war, mußte er die ganze Länge des ersten Platzes durchwandern. Dort saßen bereits die französischen Herren auf ihren Feldstühlen. Als sie ihn erblickten rief der Oberst:

„Da kommt auch der deutsche Tölpel! Macht ihm Platz, damit er kein Unheil anrichtet!“

Sie ließen ihn unter lautem Lachen an sich vorübergehen. Er nickte ihnen mit ehrerbietiger Freundlichkeit zu und zog den Hut vor ihnen, als ob er ihre höhnischen Gesichter für den Ausdruck gnädiger Herablassung halte.

Vorn auf dem zweiten Platz saß Fritz, der Diener, welcher gar nicht tat, als ob er Müller bemerke. Er hatte sich sehr verändert. Anstatt seiner gestrigen Kleidung trug er eine weite, blauleinene Bluse, ebensolche Hose und ein rotes Tuch um den Hals. Auf seinem ganz glattgeschorenen Kopf saß ein Hut von der Form, wie sie in jenen lothringischen Gegenden, besonders in den Departements Moselle und Meurthe gebräuchlich ist. Wer Fritz nicht kannte, der mußte ihn für einen jungen Landmann aus der Gegend von Metz oder Nancy halten. Müller hatte keine Ahnung, auf welche Weise Fritz zu dieser Umwandlung gekommen war, doch freute er sich über dieselbe, da sie den Umständen ganz angemessen war. Er wußte, daß Fritz schlau und vorsichtig war, daß er sich auf dessen Treue und Verschlagenheit vollständig verlassen konnte, und so erwartete er die spätere Erklärung desselben mit größter Ruhe.

Das Schiff setzte sich in Bewegung und stieß vom Ufer ab. Müller stand an der Brüstung und beobachtete die Bewegung der Räder, welche die heute sehr dunkel gefärbten Wasser peitschten. Da bemerkte er einen Mann, welcher vom ersten Platz auf dem Hinterteil des Schiffes aus langsam nach vorn geschritten kam. Beim Anblick dieses Herrn drehte er sich schnell um. Es war ersichtlich, daß er verhindern wollte, von ihm genauer betrachtet zu werden.

Der betreffende Herr war sehr anständig gekleidet. Seine fast militärisch stramme Haltung, der elegant gehaltene Vollbart und das goldene Lorgnon gaben ihm ein vollständig distinguiertes Aussehen. Seine scharfen Blicke überflogen die Anwesenden. Als er den Buckligen erblickte, huschte ein leises Lächeln über seine geistreichen Züge, und er schritt in der Haltung eines Mannes auf ihn zu, der sich gelangweilt fühlt und um jeden Preis eine Zerstreuung sucht, mag sie sich ihm nun bieten, auf welche Art es immer sei.

Müller bemerkte diese Absicht und wendete sich noch weiter ab, soviel dies, ohne auffällig zu werden, geschehen konnte. Es half ihm nichts. Der Fremde schlenderte bis hart an ihn heran, blieb da stehen, warf einen beobachtenden Blick hinaus auf den dichten Nebel und sagte dann:

„Ein unangenehmer Morgen! Dieser Nebel ist so dick und massig, daß es scheint, als könne man ihn in Bänder zerschneiden. Ich fürchte, wir werden auf unserer Fahrt ein tüchtiges Gewitter bekommen.“

Müller wußte, daß ihn der Fremde sehr gut kenne, nicht nur ihn, sondern auch den Diener Fritz. Er sah seinen ganzen Plan in der allergrößten Gefahr, aber er mußte antworten. Er verstellte soviel wie möglich seine Stimme und sagte:

„Das Gewitter ist uns sicher. Man wird nach unten gehen müssen.“

Dabei drehte er sich um und machte Miene, seinen Worten sogleich die Tat folgen zu lassen. Der andere jedoch legte ihm die Hand auf den Arm und meinte:

„Sie können noch warten, denn das Wetter hat sich noch lange nicht ausgebildet. Erlauben Sie mir, mich Ihnen vorzustellen! Ich nenne mich Bertrand und bin seit einiger Zeit Arzt in Thionville.“

Jetzt war Müller gezwungen, sich voll nach dem Sprecher herumzuwenden. Er tat dies und sagte unter einer Verbeugung:

„Ich heiße Andreas Müller und gehe als Erzieher nach Ortry.“

„Andreas Müller, Doktor der Philosophie; ich weiß das.“

„Ah!“ sagte Müller, beinahe erschrocken.

„Ja. Ich bin Hausarzt des Herrn von Sainte-Marie, der sich gegenwärtig in Ortry befindet, und weiß, daß er Sie erwartet.“

„Aber mein Herr, wie können Sie wissen, daß ich gerade der Erwartete bin.“

„Sie nennen mir ja Ihren Namen, den ich von dem Herrn Baron gehört habe. Und übrigens“ – hier sank seine Stimme zu einem leiseren Ton herab – „hörte ich es auch von meinem Kräutersammler, welchen ich gestern abend in Trarbach engagiert habe.“

Müller machte eine Bewegung, welche eine stumme Frage ausdrückte, und der Arzt, welcher dies bemerkte, fuhr fort:

„Ich traf diesen Mann, dem ich sehr viel verdankte, ganz unerwartet. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß ich im letzten deutsch-österreichischen Krieg auf der Seite Österreichs als Arzt tätig war. Bei Gitschin passierte es mir, daß ich den Verbandplatz wechselte und dabei vor ein preußisches Ulangenregiment geriet, welches zur Attacke vorstürmte. Ich sah, daß ich nicht weichen konnte und zermalmt werden würde, besonders da mich in demselben Augenblick ein Granatsplitter gefährlich verwundete und zu Boden riß. Ich erhob unwillkürlich in flehender Stellung die Arme. Die Lanzenspitzen der Ulanen flogen wie ein brausender Wald daher und befanden sich kaum noch hundert Schritte von mir entfernt. Es war ein furchtbarer, aber militärisch schöner Anblick. Das heransausende Regiment bildete eine fest geschlossene, eisenstarrende Masse; man sah, es werde unwiderstehlich alles vor sich niederreißen. In seiner Front war nicht die geringste Lücke zu bemerken; ich war verloren und erwartete, im nächsten Augenblick die stampfenden Pferdehufe auf meinem Körper zu fühlen. Da bemerkte ein Offizier meine emporgestreckten Hände; er spornte sein Pferd zu doppelter Eile, in weiten, tigergleichen Sätzen kam er voraus- und herangesprengt, und in dem er an mir vorüberschoß, bog er sich zu mir herab, faßte mich mit starker Faust beim Arm, riß mich empor, warf mich vor sich über sein Pferd und nahm nun wieder Fühlung mit den Seien. Das geschah so exakt, so elegant und mit Entwicklung einer solchen ungeheuren Körperstärke, als habe er sich für diesen Fall besonders eingeübt. Mein zerschossenes Bein schmerzte mich, mein Kopf brannte. Ich sah rechts und links die fürchterlichen Lanzen hervorragen; ich hörte den Donner des Hufgestampfes; ich sah gerade vor uns das Aufblitzen der österreichischen Batterien; ich hörte das Brüllen der Kanonenschlünde, deren Kugeln fürchterliche Lücken in die Masse der Ulanen rissen; doch das Regiment schloß die Lücken augenblicklich wieder und warf sich auf die Infanterie, welche die Bedeckung der Batterien bildete; ich hörte noch das Schnellfeuer der Verteidiger, dann entschwand mir im Getöse und im Tumult des wilden Kampfes die Besinnung.“

Müller hörte wortlos zu; aber seine Augen leuchteten und seine Wangen glühten. Er schien das Gefährliche seiner jetzigen Lage ganz vergessen zu haben; er dachte gar nicht daran, daß seine Verkleidung entdeckt werden könne, ja bereits durchschaut sei. Der Arzt fuhr nach einer kurzen Pause fort:

„Als ich wieder zu mir kam, lag ich zwischen den Kanonen der eroberten Position; ein preußischer Regimentsarzt kniete, mit meiner Verwundung beschäftigt, bei mir, und dabei stand der Premierleutnant, welcher mich gerettet hatte. Er übergab mich, nachdem ich verbunden worden war, seinem Burschen, der eine Kugel in den rechten Arm erhalten hatte und im Lazarett mein treuester Pfleger wurde. Ihnen beiden, dem Leutnant von Königsau und seinem wackeren Fritz, verdanke ich meine Rettung und mein Leben. Der Premierleutnant ist zum Rittmeister avanciert. Ich habe ihn nicht vergessen und würde ihn unter Tausenden heraussuchen und unter jeder Kleidung erkennen.“

Er sprach diese Worte mit einem feinen Lächeln und fügte dann hinzu:

„Ich bin ein Deutsch-Österreicher, ein Deutscher von ganzer Seele; aber ich hatte in Thionville einen Verwandten, der Arzt war und eine bedeutende Praxis besaß; er starb und hinterließ mir sein Vermögen mit dieser Praxis. Ich nahm keine Veranlassung, diese Lebensstellung auszuschlagen, und befinde mich sehr wohl. Gestern abend übernachtete ich in Trarbach und traf daselbst zu meiner außerordentlichen Freude jenen wackeren Offiziersdiener. Er suchte sich in der Nähe von Thionville eine leichte Stellung, die ihm Zeit genug läßt, seinen persönlichen Liebhabereien nachzuhängen, und so habe ich ihn als Kräutersammler bei mir angestellt. Was ich weiter ahne und schließe, Herr Doktor, das ist wohl nicht nötig, zu sagen. Ich freue mich, Sie recht oft in Ortry zu sehen, und versichere Ihnen auf mein heiligstes Ehrenwort, daß ich nur den innigsten Wunsch habe, Ihnen nützlich sein zu können.“

Er reichte Müller die Hand und kehrte dann nach seinem früheren Platz zurück. Gott sei Dank, die Gefahr war vorüber. Fritz hatte sehr viel gewagt, diesen Arzt zu seinem Vertrauten zu machen, aber das Wagnis war gelungen. Übrigens wußte Fritz ja weiter nichts, als daß sein Herr verkleidet nach Ortry gehe; mehr konnte er dem Arzt nicht gesagt haben. Und dieser hatte jedenfalls Bildung, Gemüt und Dankbarkeit genug, seinen Lebensretter nicht in Verlegenheit zu bringen. Vielleicht war es sogar sehr vorteilhaft, ihm begegnet zu sein. Seine Bekanntschaft mit den Verhältnissen und Personen konnte für Müller von großem Nutzen sein, und zunächst war es ja schon als eine große Bequemlichkeit zu betrachten, daß jener Fritz ein Unterkommen gewährt hatte, welches diesem erlaubte, seinem Herrn zu jeder Zeit zur Verfügung zu stehen. Es war recht umsichtig von Bertrand gewesen, den Kräutersammler in französische Tracht zu stecken, und ebenso war es Dankes wert, daß er Müller aufgesucht hatte, um sich ihm zu erklären und zu beruhigen. Und zuletzt zeigte der Arzt noch den feinen Takt, sich zurückzuziehen, sobald er erkannt hatte, daß es ihm gelungen sei, die Verlegenheit Müllers zu heben.

Der letztere fühlte sich vollständig befriedigt. Er sah, daß Fritz einen bittendfragenden Blick herüberwarf, und beantwortete dieses stumme Gesuch um Verzeihung mit einem wohlwollenden Lächeln, fügte dazu aber ein leises Emporziehen der Brauen, welches dem Diener bedeuten sollte, in Zukunft nicht mehr so eigenmächtig zu handeln.

Unterdessen war das Dampfboot bereits über Bernkastel hinausgekommen, ohne daß die Nebel weichen wollten. Es passierte noch Mühlheim, Wingerath und Emmel, und nun endlich zog der Nebel in langen Schwaden über die Wellen dahin. An dieser Stelle macht der Fluß eine weite Biegung nach Norden hin und bietet der Schiffahrt gefährliche Hindernisse dar. Während er das linke Ufer unterhöhlt hat und da tiefe Strudel bildet, setzt er auf der anderen Seite alles ab, was er mit sich führt. Kapitän und Steuermann müssen hier beide gleich vorsichtig sein.

Die Nebel schwanden, aber anstatt daß es heller wurde, legte sich eine unheimliche Dunkelheit auf die Erde nieder. Der Himmel hatte sich schwarz umzogen, und die Wolken hingen schwer und tief hernieder, so daß es schien, als ob man sie greifen könne. Ein lang andauerndes Wetterleuchten umzuckte den ganzen Horizont; einzelne schwere Tropfen fielen, dann fuhr ein blendender Blitzstrahl hernieder, es war, als ob ein großer, ungeheurer Feuerklumpen vom Himmel falle – ein entsetzlicher Donnerschlag erfolgte, und nun brach ein Regen los, so massenhaft, so flutenähnlich, daß man meinen sollte, die Wellen eines ganzen Meeres stürzten von der Höhe hernieder.

Das Verdeck des Schiffs war im Nu von sämtlichen Passagieren verlassen. Sie eilten nach den Kajüten, um Schutz zu suchen. Auch Müller war nach unten gestiegen.

Droben befanden sich nur die zur Führung des Schiffes dienenden Leute. Sie hatten einen schweren Stand. Blitz folgte auf Blitz und Schlag auf Schlag. Der Regen goß so dicht herab, daß der Mann, welcher vorn am Buge stand und die Glocke läutete, kaum zehn Fuß weit zu sehen vermochte. Er mußte sich festhalten, um vom Sturm nicht fortgerissen zu werden.

Die vorhin erwähnte Krümmung war schon zur Hälfte überwunden, und man durfte hoffen, in kurzer Zeit in Thron oder Neumagen anzulegen, wo man das Gewitter vorüberlassen konnte. Der Dampfer kämpfte mit aller Kraft gegen die aufgeregten Wogen an, welche in rasender Schnelle ihm entgegenschossen. Der Mann an der Glocke gab sich alle Mühe, mit seinem Blick die Regenmassen zu durchdringen, welche ihm von dem orkanartigen Sturm entgegengeschleudert wurden. Da – er horchte auf; es war ihm, als ob er vor sich ein Krachen und Stöhnen, ein eigenartiges Rauschen und Prasseln vernommen habe, welches nicht mit dem Heulen des Sturms und dem Brausen der Wogen verwechselt werden konnte. Schnell drehte er sich zurück und hielt die Hände an den Mund, um den Warnungsruf erschallen zu lassen – zu spät, denn in demselben Augenblick ertönte ein lauter schmetternder Krach; das Schiff erzitterte in seinem ganzen Bau, und der Mann, welcher den Ruf hatte ausstoßen wollen, wurde von dem Bug des Fahrzeugs auf eine gewaltige, sich da draußen auftürmende Holzmasse geschleudert. Sein Angstschrei erschallte zu gleicher Zeit mit demjenigen des Kapitäns und Steuermanns. Der erstere war von der Kommandobrücke auf das Deck gestürzt und der zweite von seinem Rad hinweg hinaus in die Wogen geschleudert worden.

Wie sich später herausstellte, hatte sich weiter oben ein sehr tiefgehendes Floß losgerissen und war von dem Sturm und den wilden Wogen mit rasender Schnelle flußab getrieben worden. Der Zusammenprall desselben mit dem Dampfer hatte in den beiden Kajüten des letzteren natürlich eine ganz schreckliche Verwirrung hervorgerufen. Die Passagiere waren zu Boden geschleudert worden und mit ihnen alles, was nicht niet- und nagelfest war.

Beim Andrang so vieler Menschen hatten Marion und ihre Freundin es vorgezogen, in der Damenkajüte Schutz zu suchen. Jetzt stürzten beide aus dem engen Raum heraus. Marion erblickte den Grafen Rallion, welcher sich soeben von seinem Fall wieder aufgerichtet hatte.

„Oberst, um Gottes willen, retten Sie uns!“ rief sie.

Er wendete sich nach ihr hin und wollte eben antworten, als vom Verdeck herab der laute, angstvolle Ruf erschallte:

„Rette sich, wer kann! Wir sinken bereits!“

Als Rallion diese Worte hörte, verzichtete er zu antworten. Er sprang mit einem raschen Satz nach der Treppe und eilte hinauf, die Passagiere ihm nach. Die beiden Damen wurden zur Seite gedrängt; keiner nahm Rücksicht auf sie. Man zerquetschte sich fast an der engen Tür, welche nach oben führte; man heulte und schrie, man tobte und fluchte; man schlug mit den Fäusten um sich, um den anderen zuvorzukommen. Und dazu krachte der Donner, und die Blitze leuchteten mit ihrem grellen Schein zu den kleinen Fensterchen herein.

„Gott, erbarme dich unser!“ schluchzte Nanon, indem sie sich zitternd in die Ecke schmiegte, um von den rasenden Menschen nicht erdrückt zu werden.

Jetzt, in diesem so gefahrvollen Augenblick, zeigte sich die Überlegenheit Marions in ihrer vollen Größe. Das schöne, stolze Wesen schlang ihre Arme um die bebende Freundin uns sagte:

„Nur Mut! Noch sind wir nicht verloren. Der Oberst ist fortgeeilt, um zu sehen, wie es steht. Warten wir; er kommt sicher wieder, um uns zu holen oder zu beruhigen!“

In der zweiten Kajüte war die Verwirrung womöglich noch größer als in der ersten. Auch hier war alles untereinander geschleudert worden. Hier hörte man das knirschende Eindringen des Bugs in die Stämme des Floßes und das Krachen, Stöhnen und Prasseln der schweren Hölzer, welche von den Fluten vor dem Schiff auf- und übereinandergeschoben wurden. Der Heizer war mit dem Maschinisten vor Angst auf das Deck gesprungen, und die nun sich selbst überlassene Maschine arbeitete, ohne gestoppt zu werden, gegen die mächtigen Massen des Floßes an. Dadurch stieg das Schiff vorn in die Höhe und sank hinten tiefer in den Strom. Ein Krach ertönte ganz vorn am Vorderteile, und sofort drang das Wasser in einem armdicken Strahl zu der durchbrochenen Wand herein.

Jetzt drängten die Passagiere unter wildem Angstgeheul nach der Tür. Da kam Müller der Gedanke an die Baronesse. Diese war jedenfalls auch an Bord. Er sprang nach der Seite, auf welcher Fritz stand, ohne sich in das Gedränge zu mischen, den Blick auf seinen Herrn gerichtet, um sich nach dessen Verhalten zu richten.

„Fritz“, rief dieser, so daß er die Worte trotz des Schreiens der Menschen, des Tosens der Fluten und des Heulens des Sturmes hören konnte, „hast du zwei vornehme Damen einsteigen sehen?“

„Ja, eine Blonde und eine Braune“, antwortete der Gefragte. „Sie müssen in der ersten Kajüte sein.“

„Komm, schnell zu ihnen!“

Er sprang zu der kleinen Tür hinaus, welche in die Restaurationsküche und den Maschinenraum führte. Aus diesem letzteren ging eine schmale, steile Treppe nach dem Verdeck. Fritz folgte ihm sofort.

Als sie oben ankamen, sahen sie zunächst den Kapitän liegen, welcher mit dem Kopf auf die harten Planken gestürzt war und die Besinnung verloren hatte. Am Hinterteil waren die französischen Herren beschäftigt, den dort hängenden Hilfskahn näher heranzuziehen, um sich in denselben zu retten. Müller sprang hinzu und rief:

„Halt! Die Damen gehen vor!“



„Nein, wir selbst gehen vor. Pack dich, Tölpel!“ antwortete der Oberst, indem er hinab in den Kahn sprang.

Das Schiff war hinten bereits so tief gesunken, daß das Wasser bis an die Fenster der Kajüte stieg. Müller sah, daß keine Zeit zu verlieren sei. Er gab es auf, mit den Franzosen um das Boot zu kämpfen, zumal jetzt auch die anderen Passagiere herbeidrängten und unter vielstimmigem Brüllen nach demselben verlangten. Er sprang zur Kajütentreppe, und Fritz folgte ihm hinunter.

Dort lehnten die beiden Mädchen noch eng umschlungen in der Ecke. Nanon hielt die Augen geschlossen, Marion aber blickte den Kommenden voll entgegen.

„Ist's gefährlich?“ fragte sie.

Müller deutete nach dem Fenster, über welchem die Wogen bereits emporschlugen.

„Kommen Sie, schnell, schnell!“ rief er, die Hand nach Marion ausstreckend.

„Holen Sie den Grafen Rallion!“ befahl sie, ohne vorher zu fragen, ob Müller denselben auch kenne.

„Er ist entflohen. Um Gottes willen, schnell!“

Die Flut hatte soeben die Scheibe des einen Fensters eingedrückt und drang durch die entstandene Öffnung herein. In wenigen Augenblicken mußte das Schiff sinken. Müller faßte die Baronesse, hob sie empor, als ob sie ein Kind sei, und eilte mit ihr nach dem Verdeck. Fritz hatte Nanon ergriffen und sprang hinter ihm her.

Da oben hatte die Gefahr den höchsten Grad erreicht. Der Regen schien nicht mehr in Tropfen, sondern in einer kompakten Masse zu fallen, durch welche der Blitz seine Feuerstrahlen schleuderte. Das Vorderteil des Schiffes hatte sich hoch emporgearbeitet, während das Hinterteil sichtbar immer tiefer sank. Mächtige Stämme und Hölzer, welche sich vom Floß losgerissen hatten, schossen vorüber. Soeben löste sich der Kahn, in welchem die Franzosen saßen, vom Schiff, und ein hundertstimmiges Wutgeheul folgte ihm.

„Feigling!“ murmelte Marion. Und lauter, so daß Müller es hören mußte, fügte sie hinzu. „Nun gibt es keine Rettung; wir sind verloren!“

Er ließ sie auf die Füße gleiten, deutete hinaus auf die wirbelnde Flut und fragte:

„Wollen Sie sich mir anvertrauen?“

Sie war trotz ihres mutigen Herzens totenbleich geworden und antwortete:

„Gegen diesen Aufruhr der Elemente ist jeder Kampf vergebens.“

„Man muß es versuchen. Sehen Sie!“

Er deutete nach Doktor Bertrand, welcher in diesem Augenblick über Bord sprang, faßte sie abermals fest und zog sie nach dem Steuer. Dort lag das Schiff bereits so tief, daß das Wasser das Verdeck erreichte. Es bedurfte hier keines Sprungs; man konnte langsam in das Wasser gleiten. Marion blickte sich nach der Freundin um. Diese hing ohnmächtig an Fritzens Hals, der jetzt an seinem Herrn vorübereilte und mit seiner schönen Last in die Fluten glitt. Da legte auch die Baronesse ihre Arme um Müller, der mit ihr augenblicklich dem mutigen Diener folgte.

Jetzt begann für ihn ein hartes, fast übermenschliches Ringen mit dem empörten Element. Die Wogen türmten sich hoch, wie ein Sturm auf dem Meer. Sie rissen die Stämme mit sich fort und brachten gerade dadurch den beiden Schwimmern die größte Gefahr. Müller war mit dem Wasser vertraut. Er erkannte, daß es nur darauf zu achten habe, immer oben zu bleiben; der Strom zog ihn ganz von selbst mit fort und dem Ufer entgegen, das hier ja eine Krümmung machte.

Marion war zwar bereits infolge des Regengusses vollständig durchnäßt worden; aber als die tosenden Wellen über ihr zusammenschlugen, war es doch um sie geschehen, sie stieß einen Schrei aus und wurde ohnmächtig, Müller schwamm auf dem Rücken und legte sich die Gestalt des Mädchens quer über den Leib, sorgfältig darauf achtend, daß kein Wasser in ihren Mund fließe, und daß er nicht in Berührung mit einem der gefährlichen Balken komme. Sie lag regungslos auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Durch diese Lage wurde der herrliche Busen hervorgehoben, auf dessen schönen Formen Müllers Blicke trotz der Gefahr, in welcher er schwebte, immer wieder zurückkehrten. Er hatte das Schiff kaum verlassen, so versank es vor seinen Augen; das Donnern und Tosen des Sturms verschlang den Todesschrei derjenigen, welche sich noch an Bord befanden.

Fritz war nicht mehr zu sehen; der dichte Regen erlaubte Müller nicht, weit zu sehen; doch hatte er keine Sorge um ihn, da jener ein ausgezeichneter Schwimmer war. Zwar waren die Ufer nicht zu erkennen, aber wenn er sich nur immer so viel wie möglich links hielt, mußte er bald landen können.

So vergingen fünf Minuten, bis die phantastischen Gestalten alter Weiden im Guß des Regens auftauchten. Müller stieß noch einige Male kräftig aus und kam an das Ufer. Aber er mußte sich an den überhängenden Zweigen festhalten, um nicht fortgerissen zu werden. Es kostete ihn sehr große Anstrengung, festen Fuß zu fassen, ohne seine süße Bürde zu verlieren.

Nach mühevoller Landung legte er sie in das Gras nieder, um einige Augenblicke auszuruhen. Da lag sie bleich und regungslos. Das nasse Gewand legte sich eng an die herrlichen Glieder und ließ die Formen derselben so deutlich erscheinen, als ob sie unbedeckt seien. Müller achtete nicht auf den Regen; er vergaß das Brausen und Brüllen des Wassers; er sah nur die Heißgeliebte vor sich. Er ließ sich neben ihr nieder, nahm ihren Kopf in den Arm und legte seine Lippen auf den Mund, welcher, leise geöffnet, die köstlichen Zahnperlen sehen ließ. Er küßte, küßte und küßte sie wieder und immer, bis er fühlte, daß ihre Lippen warm wurden.

Da, da schlug sie langsam die Augen auf; ihr matter Blick ruhte auf ihm mit einem Ausdruck, als ob sie sich im Traum befinde. Der Sturm machte eine kurze Pause, und da klang es aus ihrem Mund:

„Richard!“

Er fuhr zurück; er hatte das Wort ganz deutlich vernommen, und er sah das glückliche Lächeln, unter welchem die Herrliche die Augen wieder schloß, um von neuem in Bewußtlosigkeit zu sinken. Das war ja sein Name! Aber er schüttelte den Kopf. Sie konnte doch unmöglich ihn gemeint haben! Jedoch sie hatte willenlos ein Geheimnis verraten; sie liebte bereits; sie liebte einen Glücklichen, welcher auch Richard hieß. War dies vielleicht Graf Rallion? Nein; Müller besann sich, daß dieser einen anderen Vornamen hatte, und fühlte sich durch diesen Umstand befriedigt, obgleich die Entdeckung, daß ihr Herz nicht mehr frei sei, sein Herz mit einem brennenden Schmerz durchzuckte.

Aber es war hier nicht der Ort, an diese Dinge zu denken; es galt vielmehr, die Baronesse unter ein schützendes Dach zu bringen.

Da, wo er an das Ufer gestiegen war, lagen wohlgepflegte Felder, ein sicheres Zeichen, daß menschliche Wohnungen nicht weit entfernt seien. Er eilte eine kleine Strecke am Fluß hinab und fand einen Weg, welcher oft betreten zu sein schien. Er holte die Baronesse und verfolgte, sie auf den Armen tragend, diesen Pfad, der schließlich in einen Fuhrweg mündete.

Da fühlte er, daß Marion sich bewegte. Halb noch von ihrer Ohnmacht umfangen, schlang sie die Arme um seinen Hals und legte den Kopf auf seine Achsel. Er fühlte die weiche Gestalt eng an sich liegen; er drückte sie fest und immer fester an sich, so daß ihr Busen an seiner Brust zu ruhen kam, und gelobte sich im stillen, jenen Richard kennenzulernen und mit ihm um den Besitz dieses unvergleichlichen Wesens in die Schranken zu treten.

Er mochte wohl zehn Minuten lang gegangen sein, ohne von der Schwere seiner Last behindert zu werden, als er einen Bauernhof bemerkte, auf dessen Eingang der Weg gerade zuführte. In dem großen, breiten Tor befand sich ein kleines Pförtchen, durch welches er eintrat. Die Bewohner des Gutes bemerkten ihn; sie sahen, daß er eine Dame auf den Armen trug und sprangen ihm entgegen.

Die Nachricht von dem verunglückten Schiff, welche er brachte, erregte die größte Bestürzung. Die Männer brachen sofort auf, um nach dem Fluß zu gehen und zu sehen, ob noch zu helfen und zu retten sei. Den Frauen aber übergab Müller die Baronesse, um sie zu entkleiden und in ein Bett zu legen. Dann kehrte auch er nach der Unglücksstätte zurück, besonders um nach Fritz und der anderen Dame zu suchen.

Der Regen hatte mittlerweile etwas nachgelassen, so daß man wieder in eine größere Entfernung sehen konnte. Der Bauer und seine Knechte erblickten den Schornstein des Schiffs, welcher schief aus den Fluten ragte. Am Ufer war kein Mensch zu sehen. Das Floß war zerrissen worden und verschwunden; es gab nichts zu retten.

Müller forderte die Leute auf, mit ihm stromabwärts zu gehen, und da fanden sie nach einiger Zeit eine sehr sichtbare Fährte im hohen Grase des Ufers. Hier mußte Fritz das Wasser verlassen haben.

„Vielleicht hat der Mann, den Sie suchen, unsere Wächterhütte gefunden“, bemerkte der Bauer.

„Wo ist diese?“

„Dort hinter jenem Erlengebüsch.“

Sie schritten darauf zu, hinter den Büschen erblickten sie eine sehr primitiv aus ausgeackerten Feldsteinen errichtete Hütte. Die Türöffnung derselben war ohne Verschluß, und die einzige Fensternische war mit Stroh verstopft. Als sie sich näherten, trat ein Mann hervor, es war wirklich Fritz, der Diener.

„Wo ist die Dame?“ fragte Müller.

Fritz deutete nach innen und antwortete:

„Da auf dem Stroh. Sie ist noch immer ohne Bewußtsein.“

„Hat sie vielleicht zuviel Wasser schlucken müssen?“

„Nicht halb soviel als ich. Übrigens dürfen Sie ohne Sorge sein; es ist jemand bei ihr, der es versteht, zu beurteilen, ob sie halb ertrunken ist oder ganz.“

„Ach, vielleicht Doktor Bertrand?“

„Allerdings. Er stand bereits am Ufer, als ich ankam. Wir fanden dann miteinander diesen Palast, in welchem wir uns bis jetzt ganz wohl befunden haben.“

Als Müller eintrat, kniete der Arzt bei der Dame. Er erhob sich sofort und sagte:

„Ach, Herr Doktor Müller! Ich muß sie um Verzeihung bitten, daß ich so ohne allen Abschied vom Schiff ging. Aber ich wußte die Damen unter der besten Aufsicht und hatte vor allem die Pflicht, mich als Arzt zunächst zu retten, um dann zu Diensten sein zu können. Diese Dame ist nur infolge des Schreckens ohnmächtig. Es wird nichts für sie zu fürchten sein, wenn wir sie nur so bald als möglich aus den nassen Kleidern und in einen guten Schweiß zu bringen vermögen.“

„Es ist ein Meierhof in der Nähe“, antwortete Müller. „Ich werde sie hinbringen, die Baronesse ist auch bereits dort.“



Er nahm das Mädchen auf die Arme und schritt den anderen voran, dem Bauerngut zu, wo der Arzt sich sofort zu der Baronesse begab, während die Frauen einstweilen für Nanon sorgten.

Marion war wieder zu sich gekommen und sehr erstaunt darüber, daß eine männliche Person es wagte, zu ihr zu kommen. Bertrand entschuldigte sich:

„Gnädiges Fräulein, ich bin Arzt und halte es für meine Pflicht, Ihnen meine Aufwartung zu machen, da sich keine andere wissenschaftliche Hilfe in der Nähe befindet.“

Diese Worte versöhnten sie sofort.

„Ach, Sie sind Arzt, mein Herr“, meinte sie. „Wo befinde ich mich?“

„Auf einem Meierhof in der Nähe der Unglücksstelle.“

„Wer hat mich hierher gebracht? Ist mein – Retter am Leben?“

„Er befindet sich wohl und hat Sie nicht nur aus den Fluten gerettet, sondern auch hierher getragen.“

„Wer ist dieser Mann?“

„Es ist ein Doktor der Philosophie, namens Müller.“

„Also ein Deutscher?“

„Ja. Glauben Sie, daß dieser Umstand geeignet ist, den Wert seiner Tat zu vermindern?“

„Oh, nicht im geringsten. Ich bin zwar Französin, aber keineswegs eine Deutschenhasserin aus Passion.“

„Das wird Herr de Sainte-Marie nur sehr ungern bemerken!“ lächelte Bertrand.

„Wie? Sie kennen meinen Vater?“

„Ich habe die Ehre, ihn sogar sehr genau zu kennen. Während der Zeit Ihrer längeren Abwesenheit habe ich mich in Thionville etabliert und bin so glücklich gewesen, der Hausarzt Ihres Herrn Vaters und Großvaters zu werden.“

„Und wie kommt es, daß Sie mich kennen?“

„Ich war Passagier desselben Schiffs, auf welchem Sie in Todesgefahr schwebten. Ich hörte da Ihren Namen nennen. Wie Sie an meinem Anzug sehen werden, habe ich mich durch Schwimmen gerettet. Wie befinden Sie sich, mein gnädiges Fräulein?“

„Ich bin bereits in wohltätigem Schweiß und hoffe, ohne ferneren Schaden davongekommen zu sein. Wie aber geht es meinem Retter?“

„Oh, der ist eine starke, sehr widerstandsfähige Natur, wie es scheint. Er wird die Kleider wechseln, um sie zu trocknen; das ist alles. Für Sie aber und die andere Dame –“

„Ah, Nanon!“ unterbrach sie ihn: „An die Gute habe ich eben gedacht, ehe Sie eintraten. Ist auch sie gerettet worden?“

„Ja, mein Kräutersammler hat sie nach dem Ufer gebracht. Sie befindet sich in einem anderen Zimmer dieses Hauses, und ich hoffe, daß sie ebenso schnell wieder wohl sein wird wie Sie. Ich werde in die Apotheke des nächsten Dorfes schicken, um einige Medikamente kommen zu lassen, und bin überzeugt, daß Sie morgen früh Ihre Reise fortsetzen können.“

„Aber um Gottes willen nicht wieder mit dem Dampfer! Ich werde mir einen Wagen besorgen, der mich über Hetzerath und Schweich nach Trier bringen soll, von wo aus ich dann die Bahn benutzen werde.“

Unterdessen hatten Müller und Fritz sich ihrer nassen Kleider entledigt und sich von den Bewohnern des Hofes andere geliehen. Der Regen hatte jetzt vollständig aufgehört; die Wolken waren verschwunden, und am Himmel erglänzte die helle Sonne, um mit ihren liebevollen Strahlen die vom Unwetter erkältete Erde zu erwärmen. Müller trat vor das Tor und sah einige Männer auf das Gut zukommen. Er erkannte bereits von weitem den Oberst Rallion und dessen Freunde. Er trat wieder in den Hof zurück, um ihnen nicht sogleich wieder als Zielscheibe ihrer schlechten Witze zu dienen. Sie kamen heran und trafen als ersten den Arzt, welcher aus der Tür getreten war, um nach dem Wetter zu sehen.

„Heda, guter Freund“, rief ihm der Oberst zu, der ihn zunächst für einen Bauern hielt, „wißt Ihr bereits von dem Unglück, welches dort auf dem Fluß geschehen ist?“

„Ich denke, sehr wohl“, antwortete Bertrand lächelnd.

Rallion betrachtete ihn genauer und sagte dann:

„Alle Teufel, Sie waren ja mit dabei, wenn ich nicht irre. Sie fuhren ja mit auf dem ersten Platz. Sind noch andere gerettet?“

„Bis jetzt weiß ich nur vier.“

„Wer ist es?“

„Zwei Damen und zwei Herren.“

„Wer sind die Damen? Schnell, schnell!“

„Die Baronesse Marion de Sainte-Marie und eine Freundin von ihr.“

„Gott sei Dank! Diese suche ich. Wer hat sie ans Ufer geschafft?“

„Doktor Müller.“

„Ah, der deutsche Tölpel.“

Der Arzt machte ein sehr ernstes Gesicht und antwortete in verweisendem Ton:

„Mein Herr, es erscheint mir gerade nicht tölpelhaft gehandelt, eine Dame vom Tod zu retten, während andere feig davonlaufen. Hätten Sie sich nicht des Kahnes bemächtigt, der mit Ihnen verschwunden ist, so verlören weniger Menschen ihr Leben, weil man, bis der Dampfer sank, nochmals zurückkehren konnte, um Leute aufzunehmen. Sie werden von Glück reden können, wenn Ihre Handlungsweise nicht untersucht und geahndet werden wird.“

Er drehte sich um und schritt davon. Der Oberst blickte ihm nach und sagte:

„Jedenfalls auch ein Deutscher. Es wird hohe Zeit, daß wir die Faust auf diese rohe Menschenklasse legen. Aber ärgern wir uns nicht, suchen wir lieber die Baronesse, um ihr Glück zu wünschen.“

Er ging über den Hof hinüber und trat in die Wohnstube; die anderen folgten ihm. Dort stand Müller, sich mit dem Meier unterhaltend. Als der Oberst ihn erblickte, lachte er laut auf und rief:

„Parbleu! Das ist lustig. Seht unseren Billardkünstler als Bauer. Wie ihm die Jacke auf dem Buckel sitzt. Ich hätte ihn mögen schwimmen sehen.“

Müller machte eine höfliche Verbeugung und antwortete:

„Ich mußte wohl schwimmen, um abermals Ihre Stelle zu vertreten. Die Rettung der Baronesse wäre doch eigentlich Ihre Sache gewesen. Heute werden Sie es jedenfalls sein, der um Verzeihung zu bitten hat. Ich will Ihnen jedoch erlassen, sich auf den Tisch zu stellen.“

„Schweigen Sie“, donnerte ihn der Oberst an. „Wer hat Ihnen übrigens erlaubt, sich an dieser Dame zu vergreifen? Ihre Schwimmpartie soll Ihnen ein anständiges Trinkgeld einbringen. Hier haben Sie zwei Zwanzigfrancstücke; das ist für einen buckligen Schulmeister eine mehr als noble Gratifikation. Lassen Sie sich aber nicht wieder bei der Dame sehen, sonst schlage ich Ihnen den Rücken breit, was Ihnen übrigens nur lieb sein könnte, weil dann Ihr Bisonhöcker eine manierliche Gestalt bekäme. Hier, Sie Billardtölpel!“

Er griff in die Tasche, zog zwei Goldstücke hervor und hielt sie dem Angesprochenen entgegen. Müller verbeugte sich höflich und antwortete:

„Ich bin ein armer Teufel und werde also Ihre freundliche Gratifikation annehmen, setzte jedoch voraus, daß Sie mir erklären, daß Ihnen das Leben der Baronesse de Sainte-Marie wirklich vierzig Francs wert ist.“

Und als der Oberst, der sich durch diese Forderung verblüfft fühlte, nicht sogleich antwortete, fuhr Müller lächelnd fort:

„Ich sehe, daß Ihnen diese Summe denn doch zu hoch erscheint. Überlegen sie sich den Handel, bis wir uns wiedersehen.“

Er ging. Nach einiger Zeit verließ er in seinem Anzug, der wieder trocken geworden war, den Meierhof. Nur der Hut war auf dem Schiff zurückgeblieben und mit diesem versunken, ebenso der alte Regenschirm. Fritz begleitete Müller nicht, da er jetzt zu Doktor Bertrand gehörte, welcher mit den Damen abreisen wollte.

Am späten Nachmittag erschien eine Dame und ließ sich bei der Baronesse anmelden. Sie erklärte, daß sie eine Damenkonfektionärin aus Hetzerath sei und eine Auswahl von Roben mitgebracht habe, da die Kleidung des gnädigen Fräuleins doch nicht wieder anzulegen sei. Und befragt, wie sie nach dem Meierhof komme, gab sie die Auskunft, daß sei von einem buckligen Herrn geschickt sei, welcher ihr mitgeteilt habe, daß die beiden Damen hier ihrer wohl bedürfen würden.

„Das ist mein Retter gewesen“, dachte Marion. „Dieser Mann ist ebenso umsichtig wie kühn. Er entreißt mich wirklich einer großen Verlegenheit, und ich wünsche sehr, ihn wiederzusehen, um ihm danken zu können.“

Die Konfektionärin verkaufte an Marion und Nanon je ein Reisegewand.

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