VIERTES KAPITEL Verschwörer

Die Stadt Metz, eine Festung ersten Ranges, war zur Zeit Napoleons des Dritten der Sitz einer der einundzwanzig Militärdivisionen des Landes und gehörte mit den Divisionen von Straßburg, Besançon und Chalons sur Marne zum Militärkommando des Ostens, welches sein Hauptquartier in Nancy hatte.

Metz war eine echte deutsche Stadt, denn als Lothar der Jüngere seine Länder teilte, kam es nebst Austrasien in den Besitz Ludwigs des Deutschen, also an das deutsche Reich. Nur fortgesetzten französischen Umtrieben und Hinterlistigkeiten gelang es, zunächst die Schutzherrschaft über Metz und im westfälischen Frieden sogar die volle Souveränität über diese wichtige Stadt zu erhalten.

Der Besitz von Metz ist eine Kardinalfrage aller Zeiten zwischen Deutschland und Frankreich gewesen, und ehe das letzte, große, entscheidende Wort durch die Stimmen der Kanonen gesprochen wurde, war diese Festung nicht nur der Hauptstützpunkt, sondern auch der Ausgangspunkt unzähliger Feindseligkeiten, welche Deutschland von seinem nimmersatten Nachbar zu erleiden hatte.

Eines der größten und prächtigsten Hotels der Stadt, das Hotel de l'Europa, lag im schönsten Teil der Stadt, ganz in der Nähe der Eisenbahn, und wurde besonders von vornehmen Herrschaften frequentiert, welche hier alles vereint fanden, was imstande ist, den oft hochgeschraubten Ansprüchen dieser Art Leute zu genügen.

Im Frühjahr 1870 erfreute sich dieses Hotel eines besonders zahlreichen hohen Besuches. Metz zeigte zu dieser Zeit eine ganz besondere Lebhaftigkeit des militärischen Lebens, obgleich man recht gut wußte, daß nicht viel darüber gesprochen werden sollte. Hohe Offiziere kamen und gingen; man wußte nicht, woher, wohin und weshalb. Und obgleich sie meist in Zivil waren, so besaßen doch der Besitzer sowie die Bedienung des Hotels de l'Europe, wo diese Herren gewöhnlich abstiegen, Scharfblick genug, um zu wissen, daß man es in ihnen mit einflußreichen Militärs zu tun hatte, deren Anwesenheit vermuten lasse, daß irgend etwas kriegerisch Wichtiges im Werke sei.

Seit einigen Tagen bewohnte ein älterer Herr einige der besten Zimmer des Hotels. Er hatte mehrere Diener bei sich, und auf seinen Koffern waren die Bahnsignaturen noch nicht entfernt worden, so daß der Hausknecht deutlich die Worte Paris und Nancy hatte lesen können. Der Herr kam also aus der Hauptstadt über das Hauptquartier des Ostens nach Metz, ein Umstand, welcher wohl geeignet war, allerlei Vermutungen Raum zu geben. Er nannte sich sehr einfach Monsieur Maçon, aber einer der Kellner, welcher in einem der feinsten Cafés des Louvre serviert hatte, behauptete, diesen Herrn sehr gut zu kennen: er sei nicht einfacher Bürger, sondern Graf Rallion, der erklärte Günstling des Kaisers.

Dieser Kellner schien nicht unrecht zu haben, denn bei näherer Beobachtung stellte sich heraus, daß Herr Maçon dem Divisionskommandeur, dem Festungskommandanten und anderen hochgestellten Herren häufige Besuche machte und von ihnen in einer Weise behandelt wurde, welche auf eine ausgezeichnete Distinktion schließen ließ.

Gestern abend hatte er der Dienerschaft befohlen, sich für heute zur Abreise bereitzuhalten, da er mit dem Zug, welcher elf Uhr fünfzig Minuten von Metz abgeht, nach Thionville zu fahren gedenke und dort also zwölf Uhr sechsundvierzig Minuten eintreffen werde.

Bereits neun Uhr kam ein junger Herr, welcher wie ein Offizier in Zivil aussah, und fragte, ob Herr Maçon zu sprechen sei. Als der Fremde um seinen Namen gebeten wurde, gab er eine Karte ab, auf welcher in zierlicher Schrift zu lesen war: „Bernard Lemarch, Escadronchef.“ Dieser Lemarch war also Kavalleriekapitän, Rittmeister. Er wurde angemeldet und auch sogleich vorgelassen. Herr Maçon empfing ihn zuvorkommend, ließ ihn sich niedersetzen, bot ihm sogar eine Zigarette an, und nun entwickelte sich eigentümlicherweise eine ganz ähnliche Szene wie in Simmern zwischen dem General und dem Rittmeister Königsau.

„Ich habe im Zimmer Ihres Obersten eine Kreidelandschaft gesehen, welche von Ihrer Hand sein soll, Kapitän?“ fragte Maçon.

„Es ist eine kleine Studienarbeit von mir, mein Herr“, antwortete der Gefragte.

„Eine Studienarbeit, welche aber doch eine gute Übung verrät. Ich glaube, Sie könnten recht gut die Rolle eines Landschaftsmalers durchführen.“

„Sie würde mir nicht schwerfallen.“

„Das ist mir lieb zu hören. Kennen Sie mich, Kapitän?“

Der Offizier lächelte und entgegnete:

„Heute habe ich das Vergnügen, mit Monsieur Maçon zu sprechen.“

„Und wie würden Sie mir unter anderen Umständen antworten?“

„Alsdann würde ich die Ehre haben, mich bei dem Grafen Rallion in Audienz zu befinden“, antwortete der Kapitän mit einer Verbeugung.

„Gut; ich sehe, daß Sie mich kennen. Ich habe von Ihnen gehört. Man ist mit Ihnen zufrieden, und ich stehe daher im Begriff, Ihnen Gelegenheit zu geben, sich auszuzeichnen.“

Das Gesicht des Offiziers erhellte sich vor Freude, und er antwortete schnell:

„Ich werde diese Gelegenheit benutzen, Ihnen zu beweisen, daß es mein eifrigstes Bestreben ist, mich nützlich zu machen!“

„Wohl! Ich vernehme, daß Sie der deutschen Sprache mächtig sind?“

„Vollständig. Ich bin bei Straßburg geboren.“

„Würden Sie es fertigbringen, in Berlin für einen Deutschen zu gelten?“

„Ich hoffe es; nur müßte ich mich als ein solcher zu legitimieren vermögen.“

„Man wird Sie mit dem Notwendigen versehen. Hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe!“

Der Graf steckte sich eine neue Zigarette an, gab seinem hageren, gelben Gesicht einen wichtigen, diplomatisch schlauen Ausdruck und fuhr fort:

„Man fühlt sich in die Notwendigkeit versetzt, an einen Krieg mit Deutschland zu denken. Man gedenkt nicht, mit der Tür in das Haus zu fallen, sondern sich vorher erst gehörig zu orientieren. Der letzte deutsch-österreichische Kampf hat zur Evidenz beweisen, daß die preußische Heeresleitung sehr weitgehend und vorsichtig ist. Es steht zu vermuten, daß Preußen so scharfsinnig ist, unsere Absicht zu erraten und infolgedessen seine Vorbereitungen zu treffen. Darüber müssen wir natürlich Gewißheit haben. Wir müssen zweierlei wissen: erstens ob wir durchschaut werden, und zweitens, welche Gegenminen man uns legt. Verstehen Sie mich?“

„Vollkommen, mein Herr.“

„Eine solche Aufgabe können wir unserer offiziellen, diplomatischen Vertretung natürlich nicht in die Hand geben. Wir bedürfen einer privaten Kraft, welche geeignet ist, diese Forschungen anzustellen. Dazu gehört allerdings ein Mann, welcher neben den sehr notwendigen militärischen Kenntnissen auch Schlauheit, Scharfsinn und sogar Mut genug besitzt, den Feind zu überlisten. Dieser Mann soll mit den nötigen Legitimationen und Empfehlungen nach Berlin gesandt werden; er wird Anweisungen bekommen, wie er sich zu verhalten hat; man wird ihm Summen zur Verfügung stellen, zunächst für seine persönlichen Ausgaben, da er anständig aufzutreten hat, und sodann auch für andere, unvorhergesehene Zwecke. Es könnte sich ja wohl eine kleine Bestechung oder etwas derartiges als notwendig herausstellen. Dieser Mann müßte ebenso klug wie taktvoll, ebenso kühn wie vorsichtig sein. Seine Aufgabe ist voraussichtlich keine leichte, doch wird auch die Belohnung eine dementsprechende sein. Sie wurden mir empfohlen, Kapitän. Welche Antwort habe ich zu erwarten?“

Das war sehr deutlich gesprochen. Der Rittmeister, welcher von seinem Obersten jedenfalls bereits vorbereitet worden war, gab eine ebenso deutliche Antwort:

„Ich werde diese Gelegenheit, meinem Vaterland zu dienen, mit Freuden ergreifen, und gebe die Versicherung, daß ich nichts versäumen und unterlassen werde, um meinen Zweck zu erreichen.“

„Das habe ich erwartet. Ich mache allerdings die vielleicht etwas zu aufrichtige Bemerkung, daß die Zeit drängt und Sie sich also nicht viel Muße lassen dürfen. Vor allen Dingen aber frage ich Sie, ob Sie Berlin bereits kennen?“

„Ich war noch nicht dort.“

„Das ist günstig, denn Sie werden dann nicht in Gefahr kommen, erkannt zu werden. Ich reise elf Uhr von hier nach Thionville. Können Sie bis dahin Ihre Vorbereitungen zur Abreise getroffen haben?“

„Ein Soldat muß stets marschbereit sein.“

„Wohl! Sie werden mich begleiten. Ich habe in der Nähe eine geheime Inspektion vorzunehmen, nach deren Erfolg sich Ihre Instruktionen richten werden. Dies wird in höchstens zwei Tagen abgetan sein, und dann können Sie nach Berlin gehen. Ihre größte Aufmerksamkeit wird dort auf den Generalstab zu richten sein. Und da will ich Ihnen bereits jetzt eine Adresse nennen, welche Ihnen von Vorteil sein wird.“

Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche, blätterte nach und fuhr dann fort:

„Es gibt nämlich dort einen Offizier, einen höchst gewandten und trotz seiner Jugend sehr brauchbaren Strategen, welcher sogar in seiner Privatwohnung mit wichtigen Arbeiten beschäftigt wird. Wenn es Ihnen gelänge, seine Freundschaft zu erwerben, so wäre es Ihnen vielleicht möglich, hier und da einen geheimen Blick in diese Arbeiten werfen zu können. Eine gewandt geführte Unterhaltung könnte Sie vieles erraten lassen, was jener nicht direkt sagen wird. Einige Flaschen Wein zur rechten Zeit und am rechten Ort haben oft einen außerordentlichen Erfolg. Vielleicht hat dieser Mann Verwandte, deren Vertrauen, oder eine hübsche Schwester, deren Liebe Sie erwerben können. Kurz und gut, ich will Ihnen mit diesen Andeutungen nur sagen, daß der Kluge es verstehen muß, sich alles dienstbar zu machen, und ich hoffe, daß Sie nicht auf den Kopf gefallen sind.“

„Ich wiederhole, daß ich mein möglichstes tun werde“, antwortete der Rittmeister. „Darf ich um den Namen des betreffenden Offiziers bitten?“

„Es ist der Rittmeister Richard von Königsau. Wo er seine Privatwohnung hat, kann ich nicht sagen; es wird Ihnen nicht schwer werden, sie unauffällig zu erfragen. Aber eines weiß ich, was Ihnen vielleicht von Nutzen sein wird: Er hat einen Großvater, einen Veteranen aus den sogenannten Befreiungskriegen, welcher zuerst unter dem Verräter Lützow und sodann unter Blücher gekämpft hat und in der Schlacht bei Belle-Alliance verwundet worden ist. Dieser Alte spricht noch heute mit Begeisterung von seinen Feldzügen, und Sie werden wissen, daß das Wohlwollen solcher Leute sehr leicht dadurch zu erlangen ist, daß man sie glauben läßt, von ihrer Begeisterung angesteckt zu sein. Das ist alles, was ich Ihnen für jetzt sagen kann. Nähere Instruktionen werden Sie noch erhalten. Besitzen Sie einen Anzug, wie ihn Maler zu tragen pflegen?“

„Er wird in wenigen Minuten beschafft sein.“

„Und eine Staffelei?“

Der Rittmeister konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er antwortete:

„Eine Staffelei von hier mit nach Berlin zu nehmen wäre ebenso beschwerlich wie überflüssig. Will ich bereits unterwegs als Maler gelten, so genügt eine künstlermäßige Kleidung und eine Mappe. Eine Staffelei werde ich mir in Berlin kaufen.“

„Das müssen Sie verstehen. Jetzt treffen Sie schleunigst Ihre Vorbereitungen, denn ich erwarte bestimmt, Sie Punkt elf Uhr hier wiederzusehen. Adieu!“

Er erhob sich und gab dem Offizier mit jener kalten Nachlässigkeit die Hand, mit welcher man sagen will: „Ich lasse mich zwar herab, dir die Hand zu reichen, aber bilde dir um Gottes willen nichts darauf ein; denn wenn du fort bist, werde ich mir diese Hand sehr sorgfältig abwaschen, damit jede Spur von dieser ordinären Berührung vertilgt werde!“ Der Rittmeister nahm die Hand wie einer, dem eine hohe Gnade erwiesen wird, und entfernte sich nach einer Verbeugung, welche er einem regierenden Fürsten nicht untertäniger hätte machen können. Er wußte, daß der Liebling des Kaisers mehr Einfluß besaß, als mancher Minister, der sich die Miene gab, mächtig zu sein.

Als kurz vor zwölf der Zug nach Thionville bereitstand, stieg Herr Maçon in ein Coupé zweiter Klasse, und ihm folgte ein junger Mann, welcher enge graue Hosen, feine Lackstiefel, ein beschnürtes Samtjacket, einen breitkrempigen Hut und gelbe Handschuhe trug. Er hatte eine umfangreiche Mappe unter dem Arm, und es konnte gar kein Zweifel darüber obwalten, daß er ein Künstler, ein Maler sei.

Als sie in Thionville ausstiegen, stand der alte Kapitän von Schloß Ortry auf dem Perron, um seinen hohen Besuch zu bewillkommnen. Herr Maçon, welcher hier wieder Graf Rallion war, klopfte dem Alten freundlich auf die Achsel und fragte:

„Nun, Kapitän, Sie haben meine Depesche erhalten, wie ich sehe?“

„Vor zwei Stunden. Ich beeilte mich sofort, Sie zu empfangen“, antwortete der Gefragte.

„Ich stelle Ihnen hier den Kapitän Lemarch vor, welcher als Maler nach Berlin gehen wird; in welcher Angelegenheit, das brauche ich so einem alten Schlaukopf, wie Sie sind, nicht erst zu sagen. Nicht?“

Der Alte blinzelte mit den Augen, zog den Schnurrbart empor und fletschte die Zähne, als ob er ganz Berlin zerbeißen möchte, nickte dem jungen Offizier vertraulich zu und sagte:

„Sie gehen als Maler, wie es scheint. Machen Sie Ihre Sache gut, damit diese Prussiens endlich den Lohn erhalten, den sie längst verdient haben.“

„Der Kapitän wird sich Mühe geben; ich bin davon überzeugt“, antwortete der Graf anstelle des Offiziers. „Haben Sie eine Equipage mit?“

„Zwei. Die andere für Ihre Bedienung.“

„Gut. Fahren wir.“

Nach kurzer Zeit rollten die beiden Wagen auf der Straße dahin, welche von Thionville nach Ortry führt. Das erste Dorf war bereits durchfahren, als die drei einen ganz eigentümlich gekleideten Menschen bemerkten, welcher vor ihnen auf der Straße herging. Er trug weite, orientalische Hosen, welche unter dem Knie zusammengebunden waren, und an den Füßen Sandalen. Strümpfe und Gamaschen fehlten, so daß die hageren, braunen Beine zu sehen waren. Eine rote, mit unechten Tressen besetzte Jacke bedeckte den Oberleib. Um die Hüften hatte er einen alten, blauen Shawl geschlungen, in welchem verschiedene fremdartige Gegenstände steckten, deren Bestimmung sich unmöglich erraten ließ. Unter der vorn offenen Jacke war ein Hemd zu sehen, welches sicher vor langen Jahren einmal weiß gewesen war, und auf dem Kopf des Fremdlings thronte ein Fez, welcher einen geradezu riesigen Umfang hatte. Über die Schulter hing diesem Mann ein großer Ledersack, dessen Inhalt in Bewegung zu sein schien; es mußten sich lebendige Geschöpfe in demselben befinden. Das Gesicht des Mannes schien nur aus einem mächtigen Vollbart, einer braunen Nasenspitze und zwei Augen zu bestehen, welche unter schweren Lidern verdeckt lagen.

Als die Wagen herangerollt kamen, blieb der Mann stehen, um sie vorüberzulassen. Seine Lieder hoben sich langsam, und seine Augen blickten gleichgültig unter ihnen hervor. Kaum aber war ihr Blick auf die Insassen des ersten gefallen, so belebte er sich in auffälligster Weise. Die Augen nahmen den Glanz glühender Kohlen an und schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen. Im nächsten Augenblick hatte sich der Mann jedoch beherrscht. Er lehnte sich an einen der Chausseebäume und ließ, als der Wagen im Begriff stand, vorüberzufahren, ein halblautes, eigentümliches Zischen hören.

Sofort bäumten sich die Pferde und waren durch keine Anstrengung des Kutschers von der Stelle zu bringen. Er gebrauchte die Peitsche; er schnalzte mit der Zunge; er bat mit zuredenden Worten, vergeblich. Der Fremde stand dabei und richtete seinen halbverschleierten Blick scharf auf den alten Kapitän. Dieser wandte sich mit einer drohenden Handbewegung zu ihm und rief ihm zu:

„Kerl, siehst du nicht, daß die Pferde vor dir scheuen! Pack dich fort!“

„Scheuen?“ fragte der Mann mit tiefer Stimme. „Vor mir hat noch nie ein Pferd gescheut; aber alle Pferde gehorchen meinem Wink. Wem gehört dieser Wagen?“

„Was geht das dich an, Vagabund? Ich sage dir, pack dich, sonst lasse ich dich vom Kutscher von der Straße peitschen!“

„Ich fürchte ihn nicht!“ antwortete der Fremde ruhig. „Wenn ich erfahren haben werde, wohin die Wagen gehören, werde ich den Pferden befehlen, zu gehorchen, und dann könnt Ihr weiterfahren, eher aber nicht!“

Der alte Kapitän zuckte höhnisch die Achsel und gebot dem Kutscher, die Fahrt fortzusetzen, aber dieser war nicht imstande, dem Befehl zu gehorchen. Die Pferde wichen trotz aller seiner Bemühungen nicht von der Stelle.

„Es geht nicht, gnädiger Herr“, klagte er. „Der Teufel muß in die Pferde gefahren sein, oder der Kerl dort versteht zu hexen. Wenn ich Gewalt brauche, so brechen sie mir die Deichsel ab.“

Der Graf hatte bis jetzt die Szene ruhig beobachtet. Jetzt wandte er sich nach dem hinteren Wagen, in welchem seine beiden Diener saßen:

„Schafft den Menschen fort, daß die Pferde ihn nicht mehr sehen!“ gebot er jenen.

Die Domestiken stiegen aus und traten drohend auf den Fremden zu. Sie geboten ihm, zu weichen, und als er nicht gehorchte, streckten sie die Hände nach ihm aus. Aber in demselben Augenblick wichen sie im höchsten Grad erschreckt zurück, denn der Fremde hatte seinen Ledersack ein wenig geöffnet und aus demselben schossen drei riesige Brillenschlangen hervor. Diese Tiere schlangen ihre Schwänze um den langen, nackten Hals ihres Herrn und fuhren mit ihren Leibern, wie um ihn zu verteidigen, mit blitzesähnlicher Schnelligkeit in der Luft herum. Die Leute hatten wohl noch nie eine Brillenschlange gesehen, aber deren Beschreibung oft gelesen; sie wußten also, daß sie es hier mit den giftigsten Reptilien der Welt zu tun hatten. Beide sprangen schleunigst zurück und wagten nicht wieder, sich dem Fremden zu nähern.

Dieser erhob die Hand, um seine Schlangen zärtlich zu streicheln, und sagte:

„Wer mich angreifen will, der komme! Es gehorchen mir alle Tiere des Waldes und des Feldes, auch den Rossen bin ich ein Gebieter. Die Pferde werden nicht eher diese Stelle verlassen, als bis ich es ihnen erlaube. Wem gehören diese Wagen?“

Die Herren, welche im ersten Wagen saßen, konnten es mit ihrer Würde nicht vereinbaren, daß dieser Mann unangreifbar sei.

Der Kutscher riß sie aus ihrer Verlegenheit.

„Die Wagen gehören nach Ortry“, antwortete er.

„Nach Ortry?“ wiederholte der Schlangenbändiger. „Gut; fahrt weiter!“

Er stieß einen leisen, seltsam klingenden Pfiff aus. Sofort zogen die Pferde an und rannten im Galopp davon, so daß der Kutscher sich alle Mühe geben mußte, ihrer Herr zu bleiben. Der Fremde blickte den Dahinfahrenden nach, solange er sie zu sehen vermochte, dann wendete er sein Gesicht nach Osten. Seine Augen öffneten sich weit; seine Knie beugten sich zur Erde, seine Arme kreuzten sich über der Brust, und er rief:

„Allah il Allah! Dein Name ist der einzige, und deine Macht ist unendlich. Sei gelobt, daß ich ihn wiedergesehen habe, den Räuber, den Mörder unseres Stammes! Sei gelobt, daß ich gefunden habe die erste Spur von Liama, der Tochter unserer Zelte. Ich gelobe bei dir und allen heiligen Kalifen, sie zu befreien, oder, wenn sie tot sein sollte, zu rächen, wie noch kein Kind der Wüste gerächt worden ist!“

Zu den Franzosen hatte er im Dialekt des südlichen Frankreichs gesprochen, jetzt aber verrichtete er sein Gebet in arabischer Sprache. So am Boden kniend und von den Schlangen umzüngelt, bot er einen höchst fremdartigen, wilden Anblick dar.

Jäh erhob er sich wieder von der Erde, steckt die Schlangen in den Sack zurück und setzte seinen Weg fort, ganz denselben Weg, welchen auch die Wagen verfolgt hatten. Im nächsten Dorf angekommen, kehrte er im Wirtshaus ein. Er fand nur einen alten Mann zu Hause, der ihm den bestellten Trunk reichte, die sonderbare Gestalt mit neugierigem Blick betrachtete und fragte:

„Sie sind jedenfalls nicht im Norden Frankreichs geboren?“

„Nein“, lautete die Antwort. „Ich ward geboren im Sonnenbrand des Südens.“

„Was treiben Sie hier, oder womit handeln Sie?“

„Man nennt mich Abu Hassan, den Zauberer. Ich habe die Geheimnisse der Geister studiert und mir alle Geschöpfe Untertan gemacht.“

„Ah, ein Gaukler“, lächelte der Wirt. „Wo wollen Sie Ihre Künste zeigen?“

„In Ortry.“

„Oh, da werden Sie schlechte Geschäfte machen!“

„Warum?“

„Zu den Arbeitern, die sich wohl eine solche Kurzweil wünschen möchten, darf kein Fremder, und im Schloß gibt es Leute, welche mehr gesehen haben als die Kunststücke, welche Sie produzieren werden.“

„Abu Hassan kann mehr als andere“, meinte der Fremde. „Wer wohnt auf dem Schloß?“

„Der Baron de Sainte-Marie.“

Hassan schüttelte leise den Kopf, als sei er mit dieser Antwort noch nicht zufrieden.

„Wer noch?“

„Sein Weib und seine zwei Kinder.“

„Wie alt ist der Baron?“

„Vielleicht fünfzig Jahre.“

Hassan schüttelte abermals den Kopf und fragte weiter:

„Wohnt ein Mann dort mit großem, grauem Schnurrbart?“

„Ja; der Vater des Barons.“

„Wie heißt er?“

„Eigentlich sollte man meinen, daß er auch Sainte-Marie heißt; dies ist aber nicht der Fall, denn der Baron ist erst vor Jahren geadelt worden und hat seinen jetzigen Namen vom Kaiser empfangen. Er hieß vorher Richemonte, und so heißt der Alte noch.“

Hassan horchte auf. Seine Augen aber versteckten sich womöglich noch tiefer unter die Lider als vorher, und er gab sich Mühe, im gleichgültigsten Ton zu fragen:

„War dieser Alte Soldat?“

„Ja. Er hat unter dem großen Kaiser gefochten und soll auch unter Kabylen gewesen sein, als was, das weiß ich nicht.“

„Hat der Alte ein Weib gehabt?“

„Natürlich, da der Baron sein Sohn ist.“

„War dieses Weib Französin?“

„Das läßt sich denken; aber ich habe sie nicht gekannt, da die Sainte-Maries erst seit einigen Jahren hier wohnen. Die Frau des Alten muß seit langer Zeit bereits tot sein.“

„Haben Sie niemals etwas von einem Weib gehört, welches Liama hieß?“

„Liama?“ fragte der Wirt rasch. „Das war die erste Frau des Barons.“

„Des Barons? War der Baron auch in der Kabylie?“

„Das weiß ich nicht. Aber seine erste Frau hieß Liama und ist eine Heidin gewesen. Ihr Grab liegt tief im Wald beim alten Turm, und ihre Tochter lebt noch.“

Die Augen des Fremden schossen einen übermächtigen Strahl der Freude unter den Lidern hervor, doch im nächsten Augenblick erklang im ruhigsten Ton die Frage:

„Eine Tochter hat jene hinterlassen? Wie heißt sie?“

„Marion.“

„Hat sie nie anders geheißen?“

„Warum sollte sie jemals anders geheißen haben? Ihre Frage klingt außerordentlich kurios.“

So unterhielten sich die beiden noch lange Zeit. Hassan erfuhr alles, was der Wirt von Ortry und seinen Bewohnern wußte. Er hörte auch, daß der Geist Liamas noch oft am alten Turm zu sehen sei. Endlich brach der Fremde auf. Als er sich auf der Straße allein befand, schüttelte er den Kopf und sagte in seinem südlichen Dialekt:

„Diesen alten Richemonte suche ich. Er ist's; ich irre mich nicht. Allah hat meine Schritte endlich doch noch zum Ziel geleitet; aber Liama, die Tochter der Wüste, ist gestorben. Ich werde sie rächen. Wer aber ist diese Marion? Wer ist dieser Baron de Sainte-Marie? Wer ist der Geist, der sich im alten Turm sehen läßt? Mohamed, der Prophet der Gläubigen, sagt, daß das Weib keine Seele habe. Wie kann also die Seele eines Weibes nach dem Tod desselben gesehen werden? Ich werde nach Ortry gehen und die Spuren verfolgen, welche ich gefunden habe; dann kehre ich zum Scheik zurück, um ihm zu sagen, daß die Zeit der Rache endlich doch noch gekommen ist.“

Seine Augen leuchteten wild auf, als er diese Worte murmelte. Und sein Mund ließ ein höhnisches Lachen erschallen, als er fortfuhr:

„Wird er mich erkennen? Oh, nein. Der Gram hat mein Gesicht durchfurcht und mein Fleisch vom Leib gefressen. Und wenn er erführe, wer ich bin, ich fürchte ihn doch nicht. Sind sie nicht alle erschrocken über meine Schlangen? Hat ihnen nicht Allah den Verstand genommen, daß sie nicht begreifen, warum die Pferde mir gehorchen? Waren es nicht Pferde der Wüste, welche alle dem Zeichen der Wüste gehorchen? Und wenn jene Menschen mich bedrohen, so werde ich ihnen meine Künste zeigen, und sie werden sich fürchten und mich für den Satan halten.“ –

Unterdessen waren die beiden Wagen auf Ortry angekommen und die Insassen derselben von den Bewohnern des Schlosses bewillkommnet worden. Marion hatte den Grafen mit Ehrerbietung begrüßt, aber nicht die mindeste Veranlassung zu der Annahme gegeben, daß sie sich freue, den Vater ihres Verlobten zu sehen. Er erhielt die besten Gemächer des Schlosses angewiesen, während der falsche Maler die Wohnung des ermordeten Fabrikdirektors bezog, wo man die noch sichtbaren Blutflecke mit Teppichen bedeckt hatte.

Es wurde zunächst ein kurzer Imbiß eingenommen, und dann begab sich der alte Kapitän mit den beiden Rallions nach dem Eisenwerk. Die geheimnisvolle Inspektion sollte beginnen. Lemarch begann sich zu langweilen, nahm seine Mappe und begab sich nach dem Garten, um das Schloß von dieser Seite abzuzeichnen und dem Kapitän mit dem Bild dann ein Geschenk zu machen.

Dort saß auf einer Bank, gerade da, wo die beste Stelle zum Zeichnen war, Müller, der in einem Buch las. Er blickte auf, sah den Maler kommen und erhob sich höflich. Als aber der Franzose näher trat, nahm das Gesicht des Deutschen den Ausdruck des allerhöchsten Erstaunens an. Was war denn das? War das ein einfaches, natürliches Spiel des Zufalls? Dieser Künstler sah dem Diener Fritz zum Verwechseln ähnlich. Hätte der Fremde die Kleidung des Pflanzensammlern angehabt, so wäre die Täuschung vollständig gewesen.

Lemarch sah diese Verwunderung und sagte:

„Sie scheinen unangenehm berührt zu sein, daß ich Sie störe? Wen habe ich die Ehre, um Entschuldigung zu bitten, Monsieur?“

„Ich bin der Erzieher des jungen Barons“, antwortete Müller, jetzt wieder gefaßt.

„Und ich bin Maler, mit dem Grafen Rallion hier angekommen. Ich gedachte, von dieser Bank aus das Schloß zu zeichnen, aber ich störe Sie.“

„Nehmen Sie Platz!“ antwortete Müller höflich. „Mein Name ist Müller.“

Er sagte dies, um zu erfahren, wie er den Maler zu nennen habe. Dieser hatte während der Bahnfahrt im Coupé von dem Grafen erfahren, daß seine deutsche Legitimation auf den Namen Haller ausgestellt sei; darum antwortete er:

„Und der meinige Haller. Ich bin ein Deutscher, und Sie auch, wie ich zu meiner Freude aus Ihrem Namen schließe.“

„Allerdings. Meine Heimat ist Leipzig.“

„Die meinige Stuttgart.“

Beide täuschten einander. Sie waren gezwungen, die Orte zu nennen, welche auf ihren Legitimationen angegeben waren. Der Franzose war ein liebenswürdiger Gesellschafter, und Müller fühlte sich bereits nach kurzer Unterhaltung recht sympathisch von ihm berührt, bis die Unterhaltung auf Berlin kam – zufällig, dachte Müller; er hatte nicht bemerkt, daß Haller sie mit Absicht auf Berlin geleitet hatte.

„Waren Sie bereits einmal in der Hauptstadt Preußens?“ fragte der letztere.

„Öfters“, antwortete Müller.

„Das läßt sich denken, da sie von Ihrer Vaterstadt aus ja sehr leicht zu erreichen ist. Sind Sie in Berlin einigermaßen bekannt?“

„So ziemlich.“

„Auch in Militärkreisen?“

„Leidlich. Ich hatte als Erzieher Gelegenheit, zahlreiche Offiziere kennenzulernen.“

„Ah, so sagen Sie mir, ob Ihnen der Name Königsau bekannt ist?“

Fast hätte Müller durch eine rasche Bewegung sein Erstaunen verraten. Er beherrschte sich jedoch und antwortete mit nachdenklicher Miene:

„Königsau? Hm! Den Namen müßte ich kennen! Ah, jetzt besinne ich mich! Ein alter Hauptmann aus Blüchers Zeit führt diesen Namen.“

„Richtig, richtig!“ meinte Haller mit französischer Lebhaftigkeit. „Hat dieser Veteran einen Sohn?“

„Jetzt nicht mehr, aber einen Enkel, wenn ich mich nicht irre.“

„Jawohl, ein Enkel war es! Ist dieser nicht Rittmeister bei den Ulanen?“

„Soviel ich weiß, ja.“

„Man sagt, daß dieser ein ausgezeichneter Offizier sei, der von seiten des großen Generalstabes mit wichtigen Arbeiten beschäftigt werde.“

„Möglich. Ich als Erzieher habe natürlich kein Urteil darüber.“

„Kennen Sie die Verhältnisse des Königsau vielleicht näher?“

„Es mag wohl sein, daß ich früher von ihm gehört habe, doch ist es leicht zu entschuldigen, wenn mir jetzt nichts mehr erinnerlich ist. Sie haben Veranlassung, sich nach ihm zu erkundigen?“

„Ja.“

„Wenn ich wüßte, welche Intention Sie dabei leitet, käme dies vielleicht meinem Gedächtnisse zu Hilfe, so daß ich Ihnen Auskunft zu geben vermöchte, Herr Haller.“

„Nun, ich beabsichtige, baldigst nach Berlin zu gehen. Dort werde ich Gelegenheit nehmen, die Bekanntschaft des Rittmeisters zu machen. Sie begreifen, daß es mir sehr angenehm sein würde, bereits jetzt etwas über ihn zu hören.“

„Ah, Sie haben also Grunde, die Bekanntschaft gerade dieses Mannes zu machen?“

„Allerdings. Er ist mir sehr warm empfohlen.“

„Darf ich fragen, von wem?“

„Vom Grafen Rallion“, fuhr es dem Franzosen heraus. Er ahnte aber sofort, daß er jetzt eine Dummheit begangen habe, und fügte, um seine Worte begreiflicher zu machen, hinzu: „Der Graf hat nämlich in Berlin früher seine Bekanntschaft gemacht.“

Damit aber hatte der Franzose den Karren noch tiefer hineingeschoben. Müller erinnerte sich jetzt der militärisch straffen Haltung, mit welcher der Maler in den Garten getreten war, er sah den wohlgepflegten Schnurrbart, die kurz verschnittenen Haare und war nun mit sich über den Maler vollständig im reinen. Darum meinte er mit einem leichten Lächeln:

„Soviel ich mich entsinne, ist Rittmeister von Königsau kein sogenannter Gesellschaftsmensch. Der Dienst geht ihm über alles; er liebt das Studium und infolgedessen die Einsamkeit. Es mag schwer sein, sich bei ihm einzuführen.“

„Ich hoffe, daß es mir gelingen wird, seine Freundschaft zu erlangen. Aus welchen Personen besteht seine Familie, außer dem bereits genannten Veteran?“

„Aus seiner Mutter und einer Schwester.“

„Ist diese Schwester hübsch?“

„Ich glaube. Ich habe Bekannte, welche von ihr sogar als von einer Schönheit sprechen.“

Müller sagte die Wahrheit. Es tat ihm in diesem Augenblick herzlich wohl, in solcher Weise von der fern Weilenden sprechen zu können. Haller machte ein erfreutes Gesicht und sagte mit jenem Lächeln, welches unter jungen Herren so vielsagend ist:

„Ein Grund mehr, die Bekanntschaft des Rittmeisters zu machen. Ich bin Ihnen herzlich dankbar für die Auskunft, die Sie mir erteilt haben!“

„Und ich bedaure sehr, nicht imstande gewesen zu sein, Ihnen mehr zu sagen. Ich will Ihnen gern wünschen, daß Sie sich nicht enttäuscht sehen mögen.“

Er verbeugte sich höflich und ging dem Park zu. Diese Begegnung gab ihm zu denken. War dieser Maler wirklich ein Deutscher? War er überhaupt ein Maler? Er war mit Rallion, dem größten Feind Deutschlands, gekommen, und zwar aus Metz, dem militärischen Ameisenhaufen. Warum wollte er als Maler in Berlin gerade Müllers Bekanntschaft machen, das heißt also, die des Rittmeisters von Königsau? Warum die Lüge, daß Graf Rallion Königsau kenne? Und wenn dieser Haller kein Maler sondern Offizier war, so hieß er jedenfalls auch anders und ging in einer geheimen Mission nach Berlin. In diesem Falle –

Müller wurde gerade jetzt aus seinem Nachdenken aufgestört, denn eine liebliche Stimme erklang:

„Bon jour, monsieur le docteur! Haben Sie Baronesse Marion nicht gesehen?“

Er blickte auf. Nanon stand seitwärts von ihm. Sie trug ihr lichtes Kleid hoch aufgeschürzt, wie zu einem langen Gang durch Wald und Feld, und ihr volles, freundliches Gesichtchen wurde von einem breitrandigen Gartenhut beschattet. Ihr Haar hing in zwei dicken, blonden Zöpfen über den Rücken herab. Als sie so hinter dem Fliederstrauch hervorlugte, hatte sie ganz das Aussehen einer neckischen Elfe, welche von ihrer Königin die Erlaubnis erhalten hat, sich einmal an dem fröhlichen, glücklichen Menschenleben zu beteiligen.

„Leider nein, Mademoiselle“, antwortete er.

„Sie soll mit Alexander in den Park gegangen sein. Ich suche sie.“

„Vielleicht ist sie nach dem alten Turm.“

Sie sah ihn mit fragender Bitte an. Vielleicht wäre es geraten gewesen, sie zu begleiten, um ihr den Turm zu zeigen; aber der Doktor war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um darüber nachzudenken, ob er als Erzieher die Verpflichtung habe, auch in diesem Fall galant zu sein. Nanon bemerkte dies, warf mit einem trotzigen Schmollen das Köpfchen zurück und antwortete:

„Ich danke Ihnen. Vielleicht finde ich den Turm.“

Damit schritt sie fort, dem Wald entgegen. Dort dufteten bereits die Maien, und zahllose Blüten hingen an den Sträuchern. Sie schlüpfte von Baum zu Baum, von Strauch zu Strauch; bald hatte sie einen Vogel, bald einen Käfer, bald einen früh erwachten Schmetterling zu beobachten. Immer tiefer und tiefer drang sie in den Wald, bis sie endlich nicht mehr weiterkonnte.

„Mon dieu, was ist denn das?“ fragte sie. „Ich glaube gar, hier ist der Weg alle!“ Sie wendete sich um und fügte erschrocken hinzu: „Ach, der scheint ja schon längst alle geworden zu sein! Wo bin ich? Wo ist das Schloß? Und wo ist der alte Turm, den ich suche? Ich habe mich ganz und gar verlaufen!“

So war es allerdings – sie hatte sich verlaufen. Sie suchte nun nach dem richtigen Weg; aber sie fand nicht nur nicht den richtigen, sondern überhaupt keinen Weg. Sie ging immer weiter und weiter und verirrte sich immer mehr. Sie ward müde und setzte sich nieder, um auszuruhen, bis sie bemerkte, daß sie keine Zeit versäumen dürfe. Sie brach also wieder auf und suchte von neuem. Endlich fand sie einen schmalen Pfad, aber er verlief sich im Wald, als sie ihm folgte. Sie kehrte zurück und gelangte an einen Kreuzweg. Sie wandte sich nach rechts, ging eine Viertelstunde lang und mußte dann zu ihrem Herzeleid sehen, daß auch dieser Weg zwischen Sträuchern und Büschen ein Ende nahm.

Nun wurde es ihr angst. Sie kehrte abermals um und begann zu rufen. Aber niemand antwortete; sie befand sich allein, ganz allein im tiefen Wald.

„Daran ist nur dieser Monsieur Müller schuld!“ rief sie fast weinend. „Warum sind doch die Deutschen nicht so galant wie die Franzosen? Sie sind doch in jeder anderen Hinsicht viel besser als diese!“

Und immer weiter ging sie, und immer lauter rief sie. Da horch! War das wirklich eine menschliche Stimme? Nanon rief abermals und blieb stehen, um zu horchen. Ja, aus weiter Ferne drang eine Antwort herüber. Die Verirrte rief wiederholt, und die Antwort kam immer näher, bis endlich ein Mann durch die Büsche brach. Er hatte eine dunkle Hose und eine blaue Bluse an und trug einen großen Sack auf der Schulter – es war Fritz.

Als Nanon ihn erblickte, schlug sie vor Freude die Händchen zusammen und rief:

„Ah, welch ein Glück, Monsieur – Monsieur – wie war gleich ihr Name?“

„Guten Tag, gnädiges Fräulein!“ grüßte er höflich, indem er den Hut vom Kopf nahm. „Schneeberg, Friedrich Schneeberg heiße ich. Aber wie kommen Sie so tief in den Wald?“

„Ich bin in die Irre gegangen“, antwortete sie. „Wollen Sie nicht mein Retter sein – zum zweiten Mal, lieber Monsieur Schneeberg?“

„Oh, wie gern, Mademoiselle!“ rief er. „Ich wollte, ich dürfte Sie hundertmal, nein, tausendmal retten, oder doch wenigstens alle Tage einige Male!“

„Das wäre denn doch zu viel verlangt“, lachte sie, ganz erfreut, daß gerade dieser gute brave Mensch sie gefunden hatte. Sie war ja mit ihm in Marions und des Doktor Bertrands Gesellschaft von der Mosel bis hierher gereist und hatte da trotz der kurzen Zeit Gelegenheit gehabt, die treue Seele kennenzulernen. „Ist es weit nach dem alten Turm?“ fragte sie.

„Man müßte eine volle Stunde gehen“, antwortete er.

„Und nach dem Schloß?“

„Geradeso weit, Mademoiselle.“

„Ach, das kann ich nicht mehr erlaufen!“ klagte sie. „Ich bin so ermüdet; ich muß mich vorher ausruhen.“

Ihr Blick suchte nach einem passenden Plätzchen. Da warf Fritz den Sack zu Boden und sagte:

„Hier ist ein Fauteuil, wie es weicher gar nicht sein kann, Mademoiselle.“

„Dieser Sack? Was ist darin?“

„Kostbare Pflanzen“, antwortete er mit komischer Wichtigkeit. „Sie haben wohl gehört, daß ich bei Doktor Bertrand als Pflanzensammler engagiert bin.“

„Allerdings, ich erinnere mich. Sind Sie denn ein solch guter Botaniker?“

„Das versteht sich!“ lachte er. „Salomo kannte bloß den Ysop und die Zeder, ich aber kenne einige Pflanzen mehr.“

„Wenn aber diese Pflanzen einen medizinischen Zweck haben, darf ich mich doch unmöglich auf sie setzen!“

„Warum nicht, Mademoiselle? Der Medizin tut dies nicht den geringsten Schaden. Der Sack steckt voll Preiselbeerkraut, Scharfgarbe, Weidenblätter und Huflattich. Einen sehr guten Tee wird das freilich nicht geben, aber ein desto besseres Polster. Setzen Sie sich getrost darauf. Es wächst noch eine ganze Masse solches Zeug im Wald.“

„Nun wohl, so muß ich Ihnen den Willen tun“, sagte sie.

Sie ließ sich auf den weichen Sack nieder, und zwar mit einer so natürlichen Grazie und Anmut, daß die wirklich ganz das Aussehen einer Elfe hatte. Der Hut hing ihr am Band im Nacken; er war ihr hinabgerutscht, und nun blickte das liebliche Gesichtchen mit den blauen Augen so freundlich zu ihm empor, daß es ihm heiß um das Herz wurde. Er hätte sich tausend und abertausend Martern unterworfen, um ihr die kleinste Freude zu bereiten.

„Aber nun müssen Sie sich auch setzen, mein lieber Monsieur Schneeberg“, sagte sie.

Er gehorchte und suchte sich einen Ort aus, fern von dem ihrigen.

„Nein, nicht dort“, sagte sie, „sondern hier in meiner Nähe, ganz hier.“

Sie deutete gerade dort hin, wo ihre kleinen, kinderniedlichen Stiefeletten unter dem Saum ihres Gewandes hervorlugten. Fritz wagte keinen Widerspruch und folgte gehorsam ihrer Weisung. Ihr Auge beobachtete dabei seine Bewegungen. Er war ein gewandter Unteroffizier und hatte sich bei der Eskadron die Beine noch lange nicht steif geritten. Seine volle, kräftige, wohl proportionierte Gestalt schmiegte sich behaglich in das grüne Moos, und als er sich da bequem ausstreckte, überflog sie ihn mit einem Blick, dem man ein schwer unterdrücktes Wohlbehagen anerkennen konnte.

„So, nun wollen wir ruhen und plaudern“, meinte sie, „aber wovon? Ah, da fällt mir gleich etwas ein, was ich Sie fragen wollte! Wenn ich nur nicht denken müßte, daß Sie mir es übel nehmen möchten.“

Er blickte sie mit dem ungeheucheltsten Erstaunen an und fragte:

„Ich Ihnen etwas übel nehmen? In meinem ganzen Leben nicht.“

„Nun wohl, so will ich Sie bitten, mir zu sagen, wie Ihre Familie zu dem Namen Schneeberg gekommen ist? Das ist für eine französische Zunge so schwer auszusprechen; das klingt so kalt, so eisig, daß man dabei frieren möchte. Stammen Sie etwa aus Sibirien?“

„Meine Familie?“ sagte er in einem schwermütigen Ton. „Ich habe keine Familie; ich habe weder Vater noch Mutter.“

„Auch nicht einen Bruder oder eine Schwester, Monsieur Schneeberg?“

„Auch nicht, Mademoiselle.“

„So sind sie alle gestorben? Oh, das ist ja traurig, sehr traurig!“

„Ob sie gestorben sind, das weiß ich nicht. Ich bin ein Findelkind gewesen.“

„Ein enfant trouvé, ein Findelkind?“ sagte sie, und sogleich trat auch ein mitleidiger Tropfen in ihr schönes, liebes Auge. „Sie armer Monsieur Schneeberg. Wie ist dies denn zugegangen?“

„Das will ich Ihnen sagen: Da wohnte ein armer Holzhacker zwischen den Bergen, der hatte eine Frau und sechs Kinder, aber nicht genug zu essen für sie alle; der wanderte eines Tages vom Gebirge hinab in die Stadt, um für seinen letzten Gulden Brot für die Seinen zu holen. Als er spät in der Nacht zurückkam, brachte er das Brot und dazu einen kleinen Jungen, den er auf der einsamen Straße bei einer hohen Schneewehe wimmern gehört hatte. Das war ich. Er machte Anzeige, aber es fand sich niemand ein, mich zu reklamieren. Der Holzhacker war ein braver Mann und behielt mich. Weil man nicht wußte, ob ich getauft worden sei, taufte man mich, und ich erhielt, da ich bei einem Berg von Schnee gelegen hatte, den Namen Schneeberg. Mein Pflegevater starb, seine Frau folgte ihm kurze Zeit darauf nach, und ich kam mit den anderen Kindern in das Armenhaus. Dort bin ich aufgewachsen, ohne Liebe, ohne alles, was ein Kind glücklich macht. Ich habe in meinem Leben nur einen einzigen Menschen gefunden, der mir Liebe und Güte erwiesen hat.“

„Wer war das?“

„Mein Rittmeister.“

„Ah, Sie waren Soldat?“

„Ja, Kavallerist.“

„Aber welchen Beruf hatten Sie vorher erlernt?“

„Oh, ich könnte etwas vornehmer tun und sagen, daß ich Friseur gewesen sei; aber ich werde ehrlich sein und eingestehen, daß ich zuerst zu einem Barbier in die Lehre gegangen bin und erst später gelernt habe, Haartouren herzustellen.“ Und mit einem trüben Lächeln setzte er hinzu: „Sie sehen, Mademoiselle, daß ich nichts, fast gar nichts bin in der menschlichen Gesellschaft.“

Da bückte Nanon ihn beinahe zornig an und sagte:

„Wo denken Sie hin, Monsieur! Sie mit Ihrem Mut, Ihrem braven Herzen, Ihrem weichen, sanften Gemüt wären unnütz: Sie haben mir das Leben gerettet! Sie haben mich auf Ihren Armen aus den Fluten getragen; das ist gerade genug getan für ein ganzes Leben. Millionen leben und sterben, ohne daß ihnen ein Mensch das Leben, ja nur eine einzige Stunde seines Lebens verdankt. Eigentlich ist mein Leben Ihr wohlerworbenes Eigentum, und wenn Sie darauf einen Anspruch machen, so bin ich Ihnen einen Dank schuldig, welcher so groß ist, daß ich ihn gar nicht abtragen kann. Sie fühlen jedenfalls Befähigung zu etwas Größerem in sich, als Sie jetzt sind. Wer sagt Ihnen denn, daß Sie kein höheres Ziel erreichen werden?“

Sie hatte sich in einen solchen Eifer hineingeredet, daß ihre Augen blitzten und ihre Wangen glühten. Es war ihr ein Herzensbedürfnis, ihn zu überzeugen, daß er mehr wert sei, als er selbst denke. Dabei war sie in Bewegung gekommen und hatte bei jedem Wort, welches sie betonte, den Nachdruck dadurch zu verstärken gesucht, daß sie ihr Gegenüber mit der Spitze ihres Fußes an die Achsel stieß. Daß dabei nicht nur ihre Stiefelette, sondern auch ein kleiner Teil ihres feinen, weißen Strumpfes frei vom Gewand erscheinen mußte, darauf hatte sie gar nicht geachtet.

Auf dieser weißen Stelle hafteten Fritzens Augen; aber es war kein unheiliger Gedanke, der ihn dabei beschlich, Nanon kam ihm vor wie ein höheres Wesen, wie eine Schöpfung von so unerreichbarer Schönheit, daß er froh sein müsse, den Klang ihrer silbernen Stimme hören und in die Tiefe ihres klaren, reinen Auges schauen zu dürfen.

Er legte die Hand auf sein klopfendes Herz, schloß die Augen und sagte:

„Sie haben recht. Zanken Sie mich nur tüchtig aus! Ich bin der glücklichste Mensch; ich tausche mit keinem anderen, denn ich habe das unendliche Glück gehabt, das liebste und herrlichste Wesen der Welt auf meinen Armen zu tragen.“

Sie blickte ihn scharf an, da sie aber in seinen geschlossenen Augen nicht lesen konnte, so fragte sie:

„Wie meinen Sie das? Wer ist das liebste, herrlichste Wesen der Welt?“

Da schlug er die Augen wieder auf, richtete sie mit größtem Erstaunen auf sie und antwortete:

„Das wissen Sie nicht? Sie, natürlich, Sie sind es!“

„Ich?“ fragte sie unter einem halben melodischen Lachen. „Ich das herrlichste Geschöpf der Erde? Oh, wie irren Sie sich; ich bin ein häßliches, unliebes Ding, welches sich sehr, sehr oft über sich selbst zu ärgern hat!“

„Wenn das ein anderer von Ihnen sagte, so würde ich ihn mit dieser Hand zu Boden schlagen, Mademoiselle; darauf können Sie sich verlassen! An Ihnen ist alles gerade so schön und rein und heilig wie an einer Fee oder an einem Engel. Gerade so, wie Sie sind, habe ich mir als Kind die Engel vorgestellt, und so sind sie mir im Traum erschienen. Warum haben denn auch Sie stets Flügel, wenn ich von Ihnen träume?“

„Ah, Sie träumen von mir?“ fragte sie schnell.

„Ja, fast alle Nächte. Und es ist dann stets nur eins, was ich träume: Sie kommen mit goldenen Flügeln und einer goldenen Krone, um mir den Ort zu zeigen, an welchem ich meine Eltern finden werde.“

„Oh, wie gern würde ich das tun, wie gern würde ich Ihren Traum erfüllen, da ich Ihnen so sehr viel schuldig bin!“

Da richtete er sich halb empor; seine Wangen röteten sich wie unter einem verwegenen Entschluß, und seine Augen schienen tiefer und dunkler zu werden.

„Wenn Sie wirklich glauben, daß Sie mir so sehr viel schuldig sind“, sagte er, „so kann ich Ihnen ein Mittel angeben, diese große Schuld mit einem Mal zu tilgen.“

„Reden Sie, Monsieur Schneeberg! Gegen Sie mir dieses Mittel an!“

„Aber Sie werden es mir übelnehmen, Mademoiselle!“

„Ich? Ihnen? Nein! Ich kann Ihnen ebensowenig etwas übelnehmen wie Sie mir.“

Sein Gesicht erhellte sich, und in einem Ton, dem man es anhörte, daß es dem Bittenden schwer wurde, diese Worte auszusprechen, sagte er:

„Ich entbinde Sie von aller, aller Schuld gegen mich, wenn Sie mir nur ein allereinziges Mal die Erlaubnis geben, dieses schöne, kleine Händchen zu küssen, welches so weiß und zart da in Ihrem Schoß liegt.“ Und als Nanon nicht sofort antwortete, setzte er hinzu: „Nicht wahr, nun sind Sie mir ernstlich bös? Nun habe ich Ihre Güte ganz verscherzt?“

Sie zögerte noch immer, ihm zu antworten; aber ihr Blick ruhte mit einem Ausdruck unbewußter Innigkeit auf seinem jetzt erbleichten Gesicht. Wie oft war ihre Hand geküßt worden von faden, unausstehlichen Salonhelden, die nach Moschus rochen und nach Pomade dufteten, aber nicht imstande gewesen wären, eine Fliege aus dem Wasser zu ziehen. Diese widerwärtigen Zwittergeschöpfe haben sich, ohne zu fragen, ihrer Hand bemächtigt, als eines Gutes, welches ihnen nicht entzogen werden könne. Und hier dieser Mann, der zwar ein einfacher, aber ein ganzer Mann war, bat sich diese Gunst aus, als das größte Glück, welches ihm widerfahren könne, als Äquivalent für ein teures, unbezahlbares Menschenleben. Wie blickten seine treuen Augen so ängstlich in ihr Angesicht! Es stieg ihr heiß aus dem Herzen empor, wie ein allmächtiges Gefühl, dem nicht zu widerstehen war.

„Diese Hand wollen Sie küssen?“ fragte sie. „Nein; sie ist geküßt worden von Herren, von denen Hunderte mir nicht so viel wert sind wie Sie allein: Nicht die Hand, sondern die Wange will ich Ihnen reichen. Kommen Sie, mein lieber Monsieur Schneeberg; küssen Sie mir die Wange, und dann soll von meiner Schuld noch immer nicht einmal das kleinste Teilchen getilgt sein!“

Sie glitt von den Pflanzen herab, welche ihr als Kissen dienten, kniete vor ihn hin und bot ihm in herzig kindlicher Weise ihr reizendes Köpfchen dar. Er legte die Hand leise, leise auf ihre zarte Schulter und berührte mit seinen Lippen noch leiser und vorsichtiger ihre erglühende Wange. Sie fühlte diese Berührung kaum; sie senkte das Köpfchen zur Seite, so daß ihre Wange fest an seinen Mund zu liegen kam, und dann fragte sie: „So! War es so recht?“

Es war wie ein süßer, süßer Rausch über ihn gekommen. Sein Auge flammte auf; seine Brust hob und senkte sich, und sein Atem ging schnell, als er ihr antwortete:

„Mademoiselle, Sie haben mich einen Augenblick lang in den Himmel schauen lassen. Ich sage Ihnen, daß ich diese Stunde niemals vergessen werde. Nie, so lange ich lebe, wird es ein anderes Mädchen geben, welches von meinen Lippen berührt werden wird. Der Mund, der Sie geküßt hat, ist geheiligt; er darf nie, nie entweiht werden.“

Sie kniete noch immer vor ihm. War es mädchenhafte Begeisterung, war es ein zarteres Gefühl, oder war es nur die reine Dankbarkeit, von welcher sie fortgerissen wurde – sie legte ihm jetzt beide Hände auf die Schultern und sagte unter der Glut tiefster Errötung:

„Für ein solches Opfer war dieser Kuß zu wenig; das muß ein anderer sein.“

Sie zog des Überraschten Kopf näher an sich, legte ihre Lippen auf seinen Mund und küßte ihn ein-, zwei-, dreimal, so fest und innig, als ob sie seine Geliebte sei. Dann aber sprang sie auf, warf die nach vorn gefallenen Zöpfe über die Schultern und sagte:

„Nun aber kommen Sie. Wir haben lange genug ausgeruht, und es wird Zeit, daß ich nach dem Schloß gehe.“

Auch Fritz erhob sich. Er fühlte das Blut an seinen Schläfen pochen; er schien zu taumeln. Er sah nicht die Bäume und nicht die Sträucher; er sah nur sie, die Geliebte allein. Er legte beide Hände an den Kopf, um zu sehen, ob er auch wirklich noch er selbst sei, und dann führte er Nanon fort von der Stelle, ohne an den Kräutersack zu denken, der noch am Boden lag.

Die beiden glücklichen Menschen schritten eine Zeitlang schweigend durch den Wald, bis Marions Freundin in lebhafter Erinnerung an das, was er ihr gesagt hatte, die Stille unterbrach:

„Ich erscheine Ihnen also im Traum und zeige Ihnen den Ort, an dem sich Ihre Eltern befinden?“

„Ja, Mademoiselle.“

„Träume sind Schäume, aber zuweilen spricht Gottes Stimme im Traum zu den Menschen. Oh, wäre doch der Ihrige von Gott gesandt! Haben Sie denn gar keine Ahnung, wessen Kind sie gewesen sein könnten?“

„Nein, nicht die mindeste.“

„Hat sich in der Kleidung, welche sie trugen, kein Zeichen gefunden? Haben Sie denn gar nichts, gar nichts bei sich gehabt, was der Vermutung Ihrer Herkunft einen Anhalt geben könnte? Sind denn keine Nachforschungen angestellt, keine Erkundigungen eingezogen worden?“

„Ich habe in einem Pelzchen gesteckt, welches ganz aufgeweicht gewesen und bald verloren gegangen ist. Im Hemdchen und Unterkleidchen sind Zeichen gewesen; da aber alles naß war, so hat meine Pflegemutter beide am Ofen aufgehängt, um sie zu trocknen. Plötzlich ist beim öffnen der Ofentür durch einen unerwarteten starken Windstoß in die Esse die Flamme aus der Feuerung geschlagen und hat sowohl das Kleidchen als auch das Hemd verzehrt. Außerdem hat ein dünnes, goldenes Kettchen an meinem Hals gehangen, mit einem großen Zahn, wie zum Spielen, aber wohl infolge des Aberglaubens, daß solche Mittel das Zahnen der Kinder erleichtern. Dieser Zahn war –“

Nanon wahr in höchster Überraschung stehen geblieben.

„Dieser Zahn war ein Löwenzahn?“ unterbrach sie ihn rasch in einem Ton, aus welchem die Angst erklang, daß Fritz ihre Frage verneinen werde.

„Ich traf einst den berühmten Naturforscher Brehm“, antwortete er; „das heißt, ich hatte ihn zu bedienen und wagte es, ihm den Zahn zu zeigen. Er erklärte ihn sofort für den Reißzahn eines Löwen.“

Da schlug sie die Hände zusammen und rief:

„Mein Gott, ist das möglich? Der Reißzahn eines Löwen! Haben Sie den Zahn noch?“

„Ja. Ich trage ihn am Hals.“

„Zeigen Sie her! Zeigen Sie schnell!“

„Haben Sie einen Grund, ihn sehen zu wollen, Mademoiselle?“ erkundigte er sich.

„Ja, einen sehr triftigen Grund“, antwortete sie. „Also zeigen Sie her, schnell!“

Fritz öffnete die Bluse und die Weste, nestelte ein wenig am Hals und brachte dann ein feines, dünnes Goldkettchen zum Vorschein, an welchem ein großer, gelblichweißer, nach der Spitze zu leicht gebogener Zahn hing. Nanon nahm denselben in die Hand und betrachtete ihn.

„Verstehen Sie etwas von Heraldik?“ fragte sie dann.

„Nein, nichts“, antwortete er.

„Nun, so sehen Sie einmal her! Welche Form hat die goldene Fassung des Zahns?“

„Sie bildet eine Krone, Mademoiselle.“

„Ja, aber nicht etwa eine Phantasiekrone. Es ist ganz genau eine Grafenkrone mit Perlenzacken, und – ah!“

Sie betrachtete den Zahn genauer und untersuchte, mit welcher Festigkeit er in der Fassung steckte. Dann stieß sie einen Ruf der Überraschung aus und sagte:

„Sehen Sie, Monsieur, daß der Zahn sich drehen läßt! Haben Sie das noch nie versucht?“

„Nein, niemals“, antwortete er, mit Spannung auf ihre weißen Fingerchen blickend, welche mit Anstrengung an dem Gegenstand herumarbeiteten.

„Jetzt!“ rief sie. „Jetzt geht es! Sehen Sie, daß man daran schrauben kann? Der Zahn ist mit einem Gewinde versehen und läßt sich abschrauben. Hier, blicken Sie her!“

Es gelang ihr, den Zahn aus der Krone zu schrauben, und nun zeigte sich eine Merkwürdigkeit, welche allerdings geeignet war, die beiden in Erstaunen zu setzen. Die natürliche Höhlung des Zahnes war erweitert worden und enthielt ein feines Elfenbeinblättchen, dessen eine Seite das wunderbar künstlerisch ausgeführte Miniaturporträt einer sehr schönen, jungen Frau zeigte. Darunter standen die Buchstaben und Zahlen H.v.G. 1845. Die andere Seite enthielt den Kopf eines stattlichen Mannes, und darunter war zu lesen: K.v.G. 1845.

Nanon betrachtete das Porträt der Dame sehr aufmerksam und sagte dann:

„Sie ist es; ja, sie ist es; ich erkenne sie wieder, obgleich sie älter aussah, als hier auf dem Bild. Monsieur Schneeberg, diese Frau muß ihre Mutter sein und der Herr Ihr Vater!“

Fritz stand da ganz ohne Bewegung. Er wußte gar nicht, wie ihm geschah. Eine Grafenkrone! Und diese beiden Personen sollten seine Eltern sein! Es war ihm, als hätte er einen Schlag vor den Kopf bekommen.

„Sie kennen diese Dame?“ fragte er.

„Ja und nein, Monsieur“, antwortete Nanon. „Es war in Paris während einer Soiree, als mir eine sehr schöne Dame auffiel, da sie ganz in Schwarz gekleidet ging. Ich erkundigte mich, wer sie sei, und man sagte es mir. Ich habe jedoch den Namen wieder vergessen. Sie war eine Deutsche, und zwar die Frau eines preußischen Generals. Ich erfuhr, daß sie stets in Schwarz gehe, weil sie den schrecklichen Verlust zweier Kinder betrauere.“

„Die gestorben waren?“

„Nein, sie waren ihr auf einer Reise abhanden gekommen und nicht wiederzufinden gewesen. Etwas weiteres konnte ich nicht erfahren. Nur das sagte man mir, es sei sehr zu verwundern, daß man die Verschwundenen nicht entdeckt habe, da ihre Kleidchen gezeichnet gewesen seien und jeder der Zwillinge einen Löwenzahn an einem feinen Goldkettchen am Hals getragen habe; es sei also sehr zu vermuten, daß ein Verbrechen vorliege.“

„Den Ort, an welchem die Kinder verlorengegangen sind, wissen Sie nicht?“

„Nein. Ich habe mit der Dame selbst gar nicht gesprochen und das, was ich Ihnen jetzt sage, erfuhr ich so nebenbei, wie ja die Unterhaltung oft von dem einen auf das andere springt. Seit jener Soiree sind bereits zwei Jahre vergangen, und doch sagte man mir, daß die Dame bereits damals über zwanzig Jahre getrauert habe.“

„Wenn Sie doch den Namen wüßten, Mademoiselle!“ stieß Fritz hervor.

„Ich werde ihn erfahren, ganz gewiß! Ich werde an die Freundin schreiben, welche damals die Gesellschaft gab, und den Namen der Generalin ganz sicher erfahren. Verlassen Sie sich darauf, daß ich noch heute den Brief absenden werde!“

„Ich danke Ihnen Mademoiselle!“ sagte er. „Seit der Zeit, in welcher ich denken lernte, habe ich mich gesehnt, meine Eltern zu finden. Ich habe mitten im Weg im Schnee gelegen, bin also wohl aus einem Schlitten verloren worden und gehöre nicht zu jenen unglücklichen, kleinen Geschöpfen, welche von ihren Eltern verleugnet und mit Absicht einer ungewissen Zukunft überantwortet werden. Stets habe ich mir gesagt, daß meine Eltern mich gegen ihren Willen verloren haben und einen immerwährenden Kummer, eine nie gestillte Sehnsucht nach mir im Herzen tragen müssen. Darum habe ich oft heiß und innig Gott gebeten, mich wieder mit ihnen zusammenzuführen. Danach, ob sie reich oder arm, vornehm oder gering sind, habe ich nie gefragt. Ja, ich gestehe Ihnen, daß es mir lieber sein würde, der Sohn eines niedrigen, als der eines vornehmen Mannes zu sein, da ich die Bildung nicht genossen habe, welche mich befähigt, den Anforderungen einer höheren Lebensstellung Genüge zu leisten. Ich habe die Hoffnung, daß Gott mein Gebet erhören werde, niemals sinken lassen. Es ist ein schöner Kinderglaube, daß Gott seine Engel sendet, wenn er die Bitte eines Sterblichen erfüllen will; ich habe diesen Glauben stets festgehalten, und als Sie mir im Traum als Engel erschienen, da war es mir, als sei es eine Sünde, an Ihrer Sendung zu zweifeln. Jetzt will mir der Beweis werden, daß dieser Traum nicht zu den unerfüllbaren gehöre. Der erste Fingerzeig auf der Suche nach den Eltern wird mir durch Sie. Sollte mir die Seligkeit beschert sein, jene zu finden, so werde ich Sie als einen Boten Gottes verehren, so lange ich lebe, und bis zu meiner Todesstunde werde ich den heutigen Tag segnen, der mir die Offenbarung gebracht hat, daß wir die Seligkeit nicht allein in der Bibel und nicht nur im Jenseits zu suchen haben.“

Seine Worte hatten einen herzlichen, inneren Klang. Seine Augen waren mit einem Ausdruck auf Nanon gerichtet, wie der Betende eine Heilige oder die Madonna anschaut. Seine Lippen zuckten leise unter den Gefühlen, welche in diesem Augenblick sein Herz erfüllten. Das Mädchen sah es; es hörte nicht nur den seelenvollen Klang seiner Stimme, nein, es fühlte ihn auch; er drang ihm in die heimlichsten Räume seines Herzens hinab. Und aus diesen Räumen stieg eine Regung empor, so rein und innig, so süß und traut, wie Nanon eine gleiche im ganzen Leben noch nie gefühlt hatte. Sie reichte ihm die Kette mit dem Löwenzahn hin und sagte:

„Es kann jeder Mensch ein Engel sein, wenn er dem Gebote Gottes folgt, welches Liebe und Erbarmung predigt. Ich würde sehr glücklich sein, falls Ihr Traum durch mich in Erfüllung gehen sollte. Ich bin so gespannt auf die Antwort meiner Freundin, als ob ich selbst das verlorene Kind sei, welches seine Eltern sucht. Wo aber kann ich Sie finden, um Ihnen diese Antwort mitzuteilen?“

„Bei Doktor Bertrand, bei welchem ich ja wohne, Mademoiselle.“

„Gut. Sie sollen nicht lange auf mich zu warten haben. Jetzt aber kommen Sie, damit ich endlich den Weg nach dem Schloß finde.“

Fritz hing die Kette wieder um, führte seine Schutzbefohlene dann weiter und erreichte bald einen gebahnten Weg, aber er verließ Nanon nicht eher, als bis sie sich dem Schloß soweit genähert hatten, daß sie es sehen konnten. Da nahmen die beiden Abschied voneinander. Ihm war zumute, als ob er dem Schloß das höchste, köstlichste Gut der Erde anvertraue, und sie trennte sich von ihm mit der Überzeugung, daß dieser Mann es wert sei, die Gunst des Schicksals in höherem Grad zu erringen als bisher.

Als die Freundin Marions hinter den Bäumen und Sträuchern des Parks verschwunden war, drehte der Kräutersammler sich um und kehrte langsam in den Wald zurück. Es war ihm, als sei er in der letzten Stunde ein ganz anderer Mensch geworden. Dieses schöne, herrliche Wesen hatte ihn geküßt. Er fühlte den warmen, weichen Druck ihrer Lippen noch jetzt auf den seinigen. Es deuchte ihm, als sei er durch diese Berührung gefeit gegen alles Unglück des Erdenlebens, als habe er eine Weihe erhalten, die ihn berechtigte, sein Auge selbstbewußter aufzuschlagen, als er es bisher getan. Er fühlte eine Spannung in seinem Innern und Äußeren, in seiner Seele und in seinem Körper, einen Drang, seine Kraft zu betätigen, eine Sehnsucht nach Taten, durch welche er der Geliebten ebenbürtig werden könne.

Der Gedanke, daß der Zahn in eine Grafenkrone gefaßt war, machte dem Nachdenkenden nur wenig zu schaffen. Dieser Umstand konnte ein sehr trügerischer sein und gab ihm noch lange nicht die Berechtigung zu der Annahme, daß er der Sohn eines Grafen sei. Ganz im Gegenteil, der nächste Gegenstand, welcher ihn beschäftigte, war sein vergessener Kräutersack. Denselben wollte er nicht liegen lassen und schritt also der Gegend wieder zu, in welcher der Ort lag, wo er mit Nanon gesessen hatte.

Dort angekommen, fand er den Vermißten. Er hob den Sack jedoch nicht sogleich auf, um sich mit ihm zu entfernen, sondern er legte sich langsam wieder nieder, gerade an derselben Stelle, auf welcher er vorher gelegen hatte. Und nun stellte er sich vor, daß auch sie wieder da vor ihm auf dem Kräutersack ruhe. Er sah die sanften Züge ihres Gesichtes, den reinen, kindlichen Blick ihrer blauen Augen, er hörte den seelenvollen Ton ihrer Stimme und vergegenwärtigte sich jedes Wort, welches sie gesprochen hatte. Er schloß die Augen und träumte von ihr, träumte so lange, daß er fast erschrak, als er die Augen öffnete und bemerkte, daß es bereits zu dunkeln begann.

„Sapperlot“, sagte er zu sich, „da liege ich und vergesse meine Pflicht. Ich muß ja nach dem Turm, um dort meinen Posten zu beziehen! Vorwärts, Fritz, das Sinnen führt zu nichts; es muß gehandelt sein!“

Er erhob sich, warf den Sack auf eine Schulter und verließ den Ort.

Aber er war doch noch nicht ganz Herr seiner Gedanken, denn er ging in die ganz entgegengesetzte Richtung fort, als notwendig gewesen wäre, um den Turm zu erreichen. Zunächst bemerkte der Dahinschreitende seinen Irrtum nicht. Es war schnell dunkel geworden, und da ein Baum dem anderen ähnlich sieht, so war eine Täuschung leicht möglich. Nach einer längeren Zeit jedoch blieb er stehen, um sich zu besinnen.

„Was ist denn das?“ fragte er sich. „Ich bin bereits eine halbe Stunde gelaufen und müßte also schon längst irgendeinen Weg erreicht oder einen gekreuzt haben. Ich hoffe nicht, daß ich vielleicht gar im Kreis gehe, wie es einem im Wald leicht passieren kann!“

Er ging weiter. Es wurde immer dunkler, und zugleich nahm der Wald an Dichtigkeit zu. Fritz konnte bald nur noch durch das Gefühl die Bäume voneinander unterscheiden und mußte sich oft bücken, um unter den niedersten Ästen hinwegzukommen.

„Ja, ich habe mich richtig verlaufen“, dachte er. „Soll ich umkehren? Nein, das würde die Sache nur verschlimmern, denn den Ort, von dem ich ausgegangen bin, finde ich in der Finsternis doch nicht wieder. Dieser Forst ist kein unendlicher Urwald; wenn ich immer geradeaus gehe, komme ich doch endlich heraus. Also weiter!“

Er hielt sich immer in der eingeschlagenen Richtung. Freilich mußte er sich forttasten und konnte also keine raschen Schritte machen. So war er weit über eine Stunde gewandert, als sich plötzlich der Wald, gerade als er am dichtesten schien, öffnete und den mit Sternen besetzten Himmel sehen ließ. Fritz blieb stehen, um sich zu orientieren.

Sonderbar! Gerade vor ihm, zwanzig Schritte von ihm entfernt, erhob sich eine hohe, dunkle Masse, so kompakt und lückenlos, daß sie nicht durch Bäume gebildet sein konnte. Er ging darauf zu und tastete vorsichtig. Es war eine steinerne Mauer, welche er fühlte. Er blickte an ihr empor gegen den Sternenhimmel und gewahrte da, daß ihre obere Linie höchst unregelmäßig lief. Hier und dort hoch auf der Erde liegendes Geröll belehrte ihn, daß er wahrscheinlich vor einer Ruine stehe. Die Ruine des Turms aber war es nicht; das wußte er gewiß.

Das Gemäuer war sehr hoch und schien sich auch nach rechts und links weit hinzuziehen, er vermutete, daß es die hintere Wand eines einst sehr ausgedehnten Bauwerks sei. Er wendete sich zur Seite und schritt an der Mauer hin. Der umherliegende Schutt machte ihm das Gehen schwer, und er erreichte die Ecke, ohne einen Eingang oder eine sonstige Öffnung bemerkt zu haben. Jetzt bog er nach der anderen Seite ein. Ein Blick gegen den Himmel belehrte den Forschenden, daß das Gebäude hier eine größere Höhe habe. Es zeigte mehrere übereinander liegende Fensterreihen, welche aber kein einziges Glas mehr zu enthalten schienen.

Hier auf dieser Seite schien das Mauerwerk besser erhalten zu sein, denn auf dem Boden lagen keine Trümmer, und nur zuweilen stieß der Fuß an einen herabgefallenen Steinbrocken, sonst aber fühlte Fritz nichts als weiches Gras, welches seine Schritte fast unhörbar machte. So war er eine bedeutende Strecke diesseits der Mauer hingegangen, als es ihm war, als ob er nahende Schritte hörte. Sofort sprang er von der Mauer fort und hinüber hinter die Bäume, wo er nicht mehr bemerkt werden konnte.

Sehr bald sah er, daß er sich nicht getäuscht habe, denn kaum hatte er sich unter die Bäume niedergeduckt, als er drei Gestalten bemerkte, welche näher kamen, gerade aus der Richtung, aus der auch er gekommen war. Vorher hatte er nur den Schall ihrer Schritte gehört, jetzt aber vernahm er auch ihre Stimmen, denn sie sprachen miteinander.

„Heute hätte ich nicht erwartet, das Zeichen auf der Linde zu sehen“, sagte der eine.

„Es muß eine außerordentliche Veranlassung sein, welche den Alten treibt, uns zusammenkommen zu lassen“, bemerkte der andere.

„Ich vermute diese Veranlassung“, meinte der dritte.

„Nun, was mag es sein?“

„Der Alte hat vornehmen Besuch bekommen. Ich war in Thionville und sah, daß er Besuch abgeholt hatte. Er saß mit zwei Herren im Wagen, und mehrere Diener folgten in der zweiten Kutsche. Das steht jedenfalls in Beziehung zu unserer Versammlung.“

Damit waren jene vorübergeschritten, und Fritz konnte nichts weiter verstehen. Aber er hatte doch gehört, daß hier eine geheime Zusammenkunft abgehalten werden solle, und hielt es für wichtig, mehr über dieselbe zu erfahren. Darum versteckte er seinen Sack unter einer jungen Buche, deren niedere Äste sich fast bis zum Boden erstreckten, so daß man ihn, zumal jetzt bei Nacht, nicht entdecken konnte. Sodann fühlte er in die Taschen, um sich zu überzeugen, daß er seine Waffen noch bei sich habe, trat unter den Bäumen hervor und folgte den drei Männern, natürlich sehr leise und vorsichtig, um nicht bemerkt zu werden.



Es gelang ihm, den Voranschreitenden so nahe zu kommen, daß das Geräusch ihrer Schritte an sein Ohr drang; sich noch weiter zu nähern, hielt er nicht für ratsam.

Der Diener war ihnen nur eine kleine Strecke gefolgt, als er einen Anruf hörte, auf welche drei Stimmen ganz dieselbe Antwort zu geben schienen. Im nächsten Augenblick waren die Schritte verklungen; er konnte sie trotz allen Lauschens nicht mehr vernehmen.

Was war das? Stand hier ein Posten, eine Schildwache?

Der Horcher glitt ganz leise vorwärts. Da vernahm er vor sich ein leises Räuspern und hielt an. Eine breite, dunkle Stelle in der Mauer des Gebäudes ließ ihn vermuten, daß sich hier ein Torweg befinde. Unter diesem stand jedenfalls der Mann, welcher soeben einen Hustenreiz unterdrückt hatte. Fritz trat wieder hinüber unter die Bäume und glitt vorwärts, bis er sich dem Tor gegenüber befand.

Hier sah er eine tiefe, breite Durchfahrt, in deren hinterem Teil das Licht einer Blendlaterne einen Lichtkreis erzeugte, welcher eher imstande war, die Finsternis noch dichter erscheinen zu lassen, als sie zu erhellen. Diese Durchfahrt war mit keinem Tor versehen, und gegen den Schein der Blendlaterne zeichnete sich daher die Gestalt eines Mannes ab, welcher im Eingang stand und mit einem Gewehr bewaffnet war.

Fritz hatte die Beobachtung kaum gemacht, als er wieder Schritte hörte. Sie kamen von der anderen Seite her. Ein Mann näherte sich. Als er das Tor erreichte, fragte die Wache:

„Qui vive – Wer da?“

„Un défenseur de la France – ein Verteidiger Frankreichs“, lautete die Antwort.

„Il passe – er kann passieren.“

Auf diesen Bescheid des Postens trat der Mann ein, durchschritt die Durchfahrt und verschwand dann im Dunkel des hinter ihr liegenden Raums.

Fritz fragte sich, was nun zu tun sei. Er war sehr mit sich im Zweifel darüber.

„Das Beste ist, zu fragen, was mein Rittmeister oder vielmehr mein Doktor Müller jetzt an meiner Stelle tun würde“, sagte er zu sich. „Es handelt sich um eine geheime Zusammenkunft, welche jedenfalls hochpolitischer Natur ist. Um etwas Näheres zu erfahren, muß man die Leute belauschen, und um sie zu belauschen, muß man eintreten. Das ist zwar unter allen Umständen verteufelt gefährlich, aber ich bin überzeugt, daß der Herr Rittmeister es wagen würde. Warum du nicht also auch, Fritz? Erwischen Sie mich, nun, so hatte ich mich verirrt und war vor Ermüdung in dieser Ruine eingeschlafen. Die Hauptsache ist, zu erfahren, ob die Parole, welche ich soeben gehört habe, für alle gilt. Ich werde dies also abwarten.“

Der Lauscher setzte sich nieder und wartete. Es kamen in kurzer Zeit von rechts und links mehrere Leute, welche alle in der Weise angerufen wurden und auch genauso antworteten, wie er vorhin gehört hatte. Da trat er also, kurz entschlossen, unter den Bäumen hervor und schritt auf den Eingang zu, als ob er die Lokalitäten ganz genau kenne.

„Qui vive – Wer da?“ fragte der Posten.

„Un défenseur de la France – ein Verteidiger Frankreichs“, antwortete er.

„Il passe – er kann passieren!“ lautete der Bescheid.

Fritz trat ein, schritt durch den Gang, bei der Laterne vorbei und befand sich nun, wie er bemerkte, in einem großen viereckigen Hof, der rings von hohen Gebäuden umgeben zu sein schien. Geschlossene Mauern konnten es nicht sein, welche das Viereck bildeten, denn diese wären nicht so hoch gewesen, und zudem war es dem Deutschen ganz so, als ob er zahlreiche dunkle Fensteröffnungen erkenne. Und bei weiterer Aufmerksamkeit bemerkte er, daß an den vier Ecken das dunkle Mauerwerk höher emporragte, als es an den Seiten der Fall war.

Er beschloß daher, zunächst den Hof zu umschleichen, um sich zu orientieren. Während er dies tat, überzeugte er sich, daß an jeder Ecke einst ein Turm gestanden hatte. Alle vier waren mit einem schmalen Eingang versehen. So groß das Viereck aber auch war, und so viele Fenster es auch hatte, keines derselben war erleuchtet.

Wohin gingen alle die Leute, welcher er auch jetzt noch kommen hörte? Er beobachtete sie und bemerkte, daß sie im Eingang eines dieser Türme verschwanden. Ganz tief unten in diesem Eingang sah er ein Licht glänzen.

Gab es da unten auch eine Parole, eine Losung? Das mußte er erfahren. Fritz legte sich hart am Eingange, dicht an der Mauer, auf den Boden und wartete. Nach einer Weile kam einer dahergeschritten. Während er eintrat, fiel der Lichtschein auf sein Gesicht, und da bemerkte Fritz, daß der Mann eine schwarze Maske trug.

Er horchte. Als der Mann mehrere Schritte gegangen war, ertönte die Frage:

„La légitimation?“

„Je meurs pour la patrie – ich sterbe für das Vaterland“, antwortete er.

„Avance – gehe weiter!“

Fritz blieb noch eine Weile liegen und beobachtete, daß alle Ankommenden schwarze Masken trugen. Es waren noch immer dieselben Worte, mit welchen sie angerufen wurden, und welche sie antworteten. Dann verschwanden sie im Hintergrund.

„Ach, wenn ich auch eine Larve hätte, so wäre alles gut. Es ist fast gewiß, daß die Maske gar nicht abgelegt wird, damit sich die Verschwörer untereinander nicht erkennen. Das würde mir meine vollständige Sicherheit garantieren. Aber, beim Teufel, ist es denn so ganz unmöglich, sich ein solches Ding zu verschaffen? Pah! Ich nehme einen dieser Kerls bei der Gurgel, dann habe ich ja sogleich das, was ich brauche.“

Gesagt, getan. Er erhob sich und huschte etwas weiter zurück, so daß er gerade in die Mitte zwischen dem Haupttor und dem Turm kam. Dort duckte er sich nieder und wartete. Bereits nach wenigen Augenblicken kam ein Mann. Fritz ließ ihn vorüber, erhob sich aber schnell hinter ihm, faßte ihn mit beiden Händen an der Gurgel und drückte dieselbe so fest zusammen, daß der Mann keinen Laut ausstoßen konnte. Er sank auf den Boden nieder und blieb da lang ausgestreckt liegen. Fritz faßte ihn an und trug ihn in die entfernteste Ecke. Dort untersuchte er ihn. Der Mann trug die gebräuchliche Bluse, welche mit einem Gürtel um die Hüften befestigt war. Fritz nahm den letzteren und zerschnitt ihn in drei lange Riemen, mit denen er die Arme und Beine des Mannes in der Weise fesselte, daß sich derselbe nicht regen konnte. Dann nahm er ihm die Maske vom Gesicht und steckte ihm sein eigenes Taschentuch in den Mund, so daß es jenem unmöglich war, um Hilfe zu rufen, falls er erwachte. Die Maske band der kühne Deutsche nun sich selbst vor und schritt dem Tor zu.

Er gestand sich selbst ein, daß er ein höchst gefährliches Wagstück unternehme, aber der mutige Unteroffizier bebte vor nichts zurück; es galt ja, dem Vaterland und seinem Rittmeister einen Dienst zu erweisen. Überdies hatten das Zusammentreffen und die Unterredung mit Nanon den jungen Mann in eine Art von Begeisterung versetzt. Sie hatte ihm gesagt, daß er befähigt sei, höhere Ziele zu erreichen. Diese Worte klangen ihm noch jetzt im Ohr, und, um sie zu bewahrheiten, mußte er Taten vollbringen; durch Träumereien erreicht man niemals einen Zweck.

Er trat beherzt in den Turm ein und schritt auf das Licht zu. Dort stand abermals ein Posten, welcher mit einem Gewehr bewaffnet war, ihm dasselbe entgegenhielt und fragte:

„La légitimation?“

„Je meurs pour la patrie – ich sterbe für das Vaterland“, antwortete Fritz. Und damit hatte er ja keine Unwahrheit gesagt, er bewies ja durch seine gegenwärtige Kühnheit, daß er bereit sei, für sein Vaterland das Leben zu wagen. Freilich war bei ihm unter Vaterland nicht Frankreich, sondern Deutschland zu verstehen.

„Avance – gehe weiter!“

Bei diesen Worten nahm der Posten sein Gewehr zurück und ließ Fritz passieren.

Dieser befand sich jetzt in einem engen Gang, der in gewissen Entfernungen von Lampen erleuchtet war und an einer Treppe endete, welche in die Tiefe führte. Fritz stieg hinab und gelangte durch einen ähnlichen Gang an eine Tür, welche nur angelehnt war. Er öffnete und befand sich in einem großen, unterirdischen Saal, in welchem sich bereits mehrere hundert Menschen aufhielten, welche alle maskiert waren. Der Raum war von mehreren großen Leuchtern ziemlich gut erhellt. An der hintersten Wand gab es eine Erhöhung, auf welcher mehrere Stühle standen.

Die Anwesenden verhielten sich vollständig schweigsam. Sie standen wortlos einer neben dem anderen und erwarteten bewegungslos, was da kommen werde.

Nach und nach trafen immer mehr ein, so daß sehr bald der Saal vollständig gefüllt war. Jetzt trat einer der Anwesenden zur Tür, zog einen riesigen Schlüssel hervor und verschloß sie. Beim Kreischen des alten Schlosses durchschauerte es den Deutschen. Es war ihm, als ob er sich in eine hoffnungslose Gefangenschaft begeben habe.

Kaum war der Eingang verschlossen, so ertönte eine Glocke, und im Hintergrund öffnete sich eine zweite Tür. Drei Männer traten herein und bestiegen die Erhöhung. Zwei von ihnen nahmen auf den Stühlen Platz, der dritte aber blieb stehen. Unter seiner schwarzen Halbmaske blickte ein großer, eisgrauer Schnurrbart hervor. Wer den alten Kapitän von Schloß Ortry nur ein einziges Mal gesehen hatte, der konnte gar nicht im Zweifel darüber sein, daß derselbe jetzt dort auf dem Podium stand.

Die Glocke ertönte abermals, und der Alte erhob die Hand, zum Zeichen, daß er sprechen wolle.

„Ich habe heute das Zeichen zur Versammlung gegeben“, begann er, „um euch zu sagen, daß endlich die Zeit gekommen ist, zur Tat zu schreiten. Diese Tat erfordert Vorübungen, und so habe ich den Entschluß gefaßt, euch die Waffen –“

Er hielt plötzlich inne und lauschte. Er und alle Anwesenden hatten drei rasche Schläge gehört, welche am vorderen Eingang geschahen. Die Schläge wiederholten sich und erzeugten sogleich eine außerordentliche Unruhe unter der Versammlung.

Der Posten, welcher am Haupteingange stand, hatte nämlich geglaubt, seiner Pflicht genügt zu haben, und sich, als seiner Meinung nach der letzte Mann eingetreten war, nach dem Hof begeben wollen, als noch einer erschien. Dieser wurde von ihm angeredet wie die anderen und gab die vorgeschriebene Antwort. Er mußte also eingelassen werden. Aber der Posten schüttelte den Kopf.

„Sollte ich mich verzählt haben?“ murmelte er. „Es ist einer zuviel eingetreten. Ich werde, um sicher zu sein, doch nach dem Turm gehen, mich zu erkundigen.“

Er trat in den Hof. Er war mißtrauisch geworden, und das Mißtrauen schärft unter solchen Umständen die Sinne. Er blieb stehen, um zu horchen, und da war es ihm, als ob er ein unterdrücktes, angstvolles Stöhnen vernehme.

„Was ist das?“ fragte er sich. „Das klingt ja geradeso, als ob einer ersticke oder abgewürgt werden solle. Die Töne kommen von dort herüber.“

Der Posten nahm sein Gewehr in Anschlag und schritt der Richtung entgegen, die er angegeben hatte. Er kam so in die dem Versammlungsturm gegenüberliegende Ecke. Das Stöhnen war, je näher er kam, immer vernehmlicher geworden, und nun sah er eine dunkle Masse vor sich liegen, welche diese Töne ausstieß. Er bückte sich vorsichtig nieder und erkannte, daß ein Mensch am Boden lag.

„Alle Teufel, wer ist das?“ fragte er.

Ein abermaliges Stöhnen antwortete. Es schien aus der Nase des Daliegenden zu kommen. Der Posten bückte sich nieder, um diesen zu betasten.

„Ah, gefesselt und geknebelt!“ sagte er. „ Warte einmal!“

Er zog dem Mann das Tuch aus dem Mund, welches nicht verhindert hatte, daß dieser durch die Nase wimmern konnte, und fragte ihn:

„Bist du ein Bruder?“

„Mein Gott, ja“, lautete die Antwort, „ein Verteidiger Frankreichs.“

„Das stimmt. Aber nun sage auch das Paßwort! Wie lautet die Legitimation?“

„Ich sterbe für Frankreich!“

„Richtig! Aber wie bist du denn, zum Teufel, in diese Lage gekommen?“

„Das werde ich dir erzählen; nur löse mir vorher die verdammten Fesseln!“

„Werde mich wohl hüten! Erst muß ich mich überzeugen, ob das angebracht ist.“

„Nun“, erzählte der andere, „ich war an dir vorüber und ging nach dem Turm; da faßte mich jemand von hinten und drückte mir den Hals so fest zusammen, daß ich die Besinnung verlor. Als ich wieder zu mir kam, lag ich gefesselt und geknebelt hier in der Ecke. Glücklicherweise konnte ich durch die Nase stöhnen. Du hast es gehört. Eile, um anzuzeigen, daß ein Verrat im Werke ist!“

„Donnerwetter, das genügt, um dich zu erlösen! Aber wo ist deine Maske?“

„Sie ist mir jedenfalls von dem, welcher mich würgte, abgenommen worden.“

„Ah, er hat keine mitgehabt und brauchte sie, um in die Versammlung zu kommen. Das ist ein mutiger, aber gefährlicher Mensch; der muß festgenommen werden.“

Er löste die Riemen des Gefesselten, und nun eilten die beiden nach dem Turm. Dort erkannten die beiden Posten beim Schein des Lichts den Überfallenen. Es war ein Bewohner der Umgegend, gegen den man kein Mißtrauen haben konnte.

„Geh heim“, sagten sie, „damit die anderen dich nicht erkennen, da du jetzt keine Maske mehr hast. Wir werden sogleich Anzeige machen.“

Während jener sich entfernte, eilten sie durch Gänge und Treppen hinunter und gaben an der verschlossenen Tür durch drei Schläge das Zeichen, welches für solche Fälle vereinbart worden war. Der alte Kapitän hielt in seiner Rede inne, und als die Schläge sich wiederholten, eine Täuschung also nicht möglich war, gebot er:

„Ich befehle, ruhig zu bleiben. Eine Gefahr für euch gibt es nicht!“

Er stieg von der Erhöhung herab und durchschritt den Saal, um nach dem Eingang zu gelangen. Derselbe Mann, welcher die Tür vorhin verschlossen hatte, öffnete ihm dieselbe und ließ ihn hinaus. Keiner der Anwesenden sprach ein Wort, obgleich sich alle jedenfalls in der außerordentlichsten Spannung befanden.

Fritz hatte einen Platz gerade in der Mitte der einen Mauerseite gefunden. Es war ihm nicht wohl zumute. Sollte er fliehen, jetzt, da der Eingang geöffnet war? Er hätte draußen jedenfalls einen Kampf zu bestehen gehabt und wäre sicher von der ganzen Versammlung verfolgt worden. Übrigens war es ja noch gar nicht gewiß, daß die Störung sich auf ihn bezog; sie konnte ja eine ganz andere Veranlassung haben. Er beschloß also, zu warten, dachte aber unterdessen nach, auf welche Weise er sich retten könne, wenn man wirklich entdeckt habe, daß sich ein Eindringling im Saal befinde.

Er mußte sich sagen, daß der Eingang in diesem Fall ganz sicher verschlossen werde. Vielleicht aber blieb die Tür unverschlossen, durch welche die drei eingetreten waren, welche die Dirigenten dieser Zusammenkunft zu sein schienen.

Wie aber diese Türe erreichen, ohne aufgehalten zu werden? Er blickte sich im Saal forschend um und machte eine Entdeckung, welche ihn mit innerer Freude erfüllte. Die vier Leuchter nämlich, welche den Raum erhellten, hingen an Schnüren, welche oben an der Decke hinliefen und sich dann an der Seitenmauer an einem Nagel vereinigten, welcher kaum drei Schritte von Fritz entfernt war. Das war ein höchst günstiger Umstand für ihn. Er schob sich also, während der alte Kapitän sich draußen von den Posten informieren ließ, ganz langsam an der Mauer hin, so daß man seine Absicht gar nicht bemerken konnte, und kam auch glücklich so zu stehen, daß er den Nagel mit einem schnellen Griff erreichen konnte.

Ein anderer Umstand mußte ihm ebenso günstig werden, nämlich der, daß die meisten Anwesenden geradeso wie er selbst, mit blauen Blusen bekleidet waren.

Da endlich trat der Alte wieder ein. Auf seinen Wink wurde die Tür sorgfältig wieder verschlossen, und die beiden Posten, welche mit ihm eingetreten waren, pflanzten sich mit ihren Gewehren vor derselben auf. Der Kapitän schritt auf das Podium zu und erklärte, als er auf demselben Platz genommen hatte:

„Ich verlange, daß niemand seinen Platz verläßt! Es ist ein Verräter unter uns. Einer der Unserigen ist droben im Hof meuchlings überfallen und so gewürgt worden, daß er die Besinnung verloren hat. Man hat ihn gefesselt und geknebelt und ihm die Maske abgenommen. Der Täter befindet sich unter uns, denn im Gang ist die Zahl der Unserigen richtig gewesen, während am Tor einer zu viel gewesen ist.“

Er machte eine Pause, welche von keinem Laut unterbrochen wurde, und fuhr dann fort:

„Ich habe bisher Gründe gehabt, Vorkehrungen zu treffen, daß keiner von euch den anderen kennt; darum gebot ich, daß ein jeder in Maske erscheine. Diese Gründe bestehen auch heute noch; ich kann also nicht verlangen, daß sich die Versammlung demaskiere; aber ich kenne einen jeden einzelnen genau. Es mag einer nach dem anderen herbeikommen und hier bei mir seine Maske lüften; der Verräter wird auf diese Weise sicher entdeckt und unschädlich gemacht werden. Tretet in geordnete Reihen zusammen, damit kein Irrtum entsteht, mag ein jeder seinen Nachbar beaufsichtigen, daß es dem Fremden nicht gelingt, sich unter diejenigen zu stellen, welche sich hier bei mir als Brüder ausgewiesen haben.“

Infolge dieses Befehls entstand eine Bewegung im Saal, welche dem Deutschen Gelegenheit gab, seinen Vorsatz auszuführen. Während die Anwesenden sich Mühe gaben, in Reih und Glied zu gelangen, erhob er mit einer gedankenschnellen Bewegung den Arm – ein kräftiger Ruck, und der Nagel fuhr aus der Wand. In demselben Augenblick stürzten sämtliche vier Leuchter von der Decke herab auf die Köpfe der darunter Befindlichen.

Die Flammen ergriffen die leichten Kleider der Verletzten, ihre angstvollen Rufe erschollen. Eine ungeheure Verwirrung entstand. Mit den geordneten Reihen war es aus.

„Sauve qui peut – rette sich, wer kann!“ riefen hundert Stimmen.

Bei der Menge der Anwesenden standen diese dicht gedrängt. Diejenigen von ihnen, deren Kleider in Brand geraten waren, brüllten vor Angst und Schmerz; die anderen suchten, aus ihrer Nähe zu kommen, um nicht auch von den Flammen ergriffen zu werden. Man drängte nach der Tür und der Kapitän sah ein, daß Mord und Totschlag entstehen werde, wenn er die Versammlung zwinge, hier zu bleiben. Er rief also dem Posten zu:

„Öffnet den Eingang, rasch, rasch! Der Verräter mag lieber entkommen!“

Die Tür wurde aufgeschlossen, und nun entstand dort ein fürchterliches Gebalge, da ein jeder der erste sein wollte, welcher der Gefahr entrann. Nur einige wenige Besonnene drängten sich zu den Brennenden, um ihnen beizustehen und womöglich die Flammen zu löschen.

Fritz hatte zunächst die Absicht gehabt, sich, sobald die Leuchter stürzten, nach der Tür zu retirieren, durch welche der Alte eingetreten war; er wußte zwar nicht, wohin sie führte, aber sie gewährte wenigstens die Hoffnung auf irgendeinen Rettungsweg; natürlich gab er diese Absicht sofort auf, als er den Befehl des Alten hörte, die Tür zu öffnen. Nun war ja alles gut; nun war ja jede Gefahr vorüber. Er schloß sich also denen an, welche die Kraft ihrer Ellenbogen in Anwendung brachten, um rasch aus dem Saal zu kommen.

Der Kapitän hatte kaum den soeben erwähnten Befehl gegeben, so erhob sich der eine seiner Begleiter und sagte im Ton des Vorwurfes:

„Aber den Verräter sollten Sie auf keinen Fall entkommen lassen!“

Es war die Stimme des alten Grafen Rallion, welcher heute mit Lemarch nach Ortry gekommen war. Der dritte war des ersteren Sohn, der Oberst. Die grauen Schnurrbartspitzen des Kapitäns zogen sich in die Höhe, so daß man sein gelbes Gebiß sehen konnte.

„Keine Sorge!“ antwortete er. „Folgen Sie mir rasch, meine Herren!“

Er sprang, von den anderen beiden gefolgt, zu der hinteren Tür hinaus, die hinter ihnen verschlossen wurde. Jenseits derselben lief ein Gang weiter, aber es führte auch eine schmale Treppe empor. In einer Nische stand eine Lampe. Der Kapitän ergriff sie und eilte die Treppe hinauf. Sie führte zu einer Steinplatte, welche der Alte zur Seite schob. Beim Schein des Lichts sahen die beiden Rallions, daß sie sich in einem öden Gemach befanden, welches drei Fenster hatte, die aber ohne Glas und Rahmen waren. Der Kapitän blies die Lampe aus und sagte:

„Rasch durch das Fenster hinaus in den Hof und nach dem Tor! Wir kommen eher als die anderen. Ich habe ein besonderes Paßwort für den Ausgang; es heißt ‚Buonaparte‘. Jeder, welcher fort will, muß es sagen. Der es nicht weiß, ist der Eindringling. Damit es schneller geht, helfen Sie mir beide!“

Ein Sprung durch das nicht sehr hoch liegende Fenster brachte sie auf den Hof, und eben als die ersten der Verschworenen aus dem Turm traten, hatten die drei das Tor erreicht, wo sie sofort Posten bezogen.

„Halt!“ rief der Alte den herbeiströmenden Männern entgegen. „Ein jeder hat das Ausgangswort einem von uns dreien zu sagen, aber so leise, daß es der Spion nicht hören kann. So fangen wir ihn doch! Vorwärts!“

Fritz befand sich unter den Vordersten. Wäre er jetzt umgekehrt, so hätte er Verdacht erweckt; man hätte ihn sicher sogleich ergriffen. Er griff in die Tasche, zog sein Messer und ließ sich von den hinter ihm Stehenden ganz willig vorwärts schieben. Bereits hatten mehrere das Paßwort gesagt und gehen dürfen, da kam er vor den alten Rallion zu stehen. Er wollte sich an diesem vorüberdrängen, aber der Graf faßte ihn.

„Halt, Mann, das Wort!“ gebot er.

Fritz beugte sich an des Fragenden Ohr, als ob er es ihm zuflüstern wolle, versuchte aber dabei, sich durch einen plötzlichen Ruck loszureißen. Der Graf jedoch hatte Verdacht gefaßt, hielt ihn bei der Bluse fest und rief:

„Das ist er. Haltet ihn – haltet ihn!“

Sein Sohn, der Oberst, streckte sofort beide Hände nach Fritz aus, ließ sie aber mit einem lauten Aufschrei sinken, denn das Messer des Deutschen war ihm quer über das Gesicht gefahren. Ein Stich in die Hand des Grafen zwang auch diesen, die Bluse fahren zu lassen, und somit war Fritz frei. Obgleich sich die Hände aller nach ihm ausstreckten, gelang es doch keinem, ihn wieder zu fassen. Er sprang davon und in den Wald hinein.

„Ihm nach!“ kommandierte der alte Kapitän.

Jetzt war vom Paßwort keine Rede mehr, denn alle stürmten durch das Tor dem Flüchtigen nach. Dieser aber hatte nicht die mindeste Angst vor seinen Verfolgern. Es galt nur, seinen Kräutersack in Sicherheit zu bringen; denn fand man diesen, so konnte leicht erraten werden, wer der Spion gewesen sei. Er sprang also mit weiten Sätzen an der Mauer hin und dann unter die Bäume hinüber, riß den Sack unter der Buche hervor und eilte noch einige Schritte tiefer in den Wald hinein. Dann aber sagte er sich, daß jedes Geräusch die Franzosen nur auf seine Fährte bringen müsse; er kroch also in ein vor ihm liegendes Dickicht hinein und verhielt sich da ganz ruhig.

Er hörte die Schritte der Verfolger und ihre Rufe. Einige Male war man ihm ziemlich nahe, bald aber lag der Wald in scheinbar ununterbrochener Ruhe da. Doch war Fritz vorsichtig genug, in dem einmal eingenommenen Schlupfwinkel zu verharren. Er legte sich den weichen Sack unter den Kopf, streckte sich so bequem aus, als die Sträucher es gestatteten und dachte, seine Lage überlegend:

„Wo bin ich? Was für ein altes Gemäuer ist diese Ruine? Das muß ich wissen. Wenn ich ausreiße und fortlaufe, bis ich aus dem Wald hinauskomme, werde ich nicht wissen, wo ich gewesen bin. Darum bleibe ich liegen bis morgen früh und sehe mir das Ding bei Tageslicht an.“

Er atmete einige Male tief auf und fuhr dann fort:

„Er war eine verteufelte Suppe, die ich mir da eingebrockt hatte. Ich glaube sicher, diese Kerls wären mir ans Leben gegangen. Und was habe ich davon? Nichts, gar nichts. Der Alte hatte ja kaum die Rede angefangen. Hätte er sie vollenden können, so wüßte ich, was man eigentlich bezweckt. Das ist dumm, sehr dumm. Wer muß nur der alte Schnurrbart sein? Zwei sind verwundet, der eine an der Hand, der andere über das Gesicht. Auf diese Weise kann ich beide wieder erkennen. In die Brust wollte ich nicht stechen, denn ein Menschenleben schont man so lange, als es nur immer geht!“ –

Müller hatte während des ganzen Tages an den Maler denken müssen, der so unvorsichtig gewesen war, sich nach dem Rittmeister von Königsau zu erkundigen. Er hatte am Nachmittage mit Alexander einen Spaziergang gemacht und dann das Abendessen allein auf seinem Zimmer verzehrt. Nachdem dies geschehen war, verlöschte er seine Lampe und wartete. Er wußte, daß der alte Kapitän mit den beiden Rallions ausgegangen war und wollte ihre Zurückkunft vorüberlassen, ehe er ausführte, was er sich vorgenommen hatte; denn es galt, von dem Alten nicht überrascht zu werden.

Die Zeit verging, und der Harrende wurde unruhig. Der Kapitän war mit seinen Begleitern nach dem Eisenwerk gegangen; die dort geltende Arbeitszeit war bereits verflossen, und Müller konnte von seinem Fenster aus sehen, daß man alle Lichter verlöscht hatte. Wo blieben die drei Männer? Jedenfalls hatten sie die heimlichen Niederlagen aufgesucht, um sie einer Inspektion zu unterwerfen. Wo aber befanden sich diese Niederlagen? Es gehörte zur Aufgabe Müllers, dies ausfindig zu machen. Aber konnte er es entdecken, wenn er hier sitzen blieb, um die Rückkehr jener zu erwarten? War es nicht vielleicht besser, in den geheimen Gang einzudringen, in welchem sie sich befinden mußten?

Übrigens hatte er sich vorgenommen, den Maler zu belauschen. Er kannte ja die Einrichtung des Zimmers, welches dieser bewohnte; er hatte ja da den Alten beim Mord an dem Fabrikdirektor beobachtet. Vielleicht war es möglich, über die Person und die Absichten dieses sogenannten Herrn Haller etwas Näheres in Erfahrung zu bringen.

Wartete der Deutsche noch länger, so ging jener vielleicht schlafen, und dann war nichts zu erlangen. Er erhob sich also von seinem Sitz, auf welchem er still im Dunkeln gesessen hatte, und lauschte zum Fenster hinaus. Es herrschte überall die größte Ruhe und Stille. Er wagte also, seinen Gang anzutreten.

Vorher traf er dieselben Vorbereitungen wie früher. Er legte den Buckel ab, verkleidete sich und steckte die beiden Revolver und die Blendlaterne in die Tasche. Dann stieg er zum Fenster hinaus, glitt über das Dach und kletterte am Blitzableiter hinab. Als er am Zimmer des Alten vorüberkam, war es in demselben vollständig dunkel.

In demselben Augenblick aber, als Müller den Fußboden erreichte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er drehte sich blitzschnell um und griff nach seiner Waffe.

„Pst, keine Sorge!“ flüsterte es. „Ich tue Ihnen nichts; ich will nur mit Ihnen sprechen.“

„Wer sind Sie?“ fragte Müller.

„Das werden Sie erfahren. Kommen Sie.“

Der Mann sprach nicht den Dialekt der hiesigen Gegend, sondern den des südlichen Frankreichs. Soweit Müller bei der herrschenden Dunkelheit erkennen konnte, trug jener weite Hosen, welche bis an die Knie reichten, eine Jacke, einen Gürtel und auf dem Kopfe einen Fez; er ging also ganz ähnlich wie die Zuaven gekleidet.

„Sind Sie vielleicht Militär?“ fragte Müller.

„In meiner Heimat trägt jeder Mann die Waffe“, antwortete der Fremde.

„Also Zuave oder Türke, nicht wahr?“

„Nein. Aber kommen Sie!“

Müller hielt es für geraten, mit dem geheimnisvollen Mann zu gehen. Wer war es? Was wollte er? Hing seine Anwesenheit mit den Heimlichkeiten dieses Schlosses zusammen? Fast schien es so. Vielleicht konnte man von ihm etwas erfahren.

Der Fremde schritt gerade vom Schloß ab, hinaus nach den Feldern. Dort angekommen, hielt er an einem Rain inne, setzte sich ohne Umstände nieder und sagte:

„Setzen Sie sich; es redet sich so besser!“

Müller folgte dieser Weisung und wartete gespannt auf das, was er hören werde.

„Wer sind Sie?“ fragte der Fremde.

„Warum fragen Sie?“ entgegnete Müller.

„Weil ich wissen muß, wer Sie sind.“

„Vielleicht erfahren Sie es, vielleicht auch nicht. Wer sind denn Sie?“

„Sie erfahren das auch vielleicht. Doch da Sie mir nicht sagen wollen, wer Sie sind, so werden Sie mir wohl sagen, was Sie sind.“

„Unter Umständen werden Sie dies auch erfahren.“

„Ich weiß es bereits.“

„Ah! Nun?“

„Sie sind einer, der in die Fenster anderer Leute steigt, um sich zu holen, was ihm gefällt.“

Ah, dieser Mann hielt den Deutschen für einen Spitzbuben, für einen Einbrecher, weil er gesehen hatte, daß er am Blitzableiter heruntergekommen war, das gab Müller Spaß, und er beschloß, ihn bei diesem Glauben zu lassen.

„Haben Sie etwas dagegen?“ fragte er dann.

„Nein“, antwortete der Fremde. „Sie scheinen ein kühner Mann zu sein.“

„Das bringt mein Handwerk mit sich“, lachte der Deutsche.

„Ich liebe den Mut und die Entschlossenheit. Wissen Sie, daß ich Ihnen sehr schaden kann?“

„Hm! Wieso?“

„Ich könnte Sie festnehmen!“

„Alle Teufel!“

„Und den Diebstahl anzeigen.“

„Sie machen mir Angst.“

„Haben Sie keine Sorge; ich werde es nicht tun, wenn ich sehe, daß Sie dankbar sind!“

Diese Worte wurden in einem Ton gesprochen, welcher Zutrauen erwecken sollte. Müller ging darauf ein und antwortete:

„Wenn Sie schweigen wollen, so dürfen Sie auf mich rechnen.“

„Gut; ich hoffe, daß Sie Verstand haben. Wohnen Sie hier in der Nähe?“

„Ja.“

„Wo?“

„In Ortry.“

„In Ortry selbst? Das ist gut! So kennen Sie auch alle Leute, welche auf dem Schloß wohnen?“

„So ziemlich.“

„Kennen sie auch die Umgegend des Schlosses und eine Ruine, welche man den alten Turm nennt?“

„Ja.“

„So ist alles gut. Sie sind ein Mann, der nicht wählerisch in dem ist, was er tut, wenn es nur etwas einbringt. Wollen Sie sich ein schönes Stück Geld verdienen?“

Müller mußte sich Mühe geben, ein herzliches Lachen zu unterdrücken. Er antwortete:

„Sehr gern. Geld braucht man immer, zumal unsereiner.“

„Nun, ich biete Ihnen für die Arbeit von drei Stunden hundert Franken.“

„Alle Wetter, das wäre ja ganz leidlich bezahlt!“

„Das denke ich auch. Und dennoch biete ich Ihnen noch hundert Franken mehr, wenn Sie noch einen Mann besorgen, auf den man sich verlassen kann.“

„Vielleicht ist es möglich. Nur muß ich wissen, um was es sich handelt.“

„Das sollen Sie hören. Ich wünsche, ein Grab geöffnet zu sehen!“

„Ein Grab?“ fragte der Deutsche, jetzt in Wahrheit überrascht. „Auf dem Kirchhof?“

„Das werden Sie noch erfahren. Vorher muß ich wissen, ob Sie mir dienen wollen und noch einen zweiten Mann mitbringen können.“

„Ja“, antwortete Müller langsam; „was mich betrifft, so fürchte ich mich ganz und gar nicht, ein Grab zu öffnen, und ich wüßte wohl auch einen, der für hundert Franken bereit wäre, das Abenteuer mitzumachen. Ehe ich aber einen festen Entschluß fasse, muß ich natürlich wissen, um welches Grab es sich handelt.“

Er vermutete, es gelte die Öffnung irgendeines Erbbegräbnisses, um die Leiche zu berauben. Ein solcher Vorschlag war sehr leicht möglich, da der Fremde ihn ja für einen Einbrecher hielt. Dieser aber antwortete:

„Wir sprachen von dem alten Turme. Sind Sie einmal dort gewesen?“

„Das versteht sich; ja.“

„Haben Sie bemerkt, daß ein Grab ganz in seiner Nähe liegt?“

„Ja. Es wird, glaube ich, das Heidengrab genannt.“

„So ist es. Wissen Sie auch, wer dort begraben liegt?“

„Gewiß. Die erste Gemahlin des Barons de Sainte-Marie.“

„Nun gut, dieses Grab wollen wir öffnen.“

Müller fuhr erstaunt empor. Das hatte er nicht erwartet. Er fragte schnell:

„Ah, Sie denken, man habe der Baronin Geschmeide oder so etwas mit in die Erde gegeben?“

„Nein. Ich habe eine Absicht auf die Baronin selbst.“

„Was soll das heißen?“

Der Fremde schwieg eine Weile und antwortete dann:

„Ich will die Gebeine der Baronin haben und werde sie mit mir fortnehmen.“

Das war erstaunlich! Wer war dieser Mann? In welchem Verhältnisse stand er zu der Toten, daß er danach trachtete, ihre Überreste zu besitzen? Das Zusammentreffen mit ihm konnte für Müller von außerordentlicher Bedeutung sein. Darum beschloß er, sich ihm willfährig zu zeigen, und antwortete:

„Sie zahlen also zweihundert Franken, wenn ich mich dieser Arbeit unterziehen und noch einen Gehilfen mitbringen werde?“

„Ja. Sobald das Grab geöffnet ist, erhalten Sie das Geld. Wollen Sie?“

Müller reichte ihm die Hand und sagte:

„Ja, ich will.“

„Kann ich mich auf Sie verlassen?“

„Vollständig. Und auf den anderen ebenso, wie auf mich selbst. Zwei verschwiegenere Leute können Sie nicht finden.“

„Nun gut. Wann paßt es Ihnen? Morgen abend wäre mir die liebste Zeit.“

„Mir auch.“

„So kommen Sie eine Stunde vor Mitternacht mit Ihrem Kameraden an das Grab. Ich werde da sein und auf Sie warten. Heben Sie die Rechte empor und schwören Sie, daß Sie mich nicht verraten wollen.“

Es war Müller, als ob er vor einem wichtigen Ereignis stehe. Er war vollständig entschlossen, den Auftrag zu übernehmen. Er selbst hatte ja bereits den Entschluß gefaßt, das Grab zu öffnen, um zu sehen, ob es leer sei oder wirklich eine Leiche enthalte; darum ging er mit vollem Ernst auf das Gebot des Fremden ein. Er erhob die Hand und schwor:

„Ich schwöre Ihnen in meinem Namen und im Namen meines Kameraden, daß wir Sie nicht verraten, sondern Ihnen redlich beistehen werden, Ihre Absicht zu erreichen.“

„Allah akbar! Das ist nicht der Ton eines Spitzbuben und Einbrechers!“ sagte der Fremde. „Ich gewinne Vertrauen zu Ihnen, und will Ihnen nun auch sagen, wer ich bin. Ich bin Abu Hassan, der Zauberer, Direktor einer Künstlerbande, welche morgen in Thionville eine große Vorstellung geben wird.“

„Und warum wollen Sie die Gebeine der verstorbenen Baronin besitzen?“

„Das werde ich Ihnen vielleicht sagen, nachdem ich Sie als treu und verschwiegen erkannt habe. Doch sagen Sie mir auch Ihren Namen und den Ihres Gefährten!“

„Diese beiden Namen werden Sie dann erfahren, wenn auch ich erkannt habe, daß ich mich auf Sie verlassen kann. Sie mögen aus dieser Vorsicht ersehen, daß Sie es nicht mit leichtsinnigen Menschen zu tun haben, sondern sich auf uns verlassen können.“

Abu Hassan nickte mit dem Kopf.

„Vielleicht handeln Sie richtig, vielleicht auch nicht“, sagte er; „aber dennoch werde ich zur bestimmten Zeit am Grab sein. Sollten Sie nicht eintreffen oder mich gar verraten, so haben Sie im letzeren Fall eine schwere Sünde auf Ihrem Gewissen und Allah wird Sie strafen.“

„Hier nochmals meine Hand darauf, daß ich Sie nicht täusche. Wer aber soll das Handwerkszeug besorgen? Sie oder ich?“

„Sie. Ich werde nur den Kasten mitbringen, welcher die Gebeine aufnehmen soll, und gebe Ihnen außerdem zu bedenken, daß ich kein Christ, sondern Moslem bin, der sich verunreinigt, wenn er die Überreste eines Toten anrührt. Ich werde mit graben helfen, aber die Gebeine haben Sie in den Kasten zu tun.“

Der Zauberer griff in seine Tasche und zog einen Beutel hervor.

„Hier gebe ich Ihnen hundert Franken“, sagte er. „Das andere werden Sie erhalten, sobald wir morgen fertig sind.“

Müller schob die mit dem Geld ausgestreckte Hand zurück und entgegnete:

„Behalten Sie für heute die hundert Franken. Ich pflege erst dann den Lohn anzunehmen, wenn ich die Arbeit vollendet habe.“

„Allah il Allah! Sie sind ein ehrlicher Mann, obgleich Sie ein Christ und ein Spitzbube sind. Erst jetzt bin ich überzeugt, daß Sie mich nicht betrügen werden! Gute Nacht!“

„Gute Nacht!“

Der Fremde ging, und Müller blieb zurück, ganz eingenommen von dem Ereignis, welches sich so unerwartet abgespielt hatte. Wer hätte das denken können! Er, der deutsche Edelmann und Offizier, hatte sich von einem herumziehenden Gaukler als Leichenräuber engagieren lassen! Das war ebenso undenkbar, wie es einfach gekommen war.

Natürlich rechnete er in dieser abenteuerlichen Angelegenheit auf die Hilfe seines Dieners, den er jedenfalls bereits morgen am Vormittag benachrichtigen mußte, denn Fritz allein konnte die Vorbereitungen treffen und das notwendige Werkzeug besorgen, ohne Aufsehen und Verdacht zu erregen.

Nun schritt Müller nach dem Park zurück.

Er mußte sich nach dem Häuschen begeben. Dort angelangt, ging er einige Male um dasselbe herum, um sich zu überzeugen, daß sich niemand in demselben befinde. Dann trat er ein, zog die Tür hinter sich zu, brannte die Laterne an, um sich beim Schein derselben zu überzeugen, daß er sich allein befinde, öffnete die geheime Tür, trat zwischen die Doppelwand und verschloß dann den Eingang wieder.

Jetzt stieg er die Treppe hinab und erreichte den Gang. Die linker Hand liegende Tür war fest verschlossen, wie das vorige Mal. Müller schritt also zur rechten Hand in den Gang hinein, steckte aber seine Laterne dabei in die Tasche. Es war ja sehr leicht möglich, daß er sich durch den Schein derselben verraten konnte. Er hatte den unterirdischen Gang genügsam kennengelernt, um zu wissen, daß derselbe keine Gefahr bot, sondern daß man sich nur an der Mauer fortzutasten brauchte, um ohne Schaden in das Schloß zu gelangen.

Freilich kam der Doktor in der Finsternis langsamer vorwärts, als wenn er sich der Laterne bedient hätte, aber die Zeit war ihm doch nicht lang geworden, bis er an der Erweiterung des Ganges bemerkte, daß derselbe zu Ende sei. Jetzt zog er die Laterne hervor und griff zu gleicher Zeit nach der Uhr, um zu sehen, wie die Zeit stehe. Es war gerade Mitternacht.

Da war nun freilich keine große Hoffnung vorhanden, den Maler noch belauschen zu können, da dieser sich jedenfalls bereits zur Ruhe gegeben hatte. Aber dennoch stieg Müller die Treppe hinan, welche er sich von seiner vorigen Exkursion her sehr wohl gemerkt hatte.

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