DRITTES KAPITEL Das Geheimnis von Ortry

Es war bereits um die Dämmerung, als sie das Schloß erreichten. Dort trafen sie die Gerichtspersonen, welche gekommen waren, den Tatbestand der Verunglückung des Grooms festzustellen.

Sie mußten bis zum morgigen Tag hier verweilen, doch wurde dadurch die Lebensordnung der Schloßbewohner in keiner Weise verändert, denn Punkt zehn Uhr gingen diese, wie gewöhnlich, bereits zur Ruhe.

Müller hatte sich einige Lichter besorgt. Im Laufe des Nachmittags waren seine Effekten aus Thionville gekommen. Dabei befand sich eine kleine Blendlaterne. Er hatte sich mit derselben versehen, weil er ja wußte, daß er als Eclaireur nach Ortry ging und als solcher sehr leicht in die Lage kommen konnte, dieses nützliche Instrument zu gebrauchen. Als er keine Bewegung mehr im Schlosse wahrzunehmen vermochte, zog er sich um, aber im Dunklen, um nicht durch die Glastafel beobachtet werden zu können.

Er legte einen Bart an, zog eine Bluse über, wie man sie in jenen Gegenden trägt, und tauschte die Stiefel mit leichten Schuhen um, welche den Schritt nicht so leicht hörbar werden ließen, wie jene. Den Buckel hatte er abgeschnallt.

Es konnte ihm nicht einfallen, sich zur Treppe hinab zu begeben. Er hatte sich während des Tages bereits einen anderen Weg ersehen. Nachdem er die Tür fest verschlossen und einen geladenen Revolver zu sich gesteckt hatte, öffnete er das nördliche Fenster und schwang sich durch dasselbe hinaus auf das Dach. Da dasselbe ziemlich eben war, konnte er ganz ohne Gefahr dort aufrecht gehen; aber er tat das nicht, sondern kroch in liegender Stellung fort, da sich seine hohe Gestalt sonst gegen den Himmel abgezeichnet hätte und von unten auffällig werden konnte.

So kam er an den Blitzableiter. Er hatte ihn am Tage bemerkt und mit seinem scharfen Auge geprüft. Die Leitung war nach alter Weise aus starken, viereckigen Eisenstäben hergerichtet und wurde von breiten Haltern unterstützt, welche in Entfernungen von höchstens zehn Fuß voneinander standen, so daß der stärkste Mann da ganz gefahrlos auf und nieder klettern konnte. Übrigens war von der Mauer schon längst der Bewurf abgefallen; ein Kletterer konnte, wenn nicht jemand ganz in der Nähe stand, gar nicht bemerkt werden.

Müller legte sich mit den Beinen über die Dachrinne hinab, faßte dann den Leiter und rutschte auf den obersten Halter hinunter, von diesem auf den zweiten und so weiter. Als er von außen die zweite Etage erreichte, kam er zwischen zwei Fenster zu stehen, welche erleuchtet waren. Es warf einen vorsichtigen Blick hinein und gewahrte – den Kapitän. Was hatte dieser Seltsames vor?

Müller bemerkte nämlich, daß der Alte eine Pistole sehr sorgfältig lud und in die Tasche steckte, dann trat er zu einem Schrank, dessen Tür er öffnete. Der Lauscher glaubte, jener werde irgendein Kleidungsstück aus dem Schrank nehmen; statt dessen aber stieg er ganz hinein und zog die Tür hinter sich zu. Müller wartete ein Weilchen, doch der Alte kam nicht wieder heraus. Was war das?

„Ist in dem Schrank eine geheime Verbindungstür verborgen?“ fragte sich der Lehrer. Nein, sie wäre ja überflüssig, da gleich daneben eine Tür in das Nebenzimmer führt. Oder befindet sich im Schrank der Eingang zu den Doppelmauern. Das wäre eher zu glauben. In diesem Fall aber mußte Müller vorsichtig sein, denn es stand zu vermuten, daß der Kapitän soeben einen seiner Beobachtungsgänge angetreten habe. Wie nun, wenn er auch nach dem Parkhäuschen kam?

Müller stieg weiter herab und schlich sich nach dem Garten, als er die Erde erreicht hatte. Von dort aus ging er nach dem Park.

Es war zwar dunkel, aber beim hellen Schein der Sterne konnte man doch immerhin bemerkt werden. Darum hielt er sich immer unter dem Schutz der Bäume, welche die Rasenstellen des Parks begrenzten. Eben wollte er über eine kleine Lichtung hinüberhuschen, als er den Schritt anhielt.

„Pst!“ erklang es leise neben ihm. „Ich hörte Sie kommen!“

Wer war das? Es hatte wie eine weibliche Stimme geklungen. Er sollte keinen Augenblick im Zweifel bleiben, denn eine warme, weiche Hand erfaßte die seine, und zu gleicher Zeit legte sich ein voller Arm zärtlich um ihn.

„Ich dachte, Sie erwarteten mich bereits“, flüsterte es weiter. „Ich konnte nicht eher kommen, denn mein Schwiegervater ging erst jetzt von uns fort, und dann mußte ich ja erst Alexander zur Ruhe bringen, welcher nicht müde wurde, von seinem neuen Erzieher zu erzählen. Da wir uns hier treffen, brauchen wir nicht viel weiter zu gehen. Komm, unter jenen Eschen steht eine Bank!“

Sie zog ihn leise fort, ohne den Arm von ihm zu nehmen. Was sollte er tun? Für wen hielt sie ihn? Es war die Baronin; das hatten ihm ihre Worte bereits verraten. Er war als Kundschafter hier. Es gab vielleicht Gelegenheit, etwas Wichtiges zu erfahren. Er beschloß, die ihm angetragene Rolle aufzunehmen und soweit wie möglich zu spielen. Die Baronin erwartete einen heimlichen Liebhaber; das war sicher; er fühlte keine Gewissensbisse, das untreue Weib zu täuschen.

Sie erreichten die Bank. Er setzte sich, und die Dame nahm auf seinem Schoß Platz. Diese Vertraulichkeit war der sicherste Beweis, daß derjenige, dessen Stellvertreter Müller so unerwartet geworden war, bereits längere Zeit mit der Baronin in heimlichem Verkehr stand. Sie legte sich fest, innig und warm an ihn, und aus den vollen, üppigen Formen, welche er fühlte, bemerkte er, daß er sich vorhin nicht getäuscht hatte, als er an ihrer Stimme und aus ihren Worten sie als die Baronin erkannte.

Aber für wen galt denn er? Dies zu erfahren, war die Hauptsache. Sie selbst kam ihm zu Hilfe, denn sie sagte:

„Alexander erzählte mir, daß er heute mit Monsieur Müller bei Ihnen gewesen sei. Sie haben sich aber geweigert, ihn einzulassen!“

Ah, also der Direktor war der heimliche Geliebte dieses Weibes! Müller fühlte sich erleichtert. Er hatte fast ganz die Gestalt des Direktors; sein falscher Bart glich dem des letzteren zufälligerweise fast ganz; auch hatte er ja mit diesem Mann gesprochen und seine Stimme zur Genüge gehört, um sie leidlich nachahmen zu können.

„Ich durfte ja nicht“, antwortete er leise.

„Allerdings! Dieser alte Kapitän ist sehr streng; aber dennoch wünsche ich, daß Sie Rücksicht auf Alexander nehmen, der ja Ihr zukünftiger Herr ist, und daß Sie Monsieur Müller freundlicher begegnen.“

Sie sprach im Flüsterton, und so wurde es Müller leicht, seine Stimme zu verstellen, da dies im Flüsterton am wenigsten schwierig ist.

„Diesen Deutschen? Ah!“ sagte er.

„Ich weiß, daß Sie die Deutschen hassen, ebenso wie ich es tue; Ihre ganze jetzige Tätigkeit ist ja darauf gerichtet, sie zu verderben; aber ich möchte mit ihm eine Ausnahme machen. Alexander liebt ihn.“

„Das wäre ja wunderbar!“

„Ja, er hat noch keinen seiner Lehrer geliebt; aber Monsieur Müller hat ihm das Leben gerettet und dann auch sein Herz zu gewinnen vermocht. Übrigens ist er nicht mit anderen Schulmeistern zu vergleichen.“

„Warum nicht, meine Teure?“

„Ah, endlich einmal ein zärtliches Wort: meine Teure! Wissen Sie, daß Sie heute abend ungemein zurückhaltend sind?“

Sie schmiegte sich an ihn und küßte ihn mit der Glut eines leidenschaftlichen, treulosen Weibes. Er wagte es kaum, diesen Kuß zu erwidern.

„Auch Ihre Küsse sind kalt! Ich werde Sie zu strafen wissen, und zwar sofort!“

„Womit?“ fragte er auf diese Drohung.

„Damit, daß ich Ihnen sage, daß dieser Deutsche Ihnen bei mir gefährlich werden kann!“

„Fi donc! Dieser buckelige Kerl!“

„Wenn Sie ihn reiten, fechten und schießen gesehen hätten, so würden Sie ganz und gar nicht an diesen kleinen Fehler denken, an dem er doch unschuldig ist. Ich möchte wirklich wissen, ob er ebenso feurig küßt, wie er den Degen führt.“

Es war klar, daß dieses Weib ihren vermeintlichen Liebhaber eifersüchtig machen und dadurch anregen wollte, seine Zärtlichkeit zu verdoppeln. Müller legte also die Arme fest um sie, drückte sie mit nachgeahmter Innigkeit fest an sich und vermochte es nun auch nicht zu verhindern, daß sie ihren Mund mit aller Kraft auf den seinigen legte, welches ihn fast in Verlegenheit brachte. Nicht nur ihre Lippen, sondern auch ihre Zunge waren bei diesem Kuß tätig. Da aber lösten sich plötzlich ihre Arme von ihm; sie fuhr zurück und sagte:

„Was ist das? Sie haben ja ganz andere Zähne!“

„Inwiefern?“ fragte er.

„Ich habe ja noch heute morgen Ihre Zahnlücke gefühlt!“

Er bemerkte, daß sein Inkognito sich in großer Gefahr befinde, und antwortete:

„Hm, leicht erklärlich! Der Dentist brachte mir heute den bestellten Zahn.“

„Ah, Sie lügen! Es fehlte Ihnen keiner; die beiden vorderen standen etwas zu weit auseinander. Zeigen Sie Ihre rechte Hand!“

O weh, jetzt war die Schäferstunde vorüber, denn es fiel erst jetzt Müller ein, daß er heute während seines Gespräches mit dem Direktor bemerkt hatte, daß diesem, jedenfalls in Folge eines kleines Unfalles, an der rechten Hand ein Fingerglied fehlte.

Sie hatte, ehe er es verhindern konnte, seine Hand ergriffen, welche sie befühlte. Kaum hatte sie bemerkt, daß diese vollständig sei, so sprang sie empor, um zu entfliehen. Ebenso schnell jedoch besann sie sich. Sie drehte sich wieder um und fragte:

„Kennen Sie mich?“

Sollte er sie schonen? Nein; sie war es nicht wert!

„Ja“, antwortete er.

„Nun, wer bin ich?“

„Die Baronin de Sainte-Marie.“

„Gut, so bitte ich um gleiche Karten! Wer sind Sie?“

Er erhob sich und trat einen Schritt zurück.

„Das werden Sie jetzt nicht erfahren, Madame.“

„Jetzt nicht, aber später vielleicht?“

„Möglich!“

„So sagen Sie mir wenigstens, was Sie sind!“

„Ich bin Offizier“, antwortete er.

„Woher? In welcher Truppe?“

„Das muß ich leider verschweigen.“

„So lügen Sie! Ein Offizier ist gewöhnlich ein Ehrenmann, und ein solcher wird die Täuschung, in welcher sich eine Dame befindet, nicht in der Weise benutzen, wie Sie es getan haben.“

„Unter Umständen kann er vielleicht dazu gezwungen sein, teure Baronin.“

„Welche Umstände wären dies? Was wollen Sie des Nachts in Ortry? Ich kenne keinen Offizier, welcher das Recht oder die Erlaubnis hätte, zu dieser Stunde hier zu verkehren.“

Was sollte er antworten? Da kam ihm die beste Ausrede, die es geben konnte:

„Denken Sie an Paris!“

„Ah, Sie haben mich in Paris gekannt?“

„Halten Sie dies für unwahrscheinlich? Kann Sie jemand vergessen, der Sie dort gesehen und bewundert hat?“

„Und Sie wollen sich mir wirklich nicht entdecken?“

„Heute noch nicht, meine Gnädige.“

„So geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie mich nicht verraten und den Inhalt unserer Konversation keinem Menschen mitteilen wollen!“

„Ich verspreche Ihnen gern, auf diese schöne Stunde nur Ihnen gegenüber zurückzukommen. Ist Ihnen dies genug?“

„Ja, aber Ihr Gesicht muß ich dennoch sehen.“

Sie trat rasch zu ihm heran, warf die schönen, üppigen Arme um seinen Nacken und versuchte, seinen Kopf tiefer zu ziehen. Es gelang ihr nicht.

„Dann bitte wenigstens noch einen Kuß!“ bat sie in verführerischem Ton.

Es war klar, daß sie dabei ihr Gesicht abermals in die Nähe des seinigen bringen wollte, um ihn genauer anzusehen, als sie es vorher getan hatte.

„Den sollen Sie gern haben!“ lachte er leise.

Er bog sich zu ihr herab und küßte sie; zu gleicher Zeit jedoch legte sich seine Hand ihr auf beide Augen, so daß sie nicht das geringste erkennen konnte. Im nächsten Augenblick hatte er sich aus ihren Armen losgemacht, und sie hörte an dem schnellen Rauschen seiner Schritte, daß er sich entfernte.

Sie stand da, mehr berauscht als erschreckt. Er war Offizier und hatte ihr sein Ehrenwort gegeben; ihr Ruf stand in keinerlei Gefahr. Aber wer war er denn? War er wirklich von Paris hierher gekommen, nur aus Liebe zu ihr des Nachts das Schloß zu umschleichen? Stand er jetzt vielleicht in Thionville in Garnison? Ah, dann kam er jedenfalls wieder! Er hatte ja gehört, daß sie einem andern erlaubte, sie heimlich zu treffen; er durfte alle Hoffnung haben, diese Erlaubnis auch zu erhalten.

Ein schöner, voller, kräftiger Mann war es gewesen; das hatte sie gefühlt. Noch umwob sie der feine, eigentümliche Duft, der von ihm ausgegangen war; von seinen Kleidern, seinem Bart oder seinen Haaren; sie wußte es selbst nicht, denn sie hatte nicht darauf geachtet, und erst jetzt dachte sie an dieses Parfüm, nachdem er fortgegangen war.

Was aber nun? Durfte sie den Direktor warten lassen? Nein. Sie hatte ihm ihr Wort gegeben und mußte es halten. Darum schlich sie sich leise dem Ort zu, an welchem das Stelldichein stattfinden sollte. –

Müller hatte sich schnell entfernt. Er schritt dem Parkhäuschen zu, aber jetzt mit völlig unhörbaren Schritten. Er war klug geworden; seine Schritte waren vorher doch noch so unvorsichtig gewesen, daß die Baronin ihn gehört hatte.

Er kam am Häuschen an und stand bereits im Begriff, einzutreten, als er von innen ein Geräusch vernahm, als ob man Bretter leise zur Seite schiebe. Er trat zurück und versteckte sich hinter einem Busch. Ein dünner Lichtschein drang durch die Spalten der Wand, aber nur einen Augenblick lang; dann wurde es wieder dunkel.

Jetzt öffnete sich leise die Tür. Ein Mann trat hervor. Da Müller tief am Boden kauerte, so zeichnete sich ihm die Gestalt dieses Mannes gegen das Sternenlicht so genügend ab, daß er in ihr den alten Kapitän erkannte.

Was wollte dieser hier? Stand das Häuschen mit dem Schrank im Zimmer des Alten in geheimer Verbindung? Müller hatte keine Zeit, diese Frage auszudenken. Der Kapitän schritt quer über die Parklichtung hinüber. Müller eilte in einem Bogen am Rande der Lichtung hin, um jenem zuvor zu kommen. Es gelang ihm. Er stellte sich hinter eine starke Eiche, an welcher der Kapitän vorüberging und unter die Bäume trat. Müller konnte ihn nicht mehr sehen, aber er beschloß dennoch, der Richtung zu folgen, welche der Alte eingeschlagen hatte. Er kauerte sich nieder und schob sich auf Händen und Füßen weiter. An einem jeweiligen Rascheln hörte er, daß der Kapitän hart vor ihm sei. Es schien, daß auch er ganz langsam vorwärts krieche.

Nicht lange, so war es dem Deutschen, als ob er leise Stimmen flüstern höre. Er verdoppelte seine Vorsicht. Sein Auge hatte sich jetzt einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt, und so gewahrte er den Alten hart hinter einer Bank, welche unter den ersten Bäumen stand, von denen die Lichtung eingefaßt wurde, auf der Erde liegen. Müller näherte sich und bückte sich seitwärts der Bank an einem Baumstamm nieder. Er lag jetzt der Bank näher als der Kapitän und konnte die Unterhaltung der beiden Personen, welche darauf saßen, jedenfalls auch besser hören als dieser.

Sie bestand aus einem glühenden Liebesdialog. Der Direktor, den die Baronin hier nun wirklich gefunden hatte, war nicht so zurückhaltend wie der Deutsche vorher, und so konnte sich dieser sehr leicht denken, mit welchem Grimm der Alte dieses Zwiegespräch belauschen möge.

Da erhob sich plötzlich der letztere und trat mit einem raschen, weiten Schritte vor die beiden hin.

„Guten Abend, Frau Tochter! Guten Abend, Herr Direktor!“ sagte er.

Der Direktor fuhr empor, starrte den Alten an und sprang dann eilig davon. Er kannte denselben genau und mochte daher seine Nähe unter den obwaltenden Umständen für gefährlich halten. Die Baronin aber konnte vor Schreck weder laufen noch stehen. Sie versuchte zwar, sich zu erheben, sank aber mit einem matten Laut wieder nieder.

„Das sind nun einmal wieder die richtigen Dorfmädchenstreiche!“ höhnte der Alte.

Sie nahm sich gewaltig zusammen und antwortete:

„Was tun Sie hier? Woher kommen Sie? Welche Worte erlauben Sie sich?“

„Ah, die Frau Tochter hat wohl nur den schönen Frühlingsabend genießen wollen?“ fragte er mit dem häßlichsten Lachen, welches man nur hören kann.

„Was anders?“

„Und sitzt hier in den Armen meines Direktors!“

„Lügen Sie nicht!“ fuhr sie auf.

„Oh, ich habe es gesehen! Meine Augen sind alt, aber gut!“

„Aber wissen Sie auch, wie es gekommen ist?“

„Ah, ich bin ganz begierig, Ihre Erklärung zu hören!“

„Sie sollen sie hören, um zu erfahren, wie sehr Sie mich beleidigen! Ich kam hierher, um den Abend zu genießen. Da erhob sich gerade vor mir eine dunkle Gestalt von der Bank. Ich erschrak natürlich und wurde ohnmächtig! Der Direktor – denn dieser war es – fing mich auf. Als ich erwachte, standen Sie vor mir. Das ist alles!“

Sie hatte versucht, ihren Worten den Ton gekränkten Stolzes zu geben; aber bei diesem Mann verfing ein solches Mittel nicht. Er verschlang die Arme über der Brust und sagte:

„Warum sind Sie nicht zum zweiten Male ihn Ohnmacht gefallen, als die zweite Gestalt vor Ihnen stand? Entweder steht Ihnen nur eine einmalige Ohnmacht zur Verfügung, oder die erste existiert nur in Ihrem lügenhafte Kopf. Wie kann überhaupt von einer Ohnmacht die Rede sein bei einem Bauernmädchen, welche mit Nerven begabt sind, die nur mit Wagenstricken zu vergleichen sind!“

„Herr, beleidigen Sie mich nicht weiter!“

„Pah! Scherzen Sie nicht mit mir! Ich habe mich eine volle Viertelstunde lang hier befunden und jedes Wort gehört, welches gesprochen wurde.“

Sie war jetzt wirklich einer Ohnmacht nahe, trotz der starken Nerven, mit denen sie begabt sein sollte.

„Sie werden unverschämt!“ schluchzte sie.

„Ah, pah! Ihnen gegenüber muß man es sein!“ höhnte er. „Und wenn Sie weiter leugnen wollen, so will ich Ihnen sagen, daß der Direktor heute früh bei Ihnen war, ehe er mich aufsuchte –“

„Was geht Sie das an?“ unterbrach sie ihn.

„Daß Sie sich da über die gegenwärtige Zusammenkunft verabredeten –“

„Lügner!“

„Und daß Sie ihm beim Abschied Ihre schönen Lippen boten, als er sich nur begnügen wollte, Ihre Hand zu küssen.“

„Oh, wer errettet mich von diesem Teufel!“ rief sie.

„Sagen Sie das Wort nicht noch einmal, sonst schlage ich Sie zum zweiten Mal nieder, wie ich Sie bereits einmal heute niedergeschlagen habe!“

Er erhob wirklich den Arm, als ob er zuschlagen wolle, und schon machte Müller sich bereit, aufzuspringen, um eine solche Roheit zu verhindern, da ermannte sich die Baronin. Sie schnellte von ihrem Sitz empor und eilte davon.

„Sie mag gehen, immer gehen“, brummte der Alte, „mir entgeht sie doch nicht!“

Er wendete sich um und schritt davon, dem Häuschen wieder zu. Müller folge ihm auf dem Fuß, denn jetzt bot sich vielleicht die beste Gelegenheit, zu sehen, wie der geheime Aus- und Eingang geöffnet werde.

Als er bei der Parkhütte ankam, war der Kapitän bereits eingetreten. Müller schlich sich näher. Er stand vor dem einen Fenster, welches in der Nähe seines Kopfes angebracht war. Da flammte drinnen ein Lichtschein auf. Der Alte stand im Begriff, eine Laterne anzuzünden. Er fühlte sich so sicher, daß er sich gar nicht die Mühe gab, vorher die Läden zu schließen, damit das Licht nicht von außen bemerkt werden könne. Dann faßte er nach einem Nagel, welcher scheinbar zu irgendeinem anderen Zweck in die Wand geschlagen war, und schob ihn nach der linken Seite zu. Einige Bretter wichen zurück. Sie bildeten, untereinander fest verbunden, eine Tür, welche auf Rollen ging, ganz so, wie Müller vermutet hatte.

Der Kapitän trat in die entstandene Öffnung und schob die Tür von innen wieder vor. Sie schloß genau wie vorher. Man mußte das gesehen haben, was Müller beobachtet hatte, sonst wäre man sicher nicht auf den Gedanken gekommen, daß diese Stelle der Wand eine Tür bilde.

Der Deutsche schlich sich augenblicklich durch die Tür in das Häuschen hinein und legte sich dort mit dem Ohr auf den Boden nieder, um zu lauschen. Er hörte unter sich dumpfe Schritte, welche nach und nach verhallten.

Sollte er folgen? Gewiß! Vielleicht fand sich niemals wieder eine so gute Gelegenheit, den Kapitän zu beobachten.

Er zog also seine Laterne auch hervor und brannte das Licht derselben an. Dann schob er die Tür ganz in derselben Weise zurück, wie es der Alte getan hatte. Als er hineingetreten war, sah er eine schmale Treppe, welche in gerader Richtung in die Tiefe führte. An der Innenseite der Tür gab es einen zweiten Nagel, welcher als Handhabe diente, sie wieder zu verschließen. Müller tat dies und stieg dann die Treppe hinab, während er in der einen Hand die Laterne und in der anderen den Revolver hielt. Es waren über zwanzig Stufen, welche er zu steigen hatte. Dann kam er in einen großen, viereckigen Raum, in welchem allerlei Hacken, Schaufeln und andere Geräte lagen, deren Zweck ihm erst in späterer Zeit einleuchtete.

Dieser Raum hatte zwei Ausgänge, einen nach dem Schloß zu, welcher gar keine Tür zeigte und einen nach dem Wald zu, welcher durch ein starkes, mit Eisenblech beschlagenes Tor verschlossen war. Der unterirdische Weg nach dem Schloß hin bestand aus einem Stollen, welcher sehr trocken zu sein schien.

Da der Kapitän gar nicht weit vor dem Doktor sein konnte, so steckte der letztere die Laterne in die Tasche und schritt im Dunkeln weiter. Nur zuweilen zog er sie ein klein wenig heraus, um einen schnellen Lichtblitz auf seinen Weg fallen zu lassen und sich dadurch zu vergewissern, daß er keiner Gefahr entgegengehe.

So kam er, da er sich mit beiden Händen an den Seitenwänden stützen konnte, sehr schnell vorwärts und sah schließlich einen Lichtschein vor sich auftauchen. Da ging vorn der Kapitän. Müller trat so leise wie möglich auf, um nicht gehört zu werden, konnte aber die Schritte des Alten, dem er sich immer mehr näherte, ganz deutlich vernehmen.

Nach einer Weile fühlte der Lehrer, daß die Wände jetzt aus Steinen bestanden. Er befand sich jedenfalls unter dem Schloß. Und hier verschwand auch des Alten Licht nach oben.

Müller folgte im Dunkeln, zog seine Laterne hervor, und er bemerkte beim Schein derselben, daß er sich in einem eigentümlich angelegten Gemäuer befand, von welchem aus schmale Treppen nach mehreren Seiten emporführten. Er erkannte sofort, daß hier alle geheimen Gänge des alten Schlosses zusammenstießen.

Noch hörte der die Schritte des Alten über sich. Er folgte ihm mehrere Stockwerke hoch auf einer nur zwei Fuß breiten Treppe, bis er plötzlich einen sehr hellen Lichtfleck vor sich sah und zwei Stimmen hörte, welche miteinander sprachen. Er steckte seine Laterne ein und schlich näher. Je näher er kam, desto deutlicher erkannte er die Stimmen; es waren diejenigen des Kapitäns und des Direktors.

Die helle, viereckige Lichtstelle fiel durch eine Öffnung in der Seitenmauer. Müller wagte es, sich bis an den Rand dieser Öffnung heranzuschleichen, und konnte nun die ganze Szene überblicken.

Er befand sich hinter einer Wand des Zimmers, welches der Direktor bewohnte. Dieses Zimmer war mit Eichenholz getäfelt und ein Fach der Täfelung bildete eine geheime Tür, welche jetzt geöffnet war. Der Direktor stand mit sichtlich erschrockenem Gesicht vor dem Alten, der durch die Mauer erschienen war wie ein Geist. Der Direktor konnte sich dies nicht erklären.

„Überwinden Sie Ihren Schreck! Sie sehen ja, daß ich kein Gespenst bin.“

Diese Worte des Kapitäns waren die ersten, welche Müller deutlich hörte.

„Aber, gnädiger Herr, wie kommen Sie zu mir?“ stammelte der Direktor.

„Durch diese geheime Tür. Sie sehen es ja!“ antwortete der Alte. „Ich habe es vorgezogen, auf diesem ungewöhnlichen Weg zu erscheinen, weil auf diese Weise von niemand bemerkt wird, daß wir so spät noch eine Unterredung haben. Sie ahnen, über welchen Gegenstand?“

„Ich möchte doch lieber vorher nach demselben fragen, gnädiger Herr!“

„Schön! Aber setzen Sie sich, Herr Direktor; Sie zittern ja am ganzen Körper! Was ist's mit Ihnen?“

Seine Worte klangen gar nicht zornig oder höhnisch, wie man hätte erwarten können; sie waren sogar in einem teilnehmenden Ton ausgesprochen.

„Oh, es ist ja nur der Schreck, der mich überfiel, als diese Wand sich teilte und Sie hereintraten. So etwas erwartet man doch nicht.“

„Ich kann allerdings begreifen, daß Sie erschrocken sind. Welcher Schreck war denn übrigens größer, der jetzige oder der unten im Garten?“

„Gnädiger Herr –“, stammelte der Direktor, blieb aber in der Rede stecken.

„Na, Sie waren ja im Garten! Nicht?“

„Allerdings“, gestand der Gefragte.

„Bei meiner Schwiegertochter?“

„Ja.“

Der Direktor wurde von Sekunde zu Sekunde bleicher. Der Alte schien dies nicht zu beachten. Er fuhr im freundlichsten Ton fort:

„Der heutige Tag ist ein eigentümlicher. Ich habe da mehr sprechen müssen, als sonst in einem Monat, und Sie wissen ja, daß ich das nicht liebe. Aber es gibt Dinge, welche man nicht unbesprochen liegen lassen kann. Warum liefen Sie denn eigentlich im Garten davon, Herr Direktor?“

„Weil – – – weil – ich dachte –“, stammelte der Gefragte in höchster Verlegenheit.

„Weil Sie dachten, ich könnte dieser Szene einer falschen Darlegung unterwerfen, meinen Sie? Nun, die Frau Baronin hat mich aufgeklärt. Sie hat den Abend genießen wollen, und Sie sind aus ganz demselben Grund nach dem Garten gegangen. Meine Frau Tochter ist über Ihr Erscheinen so erschrocken gewesen, daß sie in Ohnmacht fiel, und Sie haben sich ihrer ritterlich angenommen. Das hat sie mir erzählt, als Sie fort waren.“

Dem Direktor fiel bei diesen Worten ein schwerer Stein vom Herzen. Der Alte fuhr fort:

„Ich will gestehen, daß ich Ihnen für einen Augenblick im Herzen Unrecht getan habe; aber daran war Ihre plötzliche, unmotivierte Flucht schuld. Warum rissen Sie aus? Das mußte doch Verdacht erwecken! Ich bitte Ihnen hiermit meinen Verdacht ab und werde ihn sogleich gutmachen. Haben Sie Papier bei der Hand?“

„Genug“, antwortete der Direktor aufatmend.

„So nehmen Sie einen halben Bogen und fertigen Sie mir das Blanquet einer Quittung aus. Ich habe Ihnen heute eine Gratifikation versprochen. Wo ist das Geld, welches Sie wieder mit fortnehmen mußten?“

„Hier in meinem Schreibtisch.“

„Zählen Sie es auf!“

Müller sah, daß der Direktor das Geld aus dem verschlossenen Fach nahm, und da es mit lauter Stimme aufgezählt wurde, so hörte er deutlich, wieviel es war. Es waren die beiden Summen, von denen der Direktor heute gesprochen hatte. Der letztere bemerkte am Schluß:

„Diese beiden Firmen sind stets so vorsichtig, die Nummern ihrer Noten einzutragen und die letzteren außerdem zu zeichnen. Sie sehen auf jeder einzelnen die betreffenden Buchstaben, gnädiger Herr.“

„Das mag für gewisse Fälle gut sein“, meinte der Veteran trocken. „Doch das Blanquet, Herr Direktor!“

„Warum Blanquet, gnädiger Herr? Wollen Sie nicht die Gewogenheit haben, das Dokument gleich fertigen zu lassen?“

„Ich habe mich noch nicht entschlossen, welche Summe ich Ihnen aussetzen werde. Ich will erst morgen nachsehen, was und wie in den letzten Tagen gearbeitet worden ist. Setzen Sie einfach das Datum, nämlich das heutige, unten in die linke und Ihren Namen in die rechte Ecke.“

„Ganz wie Sie befehlen, Herr Kapitän!“

Er schrieb Namen und Datum in die beiden Ecken und reichte dann das Blatt dem Alten hin. Dieser betrachtete die Unterschrift genau und sagte sodann in einem ganz und gar veränderten Tone:

„So, das genügt, freilich nicht, Sie zu belohnen, sondern Sie zu bestrafen!“

Der Direktor blicke ihn überrascht an und fragte:

„Bestrafen? Verstehe ich recht, gnädiger Herr?“

„Sie haben ganz und gar richtig gehört. Sie sollen bestraft werden, sagte ich.“

„Wofür?“

„Erstens dafür, daß Sie es wagen, Ihre Hand nach der Baronin auszustrecken.“

„Ah, Sie haben doch soeben selbst gesagt, daß die Frau Baronin so gnädig gewesen sei, Sie über die Situation aufzuklären!“

„Hm, sie hat es freilich versucht, aber ich bin nicht der Mann, der sich von einem Weib betrügen läßt. Ich weiß alles, alles mein Herr!“ lachte der Alte höhnisch.

Der Direktor erbleichte, als er die Mitteilung des Kapitäns vernahm, versuchte aber dennoch, sich zu verteidigen.

„Da muß ein großer, beklagenswerter Irrtum vorwalten, Herr Kapitän.“

„Oh, nicht im geringsten! Ich habe hinter der Bank gestanden und Ihre ganze Unterhaltung mit angehört. Übrigens sehen Sie jetzt, daß ich geheime Gänge und Beobachtungspunkte habe. So gelang es mir, alle Zusammenkünfte, welche Sie mit der Baronin in deren Boudoir hatten, zu belauschen.“

Der Direktor sank auf den Stuhl zurück und schloß vor Schreck die Augen.

„Noch heute früh“, fuhr der Alte in strengstem Ton fort, „hörte ich, daß Sie sich für den Abend in den Park bestellten. Ebenso verstand ich jedes Wort, was Sie über mich sprachen. Ich brachte da zum Beispiel in Erfahrung, daß Sie nur durch die Liebe zur Baronin in Ihrer gegenwärtigen Stellung festgehalten werden. Sagen Sie da gefälligst selbst, ob dies Belohnung oder Strafe verdient?“

„Gnädiger Herr“, rief da der Mann entsetzt, „ich habe Ihnen treu gedient; ich bin es gewesen, der Ihr Etablissement zu dem gemacht hat, was es ist!“

„Treu gedient? Hahaha! Hier kommt das zweite, wofür ich Sie bestrafen muß!“

„Was ist es?“ fragte der Direktor voller Angst. Er kannte den Alten; er wußte, daß bei ihm von Nachsicht keine Rede sei. Er begann, alles zu befürchten.

„Da ich hörte, daß Sie nur durch die Baronin festgehalten werden, so hatte ich das Recht, Ihnen zu mißtrauen. Ich beschloß also, Ihre Effekten zu durchsuchen.“

„Ah! Sie hatten kein Recht dazu!“

Jetzt gewann der Direktor seinen Mut wieder. Sie standen sich Mann und Mann gegenüber; da war einer so viel wert wie der andere. Er beschloß, sich zu wehren.

„Schweigen Sie!“ gebot der Alte. „Sie sehen, daß ich heimlich in Ihre Wohnung treten kann. Sie wissen ferner, daß Sie kein Eigentum hier besitzen, daß alle diese Möbel mir gehören. Ich habe zu ihnen, selbst zu den geheimen Fächern, Doppelschlüssel. Während Sie im Park Ihre Kurtisane erwarteten, trat ich durch die Tür in Ihre Wohnung ein und durchsuchte die geheimen Fächer Ihres Schreibtisches. Wissen Sie, was ich gefunden habe?“

Der Direktor erkannte, daß Leugnen gar nichts helfen könne. Am besten war hier die Frechheit am Platz; darum trat er auf den Alten zu und sagte drohend:

„Sie haben es wirklich gewagt, in meine Wohnung einzudringen?“

„Allerdings!“ lachte der Veteran. „Haben Sie etwas dagegen, Monsieur?“

„Das wird sich finden! Nun, was haben Sie denn entdeckt, Herr Kapitän?“

„Oh, verschiedenes! Aber ich will Ihnen nur das eine vorlesen!“

Er zog einen Brief aus der Tasche, entfaltete ihn und las:

„Herrn Fabrikdirektor Metroy in Ortry.

Auf hohen Befehl ist Ihnen mitzuteilen, daß man nicht gesonnen sein kann, von Ihrer Offerte Gebrauch zu machen. Wenn es in Frankreich wirklich geheime Waffenplätze gibt, welche angelegt werden, um Franc tireurs und andere Rotten auszurüsten, so kann dies eine Regierung nicht wankend machen, welche mit Ihrem Kaiser im besten Einvernehmen steht.

Wir sehen übrigens auch davon ab, Ihren Behörden von Ihrem Anerbieten irgendwelche Mitteilung zu machen, werden jedoch Ihr Schreiben für spätere Fälle bei uns in sorgsame Verwahrung nehmen.“

Die Augen des Kapitäns funkelten, als er diesen Brief, dessen Unterschrift er nicht mit vorgelesen hatte, wieder in die Tasche steckte. Er knirschte:

„Sie haben also unser glorreiches Unternehmen für schnödes Geld verraten wollen!“

„Nur aus dem Grund, weil Sie knausern und mich nicht bezahlen wollen“, antwortete der Direktor.

„Sie gestehen es also ein?“

„Warum nicht?“ fragte der Mann, indem er gleichmütig die Achseln zuckte.

„Ah, wissen Sie, daß ich der Arrangeur des ganzen Werkes bin? Daß alle mir Treue geschworen haben und daß ich jede Untreue bestrafen werde?“

„Pah, mich können Sie nicht bestrafen!“ lachte der Direktor.

„Warum nicht?“

„Weil Ihr ganzes Lager sich in meiner Hand befindet. Sie haben mich vorhin erschreckt, weil ich mich wirklich schuldig fühlte, aber dieser Schreck hat nicht lange gedauert. Sie glauben, mein Meister zu sein, aber ich bin der Ihrige. Ich habe mich vorgesehen. Was verstehen Sie von Chemie, von Galvanismus, von Elektrizität! Dieses Zimmer steht mit den Eisenwerken und dem Lagerraum in elektrischer Verbindung. Es bedarf nur eines einzigen Griffs, eines leisen Druckes, so fliegt alles in die Luft, Ihre Fabriken und ihre sämtlichen Vorräte. Dann mögen Sie Ihre Franc tireurs gegen Deutschland bewaffnen, wenn sie können!“

„Alle Teufel!“ rief der Alte, welcher doch gewaltig erschrak.

„Sie sehen jetzt, wie die Sachen stehen“, fuhr der Direktor in stolzem Ton fort, denn er war überzeugt, daß jetzt er es sei, der die Trümpfe in der Hand hielt. „Ich mag mit Ihnen nichts mehr zu tun haben, da aber das Werk zum großen Teil auch das meinige ist, so möchte ich es nicht gern zerstören. Als ich mein Geheimnis dem Feind zum Verkauf anbot, war es mir darum zu tun, meine Mühen anständig belohnt zu erhalten. Zahlen Sie mir das, was ich von denen da drüben gefordert habe, so will ich zufrieden sein und Sie mit dem Versprechen verlassen, von jeder Feindseligkeit abzusehen. Ich habe Ihnen meine Kenntnisse und Erfahrungen geliehen; ich habe Tag und Nacht gearbeitet; ich darf auch meine Gratifikation verlangen.“

Die Augen des Alten zogen sich zusammen, und sein Schnurrbart stieg empor, um die Zähne sehen zu lassen, aber er beherrschte sich und fragte in möglichst ruhigem Ton:

„Welchen Preis haben Sie von den Deutschen verlangt?“

„Pah, wenig genug! Nur hunderttausend Francs. Jene werden ihre Knauserei mit vielen tausend Leben bezahlen müssen, falls Sie sich entschließen, diese Summe zu bezahlen.“

„Ich hoffe das; ich hoffe das! Es naht die Zeit, in der wir einfordern werden, was diese Blüchers, Gneisenaus und Yorks von uns liehen! Also meine Eisenwerke stehen wirklich mit diesem Zimmer in elektrischer Verbindung?“

„Ja. Ein Druck von mir, und der elektrische Funke entzündet unsere ganzen Pulver- und Dynamitvorräte.“

„Sie geben mir Ihr Ehrenwort, daß Sie mir die Wahrheit sagen?“

„Ich gebe es. Sobald ich die Summe in den Händen habe, werde ich Ihnen die Leitung zeigen, damit sie zerstört werden kann.“

„O nein, Sie sind gegenwärtig ein verzweifelter Mensch. Wie nun, wenn ich Ihnen die hunderttausend zahle, und Sie sprengen dennoch alles in die Luft?“

„Mein Ehrenwort muß Ihnen Bürgschaft sein, daß ich es nicht tun werde.“

„Hm! Wenn man es nur glauben dürfte!“ Er nahm eine sehr nachdenkliche Miene an, aber seine Augen glänzten in einem unheimlichen Licht. Dann fuhr er fort: „Es ist eine Summe, die gegenwärtig fast über meine Kräfte geht; doch, um das Unternehmen zu retten – hm! Die allgemeine Kasse müßte mit beitragen.“

Dabei gingen seine Blicke unbemerkt suchend im Zimmer herum. Wenn sich wirklich ein geheimer Apparat hier im Zimmer befand, so konnte er nur im Kleidersekretär oder überhaupt in der Nähe der hinteren Wand des Zimmers angebracht sein; denn eine Leitung an der vorderen, offenen Front des Schlosses frei hinunter zu legen, das wäre ja unvorsichtig gewesen, da der Draht dort sofort entdeckt werden mußte. Es galt also, den Direktor in der Nähe des Fensters zu halten. Dort stand der Schreibtisch, dessen sämtliche Kästen und Fächer vom Kapitän heute durchsucht worden waren; von seiner Nähe war nichts zu fürchten.

Der Alte setzte sich an den Schreibtisch, nahm das Blanquet aus der Tasche, in welche er es vorhin gesteckt hatte, und sagte unter heftigem Zucken seiner Schnurrbartspitzen:

„Wie die Arbeit, so der Lohn. Sie sollen Ihren Willen haben!“

„Sie wollen mir die hunderttausend geben?“ fragte der Direktor erfreut.

Der Alte nickte und antwortete:

„Ich werde Ihnen zahlen, was Sie verdienen. Lesen Sie nachher selbst. Ihre Quittung steht ja bereits auf dem Blatt.“

Er griff nach der Feder, um das Blanquet auszufüllen. Als er damit fertig war, erkundigte er sich noch:

„Haben Sie unser Geheimnis sonst noch jemandem angeboten?“

„Nein.“

„Haben Sie bei dieser einzigen Offerte eine Andeutung gemacht, aus welcher man erraten könnte, wo unsere Vorräte zu finden sein dürften?“

„Halten Sie mich für einen Dummkopf? Meinen Zeilen nach muß man das Lager in der Nähe von Straßburg vermuten.“

Müller hörte jedes Wort. Er wußte am besten, daß diese Ansicht des Direktors eine völlig irrige sei. Der Alte schien befriedigt; er trat vom Schreibtisch fort, auf welchem er das ausgefüllte Blanquet liegen ließ, deutete auf dasselbe und sagte:

„So sind wir einig. Gehen Sie her und lesen Sie!“

Er selbst schritt langsam nach dem hinteren Raum des Zimmers, um denselben zu bewachen, da er dort die elektrische Leitung vermuten mußte. Der Direktor war ebenso erstaunt wie erfreut, den Alten so leicht besiegt und zur Zahlung einer solchen immerhin bedeutenden Summe gezwungen zu haben. Er setzte sich an den Schreibtisch und nahm das Dokument in die Hand. Dies tat er natürlich in der sicheren Meinung, daß es eine Quittung auf hunderttausend Francs enthalte; zu seinem Erstaunen jedoch las er folgende Zeilen:

„Ich bescheinige hiermit voller Reue und der Wahrheit gemäß, daß ich die heute an meinen Prinzipal auszuzahlenden beiden Summen drückender Schulden halber unterschlagen und zu meinem Nutzen verwendet habe. Möge Gott mir verzeihen, daß ich mit diesem Verbrechen aus dem Leben gehe!“

Darunter stand das Datum und sein Name, welches beides er bereits vorhin geschrieben hatte. Er war einen Augenblick völlig starr vor Erstaunen, dann fragte er:

„Was soll dies heißen, Herr Kapitän?“

„Daß ich dennoch Ihr Meister bin, Sie aber nicht der meinige!“ lachte der Gefragte höhnisch, „obgleich Sie vorhin das Gegenteil behaupteten. Sie werden keinen Sou erhalten; Sie werden Ihren Verrat und die Verführung der Baronin büßen, ganz so, wie ich es mir heute morgen vorgenommen hatte.“

„Und Sie meinen, ich sollte mich vor Wut darüber ersäufen oder vergiften?“

„Das wird sich finden!“

„Da irren Sie sich! Sie sind ein Lügner, ein Schurke! Ich werde Ihnen beweisen, daß ich Sie in Hinsicht auf die elektrische Leitung nicht getäuscht habe. Ich frage Sie zum letzten Mal: Wollen Sie die hunderttausend bezahlen oder nicht?“

„Keinen einzigen Franken, keinen Sou.“

„So passen Sie auf, wie es krachen wird.“

Er sprang nach dem hinteren Teil des Zimmers, wo der Kapitän stand.

„Ja, passen Sie auf, wie es krachen wird“, antwortete dieser. „Aber nicht meine Eisenwerke werden in die Luft gehen, sondern Ihr dummer Kopf!“

Er hatte im Nu die Pistole hervorgezogen und drückte ab. Der Direktor stürzte mit zerschmettertem Schädel zu Boden. Sein Mörder aber bückte sich zu seinem Opfer nieder, um sich zu überzeugen, daß es tot sei, und trat dann nochmals an den Schreibtisch, um das Dokument so zu legen, daß es sofort in die Augen fallen mußte. Das Geld hatte er bereits eingesteckt. Dann eilte er durch die verborgene Tür hinaus und brachte das Täfelwerk wieder in Ordnung.

Traf er dort den Deutschen an, welcher dagestanden und alles gehört und gesehen hatte? Nein! Müller hatte natürlich keine Ahnung gehabt, daß diese Unterredung einen solchen Verlauf nehmen werde. Besonders der letzte Teil hatte sich mit einer so rapiden Schnelligkeit entwickelt, daß der Mord zehnfach schneller ausgeführt wurde, als er gelesen werden kann. Sollte der Deutsche beispringen, da nun doch nichts mehr zu ändern war? Nein; das wäre die allergrößte Unklugheit gewesen. Er mußte vor allen Dingen an seine Aufgabe denken; es galt zunächst, unbemerkt fortzukommen. Kaum war der Schuß gefallen, so riß Müller seine Laterne hervor und stieg in fliegender Eile die engen Treppen hinab, denn er sagte sich, daß auch der Kapitän das Zimmer verlassen werde, da der Schuß ja alle Bewohner des Schlosses aus dem Schlaf wecken mußte.

Er kam glücklich unten an, wo die geheimen Treppen alle zusammenführten, und eilte in großen Sprüngen den unterirdischen Gang entlang nach dem Parkhäuschen zu. Nachdem er dort den geheimen Eingang in Ordnung gebracht hatte, verlöschte er die Laterne, ohne welche eine so schnelle unterirdische Flucht eine Unmöglichkeit gewesen wäre, und eilte dann dem Schloß zu.

Dort angekommen, sah Müller, daß bereits viele Fenster erleuchtet waren, doch befand sich zu seiner Freude noch niemand im Hof. Er schwang sich am Blitzableiter empor. An den Fenstern der zweiten Etage angekommen, warf er einen Blick in das Zimmer des Kapitäns. Dieser trat eben unter die Tür, mit ungekämmtem Haar und Bart, in Schlafrock, Nachthosen und Pantoffeln, das Nachtlicht in der Hand, und examinierte einen Diener. Wer den Alten so sah, der schwor darauf, daß er direkt aus dem Bett komme. Es wollte dem Deutschen vor diesem Alten grauen.

Der Doktor langte glücklich und unbemerkt auf dem Dach und dann auch in seinem Zimmer an, wo er sich schleunigst seiner Verkleidung entledigte und sich so anzog, daß er für einen aufgestörten Schläfer gehalten werden mußte, der in der Eile nur die allernötigsten Kleidungsstücke angelegt hatte.

Das Zimmer des Direktors war voller Menschen, ebenso der Platz vor demselben. Der Kapitän hatte bereits nach den Herren von der Justiz geschickt, welche sich heute im Schloß befanden. Diese kamen und fanden das letzte Schreiben des Toten.

Der Kapitän wurde gefragt; er erklärte, daß er gar nicht wisse, ob Geld angekommen sei, man solle die Bücher nachschlagen. Der Tatbestand wurde sofort gerichtlich aufgenommen und die Leiche aus dem Schloß geschafft. Dann suchte man die unterbrochene Ruhe wieder auf.

Auch die Baronin war vom Schuß erwacht und nach der Unglücksstätte geeilt. Doch mochte sie die Leiche nicht sehen. Der Tod dieses Mannes erschütterte sie, doch nur für einen Augenblick; im nächsten dachte sie bereits an den geheimnisvollen Offizier, an dessen Herzen sie gelegen hatte. Als sie sich wieder nach ihrem Zimmer begeben wollte, traf sie auf der Treppe den Kapitän. Da kein Mensch zugegen war, konnte er es nicht unterlassen, ihr zuzurufen:

„Ein schöner Geliebter. Nicht, Madame?“

Sie wich vor ihm zurück, streckte abwehrend beide Hände aus und sagte:

„Mörder! Aber es wird an den Tag kommen!“

Ein halblautes Hohnlachen war die Antwort des hartgesottenen Alten, der mit so kalter Berechnung ein Menschenleben vernichtet hatte. –

Was Müller betrifft, so konnte er lange Zeit keinen Schlaf finden. Dieser erste Tag auf Ortry war einer der ereignisreichsten seines Lebens gewesen. Erst die Unterredung mit der Wirtin, dann die Rettung Alexanders, sein eigener Empfang, seine Prüfung, die Entdeckung des verborgenen Lauscherpostens in seinem Zimmer und des geheimen Eingangs im Parkhäuschen, das Liebesabenteuer mit der Baronin und endlich die Mordszene in der Wohnung des Direktors. Das war mehr als genug an einem Tag.

Am meisten beschäftigte ihn die letzte Szene. Sollte er den Mörder anzeigen? Moralisch hatte er jedenfalls die Verpflichtung dazu; aber waren die Gründe der Klugheit nicht noch zwingender als diejenigen des Gewissens? Sollte er seine heutigen Errungenschaften alle opfern und das Gelingen seiner wichtigen Sendung zur Unmöglichkeit machen, um einen Toten zu rächen, dessen Leben nicht zurückgerufen werden konnte? Durfte er Marions Großvater als Mörder an den Pranger stellen? Würde man seiner Aussage Glauben schenken? Er war ein verhaßter Deutscher und der Angeklagte ein Offizier der berühmten Garde, ein Ritter der Ehrenlegion! Konnte der Deutsche Beweise bringen? Man konnte sich zwar von dem Vorhandensein der geheimen Tür überzeugen, aber was weiter? Der sicherste Beweis wären die gezeichneten Banknoten gewesen; aber wo hatte der Alte sie versteckt? Er hatte sie dieser Zeichnung wegen ganz sicher an einem Orte verborgen, wo man sie nicht finden konnte. Übrigens war der Ermordete des allen wert? Er war ein Feind Deutschlands gewesen und sodann ein Verräter seines eigenen Vaterlandes geworden!

Was war das doch für eine Familie, diese Sainte-Maries! War Marion, die Heißgeliebte, wirklich edler als die anderen?

Diese Gedanken gingen Müller wirr im Kopf herum, bis er endlich einschlief; aber noch im Schlafe peinigten sie ihn, und als er erwachte, fühlte er sich mehr ermattet als gestärkt von der nächtlichen Ruhe. –

Bereits am frühen Morgen war auch der Kapitän wach. Er ließ mehrere seiner besten Leute aus der Fabrik kommen, um sie nach der Mine suchen zu lassen, aber all ihr Scharfsinn war vergebens. Es wurde dem alten, furchtlosen Mann doch ängstlich zumute. Wenn irgend jemand nichtsahnend die verhängnisvolle Leitung berührte, so war das fürchterlichste Unglück unvermeidlich. Da kam ihm ein Gedanke.

„Dieser Monsieur Müller hatte so feine Zensuren in allen Wissenschaften. Ob nicht er entdecken könnte, was die anderen nicht zu finden vermögen?“

So dachte er und ließ nach dem Deutschen schicken. Müller kam. Der Alte empfing ihn mit einer ganz ungewöhnlichen Freundlichkeit.

„Monsieur, haben Sie auch Elektrotechnik studiert?“

„Ein wenig, gnädiger Herr“, antwortete der Gefragte, welcher sogleich ahnte, aus welchem Grund diese Frage an ihn gestellt wurde.

„Wissen Sie, daß man Pulverminen vermittels der Elektrizität entzünden kann?“

„Sehr wohl, Herr Kapitän.“

„Ist eine solche Mine leicht zu zerstören oder die Leitung leicht zu finden und zu vernichten?“

„Das kommt ganz auf die Umstände an. Ich habe als Techniker bereits öfters Glück gehabt“, antwortete Müller und sagte damit die Wahrheit, da er früher bei dem Geniekorps gestanden hatte.

„Ah, Monsieur, da muß ich Ihnen Mitteilung machen; Sie haben diesen Direktor gekannt, welcher sich erschossen hat?“

„Nur höchst flüchtig gesehen.“

„Nun, dieser Mann hatte den schrecklichen Plan, meine Eisenwerke in die Luft zu sprengen. In seinem Zimmer soll sich die Leitung befinden. Sie ist jedoch nicht zu entdecken. Wollen sie einmal Ihren Scharfsinn versuchen?“

„Ich stehe Ihnen sehr gern zu Diensten, gnädiger Herr.“

„So kommen Sie!“

Sie begaben sich miteinander nach der Wohnung des Erschossenen. Es schauerte Müller, als er da eintrat. Die Blutflecke hatten zwar weggewaschen werden sollen, waren aber noch nicht gewichen. Dort befand sich die geheime Tür, und hier stand der Schreibtisch, auf welchem das schauerliche Ende des Toten unterschrieben worden war.

„Gibt es eine Leitung hier, so ist sie nicht vorn, sondern hinten zu suchen“, sagte Müller.

Der Alte nickte mit sehr zufriedener Miene und sagte:

„Ganz meine Meinung, Monsieur. Suchen Sie!“

Müller ließ den forschenden Blick umherschweifen und trat dann schnell zu der altmodischen Lyoner Wanduhr, welche rechts neben dem Schreibtisch an der Wand hing. Sie hatte ein schwarzes, wurmzerfressenes Gehäuse.

„Sehen Sie etwas von der Leitung?“ fragte der Alte.

„Ich glaube sie gefunden zu haben, will mich aber vorher überzeugen.“

Er schob den Tisch an die Uhr, setzte einen Stuhl auf denselben, und stieg dann auf den letzteren, so daß er den Raum zwischen der Decke des Zimmers und dem oberen Boden des Gehäuses zu überblicken vermochte; dann zeigte er nach der Decke und fragte:

„Wer wohnt dort oben?“

„Der Hausmeister.“

„Ah, mein Vorgesetzter!“ lächelte Müller. „Befindet er sich noch da?“

„Ja, er war ein guter Unteroffizier und ein treuer Hausmeister. Sie haben ihm das Gesicht zerhauen; ich werde ihn wieder kurieren lassen, obgleich ich mir gerade das Gegenteil ausbedungen habe.“

„Hätte ich gestern gewußt, was ich heute sehe, so hätte ich ihm nicht nur das Gesicht zerhauen, sondern den Kopf abgeschlagen. Er ist der Mitschuldige des Direktors.“

„Donnerwetter, ist's möglich!“ rief der Alte ganz erschrocken.

Müller öffnete die Tür der Uhr, blickte in das Gehäuse und antwortete:

„Gnädiger Herr, Ihre Eisenwerke, so schwer sie sind, haben wirklich an einem einzigen Haar gehangen und das Leben Ihrer Arbeiter dazu. Bitte, treten Sie näher!“

Und als der Kapitän herbeigetreten war, zeigte der Doktor mit dem Finger an die eine Seite des Gehäuses und fuhr fort:

„Sehen Sie das eine Pferdehaar, welches hier außen herunterhängt? Es ist bei der Schwärze der Uhr kaum von ihr zu unterscheiden.“

Der Alte streckte die Hand aus, um nach dem Haar zu greifen.

„Um Gottes willen, nicht anfassen!“ rief Müller, indem er jenes Hand fortstieß. „Ziehen Sie nur im geringsten daran, so fliegt Ihre ganze Fabrik in die Luft!“

„Ah, wahrhaftig, ein Haar“, sagte der Veteran. „Es führt oben in den Kasten.“

„Und da ist es mit einem außerordentlich dünnen Kupferdraht verbunden, der erst oben durch das Gehäuse geht und dann durch die Zimmerdecke. Der Intendant hat mit dem Direktor im Einvernehmen gestanden. Lassen Sie uns zu ihm gehen!“

Der Alte folgte dieser Aufforderung mit außerordentlicher Geschwindigkeit. Als sie die Treppe erstiegen hatten und oben eintraten, lag der Hausmeister in seinem Bett. Kein Mensch war bei ihm.

„Was soll das? Was will dieser Mensch bei mir?“ rief er, als er mit seinem unverletzten Auge den Deutschen erkannte.

„Das sollst du Halunke sogleich erfahren!“ antwortete der Veteran. „Suchen Sie, Monsieur Müller!“

Müller kniete in der Ecke nieder, welche gerade über der Uhr des unteren Zimmers lag, suchte dann am Boden fort, öffnete das Fenster und blickte hinaus.

„Haben Sie es?“ fragte der Kapitän, brennend vor Ungeduld.

„Ja. Blicken Sie nur her, um sich selbst zu überzeugen! Hier in dieser Ecke tritt der Leitungsdraht in das Zimmer ein und geht unter der Dielenleiste längs der Wand bis an die Mauer der hinteren Schloßfront. Hier ist ein dünnes Loch durch die Mauer gearbeitet, um den Draht hindurchzulassen, der dann am Sims entlang der Front läuft. Ihn da anzulegen hat viel Arbeit gekostet, zumal diese in aller Heimlichkeit vorgenommen werden mußte.“

Da konnte sich der grimmige Alte nicht länger halten. Er stürzte auf den Hausmeister zu, faßte ihn bei der Brust und donnerte ihn an:

„Hund, Kerl, wer hat dir das geraten?“

Das kam dem Mann so unerwartet, daß er unwillkürlich mit der Antwort herausplatzte:

„Der Direktor, gnädiger Herr!“

„Was hat er dir geboten?“

„Fünftausend Franken.“

„Und hunderttausend wollte er haben! Also für fünftausend Franken wolltest du mich ruinieren und alle meine Leute morden! Heraus aus dem Bett! In das Gefängnis, wohin du gehörst, du Halunke, du – du – du Vorgesetzter du!“

Der Alte wußte zwar nicht, was Müller mit diesen Worten gemeint hatte; aber er ahnte, daß eine negative Bedeutung mit denselben verbunden sei, und da er vor Wut kein anderes Wort fand, so wendete er dieses an, um seinen Zorn auszudrücken.

Der Mann flehte jämmerlich, aber es half ihm nichts. Der Veteran klingelte einige Leute herbei, welche den Schurken ankleiden, fesseln und fortschaffen mußten. Erst nachdem dies geschehen war, wandte sich der Kapitän wieder an Müller:

„Monsieur, Sie sind braver und klüger als das ganze Volk, welches ich bisher um mich hatte. Sie sind gerade zu unserer Rettung nach Ortry gekommen. Aber was nun?“

„Begeben wir uns nach unten, gnädiger Herr“, antwortete Müller, „damit wir sehen, wo der Draht in die Erde geht!“

Das taten sie, und Müller fand, daß die Leitung unter einer Dachrinne herabgezogen war und hinter dem Rinnstein in den Boden drang.

„Hier schneiden wir den Draht durch“, sagte er, „dann ist die hauptsächlichste Gefahr vorüber. Unter der Erde muß der Draht noch eine Umhüllung haben; er ist also stärker, so daß man ihm leicht folgen kann. In der Fabrik werden wir dann sehen, in welche gefährlichen Stoffe er geleitet wurde.“

Da antwortete der Kapitän mit großer Schnelligkeit:

„So lange darf ich Sie nicht abhalten, Monsieur. Nun wir den Draht gefunden haben, ist das übrige leicht; dazu habe ich Arbeiter mehr als genug. Sie aber haben sich zunächst Alexander zu widmen.“

Müller verstand den Alten. Dieser wollte ihn, den Deutschen, nicht in das Getriebe seiner Pläne blicken, am allerwenigsten aber ihn den aufgestapelten Munitionsvorrat sehen lassen. Er tat, als ob er dies nicht ahne und kehrte in sein Zimmer zurück, zufrieden, den Beifall des Schloßherrn gefunden zu haben.

Der Doktor suchte Alexander auf, um ihn zu einem abermaligen Spaziergang aufzufordern. Der Knabe willigte sehr gern ein, und unterwegs fand Müller, daß dieser sich immer fester an ihn schloß.

„Wissen Sie, Monsieur“, sagte Alexander, „daß man gezwungen ist, Sie lieb zu haben?“

„Warum?“

„Weil man Unglück hat, wenn man Sie haßt. Die beiden, von denen Sie beleidigt wurden, sind bereits bestraft. Der eine hat sich erschossen, und der andere sitzt mit einer bösen Gesichtswunde im Gefängnis. Ich werde die Leute warnen, Ihr Feind zu sein. Besonders werde ich dies Marion sagen.“

„Marion? Wer ist das?“ fragte Müller, sich verstellend.

„Marion ist meine Schwester, meine Halbschwester; aber sie ist doch so gut, als ob sie meine richtige Schwester wäre. Ich habe ihr sehr viel Kummer bereitet; meist darum ging sie fort, denn ich verklagte sie immer bei Mama und bei dem Großpapa. Aber als ich gestern abend schlafen ging, habe ich sehr lebhaft an sie gedacht, und da ist mir der Gedanke gekommen, daß ich recht schlimm gegen sie gewesen bin. Ich verspreche Ihnen, dies nie wieder zu tun, Monsieur!“

„Warum haben Sie denn gerade gestern diesen Gedanken gehabt?“

„Weil ich mit Ihnen spazieren gewesen bin. Sie predigen nicht; Sie geben keine guten Lehren, aber man fühlt bei Ihnen das, was Sie zu sagen unterlassen.“

Müller antwortete nicht, doch bückte er sich nieder und küßte den Knaben auf die Stirn. Er fühlte sich innerlich beglückt, diese Seele, welche bereits auf falsche Wege geführt worden war, bereits nach einem einzigen Tag für das Gute gewonnen zu haben.

Sie drangen heute viel tiefer in den Forst ein, als gestern, tiefer und immer tiefer, bis sie auf ein Wirrsal von Felsen stießen, aus denen ein alter Turm hervorragte.

„Was ist das für eine Ruine?“ fragte Müller.

„Das ist Alt-Ortry gewesen“, antwortete Alexander. „Jetzt ist nur dieser eine Turm noch übrig.“

„Wollen wir ihn nicht besteigen?“

„Ich möchte nicht.“

„Warum nicht?“

Der Knabe blickte ihm treuherzig in das Gesicht und antwortete:

„Weil ich auch hier nicht gut gewesen bin. Großpapa hat mir verboten, diese Ruine zu betreten, und doch habe ich es oft getan. Nun aber möchte ich dies unterlassen. Aber wenn wir auch nicht hineingehen werden, das Grab können wir uns doch ansehen.“

Er wand sich zwischen den Felsen hindurch, und Müller folgte, bis sie vor einem Hügel standen, der ungepflegt und mit allerlei Waldblumen bewachsen war. Daneben erhob sich ein mächtiger Felsblock, auf welchem die einfachen Worte: ‚Hier ruht Liama‘ kaum noch zu lesen waren.

„Diese Liama war die Mutter Marions“, bemerkte Alexander. „Habe ich Ihnen übrigens bereits gesagt, daß Marion heute nach Hause kommt?“

„Noch nicht.“

„Ja, sie kommt. Wir hielten sie für tot, mit einem Dampfschiff untergegangen; aber am frühen Morgen kam eine Depesche, daß sie am Mittag hier sein wird. Sie bringt eine Freundin mit.“

Der Knabe erzählte das in einem freundlichen, keineswegs aber herzlichen Ton. Die Bande dieser Familie waren ja sehr locker geschlungen.

„Wie wird man die gnädige Baronesse empfangen?“ fragte Müller.

„Empfangen?“ wiederholte Alexander verwundert. „Nun, die Diener werden ihr aus dem Wagen helfen, und dann geht sie nach ihrem Zimmer.“

„Ohne daß man sich freut, daß sie kommt, und ihr dieses sagt?“

Alexander sah ihn groß an und fragte dann.

„Ja, freut sie sich denn auf uns?“

„Gewiß sehr. Man müßte ihr nur zeigen, daß man sie liebt, daß sie willkommen ist.“

„Das möchte ich ihr sehr gern zeigen; aber wie soll ich es anfangen?“

Es tat Müller sehr weh, daß das Herz dieses begabten Knaben so ganz unbepflanzt geblieben war. Er legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte:

„Ich wüßte wohl etwas sehr Schönes. Hat die Baronesse ihre Mutter lieb gehabt?“

„Oh, sehr. Sie ist sehr oft nach diesem Grab gegangen.“

„So wollen wir von diesen Blumen pflücken und sie in ihr Zimmer setzen, damit sie, sobald sie kommt, einen Gruß von der Mutter erhält.“

Die Augen des Knaben glänzten.

„Ja, das wollen wir tun. Aber niemand darf es wissen, sonst zanken die anderen.“

Und nun saßen die beiden am Grab der Heidin und sammelten Blumen für diejenigen, der beider Herzen entgegenschlugen, das Herz des einen in erwachender Bruderliebe, das des anderen aber im heißen vollbewußten Verlangen nach der höchsten Seligkeit des Erdenlebens.

Es war fast Mittag geworden, als sie nach Hause kamen. Auf dem Feld zwischen dem Schloß und dem Etablissement erblickten die Wanderer zahlreiche Arbeiter, welche beschäftigt waren, die Leitung aus dem Boden zu nehmen. Die beiden gingen zunächst nach Müllers Stübchen, um die Blumen zu zwei Buketts zu ordnen. Dann schrieb Alexander auf ein Papier die Worte:

„Meiner lieben Marion vom Grabe ihrer Mutter. Alexander.“

Und hernach trug er selbst die Buketts nebst der Widmung nach dem Zimmer der Erwarteten, neben welchem man ein anderes für die Freundin bestimmt hatte. –

Der Deutsche hatte sich sein Frühstück auf seine Stube kommen lassen. Er war noch mit demselben beschäftigt, als ein Wagen zum Tor hereinrollte. Rasch trat er an das Fenster und blickte hinab. Ja, da stieg sie aus, die Herrliche. Sein Herz schlug ihm in der Brust, daß er es hören konnte. In welche Umgebung kam sie? Würde sie bleiben oder dem kalten Leben wieder entfliehen?

Eben als Nanon ausstieg, kam der Kapitän herbei. Er reichte der Enkelin einfach die Hand und machte ihrer Freundin eine Verbeugung.

„Das Frühstück ist serviert“, sagte er. „Kommen die Damen nach dem Speisesalon?“

„In einer Viertelstunde, lieber Großpapa“, antwortete Marion. „Wir müssen doch erst den Reisestaub abfegen.“

„Gut, so warten wir!“

Damit ging er davon.

Das war der ganze Empfang nach einer mehrjährigen Abwesenheit. Eine tiefe Bitterkeit wollte in Marions Herzen emporsteigen, aber sie zwang dieselbe tapfer hinab. Auch Nanon hatte ein anderes Willkommen erwartet, doch hatte sie die Freundin viel zu lieb, als daß sie es sich hätte merken lassen mögen.

Eine Dienerin führte beide in das Schloß. Sie begaben sich zunächst nach Marions Stube. Dort war alles noch so, wie diese es vor Jahren verlassen hatte. Aber da, da standen zwei Buketts mit einfachen Waldblumen, und zwischen den beiden Vasen lag ein Zettel.

„Meiner lieben Marion vom Grabe ihrer Mutter. Alexander“, las die Baronesse, und sofort füllten ihre Augen sich mit Tränen. „Von meiner lieben, lieben Mama!“ rief sie. „Und Alexander hat sie gepflückt, der garstige Alexander, wegen dessen ich aus Ortry geflohen bin. Oh, wie lieb will ich ihn dafür haben!“

Sie barg das tränenüberströmte Antlitz in den einfachen Blumen, und Nanon trat in das Nebenzimmer, um ihre Freundin mit ihren Gefühlen alleinzulassen. Beide hatten nicht bemerkt, daß sie den Eingang offen gelassen hatten. Dort stand Alexander und hörte die Worte der Stiefschwester. Wie schön war sie! Fast kannte er sie nicht mehr. Er fühlte eine Art geschwisterlicher Ehrfurcht in seinem Herzen aufsteigen; dennoch aber schlich er leise näher und legte die Arme um sie.

„Marion!“

Sie drehte sich zu ihm herum und erkannte ihn.

„Alexander!“

Sie breitete die Arme aus, und dann lagen die Geschwister zum ersten Mal einander am Herzen. Dieser Augenblick hatte für Alexanders Gemütsleben eine unendliche Bedeutung. Indem Müller ihm den Rat gab, die Blumen zu pflücken, hatte er mehr für ihn getan, als wenn er ihm tausend Reden gehalten hätten. Marion küßte den Bruder und sagte:

„Wie freudig hast du mich überrascht, mein guter Alexander!“



„Einen Gruß von deiner Mama, sagte Monsieur Müller“, erklärte er.

„Monsieur Müller? Wer ist das?“ fragte sie.

„Mein neuer Gouverneur, ein Deutscher.“

„Ein Deutscher? Oh, das glaube ich! Die Deutschen haben ein Herz; sie wissen, daß die Liebe das herrlichste Gut der Erde ist.“

„Ohne ihn hätte ich nicht an diese Blumen gedacht. Diese Freude haben wir ihm zu danken, liebe Marion. Er ist auch der Anlaß, daß ich dich von jetzt an recht liebhaben werde. Doch, komm zum Frühstück; Mama wird sonst böse!“

Ein Schatten flog über Marions schönes Gesicht.

„Ich könnte auch böse sein darüber, daß sie mir nicht einmal Willkommen sagt. Aber da sie unsere Mama ist, will ich nicht klagen.“

Die beiden Freundinnen nahmen sich also nicht Zeit, ihre Koffer bringen zu lassen, um neue Kleider anzulegen, sondern begaben sich nach dem Speisesaal.

Dort befand sich der Kapitän mit der Baronin allein. Beide erhoben sich. Das Auge der Baronin fiel auf ihre Stieftochter, und sofort wurde ihr Gesicht blaß. Vor zwei Jahren war Marion fast noch Knospe gewesen, jetzt aber hatte sie sich zur vollen Rose entwickelt. Die Baronin erkannte, daß sie sich mit derselben nicht messen, nicht vergleichen könne. Der bereits früher gefühlte Haß bohrte sich in diesem Augenblick unausrottbar tief ein. Dennoch aber trat sie ihr entgegen, um sie zu umarmen; aber diese Umarmung hatte ganz den Charakter eines Frondienstes, den man so schnell wie möglich zu überwinden sucht.

Auch Nanon wurde von der Herrin des Hauses bewillkommnet; dann begann man wortlos zuzulangen, bis der Kapitän denn doch die Peinlichkeit dieser Stille fühlte und seinem schweigsamen Charakter Gewalt antat, indem er fragte:

„Hast du gehört, Marion, daß ein Moseldampfer untergegangen ist?“

„Ja“, antwortete sie, indem sie ihn groß und ernst anblickte. „Ich glaube, dir geschrieben zu haben, daß ich dieses Schiff benutzen würde. Ich erwartete eine Frage von dir.“

„Warum? Ich sehe ja, daß du mit einem anderen Schiff gekommen bist. Was soll da die Frage nützen?“

„Woher weißt du das, Großpapa?“

„Ich sehe es daraus, daß du überhaupt angekommen bist. Wärst du unglücklicherweise mit jenem Dampfer gefahren, so lebtest du nicht mehr.“

„Wir sind beide mit ihm gefahren. Wir wurden von zwei mutigen Männern gerettet.“

Das erregte denn doch das Interesse des Alten und der Baronin.

„Wirklich?“ fragte der erstere rasch. „Erzähle, Marion!“

„Ja, erzähle!“ bat auch die letztere. Und mit gutgespielter Teilnahme fügte sie hinzu: „Mein Gott, wenn du ertrunken wärst! Welch ein Schreck, welch ein Herzeleid!“

Alexander sprang auf. Er fühlte wahrer als seine Mutter; er schlang seine Arme um Marions Hals und rief:

„Hätte ich das gewußt, so wäre ich gekommen, um mit dir vom Schiff bis an das Ufer zu schwimmen!“

Sie liebkoste ihn und erzählte den Unfall in kurzen, aber ergreifenden Worten. Als sie geendet hatte, rief Alexander:

„Das waren zwei so mutige Männer wie Monsieur Müller, welcher mich vom Abgrund hinweggerissen hat. Ich möchte sie wohl kennenlernen. Wie heißen sie?“

„Der eine, welcher Nanon rettete, ist der Kräutersucher des Doktor Bertrand aus Thionville. Den anderen, welcher mich ans Ufer brachte, kennen wir nicht. Er ging fort, ohne uns seinen Namen wissen zu lassen.“

Doktor Bertrand kannte zwar diesen Namen, aber er hatte vorgezogen, ihn nicht zu nennen. Er hatte jedenfalls im Sinn gehabt, den Damen eine Überraschung zu bereiten, wenn sie ihren Retter so unerwartet auf Ortry finden würden.

Während des weiteren Verlaufs des Frühstücks wurden die letzten Erlebnisse auf Schloß Ortry erwähnt, und dabei wurde Müller öfters genannt, ohne daß Marion ahnte, daß er und ihr Retter eine und dieselbe Person seien. Man saß noch bei Tafel, als sich unten im Hof Pferdegetrappel hören ließ. Der Kapitän trat an das Fenster und rief, sobald er einen Blick hinabgeworfen hatte:

„Besuch! Endlich kommt er; endlich ist er da!“

„Wer?“ fragte die Baronin.

„Oberst Graf Rallion.“

„Ah, dem muß man entgegengehen!“

Sie erhob sich in ungewöhnlicher Eile von ihrem Platz und verließ an der Seite des Alten den Speisesaal. Die beiden anderen Damen mußten der Höflichkeit wegen folgen, doch taten sie es langsam. Auch Alexander schien sich nicht zu überstürzen.

„Er konnte bleiben, wo er war“, sagte er. „Ich liebe diesen Rallion nicht!“

Marion warf einen beinahe zufriedenen Blick auf ihn. Hatte er ihr vielleicht aus dem Herzen gesprochen?

Als sie den Schloßhof erreichten, wurde der Graf soeben vom Kapitän und der Baronin mit ausgesuchtester Höflichkeit begrüßt. Jener trat sodann zu den beiden Freundinnen, küßte ihnen die Hand und sagte:

„Verzeihung, daß ich gleich den ersten Tag Ihrer Anwesenheit auf Ortry benutze, mich nach Ihrem Wohlbefinden zu erkundigen! Es gibt liebe Pflichten, deren Erfüllung man keine Sekunde lang aufschieben möchte.“

Marion verneigte sich stumm, er wendete sich aber sogleich zu den anderen und improvisierte eine Menge Artigkeiten, während deren man die Treppe emporstieg. In diesem Augenblick kam Müller herab. Er blieb in untertäniger Haltung stehen, um die Herrschaften vorüberzulassen. Marion sah ihn und erstaunte freudig. Auch Rallion erblickte ihn. Seine Überraschung war so überwältigend, daß er ausrief:

„Morbleu, das ist ja gar der deutsche Billardtölpel! Was tut er hier?“

Alle erschraken und blickten auf den Beleidigten, was er tun werde. Dieser jedoch sah den Grafen gar nicht an; er machte den beiden jungen Damen eine Verbeugung und schritt vorüber.

Das Gesicht Marions war wie mit Blut übergossen. Schämte sie sich der Roheit des Grafen oder der Feigheit Müllers? Wer hätte dies wohl sagen können! Der Kapitän zuckte verwundert die Achseln. Er konnte gar nicht begreifen, daß ein so ausgezeichneter Schütze und Fechter, wie Müller war, eine solche Blamage sich gefallen ließ. Als man den Saal erreicht hatte, fragte der Oberst:

„Aber, lieber Kapitän, was tut denn dieser Deutsche bei Ihnen?“

„Er ist der Gouverneur Alexanders“, antwortete der Gefragte.

„Fi donc! Da wird unser Alexander sehr viel lernen! Dieser Mann versteht weiter nichts, als Billards zu zerstoßen.“

Alexander biß sich auf die Lippen, um sich zum Schweigen zu zwingen, aber es gelang ihm nicht. Er blickte den Sprecher herausfordernd an und antwortete:

„Wissen Sie, daß dies sehr unhöflich von Ihnen ist? Wenn Herr Müller nur wollte, so würde er Ihnen beweisen, daß er mehr versteht, als Sie zu glauben scheinen. Er ist mein Lehrer, und ich erkläre, daß er außerdem mein Freund ist. Ich werde nicht dulden, daß man ihn beleidigt.“

Der Oberst blickte den jungen Menschen mit dem höchsten Erstaunen an. Bald aber spielte ein sarkastisches Lächeln um seine Lippen, und er antwortete:

„Ihr Freund? Ah, ich beneide ihn um einen so mächtigen Schutz, lieber Alexander!“

„Er bedarf zwar dieses Schutzes nicht“, sagte der Angeredete, „denn er ist selbst Manns genug und steht als Mitbewohner unseres Hauses natürlich unter dem Schirme desselben, was jeder gebildete Mann respektieren wird; trotzdem aber werde ich keineswegs dulden, daß in einem unfreundlichen Ton von ihm gesprochen wird. Er hat mir das Leben gerettet; ich muß ihm dankbar sein!“

Marion warf einen Blick auf den Bruder, in welchem sich Erstaunen mit wohlwollender Anerkennung paarte. Im Gesicht seiner Mutter zeigte sich der deutlichste Stolz ausgesprochen, und sogar der Kapitän zog seine Schnurrbartspitzen in einer Weise durch die Finger, in welcher sich eine Art Beifall zu erkennen gab. Der Oberst bemerkte dies; er schien sich darüber zu ärgern, denn er meinte unter einem höhnischen Lächeln:

„Das Leben gerettet? Hm, das ist etwas anderes. Dieser Mensch scheint vom Zufall bestimmt zu sein, aller Welt das Leben zu retten. Man möchte ihn beneiden!“

Da sagte Marion in einem Ton, welchem ein leichter Nachdruck anzuhören war:

„Ich möchte da keineswegs von Zufall sprechen. Er besitzt Mut und Entschlossenheit, zwei Eigenschaften, welche anderen allerdings zur Lebensrettung nicht bestimmt erscheinen.“ Und nach diesen Worten, welche doch eine leise Röte der Scham in das Gesicht des Obersten brachten, fuhr sie, zum Kapitän gewendet, fort: „Dieser Monsieur Müller ist es nämlich, welcher mit mir durch den Fluß geschwommen ist.“

„Wirklich?“ frug der Alte erstaunt.

Das war jedoch auch das einzige Wort, welches er sagte. Seine Enkelin hatte sich in Todesgefahr befunden und war gerettet worden; ihr Retter war der neue Lehrer. Das wußte man nun. Was war da ein großes Aufhebens nötig? Der Kapitän hatte seit gestern so viel sprechen müssen, daß es ihm heute nicht einfallen konnte, über diese Angelegenheit viele Worte zu verlieren. Die Baronin jedoch fühlte gar wohl die Verpflichtung, als Dame des Hauses wenigstens eine Bemerkung zu machen. Sie sagte im Ton des Erstaunens:

„Er ist auch das gewesen? Welch ein Zufall. Man ist ihm wirklich zu Dank verpflichtet!“

Alexander ergriff die Hand der Schwester und rief aus:

„Auch du verdankst ihm dein Leben, meine liebe Marion? Oh, nun muß ich ihn noch einmal so lieb haben. Ich werde ihm nachgehen, um ihm dies mitzuteilen.“

Er sprang vom Stuhl auf und verließ den Saal, ohne sich von den anderen halten zu lassen.

Es gelang ihm freilich nicht mehr, Müller zu Gesicht zu bekommen, denn dieser hatte das Schloß bereits verlassen und schritt durch den Park dem Wald zu. Es trieb ihn hinaus in denselben aus verschiedenen Gründen. Er war jetzt noch Herr seiner Zeit; der Unterricht hatte noch nicht begonnen, und durch die Ankunft des Obersten waren die Schloßbewohner jedenfalls so in Anspruch genommen, daß seine Abwesenheit nicht mißfällig bemerkt werden konnte.

Er hatte Marion wieder gesehen, zwar nur auf einen Augenblick, aber dieser Augenblick hatte doch sein Herz erregt, daß er die Einsamkeit suchte, um den süßen Gedanken an die Geliebte nachhängen zu können. Die Beleidigung, welche ihm von dem Obersten widerfahren war, hatte ihn wenig berührt. Er wußte, daß die Zeit kommen werde, in welcher er mit diesem Mann zusammengeraten müsse, und er hielt sich für stark genug, diesen Zusammenprall siegreich auszuhalten.

So strich er langsam durch den Wald, nur mit seinen Gedanken beschäftigt und wenig auf seine Umgebung achtend, das Bild der Geliebten begleitete ihn. Er träumte mit offenen Augen. Er sah ihre herrliche Gestalt; er blickte in ihre köstlichen Augen, er hörte den seltenen Wohlklang ihrer Stimme, und es war ihm, als fühlte er ihren schwellenden Busen, geradeso an seinem Herzen, wie in den Augenblicken, in denen er sie von der Mosel nach dem Meierhof getragen hatte. Es verging Viertelstunde auf Viertelstunde, er achtete nicht darauf, denn für einen Menschen, dem unter den göttlichen Regungen einer gewaltigen, selbstlosen Liebe das Herz im Busen klopft, gibt es keine Zeit; er fühlt den Odem, den Hauch der Ewigkeit, in der Brust.

Da hörte er plötzlich eine sehr bekannte Stimme neben sich:

„Ah, Herr Doktor! Grüß Sie Gott!“

Er blickte auf. Vor ihm auf dem schmalen Waldpfad stand sein Diener Fritz, der ihn unter einem freundlichen Lächeln mit seinen guten, treuen Augen betrachtete und allerdings ohne seinen stattlichen Vollbart mit dem kecken Schnurrbart allein schwer zu erkennen war.

„Ah, Fritz, du?“ rief er. „Wie kommst du in den Wald, von Thionville her! So weit!“

„Der Herr Doktor haben wohl vergessen, daß ich jetzt Kräutersammler bin!“ antwortete der Gefragte. „Wir sind heute in Thionville angekommen, und da war Doktor Bertrand so vernünftig, mich sofort auf die Suche zu schicken.“

„Du triffst mich zufällig?“

„Ja; geradeso wie Sie mich“, lachte Fritz. „Sie kommen daher, die Augen am Boden, wie einer, welcher Kräuter sammelt; und ich kam herbei, die Augen am Boden, wie einer, dem eine gewisse Marion nicht aus dem Sinne will. Auf diese Weise kann man sich ja nur zufällig treffen.“

Der treue Diener wußte ganz genau, daß er sich seinem Herrn gegenüber schon eine Bemerkung erlauben durfte. Und wirklich tat Müller nicht im geringsten so, als ob er diese Worte mißfällig aufnehmen möchte. Vielmehr überflog er die Gestalt Fritzens mit einem lustigem Blick und sagte:

„Also wirklich bereits Kräutermann! Hast du Talent dazu?“

„Famos, Herr Doktor!“ Fritz nahm den Sack, welchen er auf der Achsel trug, herab, öffnete ihn und ließ Müller hineinsehen. „Da, gucken Sie! Dieser Sack ist bereits zur Hälfte voll. Moos, Tannenzapfen, Farrenkraut, Eichenlaub, Gras und Kohlrübenblätter. Das macht den Sack rasch voll. Was aber der Apotheker damit anfangen wird, das ist mir ganz gleich. Doktor Bertrand meinte, ich sei vollständig Herr meiner Zeit, doch wenn es paßte, so sollte ich ihm Ehrenpreis und Pfefferminze mitbringen; Véronique und Menthe poivré nennen sie es hier in Frankreich; da ich aber weder Pfefferminze, noch Ehrenpreis kenne, so habe ich einstweilen Tannenzapfen und Kohlrübenblätter genommen. Es wird niemand das Zeug brauchen, und darum stirbt auch niemand daran.“

Er band den Sack zu und warf ihn wieder über die Achsel. Müller meinte:

„Da hast du einen sehr nachsichtigen Prinzipal. Es kann ein Glück für uns sein, daß wir diesen Doktor Bertrand getroffen haben, obgleich es nicht mein Wunsch ist, meine Absichten von irgend jemandem durchschauen zu lassen.“

„Oh, Bertrand ist sicher; er verdient Vertrauen“, behauptete Fritz. „Ich kenne ihn erst seit kurzer Zeit, aber ich weiß bereits, daß er diese Franzosen haßt. Er muß irgendeinen besonderen Grund haben, ihnen nicht gewogen zu sein. Er errät freilich den Grund, der uns hierher geführt hat, aber ich möchte meinen Kopf zum Pfand geben, daß er uns förderlich, niemals aber hinderlich sein wird. Übrigens ist es gut, daß ich Sie treffe. Ich habe ja meine Instruktionen erst von Ihnen zu erwarten.“

„Ich kann sie dir jetzt nur im allgemeinen, nicht aber speziell geben.“ Der Doktor trat in die angrenzenden Sträucher, um sich zu überzeugen, daß kein Lauscher vorhanden sei, kam dann zu Fritz zurück und fuhr fort: „Frankreichs Herrscher plant im stillen einen Krieg mit uns; er betreibt seine Anstalten sehr geheim, denn er beabsichtigt, uns zu überrumpeln, so daß seine Heeresmassen innerhalb einer Woche in Berlin sein können. Er glaubt, daß der Preußenhaß die Südstaaten abhalten werde, uns zu unterstützen, und wagt es, gerade hier an der Grenze riesige Vorbereitungen zu treffen, die es ihm ermöglichen sollen, mit ungewohnter Wucht sich auf uns zu werfen. Diese Vorbereitungen müssen wir belauschen; wir müssen sie kennenlernen, um unsere Gegenzüge tun zu können. Einer der Konzentrationspunkte dieser für uns so gefährlichen, geheimnisvollen Tätigkeit ist Ortry. Ich befinde mich hier, um zu beobachten, und du sollst mich unterstützen. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe.“

„Und das ist genug“, nickte Fritz, während über sein intelligentes Gesicht ein Zug heller Freude ging. „Ich bin ein Findelkind, ein einfacher Barbier- und Friseurgehilfe, aber ich will doch einmal sehen, ob ich nicht Augen habe, diesen klugen Großsprechern hinter die Karten zu gucken. Zeit genug habe ich ja dazu! Und ein Glück ist es, daß man mich nicht für einen Deutschen halten wird.“

„Wieso?“

„Nun, Doktor Bertrand hat mich als einen Schweizer aus Genf angemeldet. Sie wissen ja, daß ich zwei Jahre lang dort in Kondition war und mir soviel Französisch angeeignet habe, um für einen Genfer gelten zu können. Wie aber soll ich Ihnen mitteilen, was ich erfahre? Wo werde ich Sie treffen?“

„Du kannst mir schreiben, natürlich unter der Adresse des Doktor Andreas Müller. Wichtiges aber machen wir nur mündlich ab. Ich bewohne das oberste Zimmer des südwestlichen Eckturms des Schlosses. Von dort aus kann ich die große Linde, welche an der Straße von Thionville steht, deutlich erkennen. Lege dich unter dieselbe, wenn du mir etwas zu sagen hast. Man wird denken, du wollest dich ausruhen, und ich werde dich genau durch mein Fernrohr sehen. Du blickst durch das deinige nach meinem Fenster und sobald ich dir mit einem weißen Tuch das Zeichen gegeben haben werde, daß ich dich sehe, gehst du hierher, wo wir uns jetzt befinden; wir treffen uns hier. Das kann natürlich nur am Tag sein.“

„Aber abends?“ fragte Fritz.

„Kannst du mich in meiner Wohnung aufsuchen.“

„Man wird mich sehen.“

„Nein. Du wartest, bis alles schläft, und versicherst dich genau, daß du nicht bemerkt werden kannst. Dann steigst du an dem Blitzableiter der Mittelfront empor, kriechst über das Dach und klopfst leise an mein Fenster. Der Blitzableiter ist sehr fest, er hat auch mich bereits getragen.“

„Das ist bequem, und ich werde mir gleich morgen die Gelegenheit einmal ansehen.“

„Schließlich muß ich dich auf den alten Turm aufmerksam machen, welcher hier im Walde liegt –“

„Ich kenne ihn nicht.“

„Ich werde dir ihn jetzt zeigen. Man sagt nämlich, daß es dort umgehe; ich aber glaube, daß diese Geister von Fleisch und Blut sind. Ich kann des Nachts nur schwer das Schloß verlassen und möchte doch gerade zu dieser Zeit den Turm beobachten –“

„Gut, Herr Doktor, das werde ich also übernehmen“, meinte Fritz.

„Aber die Geister!“ lächelte Müller.

„Oh, ich habe einen Revolver, mit dem man Geister bannen kann! Übrigens tut es ein guter Prügel oder Knüppel wohl auch!“

„Jedenfalls. Doch wünsche ich nicht, daß du dich in Gefahr begibst. Unsere Beobachtungen müssen sehr geheim geschehen; es wäre mir also lieb, wenn die Geister dich gar nicht bemerkten.“

„Ganz wie Sie befehlen, Herr Doktor. Übrigens ist es möglich, daß wir uns doch einmal in Gegenwart anderer treffen und wohl gar sprechen müssen. Wie habe ich mich da zu verhalten?“

„Wir kennen uns nicht und reden nur französisch miteinander. Höchstens erinnern wir uns, einander während des Schiffbruchs gesehen zu haben. Jetzt aber komm, ich muß dir den Turm zeigen!“

Sie gingen weiter, gerade durch den Wald, und gelangten an das Felsengewirr, in dessen Mitte die Ruine des Turmes sich erhob. Diese war von keinem bedeutenden Durchmesser und erhob sich zu einer Höhe von ungefähr vierzig Ellen. Was über diese Höhe hinausgereicht hatte, war eingestürzt. Die Tür war schmal und nicht hoch. Das runde Gemäuer zeigte unten einige schmale, schießschartenähnliche Fensteröffnungen. Oben aber ragten noch einige hohe, mächtige Pfeiler in die Luft, zum sichersten Beweis, daß sich dort Gemächer mit großen Aussichtsfenstern befunden hatten. Diese Pfeiler standen ganz ohne Stütze auf der Ruinenkante, nur durch ihre eigene Schwere gehalten.

Die beiden Männer traten ein und bemerkten, daß eine Treppe zur Höhe führte. Dieselbe war sehr schwer zu ersteigen, denn die Stufen lagen voller Geröll, welches von oben herabgestürzt war. Dennoch arbeiteten sich beide empor. Oben angekommen, fanden sie nicht das mindeste, welches ihnen die gehabte Mühe hätte belohnen können, und es zeigte sich auch nicht die leiseste Spur, daß dieser Ort in letzter Zeit von einem menschlichen Fuß betreten worden sei.

Sie stiegen wieder herab und untersuchten den unteren Teil des Turmes. Auch hier lag Schutt in solcher Menge, daß es eine ungeheure Arbeit gewesen wäre, ihn wegzuräumen, um zu sehen, ob vielleicht eine weitere Treppe nach einem Keller führe.

„Die Gespenster haben sich keinen sehr bequemen Ort zur Wohnung erwählt“, meinte Fritz. „Wenn ich einmal nach meinem Tod spuken muß, so tue ich es sicher nicht ohne wenigstens ein Sofa und eine lange Pfeife. Ich bedaure sie!“

„So bedaure dich mit ihnen!“ antwortete Müller.

„Warum?“

„Weil dieser Turm für einige Zeit dein Wachtlokal sein wird. Auf Wohnlichkeit und Eleganz wirst du verzichten müssen.“

„Ich nehme an, es geschieht im Dienst, und da darf man nicht wählerisch sein. Übrigens werde ich mich sehr hüten, mich im Turm selbst einzuquartieren. Hier gibt es nichts. Wenn es wirklich nicht geheuer ist, so kommen die Geister von außen herein, und darum werde ich mir da draußen ein Plätzchen suchen, von welchem aus ich den Eingang gut bewachen kann. Übrigens sind es die ersten Gespenster, welche ich zu sehen bekomme. Ich kann sagen, daß ich mich herzlich auf sie freue.“

Müller wußte, daß diese Worte keine Unwahrheit enthielten. Fritz war ein mutiger, unerschrockener Kerl, der weder an Gespenster noch an den Teufel glaubte. Was er sagte, war wirklich ganz aufrichtig gemeint. Darum antwortete sein Herr:

„Das sollst du erfahren, sobald ich es selber weiß. Jetzt aber eile; es fallen bereits die Tropfen, und der Sturm hat sich bereits erhoben!“

Sie schieden. In nicht allzu großer Ferne lagen die Häuser eines Dorfes, nach welchem Fritz seine eiligen Schritte lenkte. Müller aber schlug die Richtung ein, aus welcher sie gekommen waren, da der Turm in fast gerader Linie nach dem Schloß lag und ihm also wirklich den gelegentlichsten Schutz vor dem Gewitter bot.

Der Sturm begann die Bäume zu erfassen. Die Wipfel rauschten und prasselten unter seinem gewaltigen Druck. Ein helles, scharfes Heulen pfiff schneidend durch die Luft; es lagerte sich ringsum eine dichte Dunkelheit, die nur von dem Leuchten des Blitzes erhellt wurde. Ein fürchterlicher Donnerschlag machte die Erde erzittern, und dann war es, als habe dieser Schlag alle Wolken geöffnet.

Glücklicherweise war Müller bereits in der Nähe des Turms angekommen. Er eilte zwischen den Felsen hindurch, trat ein und – wäre beinahe erschrocken zurückgewichen, denn vor ihm stand, von einem soeben niederfahrenden Blitz hell beleuchtet – Baronesse Marion.

„Entschuldigung, gnädiges Fräulein!“ sagte er. „Ich wußte nicht, daß sich jemand hier befindet.“

Sie konnten einander nicht erkennen. Das Dunkel des Wetters war hier im Turm doppelt bemerklich. Marion antwortete:

„Und auch ich glaubte, allein zu sein. Übrigens haben Sie sich nicht zu entschuldigen. Der Wald steht einem jeden offen.“

„Auch dieses Gebäude, Mademoiselle?“

„Gewiß. Warum sollen Sie nicht Schutz hier suchen dürfen, geradeso wie ich? Sie sind naß geworden?“

„Nicht so, daß es wert sei, es zu erwähnen.“

„Auch ich bin trocken geblieben; der Turm war ja ganz in der Nähe.“

Er ahnte, daß sie an dem Grab gewesen sei. Wie lieb mußte sie ihre Mutter haben! Die erste Stunde nach der Rückkehr galt der Ruhestätte der Toten.

„Sie waren allein im Wald?“ fragte er.

„Ja“, antwortete sie. „Aber der Regen wird wohl anhaltend sein; es scheint geraten, es uns so bequem wie möglich zu machen.“

Sein Auge hatte sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt, und so bemerkte er, daß sie das Tuch, welches sie um ihre Schultern trug, abnahm und auf eine Treppenstufe legte, um sich daraufzusetzen. Er blieb in ihrer Nähe stehen, indem er sich an die Mauer lehnte.

Draußen blitzte, donnerte und regnete es fort. Die beiden Menschen im Inneren des alten, verrufenen Turms beobachtete ein tiefes Schweigen, bis Marion endlich sagte:

„Es scheint, daß wir bestimmt sind, uns nur immer bei Sturm und Wetter zu begegnen. Das jetzige Gewitter ist allerdings nicht ganz so fürchterlich wie jenes, welches uns auf der Mosel traf.“

Was sollte er antworten? Er schwieg. Auch sie zögerte, fortzufahren, und erst nach einer längeren Pause sagte sie:

„Warum verschwanden Sie so schnell von dem Meierhof?“

„Da ich Sie unter sicherem Schutz wußte, hatte ich keinen Grund, zu bleiben“, antwortete er.

Seine Worte hatten einen eigentümlichen Klang, aus welchem deutlich die Absicht einer Beziehung zu hören war, die sie nicht sogleich zu erraten vermochte. Sie gab sich weiter keine Mühe, nachzudenken, sondern fuhr fort:

„Ich fand damals nicht Gelegenheit, Ihnen Dank zu sagen. Erlauben Sie, daß ich dies jetzt nachhole, Herr Doktor!“

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen, diese schöne Hand, welche von einer solchen Weiße war, daß er sie trotz des herrschenden Dunkels ganz deutlich sehen konnte. Er legte seine Hand um ihre weichen, warmen Finger; er fühlte einen kräftigen Druck; sie zog die Hand nicht sogleich wieder zurück, sondern duldete seinen leisen Gegendruck; es war, als ob ein himmlisches Fluidum aus ihrer Hand in die seinige überströme und durch seinen ganzen Körper gehe; es war ihr, als ob die dumpfe Luft des Turms ganz plötzlich mit erquickendem Balsam geschwängert sei, er fühlte deutlich, daß sein Arm und seine Hand vor Wonne zitterten. Seine Finger legten sich, trotz aller Anstrengung, sich zu beherrschen, nochmals innig um die ihrigen – aber da zog sie schnell ihre Hand zurück. Zürnte sie ihm? Nein; denn im Ton ihrer Stimme lag nicht der leiseste Vorwurf, als sie jetzt sagte:

„Ich erkundigte mich natürlich nach Ihnen, konnte aber leider nicht erfahren, wer Sie sind. Zwar schien es mir, als seien Sie dem Doktor Bertrand nicht ganz unbekannt, doch war derselbe sehr wortkarg. Um so mehr war ich heute verwundert, Sie als Gouverneur meines Bruders auf Schloß Ortry zu sehen. Kannten Sie mich bereits auf dem Schiff?“

„Ja“, antwortete er, da es ihm unmöglich war, hier eine Unwahrheit zu sagen.

„Warum ließen Sie mich nicht wissen, daß wir uns wiedersehen würden?“

„Es gab keine Gelegenheit“, versuchte er sich zu entschuldigen.

„Das mag sein“, antwortete sie mit heller Stimme. „Um so mehr freut es mich, Sie bei uns zu wissen. Ich kann natürlich noch nicht fragen, ob es Ihnen bei uns gefällt, denn Sie sind zu kurze Zeit hier; aber ich bitte Sie dringend, Kleinigkeiten zu überwinden, um der Liebe willen, welche Sie sich bei Alexander bereits erworben haben. Er hat mir mit wirklicher Begeisterung von der Probe erzählt, welcher Sie von Seiten meines Großpapas unterworfen wurden, und dieser letztere selbst gestand mir ein, daß Sie ein ausgezeichneter Fechter, Schütze und Reiter seien. Darum wundert es mich doppelt, daß – daß –“

Sie hielt inne, und darum sagte Müller nach einem Weilchen:

„Bitte, fahren Sie fort, gnädiges Fräulein!“

Sie folgte seiner Aufforderung, indem sie erklärte:

„Es wundert mich, daß Ihnen eine Fertigkeit fremd ist, welche fast jeder Mann besitzt.“

„Welche?“

„Diejenige des Billardspiels. Oberst Rallion erzählte nach Tisch eine Begebenheit, welche dies zu beweisen scheint. Übrigens“, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, „sagen Sie mir doch einmal aufrichtig, warum Sie die Beleidigung dieses Herrn so ruhig hinnahmen!“

Wäre es lichter gewesen, so hätte sie sehen können, daß ein eigentümliches Wetterleuchten über sein Gesicht ging. Er antwortete:

„Darf ich bitten, mir die Antwort zu erlassen?“

„Warum?“ sagte sie rasch. „Fürchten Sie sich vor ihm?“

Er schwieg. Sie sah, daß er langsam unter die Tür des Turms trat, obgleich der Sturm die schweren Regentropfen hereintrieb. Sie erkannte, daß er eine mächtige, innerliche Empfindung unterdrücken müsse, ehe er ihr antwortete. So blieb er lange stehen. Der Donner rollte fort; der Orkan heulte; Müller wurde vollständig durchnäßt und schien es doch nicht zu bemerken. Da wurde ihr fast ängstlich zumute; sie erhob sich, berührte seinen Arm und fragte:

„Warum antworten Sie mir nicht?“

Jetzt endlich drehte er sich um; sie fühlte, daß er ihre Hand von sich schüttelte; dann sagte er:

„Weil in Ihren Worten eine größere Beleidigung lag, als in denen des Obersten. Aber, pah, ich bin ja nur ein simpler Hauslehrer, welcher sein Salär bezieht!“

„Sie irren, Herr Doktor. Ich wollte Sie nicht beleidigen“, erklärte sie hastig mit tiefer Stimme. „Sie sind mein Retter und auch der Retter meines Bruders; wie sollte ich Sie kränken wollen! Übrigens stehen wir uns vollständig gleichwertig gegenüber. Nur der Zufall ließ mich von Adel sein; Sie aber haben Ihre Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen Ihrem Fleiß zu verdanken. Der Bruder soll von Ihnen lernen; sagen Sie selbst, ob dies Ihren Wert für uns vermindern oder vergrößern muß!“

Sie hatte ihm dringlichsten Ton gesprochen; Müller mußte fühlen, daß ihr sehr daran lag, von ihm nicht falsch beurteilt zu werden. Das erfüllte ihn mit Seligkeit. Sie fügte hinzu:

„Ich hatte keinen Grund zu meiner Frage, als den, Ihnen anzudeuten, daß ich mich gefreut hätte, Sie auch dem Obersten gegenüber als Mann zu sehen, als welchen ich Sie kennenlernte. Als ich mich in Gefahr befand, war er nur auf seine eigene Rettung bedacht. Als er den kleinlichen Mut hatte, Sie zu beleidigen, gingen Sie schweigsam fort. Sagen Sie selbst, ob mir dies nicht auffallen muß!“

Sie suchte sich zu entschuldigen. Sie sagte ihm mit deutlichen Worten, daß es ihr lieber gewesen, den Obersten gehörig zurückgewiesen zu sehen. Wie wohl tat dies dem Herzen Müllers! Wie entzückt war er darüber! Er hätte seine Arme um sie legen mögen, um ihr dafür zu danken, wie man der Geliebten dankt für das Glück, welches ihre Worte in das Herz des Mannes pflanzen. Er erklärte ihr:

„Ich hätte ihm nur mit der Waffe, nicht aber mit Worten antworten können!“

„Nun, warum taten Sie das nicht?“

„Weil es für meinen Gegner keine Kleinigkeit ist, sich mit mir zu schlagen.“

Er sagte diese Worte in aller Ruhe und Bescheidenheit, sie aber fühlte und glaubte, daß sie kein fades Eigenlob enthielten. Dennoch sagte sie:

„Das ist zwar gut für Sie, darf Sie aber nicht veranlassen, sich ungestraft beleidigen und blamieren zu lassen!“

Da trat er näher an sie heran und fragte in einem Ton, der tief eindringlich klang:

„So wünschen Sie, daß ich Ihnen den Bräutigam töte?“

Sie wich hastig einen Schritt zurück und erkundigte sich:

„So haben Sie nur meinetwegen von einer Bestrafung des Obersten abgesehen?“

„Allerdings!“

„Das war ganz und gar nicht nötig. Wer hat Ihnen gesagt, daß er mein Bräutigam ist?“

„Er selbst hat sich dessen öffentlich gerühmt.“

„Ah, so erkläre ich Ihnen, daß mir dieser Mann völlig unsympathisch ist und daß Sie ihn in Rücksicht auf mich ganz und gar nicht zu schonen brauchen. Großpapa wünscht unsere Verbindung; ich aber werde meine Hand niemals einem Mann reichen, den ich weder lieben noch achten kann!“

Marion hielt inne, und Müller erkannte, daß sie die Wahrheit gesprochen.

Nur wenige Sekunden dauerte das Schweigen zwischen Müller und Marion, dann nahm ersterer das unterbrochene Gespräch wieder auf.

„Ich danke Ihnen für Ihre Güte, Mademoiselle!“ sagte er, während sein ganzes Inneres frohlockte. „Als Mann von Ehre hatte ich den Obersten zu fordern, aber er ist der Gast des Hauses, dessen Diener ich gegenwärtig bin.“

„Das tut nichts“, sagte sie in sehr bestimmten Ton. „Kennen Sie den Großpapa?“

„Das ist noch nicht gut möglich!“

„Nun, so will ich Ihnen sagen, daß er selbst ein leidenschaftlicher Fechter und Schütze ist. Seine höchste Passion ist, einem Kampf zuzusehen. Hätten Sie den Obersten gefordert, so hätte Großpapa Ihnen dies nicht im mindesten übelgenommen. Ich bin im Gegenteil überzeugt, daß er Ihnen von Herzen gern sekundiert – oh, mein Gott!“

Dieser Ruf, mit welchem sie ihre Rede unterbrach, galt einem Blitz, welcher mit mehr als Tageshelle die Szene erleuchtete, und einem Donnerschlage, unter dessen Erschütterung das alte Gemäuer des Turmes einzustürzen drohte. Im Schein des Blitzes hatten die beiden das ganze vor dem Turm liegende Felsengewirr zu überblicken vermocht, und da hatten sie eine hohe, weiße Gestalt gesehen, welche zwischen den Felstrümmern daher und gerade auf den Turm zugeschritten kam. Selbst als das blendende Licht des Blitzes verzuckt war, sah man das lange, weiße Gewand immer näher kommen, nicht eilig, wie um dem Regen zu entrinnen, sondern langsam, langsam, als sei diese Gestalt ein überirdisches Wesen, dem die elementaren Gewalten der Erde nichts anzuhaben vermögen.

Marion hatte, seit sie von der Treppenstufe aufgestanden war, diesen Platz noch nicht wieder eingenommen. Sie trat hart an Müller heran und sagte:

„Liama, der Geist meiner Mutter!“

Und je näher die Gestalt kam, desto ängstlicher schmiegte sich das Mädchen in die Ecke hinter der Turmtreppe und an den Deutschen, welcher dem vermeintlichen Geist mit eigentümlichen Gefühlen entgegenblickte.

Die Erscheinung kam aus der Gegend her, in welcher das Grab lag. Müller hegte keinen Gespensterglauben, doch konnte er ein gewissen Grauen nicht ganz unterdrücken, als das hohe, fremdartige Wesen unter Blitz und Donner zwischen den Felsen daher geschwebt kam. Marion hatte sich während des Schiffbruchs so unerschrocken gezeigt; jetzt aber schmiegte sie sich fester und fester an Müller, so fest, daß dieser unwillkürlich den Arm um sie legte, was sie gar nicht zu bemerken schien. Und als die Gestalt jetzt den Eingang erreicht hatte, hob das Mädchen sogar den Arm und legte denselben so fest um den Doktor, daß dieser das furchtsame Beben der heimlich Geliebten deutlich fühlte.

Unter der Tür wendete sich die Erscheinung um, so daß sie nach dem Wald zu stand, erhob die beiden Arme und rief mit einer tiefen, klangvollen Stimme:

„Allah il Allah! Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrscht am Tag des Gerichts. Dir wollen wir dienen, und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führst den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich freuen, und nicht den Weg derer, über welche du zürnst, und nicht den Weg der Irrenden!“

Sie ließ die Arme sinken, trat etwas weiter zurück und betete weiter:

„Allah ist's, der den Blitz erzeuget und die Welten mit Regen schwängert. Der Donner verkündet sein Lob, und die Engel preisen ihn mit Entsetzen. Er sendet seine Blitze und zerschmettert, wen er will. Allah il Allah, akbar Allah!“

Jetzt trat sie zur Treppe und stieg dieselbe hinauf, ohne die beiden zu bemerken, welche seitwärts hinter den Stufen standen. Und als ob ihre Worte Wunderkräfte besäßen, zuckte noch ein letzter Blitz auf, ein fürchterlicher Donnerschlag erscholl, und dann ward es still. Der Regen goß noch eine Minute lang hernieder, ward dann dünner und hörte rasch gänzlich auf. Die Helligkeit des Tages trat wieder ein, aber die fremdartige Erscheinung war im oberen Teil des Turms verschwunden.

Müller stand mit Marion noch auf derselben Stelle, eng verschlungen mit ihr. Es war ihm, als müsse er sie so festhalten für alle Ewigkeit. Er blickte ihr in das bleiche Angesicht. Sie hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht.

„Marion!“ flüsterte er leise, sich zu ihr niederbeugend.

Dieses Wort erweckte sie; es war ein unvorsichtiges Wort gewesen. Wie durfte der Hauslehrer wagen, sie, die Baronesse, so beim Namen zu nennen! Er fühlte diese Unbedachtsamkeit selbst, doch es war zu spät, er konnte sie nicht zurücknehmen. Sie öffnete die Augen; ihr Blick traf den seinen; es war, als ob eine Flamme daraus den ihrigen entzünde und belebe. Eine tiefe Röte verbreitete sich über ihr vorher leichenblasses Gesicht, sie ließ den Arm sinken, der sich an ihm festgehalten hatte. Sie trat zur Seite, so daß er gezwungen war, auch seinen Arm von ihr zu nehmen, und fragte ihn leise:

„Wo ist sie?“

„Dort oben“, antwortete Müller, zur Treppe deutend.

„Sie wird zurückkehren. Lassen Sie uns gehen!“ bat sie.

Er schüttelte den Kopf und antwortete flüsternd zurück:

„Nein, bleiben wir. Warten wir das Ereignis ruhig ab! Oder glauben Sie wirklich, daß die Gestalt ein Geist gewesen sei?“

„Ja“, antwortete Marion im Ton der innigsten Überzeugung. „Der Geist meiner Mutter.“

„Und wenn Sie irren?“

„Ich irre nicht!“ sagte sie in bestimmtem Ton.

„Haben Sie diese Erscheinung bereits einmal gesehen?“

„Noch nie; aber in der ganzen Umgegend erzählt man sich von ihr. Es ist kein Trug.“

Sie schauderte bei diesen Worten sichtbar zusammen. Müller aber schüttelte den Kopf und sagte:

„Geister erscheinen nicht des Tages. Geister werden nicht naß; ich sah, daß der weiße Haïk, den die Fremde nach arabischer Sitte trug, vom Regen triefte. Und Geister beten nicht mit lauter Stimme die Worte des Korans.“

„Aus dem Koran waren diese Worte?“

„Ja. Unter der Tür betete sie die erste Sure des Korans, welche ‚die Eröffnung‘ genannt wird, und das zweite Gebet war aus der dreizehnten Sure, welche ‚Rad der Donner‘ heißt.“

„Sie war eine Mohammedanerin“, gestand Marion. „Ich zittere vor Furcht, ich bebe vor Entsetzen, den Geist der Mutter gesehen zu haben. Lassen Sie uns fliehen!“

„Und wenn es nun kein Geist war, wenn es nun ein Mensch gewesen wäre?“

„Herr, lästern Sie nicht! Lassen Sie uns gehen!“

„Bitte, bleiben Sie nur einen einzigen Augenblick hier! Ich werde ihr folgen. Ich muß sehen, wo sie geblieben ist.“

„Um Gottes willen, nein! Ich habe so sehr Angst. Verlassen Sie mich nicht! Gehen Sie nicht fort von mir! Ich muß heim; ich muß zu Gott beten, damit er der Mutter die ewige Ruhe schenke. Kommen Sie!“

Sie zog ihn fort, hinaus in den nassen Wald, und er mußte ihr folgen. Als sie zwischen den Felsen dahineilten, warf Marion unwillkürlich einen Blick zurück und deutete erschrocken nach der Zinne der Ruine. Dort oben stand die weiße Gestalt mit hoch erhobenen Händen, nach Osten gewendet, wo Mekka liegt mit dem Stein der heiligen Kaaba. Man hörte die Worte ihres lauten Gebetes herabschallen, dem Gewitter nach, welches nach Morgen zog. Hinter ihr leuchtete im Westen die untergehende Sonne, und über ihr stand ein Regenbogen in herrlichen Farben. Müller hatte das Gespenst des Turms gesehen, aber das Geheimnis nicht berühren dürfen.



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