ZWEITES KAPITEL Waffenprobe

Verfolgt man die Straße, welche von Thionville über Stuckingen nach Südosten führt, so passiert man einige kleine Zuflüsse der Mosel und gelangt unbemerkt auf eine fruchtbare Hochebene, in deren reichen Bodenertrag sich einzelne kleine Dörfer und Meierhöfe teilen. Dort liegt der Weiler Ortry mit einem Schloß, dessen Äußeres allerdings keinen sehr imponierenden Eindruck macht, dessen innere Ausstattung aber desto mehr von dem Reichtum seines Besitzers zeugt.

Dieser ist der Baron von Sainte-Marie. Vor einer nicht zu langen Reihe von Jahren in diese Gegend gekommen, war er den Bewohnern derselben vollständig fremd gewesen, und auch jetzt wußte man weiter nichts, als daß sein Name erst seit einiger Zeit in die Adelsregister aufgenommen worden sei.

Er lebte den Winter über in Paris und kam beim Anbruch des Frühjahres nach Ortry, um bis zum Spätherbst hierzubleiben. Er gab keine Gesellschaften und lebte sehr zurückgezogen, hatte aber auf die Arbeitsverhältnisse der Umgegend einen großen Einfluß gewonnen.

In der Nähe des Schlosses, unten am Bach, wo früher die Rinder geweidet hatten, erdröhnten jetzt die Dampfhämmer; riesige Schornsteine ragten empor, und schwarze Räder drehten sich unter heimtückischem Schnauben im Kreis. Rußgeschwärzte Arbeiter hantierten mit Zange und Feile, und auf dem ganzen Etablissement lag jene mit Ruß und metallischen Atomen geschwängerte Luft, welche eines der unangenehmsten Attribute unseres eisernen Zeitalters ist.

Der Baron von Sainte-Marie betrat diese rauchgeschwärzten Gebäude nur selten selbst. Ein Fabrikdirektor hatte die Aufsicht über alle Arbeiter. Öfters jedoch stieg eine lange, hagere, weißköpfige Gestalt vom Schloß hernieder, um, ohne ein Wort zu sagen, langsamen Schritts die Fabrikräume zu durchwandern, und dann flüsterten die Arbeiter einander warnend zu: „Der Kapitän geht um!“

Dieser Kapitän war der Vater des Barons. Man erzählte sich, daß er bereits neunzig Jahre alt sei; aber seine Haltung war kerzengerade, sein dunkles Auge noch voll Leben und sein Mund noch voll der schönsten Zähne. Diese letzteren bemerkte man, wenn er sich in zorniger Stimmung befand. Er zog dann mit einer fletschenden Bewegung seiner Oberlippe den dicken, schneeweißen Schnurrbart empor, so daß sein starkes, blendendes Gebiß zu sehen war, das demjenigen eines Hundes glich, der sich anschickt, sich auf seinen Gegner zu werfen.

Nie sprach der Kapitän zu einem der Arbeiter ein Wort, nie lobte oder tadelte er; aber man wußte, daß er die eigentliche Seele des ganzen Unternehmens sei. Wenn er an der Werkbank, am Amboß, am Glühofen stehenblieb, dann nahmen sich die Leute doppelt zusammen. Beim geringsten Fehlgriff fletschte er die Zähne, kniff die Augen zusammen und entfernte sich schweigend; doch nach einigen Minuten kam sicher der Werkmeister und sagte sein unwiderrufliches: „Abgelohnt und entlassen!“

Schritt dann der Alte wieder dem Schloß zu, so atmeten die Leute erleichtert auf und schüttelten den Druck ab, welcher während seiner Gegenwart auf ihnen gelastet hatte.

Außer den Besuchen in der Fabrik war er nie zu sehen, obgleich der Oberförster versicherte, ihm des Nachts im Wald begegnet zu sein im tiefsten Dickicht, in der Nähe des alten Turms, welcher dort seit langen, langen Zeiten stand, aber von jedermann gemieden wurde; da man wußte, daß mit den Gespenstern, welche dort hausten, nicht zu spaßen sei. Allerdings gab es einige wenige Männer, welche im stillen über den Aberglauben lachten, in Gegenwart anderer jedoch sich den Anschein gaben, als ob sie denselben teilten.

Seit einiger Zeit hatte sich die Zahl der Arbeiter in der Fabrik vermehrt. Es war eine Abteilung für Feuergewehre errichtet worden. Es langten, man wußte nicht woher, ganze Wagenladungen alter Gewehre an, welchen eine neuere Konstruktion gegeben wurde. Hatten sie diese erhalten, so verschwanden sie, ohne daß die Arbeiter wußten, wer sie abgeholt habe. Dann wurden auch bedeutende Vorräte von Hieb- und Stoßwaffen geschmiedet, und diese Abteilung der Fabrik war es, welcher der alte Kapitän seine besondere Aufmerksamkeit widmete, allerdings auch, ohne jemals den Mund zu einem lauten Wort zu öffnen.

Von seinem Sohn, dem Baron, erzählte man sich heimlich, daß er zuweilen nicht recht bei Sinnen sei. Es solle Zeiten geben, in welchen er sich tagelang eingeschlossen halte, und dann sei in seinen Gemächern ein unterdrücktes Wimmern und Stöhnen zu vernehmen. Dann werde der alte Kapitän gerufen, und nachdem dieser sich stundenlang bei seinem Sohn aufgehalten habe, lasse dieser sich wieder sehen, bleich und angegriffen, als ob er von einer langen, gefährlichen Krankheit erstanden sei.

Der Baron war ein schöner Mann, doch mit jenem geheimnisvollen, wachsartigen Teint, welcher immer auf eine eigenartige, vielleicht gar krankhafte Stimmung der Psyche schließen läßt; sein großes Auge war wie mit Flor bedeckt, und in seinem Auftreten lag eine ängstliche Scheu, deren Grund sich nicht ersehen ließ.

Ganz anders dagegen war seine zweite Frau, die Baronin. Sie war eine hohe, mehr als üppig ausgestattete Blondine, von der man wußte, daß sie das ganze Schloß regiere und sich unter Umständen sogar an den alten Kapitän wage, vor dem sich sonst jedermann fürchtete. Ihr Auftreten war ein anspruchsvolles, zuweilen beinahe rücksichtsloses, obgleich man sich sagte, daß es auch bei ihr Augenblicke gebe, in denen sie sehr leicht zu beeinflussen sei.

Die meiste Sympathie hatte Baronesse Marion sich zu erringen gewußt. Leider aber war sie seit zwei Jahren in England gewesen, und man erfuhr nur ganz zufällig, daß sie in nächster Zeit über Deutschland heimkehren werde.

Im Gegensatz zu ihr war ihr Stiefbruder der Plagegeist aller, welche mit ihm in Berührung kamen. Von seiner Mutter verwöhnt und von seinen bisherigen Erziehern verzärtelt, war er das einzige Wesen, dem der alte Kapitän sein Herz geschenkt zu haben schien. Dieser machte ihn fortgesetzt darauf aufmerksam, daß er der Sohn der Sainte-Maries sei, deren Familie nur auf diesem einen Auge stehe. Der Knabe wurde dadurch stolz, hochmütig, befehlshaberisch und begann, sich für etwas unendlich Höheres und Besseres zu halten, als andere. Seine größte Freude war, Untergebenen und Arbeitern zu zeigen, daß sie ihm in allen Stücken zu gehorchen hätten, und wehe dem, der ihm widersprach; er war von Seiten des Knaben und seiner Eltern der unerbittlichsten Ungnade verfallen.

Es war des Vormittags. Wer an der Tür des Badezimmers der Baronin von Sainte-Marie gelauscht hätte, dem wäre ein leises Plätschern aufgefallen, welches im Innern zu hören war. Und wer das Glück gehabt hätte, eintreten zu dürfen, dem wäre gewiß die laszive Ausstattung dieses Raumes aufgefallen.

Dieses Zimmer hatte nämlich kein Fenster. Es bildete einen achteckigen Raum, dessen eine Wand durch die Tür gebildet wurde. Die anderen sieben Seiten wurden von Gemälden eingenommen, welche in der Weise angelegt waren, daß der Baderaum eine von Weinranken überdachte Insel bildete, um welche badende Frauen und Männer in den obszönsten Stellungen zu erblicken waren. Aus der Mitte des Rankendaches hing eine rosafarbene Ampel herab, welche die drastischen Szenen mit einem wollüstigen Licht übergoß.

Gerade unter dieser Ampel stand eine marmorne Badewanne, welche nicht mit Wasser, sondern mit Milch gefüllt war. Und in diesem weichen, weißen Bad plätscherte die üppige Gestalt der Baronin. Die gnädige Frau behauptete nämlich, daß die Milch das einzige Mittel sei, einen schönen Teint und die Reinheit der Formen bis in das späteste Alter zu erhalten. Und so wurde der bedeutendste Teil vom Ertrag der herrschaftlichen Milcherei für die täglichen Bäder der gestrengen Herrin verwendet, ohne daß der Baron etwas dagegen zu sagen gehabt hätte.

Ob die Ansicht der Baronin richtig war, mag dahingestellt bleiben; gewiß aber ist, daß sie nach dem Bad sich stets in einer besseren Laune als sonst befand. Dies schien auch heute der Fall zu sein. Sie stieg aus der stärkenden Flut und ließ diese langsam abtropfen. Dabei betrachtete sie die Wandgemälde und verglich die Schönheiten der badenden Frauen mit den Reizen, welche sie selbst besaß. Diese Vergleichung schien nicht unbefriedigend ausgefallen zu sein, denn es spielte ein selbstbewußtes Lächeln um ihre vollen, schwellenden Lippen, und sie flüsterte, stolz mit dem Kopf nickend:

„Wahrhaftig, wäre ich ein Mann, so würde ich mich unbedingt in mich selbst verlieben. Ich kenne keine zweite, welche so wie ich geeignet wäre, auch den weitestgehenden Ansprüchen zu genügen. Das tut die Milch. Sie konserviert den weiblichen Körper. Die Milch! Hahaha, dieser Stoff ist mir vertraut. Früher habe ich ihn mit diesen eigenen Händen gemolken, als Dienstmädchen, und jetzt bade ich mich in ihm, als Baronin!“

Sie schlüpfte in das Badehemd und klingelte. Eine Zofe trat ein, um sie zu bedienen. Sie trocknete die gnädige Frau ab, vertauschte das Badehemd mit feiner Leibwäsche und begleitete ihre Herrin sodann nach dem Boudoir, um die eigentliche Toilette zu beginnen.

„Ist Alexander schon wach?“ fragte die schöne Frau.

„Bereits seit zwei Stunden“, antwortete die Zofe.

„Ah, wieviel Uhr haben wir!“

„Elf.“

„So hat er sich bereits um neun Uhr erhoben! Das darf ich nicht dulden. Mein guter Knabe hat keine so eiserne Konstitution wie ein Eisenschmied. Was tut er jetzt?“

„Er befindet sich bei dem gnädigen Herrn Kapitän, der ihm, wie ich glaube, Fechtunterricht erteilt.“

„Fechtunterricht! Einem sechzehnjährigen Knaben! Ich sehe, daß ich mit meinem Herrn Schwiegerpapa wieder einmal ernstlich sprechen muß. Alexander muß sich physisch noch bedeutend entwickeln, ehe er einen Degen in die Hand nehmen darf. Hast du den Direktor bereits gesehen?“

„Nein. Er kommt gewöhnlich erst ein Viertel nach elf.“

„So passe auf. Ich habe ihn zu sprechen, bevor er zum Kapitän geht.“

„Ich werde ihn auf der Treppe erwarten.“

Bei diesen Worten überflog das Gesicht des Mädchens ein impertinentes, vielsagendes. Lächeln, welches die Herrin nicht bemerkte, da die Zofe hinter ihr stand.

Über dem Boudoir der Baronin lag das Lieblingszimmer des Kapitäns. Es war ein dreifenstriger Raum, mit den einfachsten Möbeln ausgestattet. Zwei altmodische Spiegel hingen an den Fensterpfeilern. Stahlstiche der Siege Napoleons des Ersten schmückten die Wände, und dazwischen hingen Waffen aller Art, erbeutete Trophäen und verschiedene andere Andenken an die Märsche und Schlachten, welche der Kapitän unter dem großen Korsen mitgemacht und in denen er mitgefochten hatte. Er war Kapitän der berühmten Garde gewesen, hatte für den Ruhm Napoleons und Frankreichs geblutet und lebte nur der Erinnerung jener großen, ereignisreichen Zeiten. Trotz seines hohen Alters schwärmte er noch heute für die Glorie Frankreichs, hing mit ganzer Seele an dem Namen Napoleon und war bereit, die wenigen Jahre, welche ihm voraussichtlich noch beschieden waren, der Ehre seines Vaterlandes und der Befestigung des Thrones seines Herrschers zum Opfer zu bringen.

Der alte Krieger, den die Last der Jahre nicht zu beugen vermocht hatte, glich einem seit Jahrhunderten in Ruhe liegenden, von Schluchten, Spalten und Rissen tief zerklüfteten Vulkan, zu dessen Spitze man jedoch noch immer mit Mißtrauen emporschaut, da man sich des Gedankens nicht erwehren kann, daß einmal eine Eruption erfolgen könne, bei welcher das so lange Zeit scheinbar schlummernde Verderben desto grimmiger und verheerender hervorbrechen werde.

Und wie sein Körper, so war auch seine Geisteskraft noch ungebrochen. Wie sein Auge, noch vollständig ungetrübt, ebenso in die Ferne zu blicken, wie in der Nähe mit seiner Schärfe alles zu durchdringen vermochte, so waren sein Scharfsinn und seine gute Beobachtungsgabe von allen gefürchtet, die mit ihm in Berührung kamen. Es hatte noch keinen gegeben, der klug genug gewesen war, ihn täuschen zu können. Er war ein harter, strenger, eigenwilliger Kopf. Man wußte, daß er in den Mitteln, seine Zwecke zu erreichen, nicht im mindesten wählerisch sei und sogar gewissenlos sein könne.

Die einzige Schwachheit, welche man an ihm entdeckt hatte, war seine mehr als nachsichtige Liebe zu seinem Enkel, den er auf das Ärgste verwöhnte.

An diesem Morgen war derselbe bei ihm, wie die Zofe ihrer Herrin ganz richtig gesagt hatte. Er hatte ein ganz kleines Weilchen Fechtunterricht gehabt. Der Kapitän war in der Kunst des Fechtens Meister gewesen, und noch heute besaß er genug Muskelkraft des Armes und Schärfe des Auges, um sich mit jedem zu messen, der es wagen wollte, einen Gang mit ihm zu machen.

Nun saßen sie beieinander und sprachen – von dem deutschen Lehrer, welcher nun bald auf Schloß Ortry eintreffen sollte.

„Warum hast du mir denn einen Deutschen ausgewählt, Großpapa?“ fragte Alexander, der bei seinen sechzehn Jahren bereits so entwickelt war, daß man ihn keinen Knaben mehr nennen konnte.

„Aus mehrerlei Gründen, mein Sohn“, antwortete der Alte. „Zunächst zeigten sich deine bisherigen französischen Lehrer in vieler Beziehung zu selbständig; diese Deutschen aber sind gewohnt, zu gehorchen; sie sind die besten, die untertänigsten Dienstleute, weil sie gewohnt sind, keinen Willen zu haben.“

Die Wahrheit war, daß die bisherigen Erzieher Alexanders denn doch in der Vergötterung des Knaben nicht gar zu weit hatten gehen wollen.

„Du meinst also“, sagte dieser, „daß so ein Deutscher ein gutes Spielzeug ist, ein Dienstbote, der sich vor den Franzosen fürchtet?“

„Ganz gewiß. Und ein zweiter Grund ist der, daß diese Deutschen ganz außerordentlich gelehrt sind. Bei deinem neuen Lehrer wirst du in einer Woche mehr lernen als früher in einem Monat.“

„Das heißt ja beinahe, daß die Franzosen gegenüber den Deutschen dumm sind!“

„Nein. Wir sind die Meister im praktischen Leben; sie aber träumen gern; sie hocken über ihren Büchern und wissen vom wirklichen Leben nichts. Dieser Doktor André Müller wird vom Fechten, Reiten, Schwimmen, Tanzen, Exerzieren, Jagen, Schießen, Konversieren und vielen anderen notwendigen Dingen gar nichts verstehen, aber er wird dir von Griechenland, Ägypten und China alles sagen können, obgleich er kaum wissen wird, wie groß Paris ist, und daß wir bei Magenta die Österreicher geschlagen haben. Die Hauptsache ist, daß du bei ihm die deutsche Sprache sehr bald, sehr leicht und sehr vollständig erlernen wirst.“

„Deutsch soll ich lernen?“ fragte Alexander mit Nasenrümpfen. „Warum? Ich habe keine Lust, mich mit der Sprache dieser Barbaren und Büchermilben abzuquälen!“

„Das verstehst du nicht, mein Sohn“, erläuterte der Alte. „Es wird die Zeit kommen, und sie ist vielleicht sehr bald da, daß unsere Adler steigen werden, wie zur Zeit des großen Kaisers. Sie werden über den Rhein hinüber fliegen und Deutschland mit ihren scharfen, siegreichen Krallen ergreifen. Dann werden wir über das Land herrschen, welches einst uns gehörte, uns vom Unglück aber für einige Zeit wieder entrissen wurde. Es wird wieder eine Ära anbrechen, in welcher der Tapfere mit Fürsten- und Herzogtümern, ja mit Königreichen belohnt werden wird, wie Murat und Beauharnais, wie Davoust, Ney und andere Helden, und wer dann die Sprache des Landes versteht, dessen Herrscher er geworden ist, der hat doppelte Macht und Gewalt über seine Untertanen. Du bist ein Sainte-Marie, und du bist mein Enkel. Du sollst und du wirst zu den Tapfersten gehören. Du sollst mit dem Adler Frankreichs fliegen, und deinem Ruhm soll der Lohn werden, welcher mir versagt blieb, weil die englischen Schurken meinen Kaiser in Ketten schmiedeten, auf einem fernen, abgeschlossenen Eiland, wie einen Prometheus, den man nicht zu entfesseln wagt, weil dann die Völker aus Angst vor ihm heulen würden.“

Die Erinnerung an den Ruhm und das Unglück seines Kaisers war in ihm wachgeworden. Er hatte sich erhoben und sprach mit lebhaften Gestikulationen. Seine dunklen Augen blitzen, und bei den Worten, welche sich auf St. Helena bezogen, stieg sein gewaltiger Schnurrbart empor, und seine Zähne zeigten sich, das Gebiß eines Panthers, welcher zum Sprung ausholt.

Da fiel sein Blick zufällig durch das Fenster auf den Weg hinab, welcher von den Eisenwerken nach dem Schloß führte. Seine Oberlippe fiel herab, seine Brauen zogen sich zusammen, und mit völlig veränderter Stimme fuhr er fort:

„Doch davon werden wir später sprechen, mein Sohn. Jetzt gehe hinab und sieh zu, ob der Groom das Pony eingeschirrt hat, um dich spazieren zu fahren.“

Das ließ sich Alexander nicht zweimal sagen; er eilte fort. Der Kapitän aber trat von neuem zum Fenster und heftete seine Augen mit finsterem Ausdruck auf den Mann, der langsam nach dem Schloß herbeigeschritten kam.

Dieser Mann hatte eine hohe, breite, kraftvolle Figur, und die Züge seines Gesichtes konnten interessant genannt werden. Er hielt den Blick scheinbar zu Boden gerichtet, als sei er in tiefes Nachsinnen versunken, aber wer ihn hätte beobachten können, dem wäre aufgefallen, daß sein Auge unter den gesenkten Lidern heraus forschend nach den Fenstern derjenigen Zimmer schielte, welche die Baronin bewohnte.

„Es wird hohe Zeit, dem Spaß ein Ende zu machen“, brummte der Kapitän, indem er das Fenster verließ, um von dem Mann nicht bemerkt zu werden. „Er war außerordentlich brauchbar und hat alles auf das trefflichste arrangiert. Er ist auch bisher verschwiegen gewesen; aber seit neuerer Zeit steigt er mir mit seinen Ansprüchen zu hoch. Ich habe ihm bisher die Baronin überlassen, welche leider meine Schwiegertochter ist; nun aber soll mir die Verirrung der beiden einen Grund liefern, mit ihm fertigzuwerden. Ich werde bei ihm aussuchen, und das wird mir leicht werden, da ich unsere Möbel kenne. Ein Glück ist es, daß noch kein Mensch um das Geheimnis dieses alten Schlosses weiß.“

Er trat an seinen Schrank und öffnete ihn. Er langte zwischen die Kleider hinein, und sogleich ließ sich ein leises Knarren vernehmen – die hintere Wand des Schranks wich zurück. Er trat in den Schrank, verriegelte die Tür desselben hinter sich und stieg in die entstandene Öffnung. Es zeigte sich, daß das Schloß hier, vielleicht auch in anderen Teilen, doppelte Wände hatte, zwischen denen man aus einem Stockwerk in das andere und von dem einen Zimmer in das andere gelangen konnte, um durch geheime Öffnungen die Insassen dieser Zimmer zu beobachten und zu belauschen.

Eine schmale, den ganzen, vielleicht zwei Fuß breiten Zwischenraum ausfüllende Treppe führte zwischen der Doppelwand abwärts. Der Alte schien den Weg sehr gut zu kennen. Er stieg trotz des Dunkels, welches hier herrschte, mit großer Sicherheit hinab und blieb an einer Stelle stehen, welche er vorsichtig mit der Hand betastete.

Es gab hier einen lockeren Ziegelstein, welcher sehr leicht aus der Mauer zu ziehen war. Als der Kapitän dies getan hatte, ohne dabei das leiseste Geräusch zu verursachen, erschien eine mattgeschliffene Glastafel. Diese war im Boudoir der Baronin ganz oben unterhalb der Decke angebracht und hatte so genau die Breite und auch ganz die Zeichnung der dort befindlichen Kante, daß man ihre Anwesenheit gar nicht bemerken konnte. Aber das eingeschliffene Muster bildete durchsichtige Stellen, durch welche man sehr leicht das Boudoir zu beobachten vermochte, und durch die dünne Glastafel konnte man auch die dort geführte Unterhaltung vernehmen, falls sie nicht im Flüsterton geführt wurde.

Der Alte brachte seinen Kopf an die Öffnung und blickte hinab. Die Baronin saß ihm gerade gegenüber auf einer Ottomane. Sie trug ein dünnes weißes, von rosaseidenen Schleifen zusammengehaltenes Morgenkleid; doch waren die Schleifen so nachlässig zusammengezogen, daß zwischen den beiden Säumen des Kleides die feine Stickerei des Hemdes hervorblickte. Da dieses Hemd tief ausgeschnitten war und unten nicht durch ein gewöhnliches Korsett, sondern durch ein schmales, dünnes und nachgiebiges orientalisches Mieder unterstützt wurde, so glänzte durch die Spalte der Alabaster der Büste hervor, ein Umstand, der außerhalb aller Berechnungen schien, aber doch das Ergebnis eines sehr bewußten Raffinements war.

Vor ihr stand der Mann, dessen Kommen der Kapitän beobachtet hatte. Es war der Fabrikdirektor, welcher von der Zofe auf der Treppe erwartet und zu ihrer Herrin geschickt worden war. Er hielt unter dem Arme ein ziemlich umfangreiches Buch, nach welchem die verführerische Frau soeben ihre Hand ausstreckte.

„Aber bitte“, sagte sie, „legen Sie doch diesen häßlichen Band ein wenig fort, und setzen Sie sich an meine Seite.“

„Verzeihung, teure Adeline“, antwortete er, „ich darf mich nicht verweilen. Ich muß zum Kapitän. Vielleicht hat er mein Kommen durch das Fenster bemerkt und schöpft Verdacht, wenn ich zu erscheinen zögere.“

„Der häßliche Alte!“ seufzte sie, indem sie einen verzehrenden Blick auf den Direktor warf.

„Auch mir wird er immer unbequemer. Nicht nur, daß er der einzige ist, dessen Scharfsinn das stille, heimliche Glück unserer Liebe in Gefahr bringt, er weiß auch gar nicht, Verdienste anzuerkennen. Hielten Sie mich nicht hier fest, so würde ich mein Engagement längst aufgegeben haben.“

„Ah!“ dachte der Lauscher. „Es wird also Zeit, nachzuforschen, ob ich mich wirklich auf ihn verlassen konnte.“

„Tun Sie das nicht“, fiel sie schnell ein. „Ich würde mich hier ganz unglücklich fühlen. Aber es ist wahr, Sie dürfen ihn nicht warten lassen. Meine Sehnsucht nach Ihnen kann ja auf andere Weise gestillt werden. Sind Sie heute abend frei?“

„Ja, aber allerdings erst spät.“

„Wieviel Uhr?“

„Von zehn Uhr an, teure Adeline.“

„So werde ich um diese Zeit das Schloß verlassen und nach der Parkwiese kommen. Können Sie mich dort erwarten?“

„Es wird mir eine Seligkeit sein, Sie dort zu treffen.“

„So gehen Sie jetzt, Sie lieber, lieber Mann!“

Er ergriff ihre Hand, um einen Kuß auf dieselbe zu drücken; sie aber hob den Kopf und bot ihm ihre Lippen dar. Der für die Hand bestimmte Kuß traf den Mund, und dann verließ der Direktor das Boudoir.

Als er bei dem Kapitän eintrat, fand er diesen bei einer Menge von Skripturen an dem Arbeitstische sitzen.

„Sie kommen, den Tagesbericht abzugeben?“ fragte der Alte, ohne sich zu erheben.

„Allerdings, Herr Kapitän“, lautete die Antwort.

„Ich habe heute nicht viel Zeit. Gibt es etwas Aufschiebbares?“

„Haus Monsard und Kompanie hat Geld geschickt.“

„Endlich. Wieviel?“

„Zwölftausend Francs. Ebenso Léon Siboult achttausendfünfhundert.“

„Das freut mich. Haben Sie die beiden Summen mit?“

„Ich wollte sie aufzählen.“

„Das hat Zeit bis morgen. Vielleicht ist ein Teil dieser Summe dazu bestimmt, Ihnen zu beweisen, daß ich Ihre Wirksamkeit anerkenne. Aber sprechen Sie heute mit niemand davon. Morgen werden wir uns einigen. Adieu!“

Der Direktor hätte gern einige dankbare Worte ausgesprochen; aber er kannte seinen Gebieter. Hatte dieser einmal ‚Adieu‘ gesagt, so konnte ihn jedes weitere Wort nur in den Harnisch bringen. Darum begnügte der Beamte sich damit, unter einer tiefen Verneigung abzutreten. Während er die Treppe hinunterstieg, dachte er:

„Wußte ich das, so konnte ich der Baronin noch ein Viertelstündchen widmen. Wer weiß, ob sie sich heute abend wieder in einer solch liebevollen Stimmung befinden wird!“ –

Alexander hatte die Weisung seines Großvaters befolgt und war nach dem Stall gegangen. Dort war der Groom beschäftigt gewesen, das Pony vor den leichten Wagen zu spannen, um den jungen Herrn auszufahren, was täglich um diese Zeit zu geschehen pflegte. Als das Gespann bereit war, wollte der Kutscher auf den Bock steigen, aber Alexander hielt ihn zurück.

„Halt, steige in den Wagen; ich werde selbst fahren!“

„Aber, gnädiger Herr Alexander, das haben Sie ja noch nicht gelernt!“

„So werde ich es heute lernen.“

Der Groom wußte, daß hier ein fernerer Widerspruch vergebens sein werde. Er gehorchte also und setzte sich in den Wagen, während Alexander die Zügel und die Peitsche ergriff, und auf dem Bock Platz nahm. Das Pferd setzte sich in Bewegung. – – –

Zu derselben Zeit saß im Wirtshause des Dorfes Oudron ein Mann, der in einen langen Frack gekleidet war, eine große Messingbrille trug und auf dem Rücken – ausgewachsen war. Es war Doktor Müller. Er war in diesem Augenblick der einzige Gast, und die Wirtin hatte sich zu ihm gesetzt, um sich ein wenig von der anstrengenden Küchenarbeit auszuruhen. Sie schien eine sehr redselige Frau zu sein, denn sie hatte seit zehn Minuten dem Gast bereits ihren ganzen Lebenslauf erzählt und ihn auch mit den Familiengeheimnissen des Dorfes bekannt gemacht. Jetzt nahm sie ihn schärfer auf das Korn und fragte:

„Wie mir scheint, sind Sie fremd hier, Monsieur?“

„Vollständig“, antwortete Müller.

„Wohin wollen Sie?“

„Nach Ortry.“

„Ah, das ist ja mein Geburtsort. Haben Sie vielleicht Verwandte dort?“

„Nein. Ich komme von sehr weit her. Ich bin ein Deutscher.“

„Unmöglich!“ rief sie. „Sie sprechen ja das Französisch so geläufig und regelrecht, daß man meinen sollte, Sie seien auch in Ortry geboren.“

Er unterdrückte das Lächeln, welches auf die Lippen treten wollte. Diese gute Frau schien der Meinung zu sein, daß in Ortry das beste Französisch gesprochen werde, und doch war ihre Sprache schwerfällig und mit einer ganzen Menge von Germanismen gespickt.

„Ich habe einen guten Franzosen als Lehrer gehabt“, erklärte er.

„Der ist sicher aus Ortry oder aus der hiesigen Gegend gewesen“, meinte sie. „Werden Sie längere Zeit dort bleiben?“

„Voraussichtlich, Madame. Ich begebe mich zum Baron de Sainte-Marie, bei welchem ich als Erzieher seines Sohnes engagiert bin.“

„Mein Gott, Sie Ärmster!“ rief sie. „Da werden Sie harte Arbeit haben.“

„Warum?“

„Weil Monsieur Alexander bisher alle Monate einen anderen Erzieher gehabt hat. Es konnte keiner länger aushalten!“

„Sie eröffnen mir da eine schlimme Perspektive. Wer trägt denn eigentlich die Schuld, daß die Herren so bald wieder fortgegangen sind?“

„Alle, nur diese Herren selbst nicht. Oh, die frühere Herrschaft, das war doch etwas ganz anderes! Ich bin da selbst Stubenmädchen gewesen, ehe ich meinen ersten Seligen kennenlernte.“

„Ah, Sie haben mehrere Selige, Madame?“ fragte Müller.

„Zwei. Und vom dritten habe ich mich scheiden lassen. Sie müssen nämlich wissen, daß dies geschehen konnte, weil ich nicht katholisch bin. Also, Monsieur, ich bin auf Schloß Ortry Zimmermädchen gewesen und bedaure, daß dieses Besitztum in solche Hände geraten ist. Ich sollte Ihnen dies allerdings nicht sagen, da Sie ja selbst ein Bewohner des Schlosses sein werden; aber ich kann mir nicht helfen. Ich kann diese Barons einmal nicht ausstehen.“

„Warum, Madame?“ fragte Müller, dem es sehr gelegen kam, hier etwas Näheres über seinen Bestimmungsort zu erfahren.

„Warum? Mein Gott, da gibt es eine ganze Menge Gründe. Fangen wir einmal von oben an! Da ist zunächst dieser Kapitän –“

„Ein Kapitän? Wer ist das?“

„Wer das ist? Ja, so, Sie sind dort noch unbekannt! Der Kapitän ist der Vater des Barons, ein Veteran der Napoleonsschlachten im Alter von wohl neunzig Jahren. Er ist ein Satan, ein Teufel, ein Beelzebub. Er hat weißes Haar, aber ein schwarzes Herz. Er spricht niemals ein Wort und übt doch eine Herrschaft aus, als ob er den Mund nicht einen Augenblick halten könne. Er ist es auch, der das große Eisenwerk regiert, und wer es mit ihm verdirbt, um den ist es geschehen. Ferner die Baronin.“

Die Wirtin machte hier eine Pause, um Atem zu schöpfen, dann fuhr sie fort:

„Von der Baronin sagt man im stillen, daß sie eine Bauernmagd aus dem Argonner Wald sei. Sie hält sich für ungeheuer schön und soll in Paris etliche hundert Anbeter haben. Sie putzt sich den ganzen Tag, trägt sich wie ein junges Mädchen und knechtet die Dienstboten. Nur für den alten Kapitän hegt sie eine Art von Respekt, im übrigen aber ist sie die Herrin des Hauses.“

„Und der Baron selbst?“

„Oh, der gilt gar nichts! Er ist ein guter Kerl, der sich alles gefallen läßt, und zuweilen soll er im Kopf nicht ganz richtig sein. Dann schließen sie ihn ein, und man sagt, daß er zu solchen Zeiten sogar Schläge erhält, denn man hat ihn ganz erbärmlich klagen und winseln gehört. Diese Anfälle kommen nur im Sommer, eigentümlich! Im Winter lebt er mit der Baronin in Paris, und da soll er ganz gesund im Kopf sein. Ferner ist da der junge Herr, der Alexander.“

„Das ist der Sohn, dessen Lehrer ich sein werde?“

„Ja, denn es ist weiter kein Sohn vorhanden. Der ist kaum sechzehn Jahre alt und hält sich doch bereits für einen großen Herrn. Lernen will und mag er partout nichts. Sie können sich die größte Mühe geben, so ist es doch umsonst. Ich weiß gewiß, daß Sie bei mir einkehren werden, nämlich auf der Rückreise nach Ihrer Heimat. Ich kann nicht begreifen, daß Sie engagiert worden sind, da sämtliche Bewohner des Schlosses Deutschland hassen. Es ist überhaupt für Sie hier eine gefährliche Gegend. Die Deutschen sind hier nicht gern gelitten. Man spricht sogar von einem Kriege mit da drüben und –“

Sie hielt inne, als ob sie zuviel gesagt habe.

„Nun, und?“ fragte er.

„Oh, es ist nicht meine Art und Weise, das zu wiederholen, was meine Gäste sprechen. Ich in Ihrer Stelle würde mich nicht allzu lange in dieser Gegend verweilen.“

„Waren das alle Personen, von denen zu sprechen war, Madame?“

„Ich könnte vielleicht noch das gnädige Fräulein erwähnen, aber sie ist längere Zeit nicht anwesend gewesen. Sie ist in England. Man sagt, daß sie der Liebling des Vaters sei, während sie von ihrer Stiefmutter gehaßt werde. Sie ist eine gute Dame, nicht stolz, gar nicht. Sie besucht die Armen und Kranken und hilft, wo sie nur helfen kann. Ihre Mutter soll ein Engel an Schönheit, Güte und Milde gewesen sein. Sie ist an gebrochenem Herzen gestorben; warum, das weiß man nicht. Man hat sie hart an der Mauer des alten Turms begraben, weil sie eine Heidin war.“

„Eine Heidin, wie meinen Sie das?“

„Nun, der Baron hat sie von sehr weit hergebracht, von dort, wo es Tiger und Löwen gibt. Sie hat keine Christin werden wollen, und darum ist ihr auch die geweihte Erde versagt worden. Nun liegt sie im Wald begraben und geht des Nachts im alten Turm um.“

„Ah! Hat man sie vielleicht gesehen?“ fragte Müller.

„Gesehen? Ob man sie gesehen hat!“ rief die Frau, ganz erstaunt über eine solche Frage. „Gesehen und gehört hat man sie! Sie geht durch den Wald, im weißen Kleid, wie sie auch früher stets gegangen ist, und hundert Irrlichter tanzen um sie her. Dann verschwindet sie im Turm und erscheint oben auf der Zinne desselben. Und wenn sie da fort ist, dann hört man unter der Erde ein Klirren und Klingen, als ob tausend Geister mit Ketten rasselten. Es wagt kein Mensch, des Nachts zum Turm zu gehen.“

„Wenn niemand hingeht, wer hat dann diese Erscheinungen beobachtet?“

„Der vorige Förster. Als er angestellt wurde, war er ein junger, mutiger Mann; er glaubte nicht an Geister und Gespenster und schlich sich in den Wald, um die Erscheinungen zu untersuchen. Er hat nach den Lichtern geschossen, aber nichts getroffen. Er wurde darauf entlassen, weil er die Ruhe der seligen Baronin entweiht hat.“

Müller schüttelte den Kopf. Diese Erzählung war jedenfalls nicht ganz aus der Luft gegriffen; etwas Wahres mußte daran sein, wenn auch der Kern in Dichtung eingehüllt war. Es schien ihm ganz so, als ob er einer höchst interessanten Zukunft entgegengehe.

Die Wirtin kehrte, nachdem sie ihrer Redseligkeit Genüge getan hatte, nach der Küche zurück, und Müller brach auf, um nach Ortry zu wandern.

Die Sonne schien warm vom Himmel herab, und darum schritt der Doktor nur langsam vorwärts. Es war ihm keine Zeit gestellt und so blieb es sich ja ganz gleich, ob er eine Stunde früher oder später an seinem Bestimmungsort anlangte.

Er kannte die Richtung, in welcher dieser liegen mußte, und er hielt dieselbe ein, ohne sich nach dem eigentlichen, richtigen Weg zu erkundigen. Es liegt etwas Verführerisches darin, den Schritt ganz nach dem Gutdünken lenken zu können, und Müller gab diesem Reiz zur Genüge nach, so daß er schließlich bemerkte, daß sich der Weg, dem er bisher gefolgt war, in einem Wäldchen verlief.

Ohne sich Sorge zu machen, schlenderte er durch dasselbe hindurch, schritt über eine Wiese hinüber und gelangte an einen großen Steinbruch, dessen hohe, steil emporsteigende Wände ihm ein unüberwindliches Hindernis entgegenstellten. Darum kletterte er an der Seite des Bruches empor und wunderte sich, daß der Rand dieses gefährlichen Abgrundes nicht mit einer Barriere versehen war. Da oben lagen Felder, welche hart an die scharfe Kante der Felsen heranreichten. Wie nun, wenn beim Ackern oder Eggen ein Pferd scheu wurde und den Mann samt dem Geschirr da hinunter in die gähnende Tiefe riß?

Er war sich dieses schwindelerregenden Gedankens kaum bewußt geworden, so stieß er einen Ruf des Schreckens aus. Ein lauter Schrei hatte ihn veranlaßt, seitwärts hinüber zu blicken, wo Arbeiter auf einem Feld beschäftigt waren. Von dort her kam ein kleiner, leichter Wagen, vor welchen ein Pony gespannt war, in voller Karriere herangesaust. Ein Knabe saß auf dem Bock; er hatte die Zügel verloren und hielt sich krampfhaft fest, um nicht herabzufallen.

Das Pferd galoppierte gerade auf den Steinbruch zu. Es war verloren: es konnte nicht aufgehalten werden; keine Menschenkraft war stark genug, den Galopp des Tieres zu mindern, bevor es den Abgrund erreichte. Müller versuchte es dennoch. Er sprang am Rand des Felsens entlang, aber er hatte nicht die Schnelligkeit des Pferdes. Noch war es höchstens zehn Schritte vom Abgrund entfernt, da erreichte er den Wagen, dem er schräg entgegengeflogen war. Konnte denn nicht wenigstens der Knabe gerettet werden? Müller hatte seine Kaltblütigkeit keinen Augenblick verloren. Er stemmte sich mit dem einen Fuß fest, und während der Wagen an ihm vorübersauste, streckte er den Arm nach dem Bock aus, faßte den Knaben, der mit vor Angst weit offenen Augen in die Leere starrte, und riß ihn herab. Im nächsten Augenblick flogen Pferd und Wagen in einem weiten Bogen über die Kante des Abgrundes hinaus und in die Tiefe hinab, wobei Müller nun erst bemerkte, daß sich noch eine menschliche Gestalt im Wagen befand, welche sich vor Schreck auf dem Boden zusammengekauert hatte. Von unten herauf erscholl ein dumpfer Krach; dann war alles vorbei.

Der Knabe lag ohnmächtig am Boden. Seiner feinen Kleidung nach war er jedenfalls das Kind nicht gewöhnlicher Eltern. Während Müller sich um ihn bemühte, kamen die Feldarbeiter herbei, deren Ruf ihn erst aufmerksam gemacht hatte.

„Welch ein Glück, daß Sie ihn herunterrissen!“ rief der eine bereits von weitem. „Es ist der junge Herr!“

„Welcher junge Herr?“ fragte Müller.

„Der Herr Baron.“

Die Leute bückten sich zu Alexander nieder; sie mochten ihn für tot halten.

„Er lebt“, meinte Müller. „Er ist nur ohnmächtig. Welchen Baron meinen Sie?“

„Den Baron von Sainte-Marie. Ah, das wird eine gute Belohnung geben. Greift zu, damit wir ihn auf das Schloß schaffen!“

Sie faßten an und trugen den Knaben fort. Müller ließ sie gehen; er lächelte darüber, daß sie um des Lohnes willen sich gar nicht um sein besseres Recht bekümmerten. Er kehrte um und stieg wieder in den Steinbruch zurück. Als er da unten ankam, bot sich ihm ein schauderhafter Anblick. Der Wagen lag, in kleine Stücke zerschmettert, auf dem toten Pferd, welches eine weiche, formlose Masse bildete, und ein Stück weiter hin lag der Groom, ebenfalls bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Hier war nichts zu tun. Müller brauchte sich um eine Anmeldung und weitere Verfolgung des Falles nicht zu bekümmern; er wußte, daß dies von anderer Seite geschehen werde, und schlenderte also Ortry langsam entgegen. –

Dort war mittlerweile die Zeit des zweiten Frühstückes angebrochen, und die Glieder der Familie waren im Speisesaale an der Tafel versammelt. Es war bei dieser Gelegenheit recht deutlich zu sehen, daß diese Leute in keinem innigen seelischen Zusammenhang miteinander standen. Die einzelnen Personen kamen ganz nach Belieben herbei und nahmen mit einem stummen Gruß an der Tafel Platz. Die Baronin präsidierte; der Kapitän beachtete sie kaum mit einem Blick, und der Baron saß wie abwesend dabei und aß mit einem Gesichtsausdrucke, als wisse er überhaupt gar nicht, daß und was er esse. Nur nach längerer Zeit, als der junge Herr sich noch immer nicht eingestellt hatte, fragte der Kapitän:

„Wo bleibt Alexander?“

„Der junge gnädige Herr ist ausgefahren“, antwortete einer der Diener.

Nun folgte wieder dieselbe Stille und Wertlosigkeit wie bisher, bis man an den Schluß des Frühstücks angekommen war. Da vernahm man unten vom Hof herauf laute, erschrockene Stimmen. Der Kapitän trat an das Fenster und sah nur noch einige fremde Leute, welche, etwas tragend, im Eingang verschwanden.

„Was ist's?“ fragte die Baronin, indem sie sich erheben wollte.

„Warten Sie, ich werde nachsehen!“ sagte der Alte, dem eine Ahnung kam, daß die Last, welche diese Leute getragen hatten, eine menschliche Person gewesen sei.

Er schritt hinaus und begegnete ihnen auf der Treppe. Als sie ihn erblickten, hielten sie respektvoll an. In Gegenwart dieses Mannes wagte keiner, unaufgefordert ein Wort zu sprechen. Der Kapitän trat hinzu und erkannte Alexander. Seinen Liebling tot oder besinnungslos zu sehen, kam ihm unerwartet und mußte ihn tief ergreifen; aber es zuckte dennoch keine Miene seines eisernen Gesichts, als er in ruhigem Ton fragte:

„Was ist mit ihm?“

„Er ist nicht tot, gnädiger Herr“, sagte einer von den Leuten, „sondern nur ohnmächtig. Der Fremde sagte es, der ihn untersucht hatte.“

„Welcher Fremde?“

„Der ihn vom Wagen riß, als das Pferd durchgegangen war und mit dem Wagen in den Steinbruch stürzte.“

Des Alten äußere Augenwinkel legten sich nach den Schläfen hin in tiefe Falten, dies war das einzige Zeichen seines Schrecks. Er drehte sich zu einem der dabei stehenden Reitknechte und befahl diesem:

„Anspannen! Im Galopp nach Thionville, um Doktor Bertrand zu holen!“

Dann ließ er sich den Fall ausführlich erzählen. Er fragte, wer der Fremde gewesen sei, konnte aber keine Auskunft erhalten. Die Leute hatten den Mann, um nur mit dem jungen Herrn so eilig wie möglich fort zu kommen, gar nicht so genau betrachtet.

„Er wird sich jedenfalls melden“, brummte der Kapitän. „Eine Belohnung läßt sich keiner entgehen. Folgt mir!“

Er ließ Alexander einstweilen nach dem nächsten Raum tragen. Es war der Empfangssalon. Dann kehrte er nach dem Speisesaal zurück und sagte in gleichgültigem Ton:

„Alexander ist unwohl.“

„Unwohl?“ fragte die Baronin schnell. „Was fehlt ihm?“

„Er hat ein kleines Malheur gehabt. Das Pferd ist ihm durchgegangen.“

„Oh, mein Gott!“ rief die Dame, vor Schreck emporspringend.

„Und in den tiefen Steinbruch da unten gestürzt. Jedenfalls sind Pferd und Wagen vollständig zerschmettert“, fuhr er fort.

Sie mußte sich am Tisch anhalten, sonst wäre sie vor Schreck umgesunken.

„Und Alexander, mein Kind, mein Sohn?“ fragte sie todesbleich.

„Er ist gerettet. Leute brachten ihn. Er liegt im Empfangszimmer.“

Sie nahm sich zusammen und wankte nach der Tür. Der Alte folgte ihr. Auch der Baron verließ seinen Sessel, strich sich über die wächserne Stirn, als ob er sich erst besinnen müsse, wer dieser Alexander eigentlich sei, und ging den Vorausgegangenen dann langsamen Schrittes nach.

Der Knabe lag ausgestreckt auf dem Diwan. Er hielt die Augen geöffnet. Die Besinnung schien ihm zurückzukehren. Die Feldarbeiter standen noch an der Tür. Der Kapitän entließ sie, nachdem er sie beschenkt hatte.

Die Baronin kniete vor dem Diwan nieder, nahm den Kopf ihres Sohnes in den Arm und betrachtete den Ohnmächtigen schluchzend. Der Alte ergriff ihn bei der Hand, um nach dem Puls zu fühlen, und Herr de Sainte-Marie stand vor einem Bild und hielt den Blick so starr und nachhaltig auf dasselbe gerichtet, als ob es sonst keinen Gegenstand geben könne, der seine Aufmerksamkeit in Anspruch nähme. Es war sicher, daß er geistig gestört war.

„Mama, liebe Mama!“ flüsterte da endlich die Stimme des Erwachenden.

„Mein Sohn, mein Alexander!“ rief sie. „Wie befindest du dich?“

„Ich bin sehr matt; aber es war auch gar zu schrecklich!“

„Wir werden dich nach deinem Zimmer schaffen.“

„Nein“, bat er. „Ich will nicht fort; ich bin müde; ich muß schlafen!“

Er schloß die Augen wieder. Die Baronin erhob den tränenvollen Blick und sah den Kapitän fragend an. Dieser nickte zustimmend, daß der Knabe liegen bleiben solle. Der Baron trat jetzt langsam hinzu, ließ seine Augen irr über den Daliegenden schweifen und sagte dann mit einem matten Lächeln:

„Alexander!“

Dann drehte er sich um und schritt zur Tür hinaus. Die beiden anderen setzten sich an dem Diwan nieder, um die Ankunft des Arztes zu erwarten. Sie liebten den Knaben, dies war aber auch die einzige Harmonie, welche es zwischen ihnen gab. Sie haßte den Kapitän, und er verachtete sie. Sie wußten dies gegenseitig, sie verhehlten es sich nicht. Der in Apathie versunkene Baron, der sein Sohn und ihr Gemahl war, konnte nicht als aussöhnendes Medium gelten, und da die Dienerschaft dies ebensogut wußte, wie die Herrschaft selbst, so war es allen ein Rätsel, aus welchem Grund der Alte eigentlich zugegeben hatte, daß die Baronin Gemahlin seines Sohnes werde.

Endlich nahten Schritte, und der Arzt trat ein; aber es war nicht Doktor Bertrand, sondern ein anderer, den der Kapitän wohl kannte, aber noch nicht bei sich gesehen hatte.

„Warum kommen Sie?“ fragte der Alte im rücksichtslosen Ton. „Ich habe nicht nach Ihnen, sondern nach unserem Hausarzte geschickt.“

„Verzeihung, Herr Kapitän, gnädige Frau“, entschuldigte sich der Arzt. „Doktor Bertrand ist verreist und hat mich gebeten, ihn nötigenfalls zu vertreten.“

„Wann kommt er zurück!“

Der Gefragte zuckte die Achseln und antwortete:

„Es fragt sich leider sehr, ob er überhaupt wieder zurückkehren wird. Vielleicht ist er tot.“

„Tot? Wieso?“

„Ertrunken meine ich, gnädiger Herr. Die heutigen Morgenblätter bringen die schreckliche Nachricht, daß der gestrige Moseldampfer unterhalb Thron mit Mann und Maus untergegangen ist. Es hat ein schreckliches Unwetter, einen in dieser Stärke noch gar nicht dagewesenen Orkan gegeben, während dessen der Dampfer mit einem Floß kollidierte. Ich weiß genau, daß Doktor Bertrand auf diesem Dampfer zurückkehren wollte.“

Da stand der Kapitän von seinem Stuhl auf, trat auf den Arzt zu und fragte mit einer Stimme, der man doch ein leises Beben anhören konnte:

„Ist dieses Unglück wirklich ein Faktum? Ist die Nachricht verbürgt?“

„Ja. Die jenseitige Behörde fordert bereits zu Sammlungen für die Hinterbliebenen der Verunglückten auf.“

„Dann haben Sie uns eine schlimme Nachricht gebracht. Meine Enkelin, Baronesse Marion, hat sich auch auf diesem Dampfer befunden. Ich erhielt gestern von Koblenz aus ihren Brief, in welchem sie mir dies mitteilte, um mir ihre Ankunft für den heutigen Tag zu melden.“

Der innere Zusammenhang fehlte den Bewohnern von Schloß Ortry so sehr, daß der Alte den Inhalt des Briefes gar niemand mitgeteilt hatte. Kam Marion, so war sie einfach da; das war aber auch alles. Die Baronin hörte also jetzt das erste Wort davon. Sie zuckte zusammen, gab sich aber Mühe, ihre Gefühle zu verbergen, und fragte im Ton der Besorgnis:

„Wie? Unsere liebe Marion befand sich auf dem verunglückten Schiff? Mein Heiland, zwei Unfälle auf einmal! Wer soll dies ertragen!“

Sie schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und gab sich den Anschein, als ob sie weine. Der Kapitän wandte sich zu ihr um und sagte:

„Verlieren wir die Hoffnung nicht, Frau Tochter! Es ist ja noch immer die Möglichkeit vorhanden, daß einige gerettet worden sind, oder daß ein glücklicher Zufall sie abgehalten hat, dieses Dampfschiff zu besteigen. Untersuchen Sie den Knaben, Doktor!“

Seine Worte hatten, der Gegenwart des Arztes wegen, einen ergriffenen, teilnahmsvollen Ton; in seinem Blick jedoch lag ein Ausdruck, welcher deutlich sagte, daß er sehr wohl wisse, daß jene sich innig freuen würde, ihre Stieftochter unter den Toten zu wissen.

Der Doktor näherte sich nun dem Diwan, um Alexander zu untersuchen, wobei ihm der Alte den Hergang mit kurzen Worten erzählte.

„Es hat nichts zu sagen“, erklärte der Arzt dann. „Der junge Herr ist völlig unverletzt. Er wird sich bei einiger Ruhe schnell erholen. Vielleicht haben Sie die Güte, nach Thionville wegen der Arznei zu senden, welche ich verschreiben werde. Ich wünsche von Herzen, daß die gnädige Baronesse sich ebenso aus aller Gefahr befinden möge, wie dieser Patient.“

Er schrieb ein Rezept, übergab dasselbe und empfahl sich dann. Er hatte den Salon kaum verlassen, so trat mit leisen Schritten ein Diener ein.

„Was gibt es?“ fragte der Kapitän.

„Der neue Erzieher ist soeben angekommen, gnädiger Herr, und hat mich gebeten, ihn anzumelden.“

„Ah! Was ist er für ein Mann? Wie präsentiert er sich?“

Der Diener zuckte mit einem leisen, zweideutigen Lächeln die Achseln und schwieg.

„Ich verstehe“, meinte der Alte. „Wenn er mir nicht paßt, jage ich ihn wieder fort. Er mag eintreten, obgleich wir eigentlich nicht in der Lage sind, ihn hier und jetzt zu empfangen. Aber auf einen deutschen Schulmeister braucht man keine Rücksicht zu nehmen. Sage ihm, daß sich ein Patient hier befindet. Der Mann mag leise eintreten.“

Der Diener entfernte sich und ließ Müller ein, nachdem er ihm die soeben erlangte Weisung erteilt hatte.

Müller verbeugte sich tief und respektvoll und wartete, daß man ihn anreden werde. Der Blick der Baronin ruhte mit einem beinahe erschrockenen Ausdruck auf ihm.

„Ah, das ist ja geradezu eine Beleidigung!“ hauchte sie.

Der Kapitän betrachtete den neuen Lehrer mit mitleidigem Hohn und sagte rücksichtslos:

„Herr, Sie sind ja bucklig!“

„Leider“, antwortete Müller sehr ruhig. „Aber ich hoffe trotzdem, Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Die Gestalt ist es ja nicht, mit welcher man Kinder erzieht.“

Der Alte machte eine verächtliche, zurückweisende Handbewegung und sagte kalt:

„Aber die Gestalt ist es, welche den ersten und letzten Eindruck macht. Wie soll mein Enkel Sie achten und Respekt vor Ihnen haben! Glauben Sie, daß wir die Absicht haben, uns mit einem verwachsenen Erzieher zu blamieren. Sie sind entlassen, definitiv entlassen. Begeben Sie sich in das Gesindezimmer. Ich werde Ihnen das Reisegeld auszahlen lassen. Mehr können Sie nicht verlangen, daß wir mit Ihnen getäuscht, ja sogar betrogen worden sind.“

„Gnädiger Herr Kapitän, ich bitte, zu bedenken, daß –“

„Gehen Sie. Sofort!“

Diese Worte wurden zornig und so laut gesprochen, daß der Knabe erwachte. Sein Blick fiel auf den Deutschen, und er sagte, zu seiner Mutter gewendet:

„Mama, das ist der Mann, der mich gerade vor dem Abgrund aus dem Wagen riß.“

Er hatte seinen Retter also doch trotz seines angstvoll starren Blicks so deutlich gesehen, daß er ihn jetzt wieder erkannte. Die Baronin machte eine Bewegung der Überraschung. Der Kapitän trat einen Schritt näher und fragte Müller:

„Ist das wahr? Sie sind der Retter meines Enkels?“

„Ich hatte allerdings das Glück, den gnädigen Herrn noch im letzten Augenblick vom Bock zu reißen. Wagen und Pferd nebst einem armen Menschen, welcher der Groom gewesen zu sein scheint, fand ich dann in der Tiefe bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert.“

„Ah, an den Groom habe ich noch gar nicht gedacht. Er ist also tot? Das ist seine eigene Schuld. Er ist nicht zu bedauern. Er hätte vorsichtiger fahren sollen. Lebte er noch, so würde ich ihn streng bestrafen. Was aber Sie betrifft, Herr – Herr Müller, hm!“

Er warf bei diesem ‚hm‘ einen fragenden Blick auf die Baronin. Diese verstand ihn und sagte:

„Es steht außer allem Zweifel, daß wir Herrn Müller Dank schulden, Herr Kapitän. Jedoch –“

Sie zuckte die Achsel; es lag trotz der anerkannten Verpflichtung zur Dankbarkeit doch ein Einwand, ein Bedenken nahe. Da ließ sich die Stimme Alexanders hören:

„Wer ist der Mann, Mama?“

„Es ist Monsieur Müller, welcher dein Lehrer werden sollte“, antwortete sie.

„Das ist schön“, sagte er. „Ich freue mich auf ihn.“

Alexanders beide Verwandte blickten einander an. Es war ja noch nie geschehen, daß er sich auf einen Lehrer oder Erzieher gefreut hatte.

„Aber siehe ihn doch an“, meinte seine Mutter. „Er ist ja – häßlich.“

Sie scheute sich doch, das richtige Wort zu wählen, welches der Alte vorhin so ganz ohne Bedenken ausgesprochen hatte. Da antwortete Alexander in jenem hohen, ungeduldigen Ton, welche kranke oder verzogene Kinder, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollen, anzuschlagen pflegen:

„Ich finde ihn sehr hübsch, Mama; ich mag keinen anderen.“

„Nun, so möchten wir vielleicht einen Versuch wagen?“ fragte die Baronin, zu dem Kapitän gewendet.

Dieser nickte langsam und bedächtig und fragte Müller:

„Haben Sie Ihre Zeugnisse bei sich, Monsieur?“

„Hier, gnädiger Herr.“

Bei diesen Worten zog der Lehrer seine Papiere hervor und überreichte sie dem Frager. Es waren dieselben, welche ihm der General in Simmern übergeben hatte. Der Alte las eins nach dem anderen aufmerksam durch und sagte kopfschüttelnd:

„Sie haben da allerdings ganz ausgezeichnete Zensuren; aber ich finde nur Dogmatik, Didaktik, Methodik, Geschichte, Geographie, Sprachen und so weiter. Man scheint in Ihrem Vaterland keinen großen Wert auf die Ausbildung des äußeren Menschen zu legen. Tanzen Sie?“

„Ich bin noch von keiner Dame abgewiesen worden, gnädiger Herr“, antwortete Müller.

Der Alte lächelte ein wenig hämisch und bemerkte:

„Ich habe da nicht Schulmeisterstöchter oder Schneidersfrauen im Auge, sondern ich meine natürlich wirkliche Damen. Doch, man wird ja sehen. Wie steht es mit dem Turnen und Reiten?“

„Ich glaube, Ihren Ansprüchen genügen zu können.“

„Schießen, Fechten?“

„Ich hatte gute Lehrer und hinreichende Übung.“

„Hm. Wenn ich Sie nun auf die Probe stelle? Ich fechte leidenschaftlich gern.“

„Ich stelle mich zur Verfügung, gnädiger Herr.“

Alle diese Antworten waren in einem bescheidenen, anspruchslosen Ton gegeben worden. Der Alte richtete seine dunklen Augen mit einem höchst ungläubigen Ausdruck auf den Lehrer und sagte:

„Nun, ich werde Sie prüfen. Machen Sie Ihren Worten Ehre, so sollen Sie angestellt werden. Jetzt gehen Sie zum Hausmeister, um sich das Zimmer anweisen zu lassen, welches man für Sie bestimmt hat. Ich hoffe, Sie stehen zur Verfügung, sobald ich Ihrer bedarf.“

Somit war die Vorstellung beendet. Müller trat zu dem Kranken, faßte leise die Hand desselben und sagte:

„Haben Sie Dank für Ihre freundliche Fürsprache, gnädiger Herr. Sie haben sich dadurch sehr schnell meine Liebe erworben, und ich werde gern mein möglichstes tun, auch die Ihrige zu erhalten, so daß wir Erfolge erringen, welche eines Sainte-Marie würdig sind.“

Er verbeugte sich vor den beiden anderen Anwesenden und entfernte sich. Der Kapitän blicke ihm nach und sagte dann im Ton halber Verwunderung:

„Das war sehr schön gesprochen; das hat noch keiner gesagt. Er scheint sehr gut zu wissen, was man einem hervorragenden Namen schuldig ist.“

Und die Baronin antwortete:

„Seine Verbeugung war höchst elegant, zwar ein wenig selbstbewußt, aber dennoch ehrerbietig und völlig tadellos. Man wird ihn kennen lernen, um zu sehen, ob er, trotz seiner Mißgestalt, zu brauchen ist.“ –

Müller ließ sich zu dem Hausmeister weisen. Er erkannte in demselben auf den ersten Blick den echten, eingefleischten Franzosen. Er trug schwarzen Frack nebst ebensolcher Hose, weißseidene Weste und ein weißes, hoch emporgehendes Halstuch. Seine breiten, kurzen Füße staken in so engen Lackstiefeln, daß sein Gang und seine Haltung in Folge des Drucks etwas Unsicheres zeigten.

„Ah, Sie? Sie sind der neue Gouverneur?“ fragte er in hochmütigem Ton. Und mit einem vielsagenden Lächeln fügte er hinzu:

„Ist diese Gestalt in Deutschland vielleicht einheimisch?“

„Wohl nicht“, antwortete Müller gleichmütig, „ich bin glücklicherweise eine Ausnahme und hoffe, daß Sie gewandt genug sind, mit dem, was Ihnen an meinem Körper zu viel erscheint, nicht allzu oft zu karambolieren. Ich komme, Sie zu bitten, mir mein Zimmer anzuweisen.“

„Das werde ich tun. Im übrigen jedoch mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich nicht vorhanden bin, Sie zu bedienen. Als Hausmeister bin ich Ihr Vorgesetzter.“

„Das ist mir ganz und gar nicht unangenehm, und ich ersuche Sie, sich bei mir nach Kräften in Respekt zu setzen. In meiner Heimat pflegt man nur diejenigen als Obere anzuerkennen, welche es auch wirklich verstehen, sich Hochachtung zu erwerben. Darf ich bitten, monsieur le concierge?“

Er wandte sich, um voranzuschreiten; der Franzose aber fiel schnell ein:

„Sie sprechen ein sehr schlechtes Französisch, Herr Müller. Concierge bedeutet mehr Türhüter, als Hausmeister. Sie haben mich Intendant zu nennen!“

„Sehr wohl, Herr Intendant. Also bitte, mein Zimmer.“

Sie schritten an mehreren dienstbaren Geistern vorüber, welche beim Anblick des Lehrers mit echt französischer Ungeniertheit die Nasen rümpften, worauf jedoch Müller nicht im geringsten achtete. Er wurde mehrere Treppen emporgeführt, und der Hausmeister öffnete ihm ein Zimmer, welches hoch oben in einem der Türmchen lag, von denen die Front des Schlosses flankiert wurde. Es war mit der größten Einfachheit möbliert.

„So, hier wohnen Sie“, meinte der Hausmeister schadenfroh. „Tisch, zwei Stühle, Feldbett, Waschzeug, Bücherregal; eine Taschenuhr besitzen Sie wohl selbst. Das ist mehr als genug, um sich komfortabel zu fühlen.“

„Wo wohnt der junge Herr?“ fragte Müller.

„In der Hauptetage neben der gnädigen Frau.“

„Man pflegt sonst doch den Erzieher in die unmittelbare Nähe seines Zöglings zu plazieren, Herr Intendant!“

„Das ist hier nie der Fall gewesen. Der Lehrer rangiert hier erst nach dem Koch, und da ist leicht einzusehen, daß er dementsprechend einlogiert werden muß. Der Koch wohnt gerade unter Ihnen, nicht aber in der unmittelbaren Nähe der Herrschaft.“

„Es ist gut, Herr Intendant!“

Mit diesen Worten drehte er sich ab, und der Hausmeister zog sich zurück, sehr zufrieden mit sich, daß er diesem Deutschen gleich im ersten Augenblick klargemacht habe, welchen Rang er hier einnehme.

Müller warf keinen Blick auf das armselige Meublement. Er trat an eines der drei Fenster und blickte hinaus. Ein leises Lächeln schwebte um seine Lippen. Er war mit dem ihm gewordenen Empfang nicht unzufrieden. Das Glück hatte ihm beigestanden, und er hoffte, daß es ihm auch treu bleiben werde. Die Arroganz des Dienstpersonals konnte ihn nicht beleidigen, und als Retter Alexanders hatte er sich die Dankbarkeit der Herrschaft gesichert. Diese Dankbarkeit mußte sich bei der Ankunft Marions steigern. Was aber dann? Er machte sich keine Grillen über diese Frage und blickte wohlgemut hinaus auf das Bild, welches sich vor seinem Auge ausbreitete.

Fern im Westen erhoben sich die Höhen der Meuse, überragt von den duftumhauchten Bergen des Argonner Waldes. Näher blickten Kirchtürme und lieblich gelagerte Ortschaften zu ihm herüber; da rechts lag Thionville, auf deutsch Diedenhofen genannt, die Festung, jetzt in den Händen des Erzfeindes; und dort, unterhalb des Schlosses, erhoben sich die schmutzigen Essen und Gebäude des Eisenwerks, über denen eine dichte Rauchwolke schwebte.

Das andere Fenster ging nach Süden, wo der Park des Schlosses sich nach und nach zu einem dunklen Wald verdichtete. Das dritte Fenster führte nach Norden, und zwar auf das halbplatte Dach des Hauptgebäudes. Müller ahnte nicht, daß dieser Umstand ihm später außerordentlich zustatten kommen werde. Die vierte, also östliche Seite seines Zimmers, hatte kein Fenster. Sie bestand aus einer Tapetenwand, an welcher nur ein alter, schlechter Spiegel hing.

Indem sein Blick diese Wand überflog, war es ihm, als ob er ein leises, eigentümliches Geräusch bemerkte. Er trat hart an die Mauer heran und horchte. Ja, er hatte richtig gehört. Es war, als ob hinter der Wand jemand sich bewege, und zwar aufwärts, und dabei mit der Hand tastend an den Steinen oder Ziegeln hinstreiche. Sodann war ein leichtes Rascheln zu vernehmen, als ob ein Stein aus der Mauer entfernt werde.

Was war das? Gab es hier vielleicht eine Doppelwand? Befand sich hinter dem Zimmer jemand, welcher gekommen war, ihn zu belauschen? In diesem Fall mußte sich in der Mauer eine Öffnung befinden. Aber Müller durfte jetzt nicht suchen; er mußte vielmehr so tun, als ob er ganz und gar nichts ahne. Das Schloß war ein sehr altes Gebäude, es konnte leicht seine Geheimnisse haben.

Müller trat zu dem Fenster zurück und tat so, als ob er in den Anblick der Landschaft ganz und gar versunken sei. Dabei aber lauschte er angestrengt nach der Mauer hin. Als sich nach längerer Weile nichts vernehmen ließ, wurde er des Stehens müde und legte sich auf das Feldbett, um weiter zu horchen.

Da, jetzt hörte er, sehr leise zwar, aber immer noch vernehmlich, jenes letzte Rascheln wieder. Es schien oben in der Nähe der Decke zu sein. Dann strich es wie mit einer vorsichtig tastenden Hand an der Wand herab, bis er, selbst nach langem Horchen, nichts mehr hörte.

Jetzt erhob er sich und öffnete das nach Norden auf das Dach führende Fenster. Er hatte weder einen Stock noch einen anderen Gegenstand, welchen er als Maß zu gebrauchen vermochte.

Als Müller den Abstand zwischen dem Fenster und der Außenecke des Turmes mit demjenigen der innern Ecke seiner Stube verglich, sagte ihm bereits das bloße Augenmaß, daß die Mauer des Turms wenigstens zwei Ellen dick sein müsse. Und als er behutsam an diese Mauer klopfte, hörte er aus dem Ton, daß sie vielleicht nur einen Fuß stark sei.

Es war also klar, daß es hier eine Doppelmauer gab. Wozu? Welchem Zweck diente der dazwischen liegende Raum? Doch wohl nur dem Lauschen und Beobachten!

Wo aber war das Loch, durch welches man in das Zimmer sehen konnte? Er musterte die ganze Wandfläche; er blickte sogar hinter den Spiegel; er bemerkte nichts. Die betreffende Öffnung konnte sich nur in der Nähe des Ofenrohres oder in der gemalten Kante der Mauer befinden, das war klar.

Er setzte sich einen Stuhl hin, stieg hinauf und klopfte, doch nicht auffällig. Richtig, an dieser Stelle gab die Kante einen ganz anderen Ton. Sie fühlte sich auch glatter an als an den übrigen Stellen; sie bestand aus Glas. Er hegte jetzt die feste Überzeugung, daß er beobachtet worden sei. Aber von wem? Gab es im Schloß noch mehrere Doppelwände?

Er erkannte es als ein großes Glück, daß er diese wichtige Entdeckung bereits heute, bereits in der ersten Stunde gemacht habe. Wie nun, wenn er sich in Gegenwart des Lauschers entkleidet und seinen künstlichen Buckel abgelegt hätte? Sein Geheimnis wäre sofort verraten gewesen. Er hatte eine doppelte Verantwortung, vorsichtig zu sein. Auf der anderen Seite aber war es auch möglich, daß er aus seiner gegenwärtigen Erfahrung Nutzen ziehen könne.

Zunächst mußte er zu erfahren suchen, wer der Lauscher sei, denn nur im Zimmer desselben konnte der Eingang zu den Doppelwänden sein. Ober gab es auch noch andere Eingänge? Seine Gedanken wurden unterbrochen, denn es erschien ein Diener, welcher ihm meldete, daß er von dem Herrn Kapitän und dem gnädigen jungen Herrn unten im Hof erwartet werde.

Er gehorchte dem Ruf und fand die beiden Genannten seiner harrend. Der Haushofmeister stand mit einigen Dienern dabei, welche Waffen hielten. Alexander schien sich von seinem Schreck bereits erholt zu haben. Er sah zwar noch blaß, aber ganz und gar nicht krank aus. Er kam dem Erzieher entgegen und sagte:

„Monsieur Müller, ich wollte schlafen, aber es geht nicht. Großpapa sagte, daß Sie die Probe machen sollten, und da muß ich dabei sein.“

Der Kapitän deutete nach einer Ecke des Schloßhofes und meinte:

„Sie sehen dort die Turnapparate. Gehen Sie hin und zeigen Sie uns, was Sie leisten.“

„Sehr wohl, gnädiger Herr!“

Mit diesen einfachen Worten schritt Müller nach der Ecke, stellte sich vor den Bock und sprang, ohne Ansatz zu nehmen oder die Hand als Stütze zu gebrauchen, über die ganze Länge des Gerätes hinweg. Dann trat er zum Reck, legte die Hand an und machte, ohne sich eines Kleidungsstückes zu entledigen, den Riesenschwung mit nur einem Arm.

„Genügt dies, Herr Kapitän?“ fragte er.

„Großpapa, das hat noch keiner gebracht!“ sagte Alexander.

„Sehr wahr“, nickte der Alte. „Monsieur Müller, satteln Sie sich den Braunen, den man jetzt vorführt. Sie sollen die Schule reiten.“

Ein Stallknecht brachte das Pferd; ein anderer trug Sattel und Zaumzeug herbei.

„Ist nicht nötig“, meinte Müller.

„Monsieur, der Braune ist schlimm!“ warnte der Alte. „Er trägt nur mich, jeden anderen wirft er ab.“

Das Pferd schien längere Zeit nicht aus dem Stall gekommen zu sein. Es tanzte mit hochspielenden Beinen und zerrte an dem Halfter, so daß der Knecht es kaum zu halten vermochte. Müller trat, ohne die Warnung des Alten zu beachten, hinzu und musterte das Pferd mit Kennermiene. Er nickte mit anerkennendem Lächeln und sagte:

„Sohn eines arabischen Halbblutes und einer englischen Mutter. Nicht, Herr Kapitän?“

„Allerdings“, antwortete der Gefragte. „Aber, sagen Sie, Monsieur Müller, woher haben Sie dieses Kennerauge, welches – – – Morbleu! Geht weg!“



Er sprang mit diesen letzten Worten zur Seite, denn Müller saß, man wußte gar nicht, wie er hinaufgekommen war, ganz plötzlich auf dem Pferd, hatte das Halfter ergriffen und jagte nun mit dem Braunen im Hof herum. Das Tier gab sich alle Mühe, den Reiter abzuwerfen, aber dieser saß so fest, als sei er angewachsen. Kannte er vielleicht ein geheimes Mittel? Fast schien es so, denn nach kaum einer Minute hatte er das Pferd beruhigt und ritt nun die Schule durch, mit einer Sicherheit und Eleganz, als ob er sich vor tausend Zuschauern in der Arena sehen lasse. Dann, als er in Galopp war, legte er sich plötzlich vornüber, sprengte quer über den Hof und mit einem kühnen, unvergleichlichen Satz über die drei Ellen hohe Hofmauer hinweg.

„Mille tonnerres!“ schrie der Kapitän. „Er muß den Hals brechen. Der Braune ist auf alle Fälle hin.“

Alles rannte nach dem Tor. Sie hatten es aber noch nicht erreicht, so stoben sie erschrocken zur Seite; denn von draußen rief die laute Stimme Müllers:

„Holla, gebt Platz drin!“

Und in demselben Augenblick kam der Doktor wieder über die Mauer hereingesprungen. Er ritt noch einige Male im Kreis umher, um das Pferd zu beruhigen, und sprang dann ab.

„Alle Teufel, wo haben sie das Reiten gelernt?“ fragte der Alte.

„Mein Lehrer war ein Ulan“, antwortete der Gefragte.

„Reiten alle Ulanen so, Monsieur?“

„Noch besser.“

„Ja, sie sind ein wildes Volk, dieses Hulanes. Sie wohnen in der Wüste, heiraten zehn bis zwanzig Frauen und reiten die Pferde zu Tode. Aber jetzt sollen Sie schießen.“

Müller sagte nichts, doch hatte er Mühe, ein Lächeln über die Worte des Alten zu verbergen. Er kannte ja zur Genüge die Tatsache, daß die Franzosen höchst zweifelhafte Geographen sind, und daß sie die Ulanen für eine wilde Völkerschaft halten, welche an der östlichen Grenze von Preußen lebt und beinahe zu den Menschenfressern gerechnet werden muß. Ehe man sie im Jahre 1870 in Frankreich kennen lernte, dichtete man ihnen die ungereimtesten Dinge an. Es war klar, daß man sie mit den Baschkiren und andern asiatischen Völkerschaften verwechselte.

Der Kapitän nahm aus der Hand des Hausmeisters einen Hinterlader und sagte, empor zur Wetterfahne deutend:

„Alexander hat gestern jenen kleinen Ballon steigen lassen, welcher mit der Schnur dort oben hängen geblieben ist. Ich werde ihn treffen.“

Er legte an und drückte ab. Der Ballon war getroffen.

„Sehen Sie! Machen Sie es nach.“

Er reichte dem Lehrer das Gewehr und eine Patrone. Dieser betrachtete jenes aufmerksam und sagte:

„Ah, ein Mauser! Ich kenne das Gewehr nicht, aber ich hoffe, wenn nicht mit dem ersten, so doch mit dem zweiten Schusse die Schnur zu treffen.“

Die Männer blickten einander mit ungläubigem Lächeln an. Er aber lud und zielte. Der Schuß blitze auf, und der Ballon schwebte auf das Dach nieder. Die Schnur war zerrissen worden.

„Wahrhaftig, Sie schießen ebensogut, wie Sie reiten und turnen!“ rief der Alte. „Jetzt eine Fechtprobe. Ich bin überzeugt, daß ein Deutscher es auf diesem Gebiet mit keinem Franzosen aufnimmt. Hier, der Hausmeister weiß einen Degen zu führen. Er war Premier sergent (Wachtmeister) bei den Chasseurs d'Afrique. Ich stelle nämlich nur gediente Militärs bei mir an, was leider in Hinsicht auf Sie nicht der Fall ist. Wollen Sie einen Gang mit ihm wagen?“

„Wenn Sie befehlen, so gehorche ich, Herr Kapitän“, antwortete Müller.

„So legen Sie los!“

Bei diesen Worten spielte ein beinahe unheimliches Zucken um den Mund des Alten. Sein weißer Schnurrbart zog sich empor, und es zeigte sich jenes gefährliche Fletschen der Zähne, welches stets unheilverkündend war. Er wußte, daß der Hausmeister ein sehr guter Fechter sei, und bei seinem rücksichtslosen Charakter wäre es ihm nur ein Amüsement gewesen, dem Deutschen eine Quantität Blutes abzapfen zu sehen.

Der Hausmeister hatte zwei gerade, schwere Chasseursdegen in den Händen. Er reichte dem Lehrer einen hin und sagte lächelnd:

„Monsieur Müller, bestimmen Sie gefälligst, wo ich Sie treffen soll!“

Müller prüfte den Degen und antwortete:

„Diese Degen sind ja scharf und spitz. Wir befinden uns nicht im Feld. Wollen wir nicht stumpfe Waffen wählen und uns mit Haube und Bandagen versehen?“

„Ah, Sie fürchten sich?“ höhnte der Franzose.

„Allerdings habe ich Furcht“, antwortete ruhig der Deutsche.

„Und das gestehen Sie?“ fragte der Intendant mit verächtlichem Lächeln.

„Wie sie hören. Aber Sie scheinen mich falsch zu verstehen. Ich habe nämlich Furcht, Sie zu verletzen; für mich freilich hege ich nicht die Spur von Bangigkeit. Sie haben mir erklärt, daß Sie mein Vorgesetzter sind. Darf ich einen Vorgesetzten verwunden?“

„Warum nicht, wenn Sie es fertig bringen! Also sagen Sie mir getrost die Stelle, an welcher ich Sie treffen soll!“

„Das werde ich unterlassen, denn damit würde ich für mich natürlich das Recht beanspruchen, Sie an der gleichen Stelle zu treffen.“

„Dieses Recht erteile ich Ihnen. Also wo, Monsieur Müller?“

Der Gefragte zuckte die Achseln und sagte:

„Wenn denn einmal der Ort, an welchem man treffen soll, genannt werden muß, so treffen Sie diese Bestimmung lieber selbst. Ich bin hier fremd und muß vermeiden, mir Vorwürfe machen zu lassen.“

„Gut“, meinte der Intendant mit einem boshaften Blicke. „Diese Degen sind zwar besser für den Stoß, aber wollen wir sie uns nicht lieber einmal im Hiebfechten über die Gesichter ziehen?“

„Ganz wie Sie wollen, Monsieur“, meinte Müller. „Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, daß man dabei sehr leicht die Nase oder ein Auge verlieren, kann, wobei es außerdem noch jammerschade um Ihre seidene Weste sein würde.“

„Ah, Sie spotten! Sie meinen, daß ich es sein werde, der die Nase verliert. Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen. Herr Kapitän, billigen Sie unsere Vereinbarung?“

Über das Gesicht des Alten zuckte ein wilder, kampfbegieriger Zug. Er nickte und sagte:

„Ich gestatte sie unter der Bedingung, daß keinerlei Folgen auf mich fallen. Sie stehen beide in meinen Diensten. Wer von dem anderen dienstunfähig gemacht wird, hat keinen Sou Entschädigung von mir zu verlangen.“

„Gut! Beginnen wir also!“

Droben stand die Baronin am offenen Fenster. Sie hatte die Proben, welche Müller ablegen mußte, mit angesehen; sie hatte auch jedes Wort, welches gesprochen worden war, deutlich gehört. Eine andere hätte Widerspruch erhoben; sie aber freute sich auf den Kampf und legte sich weiter zum Fenster heraus, um besser zusehen zu können. Sie war ein Weib ohne Herz und Gemüt.

Der Intendant legte sich aus – die Klingen blitzten –, da stieß er einen lauten Schrei aus und fuhr zurück. Der Degen entsank ihm, und seine beiden Hände fuhren nach dem Gesicht, aus welchem ein breiter Blutstrahl niederfloß.

„Alle Teufel, welch ein Hieb!“ rief der Kapitän.

„Er hat es gewollt“, sagte Müller gleichmütig, „obgleich es mir leid tut, meinem Vorgesetzten zeigen zu müssen, daß er noch Verschiedenes zu lernen hat, ehe er davon reden kann, daß ich mich vor ihm fürchte.“

Der Intendant war quer über das Gesicht herüber getroffen. Der fürchterliche Hieb war ihm über den unteren Teil der Stirn und durch das Auge gegangen und hatte dann den Nasenknochen tief gespalten. Das Auge war verloren – der Verwundete brüllte vor Schmerz und Wut.

„Schafft ihn fort und holt den Arzt!“ gebot der Alte. „Wer hätte gedacht, daß er seinen Meister finden werde! Monsieur Müller, Sie sind ein ganzer Fechter. Man hat sich trotz Ihrer – hm, Unbefangenheit vor Ihnen in acht zu nehmen. Sie haben Ihre Probe exzellent bestanden; ich vertraue Ihnen meinen Enkel an.“

„Ich danke Ihnen, gnädiger Herr“, antwortete Müller. „Die Probe war etwas ungewöhnlich, aber da mir mein Gesicht jedenfalls lieber ist, als dasjenige des Herrn Intendanten, so mußte ich mich wehren.“

Er kehrte nach seinem Zimmer zurück, während der Intendant von einigen Dienern nach dem seinigen geschafft wurde. Alexander hatte alles mit angesehen und sagte jetzt zu dem Alten:

„Großpapa, dieser Monsieur Müller ist doch ein ganz anderer Mensch als je einer meiner früheren Lehrer. Er fürchtet sich nicht, vor mir und selbst vor dir nicht, wie es scheint. Das gefällt mir. Ich werde ihn nicht wieder fortlassen.“

Und droben stand die Baronin. Sie hatte die Fenster geschlossen, stand vor dem Spiegel, um ihr schönes Bild zu betrachten, und murmelte:

„Welch ein Mann! Er tat das alles wie spielend. Selbst der Sprung war so leicht und graziös, so daß der Fremde von seiner Manneswürde gar nichts verlor. Ein solcher Sprung ist gefährlich, denn der Springer kann sich sehr leicht lächerlich machen, was schlimmer als eine Verletzung ist. Dieser Deutsche ist gebaut wie ein Adonis. Hätte er doch diesen fatalen Auswuchs nicht! Er wäre mir wahrhaftig lieber noch als der Direktor, welcher zu wenig Geist und Feuer besitzt.“

In seinem Zimmer angekommen, musterte Müller zunächst seinen Kopf. Glücklicherweise saß seine Perücke fest. Hätte er sie verloren, so wäre sicher bemerkt worden, daß unter der falschen, schwarzen Bedeckung sich ein echtes blondes Haar verbarg. Es war überhaupt beinahe ein Wunder zu nennen, daß diese Perücke nicht bereits während der gefährlichen Schwimmpartie in der Mosel verlorengegangen war. So hängt oft an Kleinigkeiten das Gelingen eines großen Planes.

Nach einiger Zeit kam ein Diener, um Müller zu sagen, daß der junge Herr mit ihm auszugehen wünsche. Das war dem Erzieher lieb. Er hatte so am besten Gelegenheit, den Umfang von Alexanders Kenntnissen und Fertigkeiten zu prüfen und so die notwendige Unterlage zu einem Lehrplan zu erhalten.

Als er, die Treppe hinabsteigend, den Hauptkorridor erreichte, öffnete sich eine Tür, und er erblickte einen Mann, welcher mit gesenkten Augen ihm langsam entgegengeschritten kam. Es war der Baron, der sich vielleicht zu seiner Frau begeben wollte. Müller kannte ihn noch nicht, ahnte aber, als er den geistesabwesenden Ausdruck des bleichen Gesichtes bemerkte, sogleich, wer jener sei. Er blieb stehen, um ihn vorüber zu lassen.

Sobald der Baron völlig herangekommen war, bemerkte er, daß jemand da stehe. Er erhob das Auge langsam und richtete den starren Blick auf Müller. Da ging eine wunderbare, aber gewaltige Veränderung in diesem toten Gesicht vor: die Augen wurden langsam größer und erhielten den Ausdruck des Bewußtseins; die Brauen zogen sich empor, und der Mund öffnete sich in jener Weise, wie man es bei einem heftigen Erschrecken bemerkt. Der Baron stand einige Augenblicke mit geöffnetem Mund und abwehrend ausgestreckten Armen da; dann drehte er sich plötzlich um und rannte nach der Tür zurück; aus welcher er gekommen war. Dabei stieß er mit kreischender Stimme, der man eine entsetzliche Angst anhörte, die Worte aus: „Er ist's! Er ist's! Er sucht wieder die Kriegskasse! Flieht, um Gottes willen! Er sucht die Kriegskasse!“

Damit verschwand er hinter der erwähnten Tür. Auch Müller stand bewegungslos da. Die Worte des Irren hatten einen ungeheuren Eindruck auf ihn gemacht. Er verharrte noch ohne Regung, als sich bereits mehrere Türen öffneten. Die Baronin erschien und ebenso der alte Kapitän, welcher heftig an ihn herantrat und ihn mit funkelnden Augen fragte:

„Was ist's? Was gibt's! Wer rief hier so laut?“

Er bedurfte der ganzen ungewöhnlichen Selbstbeherrschung, welche Müller besaß, um sich zusammenzunehmen. Sein Gesicht nahm augenblicklich einen ganz verwunderten Ausdruck an; er sah aus, wie einer, der etwas nicht begreifen kann. Er schüttelte den Kopf und antwortete:

„Ich kam soeben die Treppe herab, da rief ein Herr, den ich nicht kenne, da vorn im Korridore von Krieg und vom Fliehen. Welch ein eigentümlicher Scherz!“

„Welche Worte hat er gebraucht?“ forschte der Alte dringend. „Sagen Sie es genau, ganz und gar genau!“

„Die Worte Krieg und Fliehen.“

„Keine anderen?“

„Nein, wenigstens habe ich keine anderen vernehmen können.“

Er hütete sich wohl, die Wahrheit zu gestehen. Er stand da ganz unerwartet vor der Lösung des Problems, welches auf das Tiefste in sein Leben, ja in das Glück seiner Familie und Anverwandten eingriff. Es lüftete sich hier auf einmal der Schleier eines Geheimnisses, für dessen Lösung er sehr oft so gern sein Leben hingegeben hätte. Wie viele, viele hundertmal hatte er, hatte seine liebe, herzige Mutter, hatte sein alter, greiser Großvater und seine holde, schöne Schwester auf den Knien gelegen, um Gott inbrünstig zu bitten, einen Lichtblick in das Dunkel fallen zu lassen! Vergebens! Und nun, nach langen Jahren, nach dem Aufgeben aller Hoffnung, kam so unerwartet der erbetene Strahl, zwar nicht scharf und blendend wie ein Blitz, auch nicht hell und überzeugend wie das Licht des vollen Tages, aber doch vorbereitend und Ahnung erweckend wie das furchtsame, leise versuchende Grauen eines Morgens nach dunkler Wetternacht. Da galt es, vorsichtig zu sein!

„Es war mein Sohn, der Baron de Sainte-Marie“, meinte der Veteran jetzt kalt. „Sie müssen wissen, daß er an eigentümlichen Anfällen leidet; ich weiß nicht, ob ich sie hysterisch oder anders nennen soll. Dann träumt er laut. Man darf ihn nicht beachten. Ich habe strengen Befehl, daß zu solchen Zeiten ein jeder sich sofort zurückzuziehen hat, da die Gegenwart Fremder den Grad der Anfälle auf das gefährlichste steigert. Auch Sie haben diesen Befehl zu respektieren. Gäben Sie den Worten, welche der Kranke redet, nur die kleinste Beachtung, so würde ich Sie auf der Stelle entlassen, wenn nicht gar noch etwas anderes geschähe!“

Seine Augen glühten in einem bösen Feuer, und seine Zähne zeigten sich. Er hatte in diesem Augenblick ganz das Aussehen eines Mannes, dem das Wohl oder Wehe, das Leben der ganzen Menschheit nur eine Bagatelle gilt.

„Was wollten Sie übrigens hier auf dem Korridor?“ fragte er.

„Ich stand im Begriff, mich nach dem Hof zu begeben“, antwortete Müller demütig.

„Was dort?“

„Der junge Herr erwartet mich dort. Er hat mich zu einem Spaziergang befohlen.“

„So gehen Sie! Aber merken Sie sich, daß kein Mensch, kein Fremder etwas über die Anfälle meines Sohnes erfahren darf!“

Er drehte sich mit jugendlicher Raschheit auf dem Absatz um und schritt nach der Tür zu, hinter welcher der Baron verschwunden war. Müller ging in den Schloßhof, wo Alexander ihn bereits erwartete.

Die Baronin hatte diese kurze, eigentümliche Unterredung mit angehört. Sie folgte mit langsamen Schritten dem Alten. Als sie das Zimmer betrat, in welchem der Baron sich gewöhnlich aufhielt, fand sie dasselbe leer; aber aus dem angrenzenden Kabinett drang eine jammernde Stimme, zwischen deren angstvollen Rufen man die harte, drohende Stimme des Kapitäns erkannte. Sie trat dort ein.

Es war das Schlafzimmer des Barons. Dieser lag auf seinem Bett, hatte den Kopf in die Kissen versteckt und wimmerte:

„Er ist da! Er ist da! Ich habe ihn gesehen und erkannt!“

„Schweig!“ gebot der Alte. „Er war es nicht!“

„Er war es!“ behauptete der Irre. „Er sucht die Kriegskasse!“

„Ich befehle dir, zu schweigen!“

„Nein, nein, ich will nicht schweigen; ich kann nicht schweigen!“ rief sein Sohn, indem er das Gesicht noch tiefer in die Kissen vergrub. „Ich mag die Kasse nicht; ich habe bereits eine geraubt. Ich habe die Kasse von Magenta gestohlen; wozu brauche ich die von Waterloo!“

„Schweig, sage ich, sonst muß ich dich strafen!“

„Schlag zu, Alter! Schlag zu, Bösewicht!“ rief der Baron. „Ich gehorche dir doch nicht! Behalte deine Kasse! Ich mag sie nicht! Das Gold trieft von Blut!“

Da zog ihm der Kapitän die Kissen weg, erhob die geballte Faust und drohte:

„Mensch, noch ein Wort, und ich zeige dir, wer dein Meister ist!“

„Du nicht; du bist es nicht!“ rief der Kranke, indem er sich erhob und seinen Vater mit von Abscheu erfüllten Blicken anstarrte. „Du bist der Teufel, der Satan; aber mein Meister bist du nicht! Mein Meister sitzt hier und hier!“ Er schlug sich bei diesen Worten auf die Brust und vor die Stirn. „Er zermalmt mir das Herz und zerreißt mir das Gehirn. Ich mag die Kasse nicht. Ich gebe die eine zurück, und die andere lasse ich liegen. Oh, mein armer Kopf, mein armes Herz! Wie das brennt, wie das quält! Nur ein Blick meiner Liama kann diese Schmerzen heilen. Wo ist sie? Ich will sie sehen, sehen, sehen!“

„Schweig, sage ich nun zum letzten Mal!“ donnerte der Alte.

„Ich schweige nicht!“ rief der Sohn. „Oh, Liama, meine süße Liama! Gebt sie hin, die Kasse; gebt sie hin!“

Da fiel die Faust des Kapitäns auf ihn nieder, nicht einmal, sondern in vielen, ununterbrochenen Hieben und Schlägen. Aber der Kranke rief fort. Er wehrte sich nicht gegen die herzlose, grausame Züchtigung durch seinen eigenen Vater, aber er hielt auch nicht inne, nach seiner Liama und der Kasse zu rufen. Die Arme des Kapitäns ermüdeten; er wendete sich zu der Baronin, welche ohne das geringste Zeichen von Teilnahme Zeugin der Unmenschlichkeit gewesen war, und sagte:

„Der Anfall ist heftiger als jeder andere zuvor. Es gelingt mir nicht, ihn einzuschüchtern. Versuchen wir das andere Mittel.“

Während der Kranke immer weiter wimmerte, antwortete sie:

„Das ist mir unangenehm, halten Sie es für ein Vergnügen, mich –“

„Sie werden es tun!“ unterbrach er sie mit drohender Stimme. „Oder soll die Dienerschaft erfahren, wie es steht, und um was es sich handelt?“

Sie zuckte die Achseln und fragte:

„Und wenn ich es doch nicht tue, was dann?“

„So haben Sie aufgehört, Baronin de Sainte-Marie zu sein!“

Sie zuckte zusammen, wagte aber doch die Frage:

„Ich möchte einmal wissen, wie Sie das anfangen wollen, Herr Schwiegerpapa?“

„Ja, die Baronin will ich, die Baronin de Sainte-Marie!“ rief der Irre, dessen Geisteskraft nur dazu hingereicht hatte, diesen Namen aufzunehmen.

„Schweig, Unvorsichtiger!“ rief der Alte, indem er abermals zuschlug. Und zu der Baronin gewendet, fuhr er fort: „Ich weiß sehr genau, wie ich es anzufangen habe; ich bin, bei Gott, der Mann dazu! Wie wollen Sie beweisen, daß Sie die Frau meines Sohnes sind?“

„Ich habe Zeugen.“

„Sie sind tot!“

„So sind Sie deren Mörder. Die Listen der Mairie und des Kirchenbuches werden beweisen, was ich bin.“

„Die Blätter sind verschwunden“, antwortete er höhnisch.

„So sind Sie der Dieb! Übrigens brauche ich weder Zeugen noch Bücher. Ich würde alles verraten.“

„Und für lebenslänglich in das Zuchthaus wandern“, lachte er mit teuflischem Grinsen. „Wer will meinen Sohn bestrafen? Er ist ein Wahnsinniger. Wer will mich anklagen. Ich war nicht dabei. Wollen Sie meinem Befehl gehorchen, oder sich und Ihren Sohn um die Baronie bringen? Ich frage zum letzten Mal.“

Der Baron krümmte sich unter den Fäusten des Alten, der sich jetzt alle Mühe gab, ihm den Mund zuzuhalten.

„Sie sind wahrhaftig ein Teufel!“ knirschte die Baronin, indem sie sich anschickte, zu gehen.

„Und Sie sind eine Stallmagd, eine elende Bauerndirne. Gehorchen Sie sofort!“ rief er ihr mit funkelnden Augen nach.

Sie kehrte mit vor Zorn hochgeröteten Wangen in das Wohnzimmer des Barons zurück und begab sich in das gegenüberliegende Gemach. Dieses war klein und zeigte nichts als eine Waschtoilette, einen Spiegel und einen Kleiderschrank. Die Baronin öffnete den letzteren und nahm das einzige Gewand heraus, welches er enthielt. Es war die Festkleidung eines Bauernmädchens aus dem Argonner Wald. Sie schien hier für ganz besondere Zwecke aufbewahrt zu werden, jedenfalls für denselben Zweck, dem sie jetzt dienen sollte.

Während das Jammern und Wehklagen des Barons herüber drang, warf sie ihre gegenwärtige Kleidung ab, legte das andere Gewand an und ordnete ihr Haar in anderer Weise. Obgleich dies so schnell ging, daß sie nach kaum fünf Minuten fertig war, hatte sie doch eine außerordentliche Sorgfalt dabei entwickelt. Sie hatte sich die größte Mühe gegeben, alle ihre Reize hervorzuheben und in das beste Licht zu stellen. Sie stand jetzt da als üppig schönes Bauernmädchen, schön und verführerisch, daß sie imstande war, auch festere Grundsätze zuschanden zu machen als die des Schwachsinnigen. Sie betrachtete sich noch einige Augenblicke lang höchst wohlgefällig im Spiegel und flüsterte dabei:

„Und dies alles soll einem Verrückten gehören! Oh, wenn doch dieser Deutsche nicht – nicht buckelig wäre!“

Sie errötete selbst über diesen Gang ihrer Gedanken und begab sich zu den beiden Männern zurück, welche Vater und Sohn waren, obgleich der erstere dem letzteren als Peiniger gegenüberstand.

„Endlich!“ rief der Alte, indem er sich erhob. „Versuchen Sie Ihre Macht; ich werde im anderen Zimmer warten.“

Er entfernte sich, und sie trat zu dem wimmernden Baron.

„Henry!“ sagte sie mit dem sanftesten Ton ihrer Stimme.

Sein Kopf hatte sich wieder unter die Kissen vergraben; dennoch hörte der Kranke das Wort und horchte auf.

„Wer rief?“ fragte er. „Bist du es, meine Liama?“

Sie beugte sich zu ihm nieder und flüsterte liebevoll:

„Komm, mein Henry, blick mich an!“

Er erhob den Kopf, wendete ihn nach ihr und blickte sie an. Es ging wie ein Zug des Erkennens über sein bleiches Gesicht. Er lächelte matt und sagte:

„Ah, das schöne Mädchen vom Brunnen an der Dorfschenke. Ich bin heute durch das Dorf geritten, als du am Brunnen standest. Hast du mich gesehen?“

„Ja, ich habe dich gesehen“, antwortete sie, indem sie sich auf den Rand des Bettes niedersetzte.

„Ich habe mich nach dir erkundigt“, sagte er, indem er sich noch weiter emporrichtete. „Deine Mutter ist tot, und dein Vater ist der Hirte. Nicht?“

„Ja“, flüsterte sie.

„Hast du einen Geliebten, du schönes, holdes Kind?“

„Nein; ich habe noch niemals einen gehabt.“

„So hat deine Lippen noch niemand geküßt?“ fragte er, indem er den Arm um sie schlang.

Seine Blicke bekamen immer mehr Selbstbewußtes, und er musterte das Mädchen, als ob er angestrengt nach einer Erinnerung suche.

„Noch niemand“, antwortete sie.

„So soll es ein Baron sein, der sie zuerst küßt. Komm, beuge dich zu mir herüber.“

Sie hielt ihm den Mund entgegen. Er schlang auch den anderen Arm um sie. Er betrachtete ihr Gesicht, er legte die Hand auf ihre volle Brust, wie um ihre Gestalt, ihr Wesen zu untersuchen; er ergriff die Zöpfe ihres Haares, um sie genau zu betrachten; sein Blick wurde nach und nach finsterer, und endlich sagte er:

„Mädchen, du belügst mich! Das war kein Kuß von Lippen, die noch nie geküßt haben; der Kuß eines reinen Mädchens ist anders. Wer so küßt wie du, der hat die Liebe kennen gelernt. Wie heißt du?“

„Adeline“, antwortete sie, indem ihr Gesicht den Ausdruck der Besorgnis annahm.

„Adeline?“ fragte er, sichtlich mit einem Gedanken ringend, den er noch nicht zu beherrschen vermochte. „Adeline? Ach, jetzt habe ich es! Adeline, die Hirtentochter, die heimliche Geliebte des Sohnes des Mairie! Dieser Sohn des Maire sollte sie nicht heiraten, obgleich beide sich bereits so innig verbunden hatten, als ob es auf der Mairie geschehen sei. Sie war so klug, den Baron de Sainte-Marie zu zwingen, sie zu heiraten und den Sohn ihres Geliebten dann als den seinigen zu betrachten. Das bist du! Bist du das?“

„Du irrst!“ antwortete sie, indem sie den Arm um seine Schultern schlang, um ihren Gemahl mit gut gespielter Zärtlichkeit an sich zu drücken.

Da aber schob er sie zornig zurück und antwortete:

„Ich irre mich nicht! Hältst auch du mich für wahnsinnig? Oh, ich weiß alles! Du hast mich betrogen, aber du betrügst mich nicht wieder. Du hast mich beobachtet, als ich nach der Kriegskasse – oh, mein Gott, die Kriegskasse! Und dann mußte ich, um dein Schweigen zu erkaufen, meine herrliche Liama – o Liama, meine süße, einzige Liama!“

Er stieß die Baronin mit aller Gewalt von sich und wühlte sich wieder in das Bett hinein. Wie oft hatte, wenn er in sein Toben verfallen war, die Strenge seines Vaters ihn eingeschüchtert, oder, wenn diese nicht geholfen hatte, die Schönheit der Baronin, die dann stets als Mädchen angekleidet war, ihn in Banden geschlagen und beruhigt. Aber heute hatten beide Mittel ihre Kraft verloren. Der Irre begann von neuem zu wimmern und zu rufen, so daß der Kapitän eintrat.

„Nun?“ fragte er die ratlos dastehende Schwiegertochter.

„Es hilft nichts, gar nichts“, antwortete sie.

„So haben Sie es nicht klug genug angefangen“, tadelte er.

„Liama, meine Liama will ich sehen!“ rief der Kranke, indem er aufsprang. „Wo habt ihr sie?“

Er ballte seine Faust und seine Lippen wurden feucht. Der Alte wußte, daß nach solchen Anzeichen stets der höchste Grad des Paroxismus eintrat, daß ihm der Schaum vor den Mund trat und seine Kräfte sich verdoppelten, so daß er kaum zu bändigen war.

„Was tun wir?“ fragte er.

„Wo ist sie? Zeigt sie mir, sonst geht alles zugrunde und in Trümmer!“ gebot der Baron, indem er drohend auf die beiden zutrat.

„Zeigen Sie sie ihm!“ antwortete die Baronin, indem sie angstvoll vor dem Kranken zurückwich.

„Es wird kein anderes Mittel geben als dieses“, meinte er. Und zu seinem Sohn gewendet, sagte er:

„Wen willst du sehen?“

„Liama, meine Geliebte, mein Weib!“

„Sie ist ja tot!“

„Tot?“ hohnlachte der Kranke. „Denkt ihr, ich weiß nicht, daß ihr mich betrügen wollt?“

„Du hast sie ja selbst mit begraben.“

„Begraben? Ja. Aber sie ist auferstanden. Ich will sie sehen; ich muß sie sehen; ich muß ihr sagen, daß ich die Kriegskasse nicht behalten mag, und daß sie mir vergeben soll, obgleich ich ein – Mörder bin. Vorwärts! Ich warte nicht!“

„Nun gut, du sollst sie sehen“, entschloß sich der Alte. „Komm!“

Er nahm seinen Sohn beim Arme und winkte der Baronin zu, das Zimmer zu verlassen. Diese aber trat näher und erklärte:

„Ich gehe mit!“

Da blickte der Alte sie halb verwundert und halb zornig an und fragte:

„Warum?“

„Ich will das Bild sehen, die Wachspuppe, von welcher Sie zu mir –“

„Pah!“ unterbrach er sie barsch. „Das ist nicht für Weiber!“

„Oh, warum nicht?“ antwortete sie mit fester Stimme. „Ich will mich endlich überzeugen, ob Sie ein ehrliches Spiel mit mir treiben. Ich muß endlich einmal wissen, wo sich der Eingang zu Ihrem Geheimnis befindet. Ich will endlich einmal aufhören, der Spielball Ihrer Intrigen zu sein. Ich gehe nicht von der Stelle; ich muß heute erfahren, woran ich bin!“

„Ah, Madame, kennen Sie die Sage vom verschleierten Bild zu Sais?“ fragte er, indem er sie mit einem höhnischen Blick überflog.

„Ich kenne sie“, antwortete sie.

„Und Sie wissen auch, daß derjenige, welcher den Vorhang lüftete, sterben mußte?“

„Ich weiß es.“

„Nun wohl, so halten Sie sich von diesem Vorhang fern, denn ich nehme an, daß Sie noch nicht gewillt sind, auf Ihr junges Leben zu verzichten!“

„Oh, Herr Kapitän, wollen Sie damit etwa sagen –“

„Daß Sie sterben müßten; wenn Sie versuchten, mein Geheimnis zu ergründen! Ja, das will ich allerdings sagen.“

„So werden Sie mein Mörder sein!“

„Der würde ich allerdings sein, Madame“, antwortete er, indem er ihr näher trat. Und mit drohendem Ton fuhr er fort: „Entfernen Sie sich also schleunigst aus diesem Zimmer. Es ist mir ganz gleich, ob der Tochter eines Schweinehirten auf meine Veranlassung der Atem ausgeht oder nicht. Verstanden?“

Der Kranke stand dabei, ohne ein Glied zu rühren oder ein Zeichen zu geben, daß er höre und begreife, was gesprochen wurde. Der Alte hatte ihm versprochen, daß er Liama sehen würde, das war ihm genug.

„Und wenn ich auf meinem Willen beharre?“ meinte die Baronin stolz.

„So werde ich Ihnen zeigen, wieviel Ihr Wille hier auf Ortry gilt!“

Er holte, ehe sie sich dessen versah, aus und schlug sie mit der Faust auf den Kopf, daß sie besinnungslos zusammenbrach. Dann klingelte er. Ein Diener erschien im Wohnzimmer. Der Kapitän begab sich dorthin und befahl:

„Die Frau Baronin ist ohnmächtig geworden; ihre Mädchen mögen kommen, um sie nach ihren Gemächern zu tragen!“

Sobald der Bediente sich entfernt hatte, nahm der Alte den Baron beim Arm und zog ihn fort. Als die Mädchen kamen, fanden sie keinen einzigen Menschen in den Zimmern, welche der Baron bewohnte. Die beiden Männer waren spurlos verschwunden, obgleich sie den Korridor nicht betreten hatten.

Dieses geheimnisvolle Kommen und Verschwinden war von der Dienerschaft sehr oft bemerkt worden, ohne daß eine Erklärung dazu gefunden werden konnte. Müller war so glücklich gewesen, diesem Geheimnisse gleich am ersten Tag seines Hierseins auf die Spur zu kommen. Es sollten noch ganz andere Entdeckungen seiner warten.

Er war mit Alexander zunächst nach dem Schloßgarten gegangen, um dort die Gewächshäuser und sonstigen Anlagen zu betrachten; dann hatten sie den Park aufgesucht und sich sehr lebhaft in demselben herumgetummelt. Während dieser Zeit hatte Müller seinem Zögling alles zu Gefallen getan; er erkannte in dem Knaben eine jener Naturen, welche sich am leichtesten leiten lassen, wenn man ihnen den Schein läßt, daß sie es sind, welche regieren. Er behandelte ihn danach, und so kam es, daß Alexander großen Gefallen an seinem neuen Lehrer fand, der gar nicht tat, als ob er ihn in seine pädagogische Dressur nehmen wolle, sondern sich sogar herbeiließ, Eichkätzchen mit ihm zu jagen.

Als der Knabe sich ermüdet fühlte, machte er den Vorschlag, nach dem Parkhäuschen zu gehen, um sich dort auszuruhen. Müller willigte ein. Sie fanden das kleine, einfache Häuschen, welches nur einen einzigen Raum besaß, in welchem einige Holzstühle und ein Tisch standen. Hier setzten sich beide, und Müller, der seine Augen offen hatte, zumal da er gewahr geworden war, daß sein eigenes Zimmer eine Doppelmauer hatte, bemerkte, daß die eine Wand des Häuschens, trotzdem sie, wie die anderen, nur aus Brettern bestand, eine Dicke von einigen Fuß besaß. Das fiel ihm auf.

Aus diesem Grund suchten im Laufe der Unterhaltung seine Augen diese Wand ganz unwillkürlich immer wieder und – ah, was war das? Hatte sich wirklich ein Teil der Wand jetzt ganz leise verschoben?

Er zog sein Taschentuch hervor und nahm die Brille von der Nase, wie um die erstere abzuputzen; dann wischte er sich die scheinbar blöden Augen langsam aus und hatte so Gelegenheit, unbemerkt von einem unsichtbaren Beobachter unter dem Tuch hervor mit dem einen, halb geschlossenen Auge die Stelle der Wand zu mustern, von welcher er bemerkt zu haben glaubte, daß sie bewegt worden sei.

Wirklich, es war ein ganz, ganz schmaler Riß entstanden, und Müller hätte darauf schwören mögen, sehr genau den Punkt anzeichnen zu können, wo ein schwarzes, glänzendes Auge durch die Spalte luge. Es stand unumstößlich fest, daß sich eine Person zwischen der Doppelwand befand und ihn und den Knaben belauschte. Dieser Teil der Wand war jedenfalls nach Art der Zugtüren zu bewegen, welche, anstatt in Angeln, auf einer Schiene oder in einem Falz auf kleinen Rollen oder Rädern laufen.

Wer aber war der Lauscher? Es war des Kapitäns Auge. Doch hatte Müller keine Zeit, über diesen Gegenstand nachzudenken. Er mußte sich hüten, bemerken zu lassen, daß er die Spalte entdeckt habe. Darum drehte er sich unbefangen von dieser Richtung ab und nach Alexander hin, mit welchem er eine lebhaft geführte Unterhaltung begann.

Nach einigen Minuten hatte, wie ihm ein flüchtiger Blick verriet, die Spalte sich wieder geschlossen, und da gerade jetzt Alexander vor das Häuschen trat, um einen Habicht zu beobachten, welcher in der Höhe seine Kreise zog, so herrschte im Innern der Hütte eine augenblickliche lautlose Stille, während welcher man ein Blatt hätte fallen hören können. Da, horch, entstand unter dem Fußboden ein eigentümliches Geräusch. Es war, als ob Schlüssel klirrten, als ob dann eine schwere Tür in kreischenden Angeln sich bewege. Das war allerdings nicht mit solcher Deutlichkeit zu hören, daß man die Wahrnehmung mit Sicherheit behaupten konnte, aber Müller hatte ein scharfes, gutes Gehör, auf welches er sich verlassen konnte. Er beschloß, baldigst diese auffälligen Erscheinungen zu untersuchen. Je eher dies geschehen konnte, desto besser war es, denn dieses Schloß Ortry war ein zu zweifelhafter Aufenthalt, als daß es geraten sein konnte, die Entdeckung nützlicher Geheimnisse zu verzögern.

Nachdem die beiden sich ausgeruht hatten, sprach Müller den Wunsch aus, nach dem Eisenwerk zu gehen, um sich dasselbe zu besehen. Alexander stimmte bei, doch wurden beide vom Direktor nicht sehr freundlich aufgenommen.

„Sind Sie vom Herrn Kapitän geschickt, gnädiger Herr?“ fragte er Alexander.

„Nein.“

„Oder haben Sie eine Erlaubniskarte?“ wendete er sich an Müller.



„Auch nein. Bedarf es einer solchen?“ fragte dieser.

„Allerdings.“

„Das scheint mir verwunderlich. Ich habe oft ganz ähnliche Werke besucht, deren Besitzer und Leiter es sich zur Freude gemacht haben, Fremde zu informieren. Es kann dem Besitzer eines industriellen Etablissements nur lieb sein, zu hören, daß seine Anlagen in einem Ruf stehen, der sogar den Laien herbeizieht.“

„Ich gebe das zu“, meinte der Direktor abweisend. „Sie werden jedoch ebenso bereitwillig zugestehen, daß wir oft verschwiegen sein müssen. Es kann uns nicht gleichgültig sein, ob unsere Konkurrenten erfahren, mit welchen Mitteln und auf welche Weise wir arbeiten, welche Handgriffe wir anwenden, und zu welchem chemischen Verfahren wir uns entschlossen haben.“

„Halten Sie mich für einen Konkurrenten?“ lächelte Müller.

„Ich halte Sie für das, was Sie sind, nämlich für einen Mann, der von unseren Dingen ganz und gar nichts versteht. Sie sind nicht derjenige, der uns gefährlich werden könnte; aber ich habe nun einmal Weisung, keinen Menschen ohne Erlaubniskarte einzulassen, und bitte Sie, von Ihrer Absicht abzustehen.“

„Herzlich gern“, antwortete Müller. „Ich will Sie keineswegs in Gefahr bringen. Adieu!“

Er wandte sich ab, um zu gehen. Er wußte nun, was er hatte wissen wollen, und fühlte sich befriedigt. Nicht so Alexander. Er blieb stehen und fragte:

„Bedarf auch ich einer Erlaubniskarte?“

„Allerdings, sobald Sie nicht in Begleitung des Kapitäns erscheinen.“

Da richtete sich der Knabe hoch empor und sagte:

„Wissen Sie, daß Sie mir gar nichts zu befehlen haben? Sie haben mir hier nicht das mindeste zu verbieten. Wäre ich allein, so würde ich in den Werken herumlaufen, ganz wie es mir gefällt. Aber ich will Herrn Müller nicht verlassen. Das aber muß ich Ihnen sagen, daß Sie ihn mit höflicheren Worten von Ihrer Pflicht benachrichtigen sollten. Er ist ein Mann, der mehr versteht als Sie. Sie sind ein Grobian gewesen!“

Er folgte seinem Lehrer nach, der alle diese Worte gehört hatte.

„Monsieur Müller“, sagte er, „ich muß Ihnen etwas mitteilen.“

„Was?“

„Daß ich noch niemals einen Lehrer in Schutz genommen habe.“

„Ah!“

„Daß ich es mit Ihnen tue, mag Ihnen beweisen, wie lieb ich Sie habe. Sie werden bei mir bleiben müssen. Sie sind ganz anders als die vorigen, und ich werde mich hüten, Sie wieder fortzulassen. Morgen beginne ich, Deutsch zu lernen.“

Müller war hocherfreut über diesen unerwartet schnellen Erfolg. Er erkannte, daß der Knabe ganz gute Gaben besaß, welche bisher leider vernachlässigt waren.

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