FÜNFTES KAPITEL Der Zahn des Löwen

Als Fritz währenddessen den Verfolgern glücklich entkommen war, war der alte Kapitän natürlich mit den beiden verwundeten Rallions in der Ruine zurückgeblieben. Dem Obersten strömte das Blut in einem breiten Strahl über das Gesicht. Er hätte gern geflucht und gewettert, mußte aber schweigen, da ihm sonst das Blut in den Mund gelaufen wäre. Desto mehr aber wetterte sein Vater, der einen Stich mitten durch den Handteller erhalten hatte.

„Was glauben Sie wohl, Kapitän“, sagte er, „bin ich etwa nach Ortry gekommen, um mich um meine Hand bringen zu lassen?“

„Pah, ein kleiner Stich!“ entgegnete der einsilbige Alte.

„Ein kleiner Stich, der mich aber lähmen kann! Wie nun, wenn die Sehnen zerschnitten sind? Gibt es hier jemanden, der etwas von Wunderarzneikunst versteht?“

„Mich selbst. Es ist nur gut, daß wir bereits einen Vorrat von Verbandszeug, Scharpie und dazugehörigen Medikamenten angelegt haben. Ich muß übrigens nach den Verbrannten sehen, welche sich jedenfalls noch im Saal befinden. Kampferwasser wird Ihnen die Schmerzen sofort stillen. Kommen Sie!“

„Kapitän, ich gebe Ihnen eine Gratifikation von tausend Franken für diejenige Person, welche den Kerl herausbekommt, dem wir diese Störung zu verdanken haben!“

„Und ich selbst legte noch tausend Franken dazu“, sagte der Alte im grimmigsten Ton. „Doch kommen Sie! Ich muß zunächst zu meiner Lampe!“

Er führte sie über den Hof hinweg nach einem Tor, welches sich in der Hauptfront öffnete, schritt mit ihnen durch einige Zimmer, bis er in dasjenige gelangte, durch dessen Fenster sie gesprungen waren. Hier stand noch die ausgelöschte Lampe. Der Kapitän brannte sie wieder an und hieß die Rallions die Treppe hinabsteigen. Er folgte ihnen und brachte die Steinplatte wieder in ihre Lage. So gelangten sie aus dem Gang in den Saal.

Dort waren die Flammen erloschen. Es hatte tiefe Finsternis geherrscht; aber trotz derselben befanden sich noch Menschen hier. Es waren die durch ihre Brandwunden Beschädigten und eine Anzahl anderer, welche bei ihnen zurückgeblieben waren.

Die Lampe des Alten brachte Licht in das Dunkel. Die Verwundeten stöhnten und baten um Hilfe.



„Ruhe!“ gebot der Alte. „Es soll euch Hilfe werden, doch einem nach dem anderen.“

Er setzte die Lampe nieder und verschwand für kurze Zeit durch die hintere Tür. Als er wieder zurückkehrte, brachte er eine Anzahl Lichter, welche sofort angebrannt wurden, und Verbandzeug mit. Der Oberst war der erste, welcher verbunden wurde, dann kam dessen Vater an die Reihe. Es war jetzt noch nicht zu bestimmen, ob vielleicht ein Teil seiner Hand gelähmt bleiben werde.

Die Wunden der Verbrannten waren nicht sehr gefährlich, aber desto schmerzhafter. Der Alte verband sie so gut wie möglich und überließ es dann den Gesunden, die Kranken nach Hause zu geleiten. Bis sie sich entfernt hatten, ging er ab und zu, um die Eingänge zu verschließen, dann meinte er zu den beiden Rallions, die sich noch allein im Saal befanden:

„Durch die unterirdischen Gänge können wir nicht zum Schloß zurückkehren.“

„Warum nicht?“ fragte der Graf.

„Weil wir das Tor verlassen haben, und weil man ja Ihre Verletzungen morgen sehen wird, sie aber nicht begreifen könnte.“

„Aber womit wollen wir sie erklären?“

„Pah, das ist sehr leicht! Wir sind im Dunkel über eine Wiese gegangen, da hat eine Sense gelegen. Der Oberst ist auf den Stiel getreten, und so schlug ihm das Sensenblatt quer über das Gesicht. Ihnen aber, Graf, ist die Spitze in die Hand geraten. Kommen Sie. Wir müssen uns sputen, denn es fällt mir ein, von Ihnen gehört zu haben, daß Sie Ihrem Maler noch, heute seine Instruktionen geben wollen.“

Sie verließen die Ruine und wanderten durch den Wald nach dem Schloß, welches sie erreichten, als Müller kaum seine eigentümliche Unterredung mit Hassan, dem Zauberer, begonnen hatte.

Natürlich erregte es die höchste Verwunderung der Dienerschaft, die Herren so spät heimkehren zu sehen, und dieses Erstaunen wurde durch die Verwundung der Rallions noch gesteigert, doch wagte natürlich keiner, eine Frage auszusprechen.

Die Damen waren zur Ruhe gegangen, die Herren begaben sich in ihre Zimmer; vorher aber ließ der Graf dem Maler sagen, daß er ihn in drei Viertelstunden noch aufzusuchen gedenke. In seiner Wohnung angekommen, nahm er Papier und Kuverts hervor und schrieb gegen eine halbe Stunde lang. Dies ging an, da glücklicherweise die linke und nicht die rechte Hand verwundet war. Dann steckte er die Briefe in ihre Kuverts, verschloß die letzteren und begab sich zwei Treppen höher, wo der Maler sein Zimmer hatte und ihn noch erwartete.

Haller, oder vielmehr Lemarch, erhob sich sehr höflich beim Eintritt des Grafen und bot ihm einen Sessel an. Der Graf nahm gerade in demselben Augenblick Platz, in welchem hinter der getäfelten Wand Müller seine Laterne in die Tasche steckte und die Täfelung, welche die geheime Tür bildete, ein klein wenig zur Seite schob, wodurch eine enge Ritze entstand, welche aber weit genug war, um das Zimmer überblicken zu können.

„Ich komme, Ihnen Ihre Instruktionen zu übergeben, mein lieber Rittmeister“, begann der Graf. „Sie werden nicht umfangreich sein. Die Hauptsache, welche ich Ihnen mitzuteilen habe, ist, daß Sie bereits morgen früh abreisen können.“

Lemarch verbeugte sich, zum Zeichen, daß er gehorchen werde.

„Es wird Ihnen durch die Papiere der Weg geordnet werden. Übrigens weise ich Sie auf das zurück, was wir bereits am Morgen besprochen haben. Haben Sie sich den Namen des Offiziers gemerkt?“

„Ja. Rittmeister Richard von Königsau.“

„Richtig! Sie gewinnen die Freundschaft desselben und suchen ihn auszuforschen. Ist er sehr zurückhaltend, so erwähnte ich bereits, daß er vielleicht Verwandte –“

„Er hat eine Schwester“, fiel Lemarch schnell ein.

„Ah!“ lächelte der Graf. „Häßlich?“

„Schön!“

„Woher wissen Sie das?“

„Es gibt einen Hauslehrer hier, einen Deutschen, welcher die Familie kennt.“

Die Stirn des Grafen verfinsterte sich bedeutend.

„Sie haben mit diesem Mann gesprochen?“ fragte er.

„Ja, gnädiger Herr.“

„Ich muß doch nicht etwa befürchten, daß Sie sich in einer Weise unterhalten haben, welche diesen Menschen auf allerlei Vermutungen bringen könnte?“

Die Wangen des Rittmeisters röteten sich denn doch ein wenig, aber er antwortete in einem sehr entschiedenen Ton:

„Ich glaube, niemals Veranlassung gegeben zu haben, mich für plauderhaft und unvorsichtig zu halten!“

Der Graf schien befriedigt zu sein. Er nickte mit dem Kopf und meinte:

„Ich will Ihnen gern glauben. Übrigens ist dieser Lehrer auf jeden Fall ein sehr unbedeutender Mensch, von dem man gar nicht zu sprechen braucht. Hier haben Sie noch einige Legitimationen, welche Ihnen von Nutzen sein werden. Sie wissen: Wie die Arbeit, so der Lohn. Ich hoffe, daß Sie sich Ansprüche auf eine bedeutende Anerkennung erwerben werden, und bin überzeugt, daß sie, von Eifer getrieben, Ortry bereits verlassen haben werden, wenn ich erwache. Darum werden wir uns bereits jetzt verabschieden, mein lieber Lemarch.“

Er reichte demselben die Hand und entfernte sich, nachdem der Rittmeister noch einige Worte gesagt hatte, um zu versichern, daß er alle seine Kräfte anstrengen werde, um seine Aufgabe einer glücklichen Lösung zuzuführen.

Jetzt las Lemarch die Legitimationen durch, warf einen Blick auf die Adressen der Briefe und ging noch einige Minuten im Zimmer auf und ab. Dann hörte Müller ihn die Worte sagen:

„Jetzt aber endlich zur Ruhe. Es ist spät, und ich muß früh erwachen.“

Er schob Briefe und Legitimationen auf dem Tisch zusammen, entkleidete sich und legte sich zu Bett, nachdem er seine Lampe ausgelöscht hatte.

„Also deshalb fragte er mich nach mir!“ dachte Müller. „Diese Herren scheinen zu wissen, daß ich Vertrauen genieße. Dieser Lemarch soll sich an mich schmeicheln und mich zur Verräterei verführen. Bedanke mich, Monsieur! Werde Ihnen den Weg noch besser ebnen, als die vier Briefe es tun werden!“

Er wartete, bis ein ruhiges, schnarchendes Atmen ihm die Überzeugung gab, daß der Franzose fest eingeschlafen sei. Jetzt schob er die Täfelung weiter auf, so daß er eintreten konnte. Er schlich zum Tisch hin, nahm sämtliche Papiere an sich und kehrte in den Gang zurück. Nachdem er die geheime Tür wieder verschlossen hatte, zog er sein Notizbuch und die Laterne hervor und kopierte sämtliche Papiere, die Adressen der Briefe und auch eine Reiseroute, welche sich dabei befand.

Es kam ihm der Gedanke, die Briefe mit in sein Zimmer zu nehmen, um sie zu öffnen, zu kopieren und wieder zu verschließen. Er traute sich die hierzu notwendige Geschicklichkeit wohl zu, aber seine Gefühle sträubten sich dagegen, als Offizier und Edelmann sich einer Entheiligung des Briefgeheimnisses schuldig zu machen. Er kehrte also, nachdem er den Eingang wieder geöffnet, in das Zimmer zurück, legte alles an den früheren Ort zurück und entfernte sich.

Nachdem er die Täfelung geschlossen hatte, stieg er die Treppe hinab und kehrte durch den Gang nach dem Parkhäuschen zurück. Er war mit den Erfolgen des heutigen Abends vollständig zufrieden. Sie gaben ihm Gelegenheit, sich in der Heimat auszuzeichnen und auch seine hiesigen, persönlichen Angelegenheit vorteilhaft zu verfolgen.

Als er das Schloß erreicht hatte und am Blitzableiter emporkletterte, bemerkte er im Zimmer des Alten noch Licht. Er warf einen Blick durch das Fenster und fuhr erschrocken zurück, denn gerade da, hart am Fenster, stand der Kapitän, mit dem Rücken nach ihm gekehrt. Er hatte ein geheimes Fach seines Schreibtisches geöffnet und hielt ein Paket Banknoten in der Hand, deren Nummern er zu mustern schien.

Müller konnte ihm über die Schulter blicken und sah, daß alle diese Noten gezeichnet waren. Er erkannte sehr deutlich die Anfangsbuchstaben der Namen; er prägte sich auch einige der Nummern ein. Es war kein Zweifel, er sah hier die Banknoten, welche der Alte dem Fabrikdirektor abgenommen hatte.

Er beobachtete nun mit größter Spannung jede Bewegung des Kapitäns und sah deutlich, daß dieser die Noten in das geheime Fach zurücklegte und dieses letztere mit einer verborgenen Feder schloß. Er beobachtete alles so genau, daß er überzeugt war, dieses Fach leicht auffinden und öffnen zu können. Dann kletterte er zum Dach empor.

Er sagte sich allerdings, daß es sehr leicht möglich sei, daß er noch eine weitere, für ihn nützlichere Entdeckung machen könnte, wenn er den Alten länger beobachtete; aber wie leicht konnte dieser das Fenster öffnen und heraussehen, und das wäre ja doch das Schlimmste, das Gefährlichste gewesen, was passieren konnte.

In seinem Zimmer angekommen, schrieb Müller zunächst die Banknotennummern auf, welche er sich gemerkt hatte; dann nahm er sein Notizbuch hervor und verfaßte einige Briefe. Als er diese versiegelt hatte, setzte er sich breit vor einige große, leere Bogen hin mit der Miene eines Mannes, der an eine sehr wichtige Arbeit geht. Seine Feder flog über das Papier, die Bogen füllten sich, neue kamen hinzu, und als er geendet hatte, waren so viele Seiten beschrieben, daß er selbst über die bedeutende Zahl derselben erstaunte.

„Das ist schnell genug gegangen“, lächelte er. „Ich habe aber auch niemals eine Arbeit mit solcher Lust gefertigt, wie diese hier. Ich hoffe, sie wird ganz den Eindruck machen, für welchen sie berechnet und geschrieben ist.“

Er legte das Manuskript beiseite. Es enthielt die Unterschrift: ‚Unwiderleglicher Beweis, daß vor Verlauf eines Dezenniums kein Krieg mit Frankreich zu befürchten steht. Auf Veranlassung des großen Generalstabes geliefert von Rittmeister Richard von Königsau‘.

Nun endlich griff er zum letzten Mal zur Feder. Er schrieb folgenden Brief:

„Meine gute Bertha!

Ihr werdet schon längst eine Nachricht von mir erwartet haben und sollt sie auch nächster Tage erhalten, ausführlich, wie ihr es ja von mir gewohnt seid. Jetzt aber habe ich zu solcher Vollständigkeit noch nicht die hinreichende Zeit, ja, ich fand noch nicht einmal die Muße, an die Mutter und an den Großvater zu schreiben.

Diese Zeilen gelten Dir, weil mich die höchste Notwendigkeit drängt, Dir für einen als gewiß zu erwartenden Fall die nötigen Instruktionen zu erteilen. Ein französischer Rittmeister, namens Bernard Lemarch, kommt nämlich als ein Landschaftsmaler Haller nach Berlin, um sich um meine Freundschaft zu bewerben und mich über die Anschauungen unserer Diplomaten und Strategen auszuhorchen. Ich bin überzeugt, daß Frankreich bereits in wenigen Wochen den Krieg erklären wird, und ebenso sicher weiß ich, daß wir imstande sind, den so leichtsinnig hingeworfenen Fehdehandschuh ohne Befürchtung aufzuheben. Aber es handelt sich darum, den geheimen Emissär zu täuschen, geradeso, wie er uns zu betrügen trachtet. Daher übersende ich Dir das beifolgende Manuskript.

Haller, alias Lemarch, beabsichtigt nämlich, sobald seine Bemühungen bei mir erfolglos sein sollten, Deine Zuneigung zu gewinnen, um soviel wie möglich von derselben zu profitieren. Du wirst ihm sagen müssen, daß ich mich in Litauen auf Besuch bei einem alten Verwandten befinde. Infolgedessen wird er sich bei Dir nach meiner Tätigkeit, nach meinen Arbeiten erkundigen, und Du wirst Dir da die Erlaubnis abschmeicheln lassen, das beiliegende Manuskript lesen zu dürfen. Alles übrige überlasse ich Deiner mir so wohlbekannten weiblichen Klugheit, zu der ich alles Vertrauen besitze, und bitte Dich, mich über den Erfolg sofort brieflich zu belehren. Ich stehe mit ähnlichen Arbeiten natürlich umgehend zur Verfügung und ersuche Dich, Deinen Brief an meinen Fritz zu adressieren, nämlich ‚Friedrich Schneeberg, Herboriseur (Kräutersammler) in Kondition bei Herrn Doktor Bertrand in Thionville‘. Er wird ihn mir richtig zuspielen. Hier darf ich es nicht wagen, Briefe aus Berlin zu empfangen.

Indem ich Dich ersuche, Mama und Großpapa von mir herzlichst zu grüßen, verspreche ich ihnen nochmals einen baldigen, langen Brief, umarme Dich, liebe Schwester, und sende Dir den innigsten, brüderlichsten Kuß von Deinem

herzenskranken Richard.

NB. Ich habe meine Dresden–Blasewitzer Dame unerwartet gefunden.“

Müller las die geschriebenen Zeilen noch einmal durch und verschloß sie dann nebst dem Manuskript in ein geräumiges Kuvert. Als er sich schlafen legte, war die Nacht bereits vorüber, und der Morgen brach herein. Deshalb legte der Fleißige sich nicht in das Bett, sondern auf das Sofa, um beizeiten wieder aufzuwachen.

Seine Verkleidung hatte er natürlich abgelegt, bevor er das Licht anbrannte, da er keinen Augenblick sicher war, von dem alten Kapitän durch die Glastafel belauscht zu werden. Doch hatte er bereits im stillen beschlossen, demselben dieses Beobachten gehörig zu verleiden.

Er mochte kaum ein Stündchen geschlafen haben, als ihn der Schall von Hufschlägen weckte. Er erhob sich und trat an das Fenster. Es war ein Wagen angespannt worden, und soeben stieg der Maler ein, um sich nach dem Bahnhof von Thionville fahren zu lassen. Sein hübsches Gesicht hatte einen sehr unternehmenden, hoffnungsvollen Ausdruck. Er gedachte wohl, mit großen Erfolgen heimzukehren; aber der da oben, von ihm unbemerkt, am Fenster stand, kannte diese Erfolge bereits ganz genau. Er konnte sich auf die geistreiche Schwester verlassen, von der er wußte, daß sie den Franzmann so bedienen werde, wie es der Bruder von ihr erwartete.

Müller nahm wieder auf dem Sofa Platz und schlief zum zweiten Mal ein. Er erwachte wieder vom Schall einer überlauten, kreischenden Musik und warf den ersten Blick auf seine Uhr, es wahr wahrhaftig bereits neun Uhr! Dann sah er durch das Fenster hinunter in den Schloßhof. Dort standen sechs phantastisch gekleidete Musikanten, welche sich bemühten, mit zwei Klarinetten, einem Horn, einer Oboe, einer Posaune und einer Trommel irgendeine Art von Marsch zum Gehör zu bringen. In der Nähe hielten auf Pferden vier theatralisch aufgeputzte Personen, drei Männer und ein Frauenzimmer. Als der Marsch beendet war, erhob der Trommler seine Stimme und verkündete, daß heute nachmittag um zwei Uhr Thionville nebst Umgegend das ungeahnte Glück haben werde, die weltberühmte Künstlertruppe anzustaunen.



Die Leistungen wurden unter der pompösesten Titulatur aufgezählt, und da in dieser Gegend sich nur höchst selten einmal eine solche Gesellschaft sehen ließ, so war es kein Wunder, daß sämtliche Schloßbediensteten zusammenliefen und auch die Herrschaften an das Fenster traten, um die Künstlervagabunden in Augenschein zu nehmen.

Ganz in der Nähe der wunderlich aufgeputzten Reiter stand Alexander. Er hatte seine Freude an den Leuten und fragte, als der Tambour geendet hatte:

„Was kostet das Billet?“

„Numerierte vordere Reihe fünf Franken, hintere Reihe vier Franken, erster Platz drei Franken, zweiter zwei, dritter einen Franken und Stehplatz außerhalb der Barriere einen halben Franken“, antwortete der Mann geläufig. „Wollen Sie einige Billets, gnädiger Herr? Wenn Sie jetzt abonnieren, erhalten Sie die besten Plätze von Nummer eins an!“

Er hatte mit geübtem Auge erkannt, daß der Frager der Sohn der Herrschaft sei, und so einem Lieblingssöhnchen vermögen die Eltern nicht zu widerstehen.

„Fünf Billets vordere Reihe!“ befahl Alexander.

Er hatte gar nicht darauf geachtet, daß die Baronin oben das Fenster öffnete und ihm winkte. Er zog seine Börse, welche trotz seiner Jugend stets wohlgefüllt war, und bezahlte fünfundzwanzig Franken. Die Künstler zogen befriedigt ab.

Nach kurzer Zeit klopfte es an Müllers Tür, und Alexander trat heran. Sein Gesicht war sehr gerötet, ob vor Freude, oder wegen eines anderen Seeleneffekts oder irgendeiner Anstrengung, das ließ sich nicht bestimmen.

„Haben Sie sie gesehen, Monsieur Müller?“ fragte er.

„Wen? Die Künstler?“

„Ja, natürlich!“

„Ich habe sie allerdings gesehen“, antwortete lächelnd der Deutsche, als er die vor Freude blitzenden Augen des Knaben sah.

„Ich habe fünf Billets genommen. Hier ist eins. Sie fahren natürlich mit, Monsieur.“

„Ah! Ich? Wer fährt noch mit?“

„Zunächst Mama –“

„Nicht möglich!“ entfuhr es Müller.

„Warum nicht möglich? Sie zürnte mir; aber was ich will, das will Mama schließlich doch immer auch“, meinte Alexander in stolzem Ton.

„So sind noch zwei Billets übrig.“

„Sie sind bereits verschenkt. Marion und Mademoiselle Nanon fahren mit.“

„Diese beiden?“ fragte Müller erstaunt. „Waren sie sofort einverstanden?“

„Oh, eigentlich nicht. Marion meinte, es schickt sich nicht so recht für uns, diese Art von Schaustellung zu besuchen; aber als Dank für die beiden Buketts vom Heidengrab wolle sie mir ihre Zusage geben. Ist dies nicht sehr lieb von ihr? Mademoiselle Nanon war somit gezwungen, sich ohne allen Widerspruch anzuschließen.“

„Und wenn nun ich widerspreche?“ lächelte Müller.

„Oh, Sie widersprechen nicht“, behauptete Alexander; „das sehe ich Ihrem guten Gesicht ja sofort an. Nicht wahr, ich habe richtig geraten?“

„Ja, ich werde Ihnen die Freude nicht verderben, mein lieber Alexander.“

„Ich danke Ihnen! Und wissen Sie, was Mama Ihnen sagen läßt?“

„Nun?“

„Sie sollen mit ihr und mit mir in einem Wagen Platz nehmen; im anderen fahren Marion und Nanon. Ist das nicht allerliebst von der Mama? Aber ich muß fort, denn bei einer solchen Veranlassung sind tausend Vorbereitungen zu treffen.“

Er eilte fort. Müller war es gar nicht unlieb, diesen Abu Hassan in seinen Kunstleistungen kennenzulernen; aber fast verdutzt machte ihn die Einladung der Baronin, mit in ihrem Wagen Platz zu nehmen. Welchen Grund hatte sie dazu? War es die Anerkennung für die Liebe, welche er Alexander eingeflößt hatte?

Er schritt nachdenklich im Zimmer auf und ab, trat an den Spiegel, um sich zu betrachten, und fand, daß seine künstliche Hautfarbe an Tiefe verloren hatte. Er nahm ein Fläschchen, welches Nußschalenextrakt enthielt, tauchte den Pinsel hinein und bestrich sein Gesicht, Hals und Hände von neuem mit dieser die Haut verdunkelnden Feuchtigkeit, welche, da es leicht ist, mit derselben verschiedene ältermachende Schattierungen anzubringen, nicht wenig dazu beigetragen hatte, sein Äußeres zu verändern.

Hierauf trat er an das Fenster und musterte die draußen liegende Frühlingslandschaft.

„Ah, was ist das?“ fragte er sich. „Da draußen unter der Linde liegt einer. Ist das vielleicht Fritz? Und von der Spitze scheint etwas herabzuhängen, was ich auch noch nie gesehen habe. Ich muß sogleich das Fernrohr nehmen, um mich zu überzeugen.“

Er holte das Fernrohr, öffnete die Fensterflügel und visierte nach der Linde hinüber. Da sah er deutlich seinen Fritz mit dem Fernrohr sitzen. Dieser erkannte auch ihn genau, denn er zog den Hut vom Kopf und grüßte mit demselben. Er hatte jedenfalls etwas Wichtiges zu berichten; dies zeigte seine Gegenwart bei der Linde.

Müller nahm sein weißes Taschentuch und winkte damit, zum Zeichen, daß er kommen werde, und sofort erhob sich Fritz, um nach dem Wald zu gehen.

Auch Müller verließ das Schloß, nachdem er die heute nacht geschriebenen Briefe zu sich gesteckt hatte, und tat, als wolle er ein wenig ausgehen. Er schlenderte langsam dem Park zu, nahm aber dann einen schnelleren Schritt an und eilte dem Wald entgegen, in welchem an der verabredeten Stelle Fritz aus den Büschen trat.

„Guten Morgen, Herr Doktor“, grüßte er freundlich. „Ausgeschlafen?“

„Wenig geschlafen.“

„Ich gar nicht.“

„Gar nicht? Ah, du hast Wache gehalten?“

„Ja, aber nicht da, wo ich sollte.“

„Wo sonst?“

„In einer alten Ruine, wo die Verschwörer zusammenkommen und wo ich beinahe um das Leben gekommen wäre.“

„Du bist nicht klug!“ rief Müller erschrocken. „Du hast dich doch nicht etwa ohne meine Genehmigung in eine Versammlung dieser fanatisierten Franzosen gewagt?“

„Leider doch!“ antwortete Fritz in kläglich-komischem Ton.

„Und bist erwischt worden? Fritz, du wirst uns wirklich noch verraten!“

„Fällt mir gar nicht ein. Das Ding hat keine anderen Folgen gehabt, als daß ich während der Nacht zwischen den Sträuchern mir den Rücken wund gelegen habe.“

„So erzähle!“

„Nicht hier am Weg, sondern etwas tiefer im Wald. Hier könnten wir überrascht werden.“

Sie schritten weiter zwischen die Bäume hinein, und nun erzählte Fritz sein nächtliches Abenteuer. Sein vorhergehendes Zusammentreffen mit Nanon verschwieg er aber.

Als er geendet hatte, zeigte Müllers Gesicht einen ganz erstaunten Ausdruck.

„Wunderbar, daß ich von dieser Ruine noch nichts gehört habe!“ sagte er. „Wie es scheint, sind die von uns gesuchten Vorräte dort zu finden, während wir annahmen, daß sie in der Nähe des alten Turmes versteckt seien. Ist es weit bis zu der Ruine?“

„Oh, gar nicht so sehr weit; kaum so weit wie bis zum Turm.“

„So führe mich hin, ich muß sie sehen.“

Sie gingen, und unterwegs ließ Müller sich Verschiedenes noch ausführlicher berichten.

„Also einen eisgrauen Schnurrbart hatte der Redner?“ fragte er.

„Ja; der Bart war dicht und lang. Als der Mann meine Anwesenheit entdeckt hatte, fletschte er die Zähne, wie ein Bullenbeißer, welcher jemanden anspringen will.“

„Er ist's! Es war kein anderer!“

„Wer?“

„Der alte Kapitän von Schloß Ortry. Und wenn mich nicht alles trügt, so waren die beiden anderen der Graf Rallion mit seinem Sohn, dem Obersten, der die Baronesse Marion zur Frau haben will.“

„Der Teufel soll sie ihm schaffen!“ zürnte Fritz. „Die ist für einen anderen bestimmt.“

Dabei blinzelte er seinen Herrn von der Seite an, doch dieser tat, als ob er es gar nicht bemerke, sondern fragte in gelassenem Ton weiter:

„Und du weißt bestimmt, daß du die beiden anderen verwundet hast?“

„Ganz bestimmt. Dem einen habe ich das Messer über das ganze Gesicht gezogen, und der andere muß ein gewaltiges Loch in der Hand haben, denn ich entsinne mich, daß ich das Messer in der Wunde umgedreht habe, als ich davonsprang.“

„Die beiden haben sich heute noch nicht sehen lassen, aber ich werde es erfahren, ob sie es waren. Spät genug sind sie nach Hause gekommen. Aber, Mensch, was hättest du denn gemacht, wenn die Tür nicht wieder geöffnet worden wäre?“

„So wäre ich durch die hintere Tür entsprungen.“

„Aber wohin?“

„Das weiß der liebe Gott, ich nicht!“

„Du wärst jedenfalls in einen unterirdischen Gang geraten und hättest da, wenn du nicht vorher entdeckt worden wärst, auf schändliche Weise verhungern können!“

„Ich vertraue auf den lieben Gott, der bekanntlich keinen Deutschen verläßt.“

„Gegen ein braves Gottvertrauen habe ich nicht das Mindeste einzuwenden, doch darf es nicht zur Tollkühnheit verleiten. Sei vorsichtiger das nächste Mal! Ich bedarf deiner und mag dich nicht auf so leichtsinnige Weise verlieren. Das ist aber die Hauptsache nicht, sondern du bist ein braver Kerl; ich habe dich lieb und will nicht, daß dich dein Mut in eine Lage bringt, aus welcher ich dich nicht retten kann.“

„Diese Worte danke Ihnen der liebe Gott, Herr Rittmeister!“ sagte Fritz, die Hand seines Herrn ergreifend. „Vielleicht kommt die Zeit, in der ich es zu einem kleinen Teil vergelten kann.“

„Das kann man nicht wissen. Der Krieg bricht sicher los. Wir kämpfen nebeneinander; da ist es leicht möglich, daß wir einander Dienste leisten müssen, an die wir jetzt noch nicht denken mögen. Der Himmel sei uns dann gnädig gesinnt!“

Fritz kannte jetzt die Richtung sehr genau, in welcher er die Ruine zu suchen hatte. Sie erreichten dieselbe wirklich eher, als sie den alten Turm erreicht hätten. Als sie an der Front hinabschritten, in welcher sich die Einfahrt befand, erkannte Müller, daß der Bau ein Kloster gewesen sein müsse.

Sie durchschritten die Durchfahrt, doch sprang Fritz zurück, um sich vorher einige Kienäpfel zu holen, denn ohne Licht konnte man da unten im Saal nichts erkennen.

In dem großen Hof angekommen, zeigte er seinem Herrn den Ort, wo er den Mann überfallen, und dann die Turmecke, in welcher er ihn gefesselt hatte. Dann traten beide durch die Torpforte ein und schritten den Gang hinab. Fritz machte den Führer, da er das Beleuchtungsmaterial für unten aufsparen wollte. Sie gelangten an die Treppe und durch diese in den unteren Gang. Die Tür zum Saal war nicht verschlossen. Sie traten ein.

Jetzt zog Fritz seine Kienäpfel und ein Streichhölzchen hervor und brannte einen an. Das dunkelgelbe, rauchige Licht konnte nur wenig Helle verbreiten, aber sie erkannten doch, daß hier noch gar nicht aufgeräumt worden sei. Die Scherben der zerbrochenen Leuchter lagen noch zertreten und zerstampft am Boden, und – sie wichen beide erschreckt zurück, denn da öffnete sich die hintere Tür und herein trat der alte Kapitän mit einer großen Laterne und einem – Besen in der Hand.

Der Lichtschein fiel auf die beiden Dastehenden. Der Kapitän sah sie und erkannte Müller auf den ersten Blick. Ein schneller Gedanke durchzuckte ihn. Was wollte Müller hier? Er war ein Deutscher. War er vielleicht der gestrige Eindringling? Wer war der andere, der neben ihm stand?

Mit raschen Schritten trat der Alte auf Müller zu und fragte drohend:

„Monsieur, was tun Sie hier?“

Der Gefragte hatte sich schnell gefaßt. Er antwortete im ruhigsten Ton:

„Etwas sehr Interessantes; ich durchstöbere diese Ruine. Hätte ich von ihrem Dasein etwas gewußt, so hätte ich mir auch eine Laterne mitgebracht, wie Sie, gnädiger Herr.“

Diese Antwort machte den Alten bestürzt.

„Sie haben nichts von ihr gewußt?“

„Nein.“

„Bis wann?“

„Bis vor wenigen Minuten, als wir sie erblickten.“

„Wir! Wer ist dieser Mann?“

„Ein Bekannter von mir.“

„Ah, Sie haben Bekannte hier?“

Der Alte zog die Schnurrbartspitzen empor und zeigte seine Zähne. Fritz sah sofort, daß dieser Mann der gestrige Redner gewesen sei. Die letzte Frage war in einem so höhnisch inquirierenden Ton gesprochen, daß Müller auch ein schärferes Wort auf die Lippen kam:

„Verbieten Sie mir vielleicht, hier Bekanntschaften zu haben?“

Der Alte trat erstaunt einen Schritt zurück, setzte die Laterne zu Boden und sagte:

„Monsieur Müller, wie kommen Sie mir vor! Wer ist es, der hier Fragen zu stellen hat?“

„Ein Lebender jedenfalls nicht, sondern nur die Toten, denen dieses Kloster einst gehörte. Hier im Reich des Verfalls ist ein jeder dem andern gleich.“

Diese Antwort frappierte den Kapitän. Er meine etwas ruhiger:

„Sie sind hier fremd; ich durfte mich wohl wundern, daß Sie von einer Bekanntschaft sprachen.“

„Wir lernten uns auf dem Schiff kennen. Dieser Mann ist der Kräutersammler des Doktors Bertrand in Thionville.“

„Ah, der Mademoiselle Nanon gerettet hat?“

„Ganz derselbe.“

„Was tut er hier?“

Müller antwortete, da er den Verdacht des Alten ahnte:

„Ich litt gestern an Kongestionen nach dem Kopf, weshalb ich mich sehr zeitig schlafen legte. Da aber die Zimmerluft das Übel verschlimmert hat, so machte ich einen Spaziergang durch den Wald. Dort traf ich diesen Mann, welcher eine seltene Pflanze suchte, Sonnentau, einen vorzüglichen Tee. Auch ich kenne das kleine, empfindsame Gewächs, welches zu den fleischfressenden Pflanzen gehört, und erbot mich, mitzusuchen. Wir kamen auf diese Weise tief in den Wald hinein und standen plötzlich vor der Ruine.“

„Von welcher Sie noch nichts gehört hatten?“

„Kein Wort!“

„Können Sie mir dies auf Ihre Ehre versichern?“

„Ich gebe mein Ehrenwort, bis vor kurzer Zeit vom Dasein dieser Ruine nicht das geringste gewußt zu haben!“ versicherte Müller im Ton der Wahrheit. „Aber wozu diese Dringlichkeit? Wozu dieses Examen? Wozu diese Laterne und dieser Besen? Herrscht hier vielleicht ein Räuberhauptmann, ein Blaubart, ein menschenfressender Riese? Hat hier nicht ein jeder freien Zutritt, der sich für Altertümer interessiert?“

„Schweigen Sie!“ donnerte ihm der Alte entgegen. „Wissen Sie, daß die Ruine auf meinem Grund und Boden liegt?“

„Ich weiß es nicht, aber ich kann es mir denken.“

„Nun gut; ich bin der Grundherr, ich habe hier zu befehlen, und ich verbiete Ihnen, jemals dieses Kloster wieder zu betreten!“

„Mir, dem Erzieher Ihres Enkels?“ fragte Müller mit gut gespieltem Erstaunen.

„Ja.“

„Und Fremde dürfen Zutritt nehmen?“

„Wer sagt Ihnen, daß Leute hier gewesen sind?“

„Blicken Sie zu Boden! Sehen Sie nicht, daß diese Spuren noch ganz frisch sind?“

„Das geht Sie nichts an!“ rief der Alte. „Sie sollen hier nicht denken; Sie sollen hier nicht urteilen! Ich bin der Herr. Packen Sie sich hinaus!“

Da zuckte Müller gleichmütig die Achseln und antwortete:

„Mir ist es gleich, wer hier zu denken und zu urteilen hat. Draußen aber wird man auch urteilen, nämlich über die Art, in welcher man von hier hinausgeworfen wird, über die Sonderbarkeit, daß ein Kapitän der Kaisergarde hier mit dem Besen regiert, und über andere Dinge, welche fast vermuten lassen, daß hier nicht alles in Ordnung ist.“

Da sprang der Alte wütend auf ihn zu, faßte ihm am Arm und rief:

„Monsieur, was wollen Sie mit Ihren Vorwürfen sagen, he?“

„Nichts weiter, als daß ich Ihrem Befehl, diesen Ort zu verlassen, zwar gehorche, dennoch aber streng darauf bestehen muß, fernerhin in anderer Weise angesprochen zu werden. Ein deutscher Doktor der Philosophie steht in gesellschaftlicher und intellektueller Beziehung keineswegs unter einem französischen Kapitän der Kaisergarde!“

„Ah, das wagen Sie!“ knirschte der Alte, indem sein Bart sich förmlich sträubte. „Ich werde Sie entlassen, ich werde Sie fortjagen!“

„Pah, das können Sie nicht. Sie sind der Herr Kapitän Richemonte; mein Kontrakt aber ist vom Herrn Baron de Sainte-Marie unterzeichnet und untersiegelt. Adieu, Herr Kapitän!“

Er ging, und Fritz folgte ihm.

„Ah, gehen Sie!“ rief ihm der Alte nach. „Ich werde nachher mit Ihnen sprechen!“

Als die beiden draußen angelangt waren, gingen sie erst eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann aber bemerkte Fritz:

„Jetzt haben Sie sich einen unversöhnlichen Feind geschaffen.“

„Jedenfalls.“

„Der Ihnen niemals verzeihen wird!“

„Das muß ich geduldig tragen. Die Grobheiten dieses Mannes waren ganz danach, mich herauszufordern. Ich habe ihm geantwortet; wir sind also quitt.“

„Oh, noch nicht! Er wird Sie fortjagen!“

„Ich werde nicht gehen!“

„Wirklich nicht? So wird er Sie beunruhigen!“

„Ich werde mir das verbitten!“

„Er wird Ihnen die Lösung Ihrer Aufgabe unmöglich machen!“

„Ich habe ihn nicht zu fürchten, obgleich er alles zu regieren meint. Denken wir nicht an ihn! Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen. Kannst du unbemerkt Hacken und Schaufeln besorgen?“

„Warum nicht?“

„Für heute abend?“

„Sehr leicht!“

„Nun wohl; wir werden ein Grab öffnen.“

„Donnerwetter! Ein Grab aufmachen? Das klingt ja ganz unmöglich!“

„Kennst du den Zauberer Abu Hassan, der heute in Thionville Vorstellung gibt?“

„Ja. Er wohnt im Gasthof, dem Doktor Bertrand gegenüber. Es ist ein Frauenzimmer bei seiner Truppe, welches mir heute eine förmliche Liebeserklärung gemacht hat.“

„Glücklicher Mann, die Liebe einer Künstlerin zu erringen!“

„Hm, die Kunst ist in ihr bereits über dreißig Jahre alt geworden, Herr Doktor!“

„Desto größere Anerkennung verdient sie. Aber, bleiben wir bei der Sache! Abu Hassan ist jedenfalls ein Orientale; die erste Frau des Barons stammt aus dem Orient. Beide müssen in irgendeiner Beziehung zueinander gestanden haben, denn er ist gekommen, sich ihre Gebeine zu holen.“

„Das kommt mir noch mehr als orientalisch vor. Aber was haben Sie, und was habe ich mit diesem Hassan und diesen orientalischen Gebeinen zu tun?“

„Wir sollen sie ihm aus der Erde hacken.“

„Warum denn gerade wir?“

„Ja, die Veranlassung ist geradezu lächerlich. Ich stieg gestern abend am Blitzableiter herab, während er aus irgendeinem Grund um das Schloß herumstrich. Er hielt mich für einen Einbrecher, einen Dieb. Und da ein solcher sich wohl zu einer widerrechtlichen Öffnung eines Grabes dingen läßt, so bot er mir zweihundert Franken, wenn ich ihm behilflich sei, das Heidengrab zu öffnen, und noch einen Arbeiter mitbringen wolle.“

„Und Sie haben das wirklich angenommen?“

„Ja. Ich glaube annehmen zu dürfen, daß die Baronin gar nicht gestorben ist, und also auch nicht begraben worden sein kann. Entweder ist das Grab leer, oder es enthält eine falsche Leiche. Ich muß mich überzeugen und werde also heute abend dort eintreffen.“

„Ich bin dabei; aber das Geld nehmen wir nicht.“

„Das versteht sich ganz von selbst! Richte es also ein, daß du noch vor elf Uhr mit den Werkzeugen am Grab anlangst. Jetzt wollen wir uns trennen. Für morgen habe ich einen Weg für dich. Hier sind Briefe. Du gehst mit ihnen über die Grenze und gibst dieselben drüben auf der ersten deutschen Postanstalt ab. Ich traue hier nicht recht und vermute, daß sie mir geöffnet werden können.“

Er gab dem Diener die Skripturen, und dann trennten sich die beiden.

Als Müller das Schloß erreichte, war es bereits zwölf Uhr vorbei. Ein Diener sagte ihm, daß der Herr Kapitän soeben befohlen habe, den Doktor Müller zu ihm zu schicken, sobald er von seinem Spaziergang zurückgekehrt sei.

Also der Kapitän befand sich bereits daheim! Das war für den Deutschen ein ganz unanfechtbarer Beweis, daß zwischen dem Schloß und der Klosterruine ein sehr kurzer unterirdischer Weg vorhanden sei. Müller fürchtete den Alten nicht im mindesten und begab sich in größter Seelenruhe nach dem Zimmer desselben.

Der Kapitän saß am Schreibtisch und schrieb. Als Müller eintrat erhob er sich rasch, warf die Feder auf den Tisch und sagte:

„Monsieur, ich habe Sie zu mir kommen lassen, um Ihnen das zwischen mir und Ihnen bestehende Verhältnis einmal klarzumachen.“

Er befand sich augenscheinlich in einem Zustand hochgradiger Erregung. Dieser Umstand aber beirrte den Deutschen ganz und gar nicht. Er antwortete:

„Das ist mir außerordentlich angenehm. Auch ich liebe die Klarheit und werde gegenwärtig gern das meine beitragen, um zu ihr zu gelangen.“

Der Alte tat, als ob er die Kampfbereitschaft, welche in diesen Worten lag, gar nicht bemerkte, oder er bemerkte sie wirklich nicht, sondern fuhr in rücksichtslosestem Ton fort:

„Sie haben sich vorhin in der Ruine eine Sprache erlaubt, die ich nicht dulden kann.“

Der Deutsche zuckte die Achseln und meinte:

„Da liegt die Schuld jedenfalls an meiner musikalischen Begabung.“

„Wie meinen Sie das?“ fragte der Kapitän stutzend.

„Nun, ich habe mich früher sehr mit Harmonielehre und Generalbaßstudien beschäftigt, und seit jener Zeit bin ich immer ein Freund des Harmonischen geblieben. Ich antworte in Dur, wenn man mich in Dur fragt, und rede in Moll, wenn man in Moll zu mir spricht. Der Herr Kapitän beliebte, in der Ruine eine Redeweise anzuwenden, welche sehr stringendo klang; mein musikalisches Rechtsgefühl erlaubte mir nur, stringendo zu antworten.“

„Larifari! Was verstehe ich von Ihrem Dur, Moll und Stringendo! Ich habe Sie einfach zu fragen, ob Sie mich als Ihren Herrn anerkennen, dem Sie unbedingt und auf alle Fälle zu gehorchen haben. Antworten Sie strikt: Ja oder nein?“

„Nein!“

„Ah, also wirklich nein?“

„Wirklich nein!“

„So jage ich Sie zum Teufel!“ brauste der Alte auf.

„Ich gehe nicht!“

„Nicht? Das wollen wir sehen! Ich werde Sie zu zwingen wissen!“

„Sie können mir gar nicht zumuten zum Teufel zu gehen, wenn es Ihnen wunderlicherweise einfällt, mich zu ihm zu schicken. Ich weiß bis heute noch nicht, wo sich die Wohnung dieses ehrenwerten Monsieurs befindet. Ich werde auch überhaupt nicht gehen, wenn Sie mich fortschicken, denn Sie haben kein Recht dazu.“

„Sie widerstehen mir?“

„Allerdings. Ich bin vom Baron de Saint-Marie engagiert, nicht von Ihnen!“

„Oho! Ich habe an seiner Stelle den Kontrakt unterzeichnet und besiegelt, und ich werde auch an seiner Stelle auch die Ausweisung unterschreiben und petschieren.“

„Versuchen Sie es. Sie werden sehen, daß ich Sie nicht fürchte, Herr Kapitän!“

So war ihm noch keiner gekommen. Der Alte fletschte die Zähne, trat auf den Deutschen zu und rief mit dröhnender Stimme:

„So werde ich Sie mit meinen Händen erfassen und hinauswerfen!“

Müller lächelte ihm mit größter Freundlichkeit entgegen und antwortete:

„Oder die Pistole nehmen und mich erschießen, wie den Fabrikdirektor. Verstanden?“

Da fuhr der Alte zurück, als habe er ein Gespenst gesehen. Seine Augen öffneten sich weit, ebenso sein Mund, aber nicht vor Schreck, sondern vor ungeheurem Zorn.

„Herr!“ donnerte er. „Soll ich Sie zermalmen?“

„Das würde Ihnen schwer werden. Mir wird es nie einfallen, ein Blankett auszustellen, welches Sie dann mit der Erklärung ausfüllen, daß ich mich selbst mordete, weil ich Ihre Gelder unterschlagen habe, die Sie doch den Augenblick vorher in guten echten, leider aber gezeichneten Banknoten einsteckten.“

Jetzt stutzte der Alte doch. Er war so betroffen, daß er kein Wort hervorbrachte.

„Ich hätte Ihnen“, fuhr Müller fort, „wirklich die Klugheit zugetraut, mit einem Mann meines Schlages richtig sprechen zu können; aber ich sehe leider, daß ich mich täuschte. Sie beherrschen die ganze Besitzung, so daß alle Welt Sie flieht und fürchtet, aber dem armen, buckligen Deutschen vermochten Sie doch nicht, Respekt abzunötigen. Ein Mann der Wissenschaft, zumal meiner Wissenschaft, fürchtet keinen Menschen.“

„Ihrer Wissenschaft? Welche Wissenschaft nennen Sie denn so speziell die Ihrige?“

„Die Magie.“

„Die Magie? Unsinn! Reden Sie zu den alten Weibern von der Magie, aber nicht zu mir. Mit diesem Schwindel bringen Sie mich nicht zum Fürchten, Monsieur Müller!“

Er hatte seine Fassung wiedergewonnen und blickte den Deutschen finster an. Dieser hielt den herausfordernden Blick gelassen aus und antwortete lächelnd:

„Sie irren. Haben Sie einmal etwas vom Erdspiegel gehört, in welchem derjenige, der es versteht, alles sehen kann, was er will, selbst die tiefsten Geheimnisse eines Menschen?“

„Unsinn, und abermals Unsinn!“

„Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen. Ich wollte sehen, was Sie taten, und blickte in meinen Spiegel. Da sah ich Sie durch eine Stelle der Täfelung in das Gemach des Direktors treten; ich sah ihn das Geld aufzählen, ich sah ihn das Blankett ausstellen, ich sah Sie dann, am Schreibtische sitzend, dasselbe ausfüllen, ich sah Sie weiter in den Hintergrund des Zimmers treten, während er am Schreibtische las, was Sie geschrieben hatten; ich sah, wie er dann nach der Leitung sprang, wie aus Ihrer Pistole der Schuß aufblitzte, wie Sie das Blankett so legten, daß es gesehen werden konnte, wie Sie in Ihre Wohnung gingen, das Geld zu verbergen und sich dann schnell umkleideten, um den Glauben zu erwecken, daß Sie soeben erst erwacht seien. Mein Erdspiegel zeigte mir die Leitung; darum fand ich sie sogleich.“

Während dieser Worte war eine schreckliche Veränderung mit dem Alten vorgegangen. Seine Augen waren vor Angst eingesunken, seine Wangen erbleichten. Er war auf einen Stuhl gesunken, und sein Schnurrbart hing trostlos hernieder. Dieser Deutsche schilderte den Hergang so genau, als ob er selbst dabeigewesen wäre. War die Geschichte vom Erdspiegel wirklich keine leere Sage?

„Ist's wahr?“ stöhnte er. „Ist's wahr?“

„Vollständig wahr. Ich habe das alles nicht bloß gesehen, sondern auch gehört, Wort für Wort. Ich hörte die Versprechungen, welche Sie dem Direktor machten, die Erklärung, welche Sie seiner Liebe zur Baronin gaben, ich hörte, daß Sie ihn bereits am Vormittag mit ihr im Boudoir beobachtet hatten. Ich hörte von der Gratifikation, mit der Sie ihn kirrten, ich hörte alles, alles, bis der Schuß fiel, denn dann war ja nichts mehr zu hören.“

„O mein Gott, mein Gott!“

„Und so sehe ich noch jetzt das geraubte Gut, welches Sie dort im geheimen Fach hinter dem dritten Kasten verborgen halten; ein leiser Druck genügt, um die Feder zu öffnen. Soll ich es Ihnen zeigen?“

Er trat näher.

„Nein, nein!“ schrie der Alte entsetzt, indem er seine Arme abwehrend ausstreckte.

„Ich sehe sogar die Nummern der Noten“, fuhr Müller fort. „Sie sind 10.468, 17.931, 21.869 und so weiter, und darauf befinden sich die Anfangsbuchstaben der Firmen, von denen sie der Direktor erhielt. Sagen Sie selbst, ob der Erdspiegel ein solcher Unsinn ist, wie Sie sich auszudrücken belieben!“

Da richtete der Alte einen furchtbaren Blick auf den Deutschen und fragte:

„Und das alles ist Wahrheit?“

„Pah, zweifeln Sie immerhin daran, wenn Sie es vermögen! Aber sehen Sie es wenigstens ein, daß ein deutscher Doktor Ihnen gleichgestellt ist! Sie haben mir gedroht, mich hinauszuwerfen. Nun wohl, so werde ich Sie zwar nicht hinauswerfen, aber hinaus führen lassen, nämlich von den Sergeanten der Polizei. Das Blut des Direktors schreit zum Himmel; ich kann beweisen, wer sein Mörder ist, und die Baronin soll den heimlich Geliebten gerächt sehen!“

Da fuhr der Alte empor.

„Nein, nein, nur dieses nicht! Sie sind ein fürchterlicher Mensch! Was verlangen Sie denn eigentlich von mir?“

„Sehr wenig. Ich verlange Ihre Unterschrift unter eine Bescheinigung, daß Sie der Mörder des Direktors sind.“

„Unmöglich!“ rief der Kapitän.

„Sehr möglich und sogar notwendig! Hören Sie mich an! Sie geben mir diese Unterschrift, welche Sie mit Ihrem Siegel sowohl, als auch mit Ihrem Stempel versehen. Ich bewahre dieselben auf, bis ich von hier freiwillig abgehe. Scheiden wir im Guten, so erhalten Sie die Unterschrift zurück, und niemand wird erfahren, was Sie taten. Scheiden wir im Bösen, so kommt die Schrift in die Hände der Baronin. Ich gebe Ihnen fünf Minuten Bedenkzeit. Sind diese verflossen, ohne daß Sie sich zu der Unterschrift bequemen, so lasse ich die Polizei kommen. Ich brauche meine Beweise gar nicht; es genügt einfach die Tatsache, daß man die Noten bei Ihnen finden wird, während Sie in den Akten deponieren, daß der Direktor sie unterschlagen habe. Also fünf Minuten, sie beginnen jetzt. Entscheiden Sie sich.“

Der Alte sah sich gefangen; es half ihm kein Leugnen. Nur eine Rettung gab es: diesen Deutschen niederzuschießen gerade wie den Fabrikdirektor.

Die Hand des Kapitäns näherte sich dem Kasten, in welchem er seine Waffen liegen hatte; da aber griff der Deutsche in seine Tasche, zog den Revolver hervor und drohte:

„Die Hand vom Kasten, oder ich schieße Sie nieder wie einen Hund, wie ein Raubtier, das Sie ja auch sind! Drei Minuten! Sie haben nur noch zwei. Ich scherze nicht, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich nicht eine Sekunde länger warten werde!“

Da griff der Alte nach dem dritten Kasten, um die Banknoten heraus zu nehmen. Er wollte sie vernichten; dann gab es keinen Beweis mehr gegen ihn. Aber sofort stand Müller bei ihm und hielt ihn zurück.

„Halt! Mich überlisten Sie nicht! Sie haben noch eine halbe Minute, dann klingele ich die ganze Dienerschaft zusammen. In deren Gegenwart dürfen Sie die Noten heraus nehmen, eher aber nicht.“

Er blickte nach der Uhr.

„Fünf Minuten um! Nun?“

„Sie sind ein Teufel!“ ächzte der Alte.

„Pah, was nützt das ewige Verhandeln! Ich warte nicht!“

Bei diesen Worten faßte er den Glockenzug und schellte. Da aber sprang der Alte auf und schrie in entsetzlicher Angst:

„Halt! Halt! Ich unterschreibe!“

„Was ich diktieren werde?“ fragte Müller.

„Ja, alles!“

In diesem Augenblick trat der Diener ein. Der Kapitän blickte voller Angst auf Müller, was dieser sagen werde. Der Deutsche wandte sich nach der Tür und sagte:

„Der Herr Kapitän läßt Ihnen sagen, daß ich als Erzieher des Barons Alexander das Recht beanspruchen kann, an der Familientafel zu speisen. Es ist also von jetzt an für mich dort zu servieren!“

Der Domestik verbeugte sich und schritt hinaus, vor Verwunderung ganz wirr im Kopf. So etwas Unerhörtes war in diesem Haus noch niemals passiert.

„Auch das noch!“ rief der Alte. „Ich wiederhole es. Sie sind ein Teufel!“

„Und Sie ein Satan!“ lachte Müller. „Räsonieren Sie übrigens nicht, sondern schreiben Sie, sonst sehe ich mich veranlaßt, nochmals zu klingeln, und dann stehe ich für nichts.“

„Sie werden das Blatt keinem Menschen zeigen?“

„So lange wir Freunde sind, keinem Menschen.“

„Gut, so diktieren Sie!“

Er nahm einen Bogen Papier her und griff zur Feder. Müller diktierte folgende Zeilen:

„Ich gestehe hiermit ein, daß mein Fabrikdirektor kein Selbstmörder ist, sondern von mir erschossen wurde. Die Banknoten, welche er mir nach meiner Aussage unterschlagen haben soll, hat der Getötete mir fünf Minuten vor dem tödlichen Schuß ausgezahlt.

Ortry, den 19. Mai 1870

Albin Richemonte, Kapitän.“

Der Wortlaut dieses Eingeständnisses gefiel dem Kapitän nicht. Er widersprach, er bat, er drohte; es half ihm nichts, der Deutsche beharrte eisern auf seinem Vorsatz. Endlich hielt er das Papier unterschrieben und untersiegelt in der Hand: er trat zur Klingel und zog daran.

„Um Gottes willen, was wollen Sie noch?“ fragte der Alte besorgt.

„Bleiben Sie ruhig“, antwortete Müller. „Ich beabsichtige nichts Gefährliches.“

Und als der Diener eintrat, befahl er:

„Der Herr Kapitän läßt die gnädige Baronesse und Mademoiselle Nanon zu sich bitten.“

„Aber was sollen denn diese?“ fragte der Alte, als der Diener sich entfernt hatte.

„Sie sollen Ihre Unterschrift rekognoszieren“, antwortete Müller. „Bei Ihnen muß man vorsichtig sein. Sie können sonst alles ableugnen und für gefälscht erklären.“

Der Kapitän hätte den Deutschen erwürgen mögen, aber er mußte seine Wut verbergen. Im stillen aber gelobte er sich Rache.

„Ich werde ihn beobachten, wenn er nachher geht“, dachte er. „Ich werde sehen, wo er das Papier verbirgt. Ich werde es mir holen und die Banknoten an einem anderen Ort verstecken; dann habe ich ihn überlistet, und er ist machtlos.“

Er brachte bei diesem Entschluß weder den Erdspiegel, oder was ja ganz dasselbe war, die Klugheit Müllers in Rechnung.

Es dauerte gar nicht lange, so erschienen die beiden Damen, ganz begierig zu wissen, was der so seltene Ruf zum Kapitän bedeutete. Sie waren erstaunt, Müller bei ihm zu sehen, und ihr Erstaunen wuchs, als dieser sie anredete:

„Mesdemoiselles, ich stehe im Begriff, mir eine sehr große Gefälligkeit von Ihnen zu erbitten. Der Herr Kapitän hat mir hier einen Revers ausgestellt, zu dessen Gültigkeit unbedingt erforderlich ist, daß zwei Personen bezeugen, daß Unterschrift, Siegel und Stempel wirklich von ihm stammen. Würden Sie die Gewogenheit haben, dies durch ein paar Worte und Ihre Unterschrift zu beurkunden?“

„Gern!“ sagte Marion bereitwillig. „Großpapa, du hast das geschrieben, untersiegelt und gestempelt?“

„Ja“, antwortete er, innerlich knirschend. „Aber ihr beide dürft es nicht lesen!“

„Gut so legen wir etwas darauf!“

Sie bedeckte den Inhalt mit einem Papierblatt und schrieb dann zwei Zeilen. Als sie fertig war, schob sie die Schrift der Freundin hin. Diese unterzeichnete, und nun las Marion vor:

„Wir haben geschrieben: ‚Daß diese Unterschrift nebst Stempel und Siegel in Wirklichkeit von der Hand meines Großvaters, des Kapitäns Albin Richemonte, stammen, bescheinigen wir mit unserer Unterschrift. Marion de Sainte-Marie. Nanon Charbonnier.‘ Ist es so richtig?“

„Ganz und gar“, antwortete Müller, indem er sich verbeugte. „Nehmen Sie unseren herzlichen Dank!“

Die Damen sahen, daß sie entlassen seien, dennoch aber fragte Marion den Deutschen:

„Ich höre von Alexander, daß Sie mit uns nach Thionville fahren werden?“

„Ja; er hat mich, sozusagen, zu dieser Tour gepreßt“, antwortete er lächelnd.

„Uns ebenso; doch müssen wir dies schwere Leiden mit Geduld ertragen. Adieu!“

Als sie sich entfernt hatten, erhob sich der Alte und stand in der Überzeugung, daß er seinen Gegner doch noch betrügen werde, in stolzer Haltung da.

„Nun sind wir wohl fertig?“ fragte er.

„Ja, obgleich ich eigentlich noch im Sinne hatte, dafür zu sorgen, daß die Banknoten nicht verschwinden, sondern als Beweis zurückbleiben. Allein derselbe ist nicht mehr nötig. Ihre Unterschrift und diejenige der Damen genügt vollständig.“

„So können Sie gehen!“

Er wendete sich in einer nach seiner Ansicht imponierenden Haltung ab. Müller aber blieb stehen und beobachtete ihn mit stillem Lächeln. Da wandte jener sich rasch wieder um und fragte:

„Nun, ich denke, wir sind fertig!“

„Allerdings, bis auf eine kurze Bemerkung. Ich bin überzeugt, daß Sie mich noch immer zu niedrig taxieren. Ihre persönliche Haltung, Ihr so schnell veränderter Ton sind eine Unvorsichtigkeit, denn sie lassen mich vermuten, daß Sie noch immer glauben, mich überlisten zu können. Ich weiß, in welcher Weise dies nur geschehen kann: Sie werden durch ein gewisses, matt geschliffenes Glas beobachten, wohin ich das Papier lege, und es mir dann stehlen. Sie werden ferner den Noten einen anderen Aufbewahrungsort geben; dann stehe ich macht- und beweislos Ihnen gegenüber, und Sie können mich wie einen Hund vom Hof jagen. Oder Sie machen es noch kürzer: Sie schießen mir eine Kugel durch den Kopf; das ist gründlich gehandelt. Da muß ich Ihnen nun leider sagen, daß ich Ihnen Schach und Matt biete. Ich fahre nachher nach Thionville. Von da aus geht eine Estafette mit diesem Papier nach meiner Heimat, wo dasselbe heilig aufbewahrt werden wird. Widerfährt mir bei Ihnen hier das geringste Leid, so wandert das Papier zum Staatsanwalt. Was dann folgt, das können Sie sich ausmalen, nachdem ich Sie jetzt verlassen habe. Adieu, Herr Kapitän!“

Er ging, aber hinter sich vernahm er noch die vor Wut förmlich herausgekeuchten Worte:

„Hole dich der Teufel! Dieses Geschöpf des Satans ist wahrhaftig allwissend!“

Kurze Zeit später fuhren die beiden Wagen vom Schloß ab nach Thionville, und Müller wurde wirklich von der Baronin eingeladen, in dem ihrigen Platz zu nehmen. –

Gegenüber dem Haus, in welchem Doktor Bertrand sein Domizil aufgeschlagen hatte, befand sich ein Gasthof, welcher besonders von den Angehörigen des Mittelstandes besucht zu werden pflegte. Dort hatte der Zauberer Abu Hassan mit seiner Künstlertruppe Wohnung genommen.

Keiner von seinen Leuten wußte, woher der Chef eigentlich stammte, und keiner kannte die Quellen, aus denen er schöpfte. Mochte die Einnahme eine noch so karge sein, Hassan hatte immer Geld, die Mitglieder seiner Truppe zu befriedigen.

Niemand ahnte, daß er dieses Leben nur gewählt hatte, weil es ihn überall im Land herumführte und ihm reichlich Gelegenheit gab, Nachforschungen anzustellen, ohne dabei auffällig zu werden. Es galt der Entdeckung eines Geheimnisses, der Vergeltung eines Verbrechens. Hassan hatte jahrelang vergebens gesucht, hatte bereits die Hoffnung aufgeben wollen, und nun, nun stand er plötzlich vor dem Anfang des Endes.

Im kleinen Stübchen, welches an die große Gaststube stieß, saß Fritz Schneeberg bei einem Glas Wein. Neben ihm saß eine der Künstlerinnen. Sie hatte auf alle Fälle bereits dreißig Jahre zurückgelegt; ihr Gesicht predigte laut von übermäßig befriedigten Leidenschaften, doch hatten Puder und Schminke das ihrige getan, ihr ein möglichst anziehendes Aussehen zu geben. Sie war bereits für die Vorstellung in ein leichtes, durchsichtiges Flittergewand gekleidet. Das blaue, goldbeflimmerte Mieder ließ Hals, Nacken und Arme frei, und das Röckchen, kaum noch weiß von Farbe, bedeckte kaum die Oberschenkel und gab dem Blick die starken, mit durchscheinenden Strümpfen bekleideten Beine zur ungeschmälerten Besichtigung preis. Trotz ihrer vollen, schweren Gestalt war sie die Seilkünstlerin der Truppe, und selbst der sonst so lobeskarge Direktor hatte ihren Leistungen stets nur seine Anerkennung zuerteilt.

Jetzt also saß sie neben dem Deutschen, verschlang dessen volle, kräftige Gestalt mit gierigen Augen und versucht, den nackten Arm auf den seinigen zu legen, was ihr aber nicht gelang, da er sich bei allen diesen Bewegungen abweisend zurückbog.

„So komm doch her! Nur einen einzigen Kuß, Goldjunge!“ bat sie ihn.

„Laß mich, Mädchen!“ antwortete er. „Ein Schluck Wein ist mir lieber als tausend Küsse von dir!“

„Oho!“ zürnte sie. „Sehe ich denn etwa gar so widerwärtig aus?“

„Hm! Ich denke mir, den Wein hat noch niemand getrunken, du aber bist zehntausendmal geküßt worden.“

„Höre, Bursche, was bildest du dir ein!“ rief sie. „Was bist du denn? Ein Kräutermann, weiter nichts; und ich bin eine vielgesuchte Künstlerin, an deren jeder Finger sich gern zehn Männer hängen.“

„Oho, schneide nicht auf!“

„Aufschneiden? Ah, warum will mich denn der Bajazzo heiraten, he? Warum macht er mir das Leben so schwer? Warum läßt er mir weder bei Tag, noch bei Nacht Ruhe? Warum schwört er mir Rache, wenn ich seine Bewerbung zurückweise?“

„Nun, jedenfalls weil er sich auch an einem deiner Finger aufhängen will!“

„Nein, nicht deshalb, sondern weil er weiß, daß er ein riesiges Geld mit mir verdienen kann. Die Männer und Burschen sind ja alle ganz vernarrt in mich!“

„So hat dieser Bajazzo weder Liebe zu dir, noch irgendein Ehrgefühl!“

„Das fällt ihm auch beides gar nicht ein. Er ist ja eigentlich mein Stiefvater.“

„Alle Teufel! Wie alt ist er denn?“

„Weit in die Fünfzig. Meine Mutter, seine zweite Frau, ist früh gestorben, und von dieser Zeit an hat er mich in der Welt herumgeschleppt. Als ich ein Kind war, hat er meine kleine Gage stets in seine Tasche gesteckt; als ich größer und klüger wurde, hielt ich meine eigene Kasse. Das will er ändern. Ich soll seine Frau werden, damit er es wieder machen kann wie früher. Aber er bringt es nicht so weit, der Lüdrian, der Trunkenbold. Er säuft von früh bis abend, so daß es ein wahres Wunder ist, daß er den Hals noch nicht gebrochen hat. Lieb wäre mir das. Doch – – –“

Sie unterbrach sich und starrte nach seinem Hals. Er bemerkte das und fragte:

„Was hast du, daß du mich so anstarrst?“

„Dieser Zahn, oh, dieser Zahn! Zeig her, zeig her!“

Sie griff nach der Kette, zog den Zahn näher und betrachtete ihn mit funkelnden Augen.

„Was ist's mit dem Zahn?“ fragte er.

„Er ist's er ist's. Es ist der eine! Mensch, du siehst ihm so ähnlich, dem die beiden Zwillingsknaben geraubt wurden, diese Ähnlichkeit ist mir sogleich aufgefallen; ich war ein achtjähriges Mädchen, und er war nicht viel älter als du jetzt. Sage, woher hast du diesen Zahn?“

Die Worte des Mädchens hatten ihn aufmerksam gemacht.

„Doch von meinen Eltern“, antwortete er.

„Wer waren sie?“

„Das weiß ich nicht; ich bin ein Findelkind.“

„Ein Findelkind!“ schrie sie förmlich auf. „Wo hat man dich gefunden?“

„In der Nähe eines Dorfes bei Neidenburg in Ostpreußen“, antwortete er, und richtete voller Erwartung seine Augen auf das erregt vor ihm stehende Mädchen.

Fritz glaubte, dem Mädchen die Wahrheit sagen zu können. Nanon aber, so sehr er diese anbetete, hatte er gesagt, daß er zwischen den Bergen, also wohl in der Schweiz, gefunden worden sei, weil er in der Umgebung für einen Schweizer gehalten werden sollte.

„Bei Neidenburg!“ jubelte das Mädchen. „Du bist's! Du bist's! Oh, nun kann ich dich zwingen, mich lieb zu haben, denn ich weiß ein Geheimnis, welches mir deine Liebe verschaffen kann. Willst du mich lieb haben, sehr lieb? Antworte schnell!“

„Was ist's für ein Geheimnis?“ fragte er.

„Sag erst, ob du mich lieben willst!“ drängte sie.

„Nein!“ antwortete er, sich abwendend.

„Nur dann will ich dir sagen, wer deine Eltern sind, wenn du mir gehören willst.“

Schnell drehte er sich wieder zu ihr.

„Meine Eltern?“ rief er. „Kennst du sie?“

„Ja, ganz genau. Ihr wart Zwillingsbrüder. Ihr wurdet geraubt auf den Befehl eines hohen Herrn, der den Räuber reich belohnte. Später aber gingt ihr verloren, du bei Neidenburg und der andere –“

Da öffnete sich die Tür, und der Bajazzo trat ein. Seine Augen funkelten vor Wut, und er fragte:

„Was treibt ihr da, he? Soll ich euch mit dem Stock auseinander treiben? Jetzt eben schlägt es zwei Uhr, und die Vorstellung soll anfangen. Wie siehst du aus, Metze! Pack dich sofort in die Garderobe! Und dieses Bürschchen da werde ich bei den Ohren nehmen und daran erinnern, daß es hier bei uns –“

Er hielt mitten im Satz inne. Sein Blick war auf die Kette und den Zahn gefallen. Er war betrunken, sogar sehr betrunken, aber er erbleichte dennoch. Ohne seine Schimpfrede fortzusetzen, drehte er sich um und verließ das Stübchen. Er sah so verwirrt und erschrocken aus wie einer, den die Nemesis beim Schopf fassen will.

„Was war so plötzlich mit ihm?“ fragte Fritz das Mädchen.

„Er sah diesen Zahn“, antwortete sie. „Siehst du, welche Wirkung dieser hat! Nach der Vorstellung sprechen wir weiter. Jetzt muß ich in die Garderobe. Aber so ist es, wenn die Liebe zu stark wird, zerreißen die Kleider. Also überlege es dir, ob du mich haben willst, wenn ich dir eine Grafenkrone dafür gebe.“

Sie ging und ließ den Deutschen in größter Erregung zurück. Er stand vor der Lösung seines Geheimnisses, aber der Schlüssel stank vor Schmutz. Was sollte er tun? Oh, wenn er doch einmal mit Nanon reden könnte! Kam sie vielleicht zur Vorstellung? Dieselbe war ja auf allen umliegenden Ortschaften angemeldet worden. Aber nein; für die Bewohner von Schloß Ortry war dies Vergnügen nicht passend.

Fritz ging, um sich eine neue Bluse zu kaufen, da er keine andere besaß, als die zerrissene.

Nicht weit vom Gasthaus war ein Laden; dorthin ging er. Er fand, was er suchte, kaufte und bezahlte das Stück und zog es sogleich an, die alte dem Händler als Geschenk zurücklassend. Als er aus dem Laden trat, kamen soeben zwei Wagen herangerollt. Im ersten erblickte er Müller und im zweiten Nanon; für die übrigen hatte er keine Augen. Beide grüßten ihn freundlich, und nun nahm er sich vor, mit Nanon zu sprechen, wenn es nur irgend möglich zu machen sei.

Unterdessen war die Seilkünstlerin in die Garderobe getreten, welche im Hinterhaus des Gasthofes lag. Alle anderen Künstler befanden sich bereits auf dem Platz, wo die Vorstellung gegeben werden sollte; nur der Hanswurst wartete auf sie.

Als sie eintrat, führte er gerade die fast geleerte Flasche an den Mund. Er trank sie aus und warf sie zu Boden, daß die Scherben herumflogen.

„Verdammte Liebelei mit diesem Burschen!“ rief er. „Und wie habt ihr euch aneinander herumgedrückt! Der ganze Anzug ist dabei zerrissen worden!“

„Geht das dich etwas an?“ fragte sie schnippisch, indem sie einen alten Kasten öffnete, um ein anderes Fähnchen herauszunehmen.

„Mich?“ meinte er erbost. „Ja, mich am allermeisten! Bin ich nicht dein Vater, dein Bräutigam?“

„Bräutigam!“ lachte sie höhnisch. „Der sitzt drinnen im Stübchen.“

„Der? Ah, der Lump, der Pflanzensucher!“

„Nein, sondern der Edelmann, der Grafensohn. Du hast ja den Zahn gesehen!“

„Den Zahn? Welchen Zahn? Den Teufel habe ich gesehen, aber keinen Zahn!“

„Lüge nicht!“ gebot sie ihm. „Du hast ihn wohl gesehen. Du bist ja sofort ausgerissen.“

„Willst du schweigen, verfluchte Dirne!“ rief er wütend. „Ich glaube gar, du willst uns an den Galgen reden!“

„Mich nicht, aber dich! Ich kann nicht bestraft werden. Ich mußte dir gehorchen; ich habe nur Wache gestanden; ich war noch ein Kind. Ich bin ihm gut. Er muß mich wieder lieben, und ich mache ihn zum Grafen.“

Diese Worte waren in einem höchst entschlossenen Ton gesprochen. Der Bajazzo stand dabei mit gläsernen Augen; der Teufel des Fusels blickte aus ihnen. Er knirschte die Zähne hörbar zusammen, erhob drohend die geballte Faust und fragte:

„Das willst du? Willst du das wirklich tun, he?“

„Ja, da tue ich!“ antwortete sie, die Hände beteuernd zusammenschlagend.

„Oho, da bin ich auch noch da, ich, dein Vater und Bräutigam. Ich habe das Recht, dich zu züchtigen, und ich werde davon Gebrauch machen, verstehst du mich?“

Er trat näher an sie heran. Sie gab ihm einen Stoß und rief: „Pack dich Süffel, du stinkst wie ein Faß!“

Der Stoß war zu stark gewesen; der Mann stürzte nieder. Aber mit der Elastizität eines Akrobaten war er wieder in die Höhe, und im gleichen Augenblick brannte eine fürchterliche, schallende Ohrfeige in ihrem Gesicht. Sie stieß einen heißeren Wutschrei aus und stürzte sich auf ihn. Er hielt ihr trotz seiner Trunkenheit scharf stand, denn das Balgen gehörte zu seinem Handwerk. Sie rauften, schlugen, kratzten und bissen sich so lange in der engen Kammer, welche die Garderobe bildete, herum, bis ein Mitglied der Truppe erschien, und sie mit dem Bemerken auseinander riß, daß die Vorstellung bereits begonnen habe; der Direktor befehle, daß sie kommen sollten.

Der Bote entfernte sich sofort wieder. Die Seilkünstlerin kochte vor Zorn, er aber vor Wut und Eifersucht.

„Warte nur“, drohte sie ergrimmt; „das tränke ich dir ein, du Kinderräuber!“

„Ah, wirklich?“ fragte er, zitternd vor Schnaps und Aufregung. „Wie denn, he?“

„Ich bringe dich ins Zuchthaus; dann bin ich doch los.“ Und mit erhöhter, fast überschnappender Stimme fügte sie hinzu: „Warte nur die Vorstellung ab, dann kommt er, ich habe ihn bestellt. Ich sage ihm alles, alles, alles! Dann hat er mich lieb, du aber spinnst Wolle hinter engen Mauern!“

Er lachte höhnisch. Das brachte sie noch mehr auf.

„Du glaubst es nicht?“ fragte sie. „Ich schwöre es dir hiermit zu mit den heiligsten Eiden, daß er es nach der Vorstellung erfährt! Nun glaube es, oder nicht; mir ist es ganz und gar gleich; dich aber bin ich dann glücklich los! Mach dich gefaßt!“

Sie warf noch ein langes Tuch über, da sie durch einige Gassen gehen mußte, gab ihm einen letzten Stoß, daß er an die Wand taumelte, und eilte fort. Er starrte ihr nach, fast sinnverwirrt vor Eifersucht, Wut, Angst und Schnaps.

„Sie tut es; sie tut es wirklich; der Teufel soll mich holen, wenn sie es nicht tut!“ knirschte er. Und die Faust drohend schüttelnd, murmelte er: „Aber noch gibt es ein Mittel dagegen. Ich habe es schon oft im Kopf gehabt und nicht ausgeführt. Aber jetzt sehe ich, daß sie mich nicht will. Sie hält es mit anderen, und mich schafft sie ins Zuchthaus. Gut, heute ist's genug; heute wird's gemacht. Der Teufel soll lieber sie haben als mich!“

Und in dem offenen Kasten herumwühlend, dachte er weiter:

„Ich habe sie oft gewarnt; ich brauche mir kein Gewissen zu machen. Da sind Kleider genug, die ich brauche, und dort steht die Kasse des Direktors. Hahahaha! Mich ins Zuchthaus bringen! Wir wollen sehen, wer dieses Mal gewinnt!“

Als er sich alles zurecht gelegt hatte, verließ er die Garderobe, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in eine Mauerritze, da er in seinen Trikots keine Tasche hatte. Dann begab er sich nach dem Festplatz.

Dort befanden sich die Künstler bereits in voller Handlung. Ein hohes Turmseil weckte die gespannte Erwartung aller Zuschauer. Daneben waren mehrere tiefere Seile gezogen. Es gab ein Schwebereck und außerdem den ganzen equilibristischen Apparat, der bei solchen Schaustellungen gewöhnlich in Anwendung kommt. Zur ebenen Erde waren große Tücher ausgebreitet, auf denen die Lustigmacher ihre Späße zu treiben hatten. Die größte Aufmerksamkeit aber erregte ein hohes Gerüst, auf welchem Abu Hassan, der orientalische Zauberer, seine unbegreiflichen Künste, die den Glanz- und Schlußpunkt der Vorstellung bildeten, produzieren sollte.

Als der Bajazzo ankam, agierten einige der Künstler auf dem niedrigen Seil, sodann folgte ein komisches Intermezzo, bei welchem er die Hauptrolle zu spielen hatte. Sie gelang ihm vortrefflich. Er mochte noch so sehr betrunken sein, während der ‚Arbeit‘ hatte der Spiritus keine Gewalt über ihn.

Nun folgte das erste Betreten des Turmseils. Die Künstlerin lehnte nachlässig an der Leiter, welche zur Höhe führte. Sie warf das Tuch ab und stieg empor. Droben lag die Balancierstange. Sie ergriff dieselbe und machte dem Publikum eine Verbeugung. Darauf überzeugte sie sich, ob auch die vom Hauptseil nach unten hängenden Halteseile scharf angezogen seien. An diesen Seilen standen ihre Kollegen, unter ihnen auch der Bajazzo. Er hatte sich seinen Ort mit Absicht auserwählt. Gerade über ihm war die Stelle, an welcher sie sich frei niederzulegen pflegte. Sie streckte dann Arme und Beine von sich und balancierte die Stange auf der Stirn.

Jetzt schien alles in bester Ordnung zu sein – sie betrat das Seil. Es begann in einer Höhe von vielleicht fünfzig Fuß und stieg dann bis über achtzig Fuß empor. Die Künstlerin erklomm diese Bahn sehr glücklich unter allerlei kühnen Abwechslungen in Schritt und Sprung. Dann schritt sie rückwärts wieder herab. Das Seil ging hier sehr steil empor; es war eine schwierige Partie; ein Fehltritt hätte sie zum Sturz in die Tiefe gebracht, aber das Wagnis gelang.

Fast in der Mitte des Seils angekommen, drehte sie sich mit einem verwegenen Sprung um. Ein rauschender Applaus war zu hören. Sie ließ ihn verklingen und bedankte sich durch eine Verneigung. Dann kniete sie langsam nieder, gerade über dem Bajazzo, welcher das Halteseil mit aller Kraft anzog. Seine Augen glühten in einem wilden, teuflischen Entschluß empor. Jetzt setzte sie sich auf das Seil und ließ sich dann langsam hintenüber sinken. Als sie lang ausgestreckt, das Gleichgewicht gefunden hatte, hob sie das eine Ende der Stange auf die Stirn und begann zu balancieren. Sodann streckte sie zunächst die Arme und später die Beine empor, ohne daß die Stange oder sie selbst aus dem Gleichgewicht gekommen wären. Dies erweckte einen dreifach lauteren Beifall als vorher.

Auf diesen Augenblick hatte der Bajazzo gewartet. Gedankenschnell sein Halteseil nachlassend und wieder anziehend, so daß der Vorgang nur von einem scharfen und aufmerksamen Kennerauge bemerkt werden konnte, teilte er dem Hauptseil eine plötzliche, scharfe Erschütterung mit. Ein schriller Aufschrei der Künstlerin überschmetterte den Applaus des Publikums; die Stange neigte sich, erst langsam und dann schneller, und stürzte endlich herab. Die Künstlerin versuchte, mit den Händen das Seil zu erhaschen – sie griff in die Luft, flog herab und schlug mit einem dumpfen Krach gerade neben dem Bajazzo auf die Erde nieder.

Dieser stand scheinbar wie vom Donner gerührt, den fürchterlichen Schrei, den tausend anwesende Menschen ausstießen, gar nicht beachtend; dann aber schlug er sich die Hände vor den Kopf und warf sich jammernd neben der Verunglückten nieder.

Zugleich aber legte sich eine Hand schwer auf seine Schulter. Es war die des Direktors.

„Mörder!“ rief dieser. „Ich habe es gesehen, es war Absicht. Ich lasse dich festnehmen.“

Der Bajazzo tat, als höre es dies gar nicht. Das Publikum drängte in Massen herbei und schob die Künstler auseinander. Dies benutzte der Mörder. Er ließ sich mit Absicht abdrängen und eilte dann mit dem Ruf „ein Arzt, ein Arzt!“ davon.

Er erreichte ganz unangefochten den Gasthof, sprang über den Hof hinüber, zog den Schlüssel aus der Ritze, schloß auf und trat ein. Im Nu hatte er sich die Schminke abgewaschen, ebenso schnell flogen ihm die zurechtgelegten Kleider auf den Leib. Dann stülpte er einen Hut auf, ergriff die Kasse und trat aus der Kammer. Er verschloß diese und schleuderte den Schlüssel in das nahe Jauchefaß. Dies verschaffte ihm eine Frist, weiter zu kommen.

Er war schlau genug, den Gasthof nicht durch den Eingang zu verlassen. Er schlich sich in den Garten. Für ihn als Bajazzo war es ein leichtes, sich mit der Kasse über den Zaun zu schwingen, und nun befand er sich auf einer Wiese im Freien. Er eilte über dieselbe hinüber, erreichte ein Gebüsch, welches ihn den Blicken seiner Verfolger entzog, und sprang sodann beflügelten Schritts dem nicht sehr fern liegenden Wald zu.

Es hätte dieser Vorsicht und Eile gar nicht bedurft, denn auf Feld und Wiese befand sich heute kein Mensch, da alles in der Stadt geblieben oder nach derselben gegangen war, um der Vorstellung beizuwohnen, die nach der verlockenden Ankündigung eine noch nie dagewesene zu werden versprochen hatte.

Auf dem Festplatz war natürlich alles in der fürchterlichsten Aufregung. Mit echt französischer Lebhaftigkeit drängte sich Mensch an Mensch, Masse an Masse. Die drei Mann Stadtsergeanten konnten nichts dagegen tun.

Zahlreiche Angstrufe und Schreie ertönten, ausgestoßen von verletzten Menschen, bis endlich die Militärbesetzung ihre Schuldigkeit begriff und nach und nach Ruhe stiftete und Ordnung in das Gewühl brachte.

Die Herrschaften von Ortry waren so klug gewesen, dem Rat Müllers zu folgen. Sie hatten schleunigst die Wagen aufgesucht und die Stadt verlassen.

Noch immer lag die verunglückte Künstlerin auf derselben Stelle, auf welche sie niedergeschmettert war. Ein Haufe Volks umgab sie, und inmitten desselben knieten zwei Männer bei ihr, nämlich Doktor Bertrand und Fritz.

„Wie steht es?“ fragte der letztere.

„Schlecht, wie zu erwarten“, antwortete der Gefragte. „Wenn sie überhaupt zu sich kommt, so ist es nur, um sofort für ewig einzuschlafen. Bei einem Sturze aus solcher Höhe kann kein Mensch mit dem Leben davon kommen.“

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so bewahrheiteten sie sich. Die Künstlerin bewegte leise den Kopf und schlug die Augen auf. Ihr starrer, verschleierter Blick fiel auf das ihr nahe Gesicht des Pflanzensammlers. Sie schien ihn doch zu erkennen, denn ihr Auge belebte sich, und ihre Züge machten eine vergebliche Anstrengung, ein freundliches Lächeln hervorzubringen. Dann bewegte sie ihre Lippen. Die beiden Männer hielten ihre Ohren näher hin und hörten deutlich die Worte:

„General – Kunz von Goldberg – Vater – Rauben lassen Graf – Jules Rallion – Cousin Hedwig – Bajazzo – bezahlt – ah!“

Sie konnte nicht weiter sprechen. Ein blutiger Schaum trat ihr vor den Mund; ihre Augen brachen; ein Zittern ging durch ihre zerschmetterten und zerbrochenen Glieder; der eine Arm versuchte, sich noch einmal zu erheben, als ob er sich an Fritz anklammern wolle; er sank nieder – ein lautes, leiser werdendes Röcheln und das Weib war tot, das noch vor einer Stunde in überstrotzender Lebenslust den Gesetzen weiblicher Anmut und Sitte schreiend Hohn gesprochen hatte.

Damit waren auch die Umstehenden befriedigt. Die Tragödie war zum Abschluß gelangt. Sie entfernten sich, und keiner von ihnen betrauerte die Künstlerin, der vorhin noch alle zugejubelt hatten.

„Was müssen die Worte und die Namen zu bedeuten haben, welche sie vorhin ausgesprochen hat?“ sagte Doktor Bertrand.

„Sie bezogen sich auf mich“, antwortete Fritz.

„Ah, Sie kannten wohl das Mädchen?“ fragte Doktor Bertrand.

„Nein, doch sprach ich vor der Vorstellung mit ihr im Gasthof. Sie wollte mir nach derselben etwas Wichtiges mitteilen. Noch an der Schwelle des Todes hat sie sich an ihr Versprechen erinnert und es erfüllt, unvollständig, aber doch immer so, daß ich zufrieden sein kann. Was wird mit ihrem Leichnam werden?“

„Er kommt in das Totenhaus; das werde ich jetzt sofort selbst besorgen. Und sodann muß man mit dem Direktor Abu Hassan sprechen.“

„Der wird im Gasthof sein. Ich gehe hin, ihn zu suchen.“

Als er den Gasthof erreichte, war der Direktor mit einigen seiner Mitglieder beschäftigt, die Tür zur Garderobe durch einen Schlosser öffnen zu lassen. Als dies geschehen war, zeigte es sich, daß die Tageskasse fehlte und mit ihr der gute Anzug eines der solidesten Künstler der Truppe.

„Der Bajazzo ist entflohen“, sagte Hassan. „Er ist der Mörder; ich habe es gesehen. Er muß verfolgt werden; ich werde sogleich zur Mairie laufen.“

Auch unserem Fritz war sehr viel daran gelegen, daß man des Flüchtigen habhaft werde. Doch wollte er nicht eher einen Schritt tun, als bis er mit Nanon und seinem Rittmeister gesprochen habe. Und bei diesem Gedanken fiel ihm die Leichengräberei ein, welche für den heutigen Tag festgesetzt war, und wozu er ja die Werkzeuge zu besorgen hatte.

Hierbei bot sich gerade Gelegenheit, mit Müller zu sprechen, und so beschloß er denn, schon im voraus das Werkzeug hinaus zu schaffen und in der Nähe des Grabes zu verstecken, um dann nach dem Schloß zu gehen und Müller zu erwarten. Auf dem Weg zum alten Turm hatten sie dann Zeit, sich mit Fritzens Angelegenheiten zu befassen, welcher Müller sicher seine ganze Teilnahme schenken würde.

Der Wirt des Gasthauses gab sehr gern zwei Hacken und zwei Schaufeln her. Fritz warf sie bereits zur Dämmerungszeit über den Rücken und wanderte hinaus nach dem Wald von Ortry. Es war bereits dunkel geworden, als er diesen erreichte. Er versteckte das Werkzeug neben dem Grab unter die Büsche und schritt sodann dem Schloß entgegen.

Als er es erreichte, sah er in Müllers Zimmer Licht brennen. Es war noch lange Zeit bis Mitternacht, und so zog er sich eine Strecke zurück und setzte sich an einer Stelle nieder, an welcher er Müllers Fenster beobachten konnte.

So saß er und überflog mit seinem Auge die Front des Schlosses. Hinter welchem Fenster wohnte Nanon? Dachte sie nur den hundertsten Teil so oft an ihn, wie er an sie? Welch ein Unterschied zwischen ihr, der Reinen und der Künstlerin, gerade wie zwischen Himmel und Hölle. Welches Glück, welche Seligkeit, die Liebe eines solchen Wesens zu erringen! Wäre doch auch ihm ein solches Glück beschert! Wie wollte er es bewahren! Aber er, ein armer Unteroffizier!

Da kamen ihm die Worte der Sterbenden wieder in den Sinn.

Wie hatten sie gelautet? „General – Kunz von Goldberg – Vater – Rauben lassen Graf – Jules – Rallion – Cousin Hedwig – Bajazzo – bezahlt –“

Was hatten diese Worte zu bedeuten? Gab es einen General, welcher Kunz von Goldberg hieß? Waren ihm die beiden Knaben geraubt worden? Ja, es standen unter dem Porträt in der Zahnhöhlung die Buchstaben K.v.G. War Graf Jules Rallion es gewesen, welcher die Knaben hatte rauben lassen? War dieser Rallion der Cousin von Hedwig? Wer war diese Hedwig? War sie vielleicht die Frau des Generals H.v.G. War der Bajazzo es gewesen, welcher die Knaben geraubt hatte? Von wem war er bezahlt worden? Von diesem Cousin, also von Graf Rallion? Das waren die Fragen, welche Fritz sich vorlegte.

Er sah ein, daß für ihn die Möglichkeit vorhanden sei, daß sein Leben von jetzt an eine neue, ungeahnte Richtung nehmen könne. Am meisten beschäftigte ihn der Umstand, daß ihm der Name ‚von Goldberg‘ nicht unbekannt war.

Sein Herr, der Rittmeister von Königsau, hatte einen Oheim, welcher diesen Namen trug und sogar General war, auch Kunz hieß, wie Fritz sich besann. Die Generalin von Goldberg war die Schwester der Frau von Königsau. Der General hatte keine Kinder; das wußte Fritz ganz genau, und was die Generalin betraf, so hatte er sie zwar noch nie gesehen, aber es war ihm bekannt, daß sie stets in tiefer Trauer gehe.

Er nahm sich jetzt vor, seinem Herrn alles zu erzählen. Er konnte von ihm den besten Aufschluß erhalten und wartete darum mit Ungeduld auf das Erscheinen desselben. –

Müller saß indessen in seiner Stube und schrieb. Um nicht beobachtet werden zu können, hatte er ein dickes Papierblatt auf das Glas geklebt, durch welches der alte Kapitän in das Zimmer zu blicken vermochte. Er ließ es dort auch kleben, als er fertig war, stieg dann zum Fenster hinaus, nachdem er sich umgekleidet hatte, kroch über das Dach hinüber und stieg am Blitzableiter hinab.

Fritz hatte ihn kommen sehen und empfing ihn, indem er leise herbeigeschlichen kam.

„Bist du bereits lange hier?“ fragte ihn sein Herr.

„Eine ziemliche Weile, Herr Doktor“, antwortete der Diener. „Ich kam eher, weil ich glaubte, Ihnen etwas mitteilen zu dürfen.“

„Etwas Wichtiges für unsere Aufgabe?“

„Etwas Wichtiges? Ja, aber wohl nur für mich, Herr Doktor.“

„Ah, so ist es eine persönliche Angelegenheit?“

„Ja, nichts anderes.“

„Nun, so wollen wir zunächst die Nähe des Schlosses verlassen, da mir natürlich daran liegen muß, unbemerkt zu bleiben. Hier, nimm aber diese Papiere. Sie gehören zu denen, welche du über die Grenze zu schaffen hast. Und nun komm!“

Sie schritten miteinander rasch davon. Dann aber, als sie sich im Freien befanden und nun annehmen konnten, daß sie unbeachtet seien, sagte Müller:

„Nun kannst du beginnen, lieber Fritz.“

„Da muß ich vor allen Dingen bitten, mir nichts übel zu nehmen, Herr Doktor. Ehe ich zur Sache komme, möchte ich erst einige Fragen aussprechen, welche Verwandte von Ihnen betreffen.“

„So, frage einmal zu! Ich bin überzeugt, daß du keine müßigen Fragen aussprechen wirst.“

„Das würde ich gar nicht wagen. Aber es sind hier Dinge passiert, welche eine Erkundigung notwendig machen, die Ihnen vielleicht zudringlich erscheinen wird. Nicht wahr, der Herr General von Goldberg, Exzellenz, ist Ihr Verwandter?“

„Allerdings. Er ist mein Oheim.“

„Die Frau Generalin ist die Schwester Ihrer Frau Mutter?“

„Ja. War dir dies noch nicht bekannt?“

„Nicht genau. Ich habe Sie ja stets nur in der Garnison bedient und bin mit Ihren Verwandten mehr als ersten Grades also nie in Berührung gekommen. Gestatten Sie mir die fernere Frage, ob der Herr General Kinder hat?“

„Nein.“

„Er hat auch niemals welche gehabt?“

„O doch, nämlich ein Zwillingspaar, zwei Knaben; sie sind ihm aber auf höchst unbegreifliche Weise abhanden gekommen. Er glaubte an einen Raub und hat keine Anstrengung gescheut, das Dunkel aufzuklären, doch leider vergebens. Die Tante trägt seit jener Zeit nur Schwarz, und auch der Onkel hält sich nicht nur von jedem Vergnügen fern, sondern er meidet auch allen Umgang, der nicht ein dienstlich notwendiger ist.“

Fritz schwieg eine Weile. Welche Perspektive öffnete sich ihm da auf einmal! Er liebte seinen Herrn von ganzen Herzen; er hätte für ihn mit Freuden das Leben hingegeben, und nun gab es eine Möglichkeit, sein naher Verwandter zu sein! Dieses Schweigen dauerte Müller zu lange. Er fragte:

„Welchen Grund hast du zu diesen Erkundigungen?“

„Oh“, antwortete der Gefragte, „ich halte es für möglich, daß die verschwunden Knaben sich wiederfinden, wenigstens einer von ihnen.“

„Diese Möglichkeit ist natürlich vorhanden“, meinte Müller, erstaunt über die Rede seines treuen Dieners. „Aber wie kommst gerade du dazu, dies zu betonen?“

„Weil es mir scheint, als ob ich zufälligerweise etwas über einen der Knaben erfahren habe.“

„Wirklich? Ist's wahr?“ fragte Müller überrascht. „Das wäre nicht nur ein Glück, sondern geradezu ein Wunder zu nennen! Aber du täuschst dich. Wie sollte gerade Ortry der Ort sein, wo eine solche Nachricht zu bekommen wäre. Es gibt Umstände, Zufälle, Gottesschickungen, über welche man geradezu erstaunen muß. Ich habe gerade hier ein Beispiel davon erlebt. Du weißt, daß auch mein Vater vor Jahren spurlos verschollen ist; keine Nachforschung hat uns Nutzen gebracht, und hier in Ortry habe ich etwas erlauscht, was ganz geeignet ist, das erste Licht in dieses Dunkel zu werfen.“

„Finden Sie eine Spur von dem Verschollenen, so will ich dies Ihnen von ganzem Herzen gönnen, Herr Doktor“, sagte Fritz. „Außerordentlich wäre allerdings, wenn gerade auch hier in Ortry eine Fährte sich öffnet, auf welcher die beiden gesuchten Knaben zu finden sind. Haben Sie dann nicht ein Zeichen an sich gehabt, an welchem sie zu erkennen gewesen wären?“

„An ihrem Körper nicht; aber ihre Kleider sind gezeichnet gewesen, und am Hals hat jeder ein Kettchen gehabt mit einem Löwenzahn, in dessen Innerem sich die Miniaturbilder der Eltern befanden. Bei Zwillingen läßt sich nicht gut von einem Unterschied des Alters sprechen, da dieser ja nur Minuten betragen kann, doch einer ist doch immerhin der Ältere; dieser hatte den rechten und der andere, der Jüngere, den linken Reißzahn. Der Onkel war nämlich einmal in Algerien gewesen und hat dort einen außerordentlich großen, männlichen Löwen erlegt. Die Araber sind sehr abergläubisch. Sie sagen, ein Sohn werde ein starker und tapferer Mann, wenn man ihm einen Löwenzahn anhänge. Dieser Ansicht ist der Onkel gefolgt, freilich nicht aus Aberglaube, sondern einer willkürlichen Eingebung, einer Liebhaberei wegen. Es hat nicht ein jeder das Glück, von sich sagen zu können, daß er den König der Tiere erlegt habe, und darum ist ein solcher Zahn für den Sohn eines Löwentöters ein wertvolles Andenken an den Mut des Vaters.“

„Wo sind die beiden Knaben verloren gegangen?“

„In oder bei Neidenburg in Ostpreußen“, antwortete Müller, fuhr aber rasch fort: „Alle Teufel, da fällt mir ja ein, daß du aus jener Gegend bist! War es nicht ein Dorf bei Neidenburg im Regierungsbezirke Königsberg, wo du geboren bist?“

„Ja, in Groß-Scharnau bei Neidenburg; aber ich bin dort nicht geboren, sondern gefunden worden.“

„Wie? Was?“ fragte Müller, erstaunt stehenbleibend. „Ah, richtig, du hast keine Eltern!“

„Ich bin aus einem Berg von Schnee hervorgezogen worden, ich bin ein Findelkind, darum hat man mir ja den Namen Schneeberg gegeben.“

„Ich besinne mich; du hast mir dies ja bereits erzählt. Aber, um Gottes willen, du willst doch nicht sagen, daß es zwischen deiner Auffindung und dem Verlust jener Knaben irgendeinen Zusammenhang gibt?“

„Vielleicht ist dieser Zusammenhang vorhanden, Herr Doktor. Eben darum habe ich Sie ja um Verzeihung gebeten, falls ich Ihnen zudringlich erscheinen sollte. Sie kennen mich, ich will nicht aufdringlich sein; aber ich wäre ganz glücklich, wenn es mir gelänge, meine Eltern zu finden. Ob diese arm oder reich, bürgerlich oder vornehm sind, das ist mir ganz gleich, wenn nur die Sehnsucht, welche ich nach ihnen fühle, befriedigt wird.“

„Aber, Mensch, Fritz, was redest du da für dummes Zeug! Jeder Vater und jede Mutter wird froh sein, ein verlorenes Kind zu finden, ganz gleich, ob dieses Kind von armen oder wohlhabenden Leuten aufgenommen wurde. Ich weiß in diesem Augenblick noch nicht, was du sagen willst, und was ich denken soll; aber woraus schließt du, daß der erwähnte Zusammenhang stattfindet und vorhanden ist?“

„Weil ich einen Löwenzahn trage, und zwar den aus dem rechten Kiefer.“

„Großer Gott, ist's möglich? Er ist bei dir gefunden worden?“

„Ja.“

„Du hast ihn noch?“

„Ja; ich trage ihn hier am Hals.“

„Und die Bilder sind darin?“

„Sie sind drin.“

„Das hast du gewußt und mir niemals gesagt!“

„O bitte, Herr Doktor, ich habe von den Bildern nichts gewußt, gar nichts; erst gestern hat mich Mademoiselle Nanon auf den Inhalt des Zahnes aufmerksam gemacht.“

„Mademoiselle Nanon? Was weiß sie von dem Zahn?“

„Sie hat in Paris eine Dame gesehen, von welcher erzählt worden ist, daß sie stets in Trauer gehe, weil sie zwei Zwillingsknaben verloren und nicht wiedergefunden habe; ein jeder der Knaben hat an einer dünnen goldenen Kette einen Löwenzahn getragen. Gestern traf ich sie im Wald. Meine Bluse hatte sich geöffnet, und der Zahn hing hervor. Sie erblickte ihn und besann sich sofort auf jene Dame. Als sie weiter hörte, daß ich ein Findling sei, nahm sie sofort an, daß ich einer der beiden Knaben sein müsse. Sie besah sich den Zahn genauer, und da fand es sich, daß er aus der Grafenkrone, in welche er gefaßt ist, herausgeschraubt werden könne. Als sie dies versuchte, gelang es ihr, und nun entdeckten wir die beiden Miniaturporträts.“

„Hat sie die fremde Dame gekannt?“

„Nein. Aber sie hat mir versprochen, sich sogleich zu erkundigen, wer sie gewesen ist. Ich glaube, daß sie bereits heute deshalb nach Paris geschrieben hat.“

„Ja, die Tante ist zuweilen in Paris; das stimmt. Es gibt Verhältnisse, welche ihre Anwesenheit dort zuweilen nötig machen. Es mag möglich sein, daß sie bei einer solchen Anwesenheit von Nanon gesehen worden ist. Stimmte denn das Bild mit der Dame?“

„Ja. Mademoiselle erkannte sie sofort.“

„Nun, dann ist es nicht notwendig, nach Paris zu schreiben. Fritz, Fritz, du weißt, daß ich große Stücke auf dich halte! Wenn du mein Cousin wärst!“

Er trat nahe an ihn heran und faßte seine Hände.

„Oh, Herr Doktor“, meinte der Diener ganz bescheiden, „in einer Beziehung möchte es mir fast leid tun, zu hören, daß meine Eltern vornehme Leute sind, denn ich versichere –“

„Halt, dummes Zeug!“ unterbrach ihn Müller. „Ich weiß, was du sagen willst, und ich verstehe dich; aber du bist wenigstens geradesoviel wert, als irgendein Junker oder Edelmann. Sollte sich einer meiner beiden Cousins wirklich wieder finden, so ist es mir doch lieber, du bist es, als daß es ein anderer ist. Du kannst also den Zahn öffnen?“

„Ja.“

„Tue es. Ich werde ein Zündholz anbrennen.“

Er strich ein Zündholz an, steckte das Licht seiner Laterne in Brand und beleuchtete dann die Porträts, welche Fritz ihm zeigte.

„Es ist kein Zweifel, sie sind es!“ sagte Müller. „Es ist Onkel und Tante, der General und die Generalin. Mensch, du bist wahrhaftig mein Vetter. Komm her; laß dich umarmen!“

Er blies aus Vorsicht die Laterne aus, steckte sie wieder in Tasche und streckte dann die Arme aus, um den Diener an sich zu ziehen. Dieser jedoch trat einen Schritt zurück und sagte.

„Halt, Herr Doktor, warten wir noch! Der Zahn ist zwar rekognosziert, aber es fragt sich doch sehr, ob ich der richtige Findling bin. Der Zahn erklärt und beweist noch nicht genug, obgleich ich dem General, wie er damals gewesen ist, sehr ähnlich sehen muß, da die Seiltänzerin diese Ähnlichkeit sofort erkannte.“

„Die Seiltänzerin? Welche?“

„Die heute verunglückt ist?“

„Ah, wieder ein Rätsel!“

„Ja, und zwar ein ganz außerordentliches. Ich glaube nämlich fast, daß einer der Clowns, einer der Hanswürste, es ist, der mich geraubt hat, mich und den Zwillingsbruder.“

„Geraubt worden sollst du sein? Also nicht verloren gegangen? Alle Teufel, das wird ja interessant. Und davon hat dir hier in Frankreich eine Seiltänzerin erzählt? Das klingt ja gerade wie in einem Romane! Erzähle mir das von der Seiltänzerin!“

Fritz berichtete ihm alles, was geschehen war. Als er geendet hatte, meinte Müller:

„Nun gibt es für mich keinen Zweifel mehr! Du bist mein Vetter, und ich werde dich von jetzt an als solchen betrachten, obgleich wir uns im Interesse unserer Aufgabe vor anderen nicht kennen dürfen. Es gilt vor allen Dingen, des entflohenen Seiltänzers habhaft zu werden. Dafür laß mich sorgen. Ich werde die geeigneten Schritte tun. Bis dahin aber wollen wir das tiefste Stillschweigen beobachten. Nur der Entflohene kann Auskunft geben, und ehe wir ihn nicht haben, läßt es sich schwer beweisen, daß du der richtige Sohn des Generals bist.“

„Das ist ja auch meine Meinung“, sagte Fritz. „Der Zahn kann verwechselt worden oder durch irgendeinen Zufall an den Hals eines ganz anderen Kindes gekommen sein. Ich bitte Sie, zu tun was Ihnen beliebt. Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann.“

„Ja, das kannst du, mein braver Fritz. Hier meine Hand. Ich verspreche dir, mich so zu bemühen und ganz so zu handeln, als ob ich selbst der Findling sei! Nun aber laß uns eilen, an das Grab zu kommen. Wir haben jetzt gezaudert, und dieser Hassan wird wohl bereits auf uns warten.“

„Sollte von ihm nichts über diesen Clown zu erfahren sein?“

„Diese Frage legte auch ich mir soeben vor. Wir werden sehen, ob er etwas weiß, was wir gebrauchen können. Jetzt komm!“

Sie hatten schon längst den Wald erreicht, auf dessen Hauptweg sie bisher langsam dahingeschritten waren. Jetzt beeilten sie sich nun und bogen in einen schmalen Richtweg ein, der sie rascher in die Nähe des Ziels führte.

Als sie dort anlangten, erhob sich hinter einem Stein eine dunkle Gestalt.

„Wer ist es, der hier kommt?“ fragte sie.

Müller erkannte sofort die Stimme des Zauberers und sagte:

„Abu Hassan, deine Freunde sind es.“

„Gut, ich dachte bereits, daß ihr das Wort vergessen hättet, auf welches ich mich verlassen habe. Aber nennt hier meinen Namen nicht wieder. Man muß bei einem Werk, wie es das unserige ist, sehr vorsichtig sein. Habt ihr Werkzeuge mitgebracht?“

„Ja; sie liegen in der Nähe“, antwortete Fritz.

„So hole sie, damit wir beginnen können. Eine Laterne habe ich selbst bei mir.“

Fritz brachte die Hacken und Schaufeln herbei, und dann wurden die Laternen angebrannt. Ihr schwacher Schein fiel auf die Hügel und den dahinter emporragenden Felsen. Es wehte ein leiser Lufthauch, in welchem die Lichter zu flackern begannen. Dadurch schien es, als ob die Felsen und Bäume der Umgebung Leben empfangen hätten. Die dunklen Schatten und die hellen Reflexe bewegten sich und zuckten durcheinander. Die Sträucher nahmen phantastische Gestalten an, welche drohend ihre Arme erhoben, und zornig über die Verwegenheit der drei Männer die Köpfe schüttelten. Es hätte sich nicht ein jeder dazu geeignet, zur Mitternachtszeit in der Tiefe des Waldes, in der Nähe eines so verrufenen Gemäuers, wie der alte Turm es war, ein Grab zu öffnen, um die Gebeine einer Leiche zu entführen.

„Ich hoffe, man soll nicht bemerken, daß das Grab geöffnet worden ist?“ fragte Müller.

„Kein Mensch soll es erfahren“, antwortete Hassan in seinem südlichen Dialekt.

„So wird unsere Mühe eine doppelte sein. Wir müssen den Rasen des Hügels vorsichtig abstechen, um ihn wieder anlegen zu können. Und ferner müssen wir alle Erdkrumen und alle Spuren entfernen, welche unser Werk verraten könnten.“

Sie begannen die Arbeit.

Zunächst wurde der Rasen vorsichtig abgehoben und zur Seite gelegt, und dann die Erde des Hügels entfernt. Sie schaufelten sie auf eine breite Felsenfläche, welche in der Nähe lag, und keine Spur von Vegetation trug. Dann erst ging es über das eigentliche Grab her. Sie arbeiteten mit aller Anstrengung, um so bald wie möglich fertig zu werden; aber dennoch währte es fast zwei Stunden, bevor sie in die Tiefe gelangten, in welcher auf Kirchhöfen die Särge zu stehen pflegten. Nun gebrauchten sie die Hacken mit größerer Behutsamkeit, bis endlich ein dumpfer Ton anzeigte, daß sie den Sarg getroffen hatten.

Bald sahen sie das entfärbte aber noch wohlerhaltene und feste Holz desselben emporschimmern. Sie schaufelten die Erde rund um den Sarg hinweg und versuchten sodann, denselben heraufzuheben.

„Lassen wir ihn unten“, meinte Müller. „Es genügt ja, ihn zu öffnen.“

Hassan war einverstanden. Und nun zeigte es sich, daß der Sarg sehr fest zugeschraubt war. Ein Taschenmesser diente als Schraubenzieher, ein mangelhaftes Instrument, aber es genügte doch. Endlich gab der Deckel nach. Müller stand unten, und die beiden anderen Männer leuchteten ihm mit den beiden Laternen von oben herab.

Der Doktor befand sich vielleicht in einer ebenso großen Erwartung wie Hassan selbst. Er hatte vermutet, ja, es war ihm fast zur Gewißheit geworden, daß der Sarg leer sei. Aber dagegen sprach doch die Schwere desselben.

„Den Deckel auf!“ sagte Hassan.

Müller folgte diesem Gebot. Er faßte den Deckel beim Kopfende an und hob ihn empor. Sechs Augen blickten mit gespannter Erwartung nieder. Sie sahen keine Gebeine, sie erblickten halb verfaulte Sägespäne und Steine, mit denen der Sarg gefüllt war.

„Allah akbar – Gott ist groß!“ rief Hassan erstaunt. „Was ist das?“

„Ein Betrug, ein großartiger Betrug!“ antwortete Fritz. „Die Baronin ist hier nicht begraben worden!“

Müller lehnte den Deckel an die schmale Wand des Grabes, bog sich nieder und untersuchte den Inhalt des Sarges.

„Ich fühle den Boden“, sagte er; „es ist nichts da als Sägespäne und Steine.“

„So hat man ein Blendwerk getrieben mit Liama, der Tochter unserer Zelte“, sagte Hassan grimmig. „Meine Augen sehen das Verbrechen, und meine Blicke erkennen die Täuschung. Ich schwöre bei Allah, dem allmächtigen und allwissenden Gott, daß –“

Er hielt erschrocken inne. Ein mächtiger Donnerschlag erschütterte die Erde, und ein blendender Blitz durchzuckte die Nacht mehrere Sekunden lang. Die Augen der drei Männer waren von der Helligkeit desselben fast geblendet, und als die Umgebung wieder im Dunkel lag, sahen sie eine hohe weiße Frauengestalt zu Häupten des Grabes stehen. Sie war tief verschleiert und fragte mit strenger Stimme:

„Wen sucht ihr hier?“

„Wir suchen Liama, die Tochter der Beni Arab!“ antwortete Hassan, indem ihm ein Schauder durch die Glieder ging.

„Sie ist nicht hier; sie ist tot“, antwortete die Gestalt. Müller hatte sich wieder vollständig gefaßt. Er antwortete:

„Du sagst, daß sie tot sei, aber ihre Gebeine sind nicht im Sarg. Wo liegen sie begraben?“

„Sie ist zu Erde und Staub geworden, von dem sie genommen ist. Laßt sie ruhen, sonst wird euch der Fluch Allahs treffen!“



Sie erhob gebieterisch den Arm und machte eine Bewegung, als ob sie sich zurückziehen wollte. Da aber faßte Müller den Rand des Grabes mit beiden Händen schwang sich hinauf und rief:

„Sie ist nicht zu Erde geworden, sie ist noch Fleisch und Blut, sie lebt; ich werde es dir sogleich beweisen!“

Er streckte den Arm nach ihr aus, um sie zu fassen, aber in demselben Augenblick zuckten hundert Blitze um das Grab herum; ein fürchterlicher Donner erscholl und unzählige Flammen entsprühten dem Erdboden und fuhren wie in allen Farben glänzende Schlangen durch die Luft. Müller war vollständig geblendet.

„Der Scheïtan (Teufel) ist da! Flieht, sonst seid ihr verloren!“

Diese Worte rief Hassan, dann warf er die Laterne weg, und verschwand zwischen den Bäumen des Waldes. Die beiden anderen blieben stehen. Es war wieder still und dunkel geworden; die weibliche Gestalt war verschwunden.

„Was war das?“ flüsterte Fritz.

„Glaubst du an Gespenster?“ antwortete Müller.

„Fällt mir nicht ein“, meinte der wackere Ulanenwachtmeister.

„Nun, so mußt du doch gesehen haben, was es war!“

„Sie meinen Pulver, Kolophonium und Bärlappsamen?“

„Ja. Das waren künstliche Blitze, und auch der Donner war imitiert. Der echte Donner rollt; dieser aber bestand aus einzelnen Schlägen. Ich glaube, man hat einige Kanonenschläge abgebrannt, das ist alles.“

„Was tun wir nun? Füllen wir das Grab wieder zu?“

„Nein. Man weiß, daß wir hier sind; man beobachtet uns. Vielleicht hat man uns gar nicht erkannt; dies würde aber sicher geschehen, wenn wir länger hier bleiben, lassen wir die Arbeit, das Grab zuzuschütten, denen, welche es gut verstehen, ein Feuerwerk abzubrennen. Ich weiß etwas Besseres, was wir tun können. Komm!“

Diese kurze Unterhaltung war so leise geführt, daß man sie in nächster Nähe nicht hätte verstehen können. Müller machte den Schieber seiner Laterne zu und steckte sie ein. Dann faßte er Fritz beim Arm und zog ihn fort. Als beide eine genügende Strecke zurückgelegt hatten, blieb der Doktor stehen und flüsterte:

„Hassan ist ein abergläubischer Mohammedaner; er ist fortgelaufen. Wir aber sind Christen und außerdem Soldaten; wir lassen uns nicht ins Bockshorn jagen. Wir kehren jetzt leise und unbemerkt zum Grab zurück und beobachten, was da geschehen wird.“

Sie schlugen einen Umweg ein und schlichen sich, diesmal von der anderen Seite, auf das Grab zu, so vorsichtig, daß man ihr Nahen gar nicht bemerken konnte.

Загрузка...