PROLOG. Stadt der Toten 21. März 1933 • Britisch Honduras

Wie eine Scheibe in der Farbe geschmolzenen Eisens ging die Sonne zwischen den beiden dunkel brütenden, namenlosen Gipfeln der Maya-Berge auf und tauchte das nebelverhangene Tal in ein geisterhaftes Zwielicht. Indiana Jones sah, wie sich die Umrisse einer Stadt langsam im Dunst abzeichneten. Eine Gruppe flacher, kalkweißer Gebäude gruppierte sich um eine außergewöhnliche quadratische Stufenpyramide und die sich daran anschließende Akropo-lis.

»Die untergegangene Stadt Cozan«, flüsterte Indy ergriffen. Seine Bemerkung richtete sich eher an ihn selbst als an den guatemaltekischen Führer, der neben ihm stand. »Zuletzt von Sir Richard Francis Burton im Jahre 1867 gesehen, ehe sie vom Dschungel verschlungen wurde. Burton gelang die Flucht, sein Freund Tobias hatte leider nicht so viel Glück.«

»Das ist ein böser Ort«, sagte Bernabe.

»Das sind sie doch alle«, erwiderte Indy trocken.

Die Sonnenstrahlen krochen schon über die Akropolis

und fielen auf den Tempel der Schlange, der auf der Pyramide errichtet worden war und aus der Nebeldecke herausragte. Durch die aufrechten und mit den Hieroglyphen wichtiger Daten und Herrschernamen geschmückten Steinsäulen fiel Licht. Auf die obersten Stufen der Pyramide zauberte es ein rastloses Muster, das an eine Schlange erinnerte, die im Begriff war, sich die Große Treppe hinunter zur Heiligen Quelle zu schlängeln. In dem Moment, in dem die Schlange den Pyramidensockel erreichte, wurde nach den Überlieferungen dem Zuschauer das Versteck der Todesgöttin offenbart.

»Komm«, sagte Indy. Er arbeitete sich durch das üppige Dickicht des Regenwaldes, um am Stadtrand aus den tropischen Gewächsen hervorzutreten. »Bis die Schlange unten ankommt, bleiben uns noch etwa zehn, zwölf Minuten. Beeil dich.«

Bernabe folgte ihm widerwillig. Insgeheim wünschte er sich, er hätte kein Geld als Gegenleistung dafür angenommen, den Gringo in die verbotene Stadt seiner Vorfahren zu führen. Wäre er doch nur in seinem Heimatdorf geblieben, bei seiner Frau mit dem runden Gesicht und seinen drei Kindern. Die Vorstellung, sie niemals wiederzusehen, ließ ihn erschaudern.

»Senor«, rief er aus. »Sie haben hoffentlich nicht unsere Abmachung vergessen. Ich werde oben bleiben und nicht mitkommen ... «

Falls Indy ihn gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken.

Ganze zwei Wochen lang waren sie den sacbob, den alten, weiß gepflasterten Maya-Straßen gefolgt, hatten sich durch dichten Dschungel gekämpft, um in dieses längst vergessene Tal zu gelangen. Zuvor hatte Indy monatelang recherchiert und eine beträchtliche Summe des Museumsfonds ausgegeben, um Archivare und zentralamerikanische Beamte zu schmieren. Und nun war die Zeit auf einmal knapp. Ihnen blieb keine Zeit, sich an einen wie auch immer gearteten Plan zu halten. Sie konnten nur weiter marschieren und das Beste hoffen - oder dreiunddreißig Jahre auf die nächste Frühjahrs-Tagundnachtgleiche warten, die 1966 stattfinden würde.

Während sie über die Straße der Toten, die Hauptdurchgangsschleuse der Stadt, eilten, mußte Indy an die vielen tausend Menschen denken, die in den düsteren Steinhäusern gelebt hatten und gestorben waren. Dort hatten sie Familien gegründet, im Schatten der Pyramide ihre Götter angebetet und mitangesehen, wie ihr Blut vom Steinaltar auf der Pyramide geflossen war. Dreimal in hundert Jahren hatten sie beobachtet, wie die Schlange die Treppe hinunterkroch, ein Spektakel, dem beizuwohnen ihm im Moment ebenfalls vergönnt war. Und dann waren die Bewohner eines Tages verschwunden. Eine ganze Zivilisation hatte sich einfach so in Luft aufgelöst und nur ... Geister zurückgelassen?

Indy blieb stehen.

Zu beiden Seiten der Pyramide, auf den anderen Gebäuden und auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes bewegte sich etwas. Man hörte Geflüster und leises Gemurmel, und manchmal wurde die Stille des Morgens von einem Schrei zerrissen, der dem Vernehmen nach nur von einem Jaguar stammen konnte. Die Schlange hatte ein Drittel der Wegstrecke nach unten zurückgelegt, und die Stadt erwachte wieder einmal zum Leben.

Bernabe, der aufgeschlossen hatte, bekreuzigte sich.

»Die Seelen meiner Vorfahren«, meinte er.

Indy lachte über die Einfachheit seiner Erklärung.

»Aber doch wohl nur, wenn deine Vorfahren Affen gewesen sind«, merkte er an und ging weiter. »Sie sind es, die diesen Lärm verursachen.«

»Schreiende Affen - noch schlimmer«, fand Bernabe. »Die Götter der Schriften, die Torwächter zur Unterwelt. Die Seelen unserer Priester kehren in Form von schreienden Affen zurück.«

Sie kehrten dem Unterholz den Rücken und traten auf große Steinquader, mit denen der Innenhof ausgelegt war. Die Affen flohen, warfen Blicke nach hinten, fletschten die Zähne und stießen Warnschreie aus. Keine Minute später waren alle Tiere geflohen.

»Nicht sonderlich tapfer«, höhnte Indy.

Ohne Vorwarnung ließ sich einer der Affen von einem Baum fallen und drückte Bernabe seitlich die Zähne in den Hals. Der Führer stieß einen Schreckensschrei aus und wirbelte herum. Er hatte alle Mühe, das silberhaarige Monster abzuschütteln. Der Affe warf den Kopf nach hinten und heulte traurig durch die blutverschmierten Fänge.

Zu verängstigt, um ein Wort sagen zu können, wandte Bernabe sich mit flehendem Blick an Indy.

»Beweg dich nicht«, ordnete Indy an. In einer Bewegung wickelte er seine Peitsche ab und schleuderte sie von sich weg. Die Spitze zischte am Kopf des Affen vorbei, produzierte ein lautes Schnalzen und veranlaßte das Tier, erschrocken, aber unverletzt das Weite zu suchen.

Bernabes Hand fuhr zu der blutenden Stelle am Hals hoch.

»Ist nur ein Kratzer«, versicherte Indy ihm.

Der Führer wandte sich an den im Unterholz des Dschungels verschwindenden Affen: »Großvater, du hät-test ihn beißen sollen. Er ist derjenige, der dich beleidigt hat.«

Indy drehte den Kopf in Richtung Pyramide.

Die Schlange war die Treppe zur Hälfte hinunter gekrochen.

Er kniete sich auf die Pflastersteine, streckte den Arm aus, um seinen Blick daran auszurichten und vollzog im Geist den Weg der Schlange zum Sockel der Pyramide nach. Auf welchen der fünf Durchgänge hielt sie zu? Die Durchgänge glichen einander aufs Haar, doch nur einer führte zur Heiligen Quelle. Nicht in den falschen treten, darauf kam es an.

»Frustrierend, finde ich«, dachte Indy laut, »daß man nicht die Zeit hat zu warten, bis der Schatten unten angelangt ist, weil es dann zu spät ist - dann hat sich die Göttin schon zu erkennen gegeben.« Er kraulte sein stoppeliges Kinn. »Und es wäre dumm, den Durchgang zu wählen, den jemand anderer vor einem genommen hat, denn jedes Mal ist ein anderer Weg der richtige.«

Und doch hatte es laut seiner Schätzung den Anschein, als bewege sich die Schlange auf das mittlere Portal zu. Aber- das erkannte Indy, als er sie einen Moment lang fixierte - sie schwenkte eindeutig nach Norden aus. Dann mußte es also einer der beiden nach Norden ausgerichteten Durchgänge sein. Immerhin standen seine Chancen nun fünfzig-fünfzig.

Indy entledigte sich des dreißig Kilo schweren Rucksacks, den er die letzten drei Tage getragen hatte. Er schnürte die Lasche auf und nahm ein fünfzig Fuß langes Seil heraus, das er sich um die Taille wickelte, und eine Karbidlampe. Um sicherzugehen, daß die Lampe genug Benzin und Wasser hatte, schüttelte er sie, ehe er den Feuerstein mehrmals hintereinander vergeblich in Gang zu setzen versuchte.

»Gottverdammt«, ärgerte er sich keuchend, »warum habe ich keine batteriebetriebene Taschenlampe mitgenommen?«

Er schöpfte Atem, ermahnte sich, die Lage gelassen zu sehen, und unternahm einen neuen Versuch. Betont langsam und vorsichtig machte er sich am Feuerstein zu schaffen. Endlich leuchtete eine helle Flamme vor dem Reflektor auf.

Indy grinste.

»Ich möchte jetzt meinen Bonus«, verkündete Bernabe.

»Huh-uh«, sagte Indy. »Wenn ich rauskomme, erhältst du deinen Bonus. Und keine Minute früher.« Bernabes Miene verriet Indy, daß er nicht mit ihrer Rückkehr rechnete.

Indy tippte seinem Führer mit dem Zeigefinger auf die Brust.

»Du wartest hier. Du sperrst Augen und Ohren auf - ich habe nämlich das Gefühl, daß wir seit gestern nachmittag verfolgt werden. Und du betest besser, daß ich wieder rauskomme, denn falls nicht, werde ich deinen Vorfahren in der Unterwelt erzählen, wie übel du ihren Affen mitgespielt hast.«

Indy wandte sich der Pyramide zu.

»Warten Sie, mein Herr«, sagte Bernabe, die fünf Portale mürrisch fixierend. »Sie dürfen die Heilige Quelle nicht betreten. Das ist sehr schlimm. Es gibt einen Fluch.«

»Den gibt es immer.«

Indy warf einen Blick auf seine Armbanduhr, blickte dann zur Schlange hinüber. Seiner Schätzung nach hatte sie etwas mehr als die Hälfte des Weges, ungefähr sechzig Prozent, zurückgelegt. Das bedeutete, daß er noch fünf, sechs Minuten zur Verfügung hatte.

Er rückte den Fedora zurecht, knöpfte die Lederjacke zu und entschied sich für den zweiten Durchgang auf der rechten Seite. Augenblicklich umgab ihn undurchdringliche Dunkelheit. Im Tunnel war es klamm und kühl, und es roch stark nach Salpeter. Der Boden fiel steil nach unten ab. Indy bewegte sich so schnell, wie es sein Mut zuließ. Mit einem Arm zerriß er die Spinnweben. Im Licht der Karbidlampe sah er, daß der Tunnel ganz glatte, ebenmäßige Wände hatte und mit Sorgfalt ausgegraben worden war. Dürfte schwierig sein, kam es ihm in den Sinn, eine Messerklinge zwischen zwei Blöcke zu rammen. Die Wände waren nicht verziert, wiesen keine Hieroglyphen auf. Auf dem Boden machte sich hellgrünes Moos breit.

Nach ungefähr dreißig Fuß rutschte Indy aus und landete auf dem Hosenboden. Halsstarrig stand er wieder auf, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und rutschte erneut aus, ehe er feststellen mußte, daß das Moos unter seinen Füßen so glatt wie Eis war. Er drehte sich um und beschloß, wieder nach oben zu steigen, aber das nutzte ihm wenig. Nun schlitterte er rückwärts den Tunnel hinunter. Er überlegte, sich mit den Armen an den Wänden abzustützen, aber der Korridor war zu breit. Da entsann er sich seiner Peitsche, die leider nur zehn Fuß lang war. Ihm blieb noch das Seil, das länger war, aber er sah keine Möglichkeit, es nach draußen zu schleudern ...

Draußen beobachtete Bernabe mit entgeisterter Miene die Schlange aus Licht und Schatten. Inzwischen war sie weit genug heruntergekommen. So konnte er sich ausrechnen, daß sie auf den Durchgang ganz rechts zusteuerte -also nicht auf den, in dem Indy verschwunden war. Und doch näherte sich etwas dem Portal, das Indy ausgewählt hatte: die größte Anakonda, die Bernabe je gesehen hatte.

Mit Staunen registrierte Indy, wie die Steinquader immer schneller an ihm vorbeisausten. Er rollte sich auf die linke Seite und versuchte, sich an der Wand festzuhalten. Ein Fingernagel brach ab. Laut fluchend machte er seinem Zorn Luft. Er wurde immer schneller. Wo auch immer der Tunnel ihn hinbrachte, gut war es dort bestimmt nicht. Ein Blick nach unten bestätigte seine Vermutung. Im flackernden Licht der Karbidlampe mußte er voller Entsetzen erkennen, daß der Tunnel in einen Abgrund mündete. Und die Wände waren so glatt, daß es einem Wunder gleichkam, wenn -

»Messerklinge!« rief Indy.

Ohne weiter nachzudenken, riß er sein Jagdmesser aus der Scheide und hielt die Spitze an die Wand. Funken sprühten auf. Die Messerspitze rutschte in eine Ritze, hielt kurz inne und raste dann weiter über den Stein. Ihm blieben nur noch zwei Steinquader. Indy veränderte seine Handhaltung und hielt dann das Messer in einem neuen Winkel. Das Messer blieb in einer Fuge stecken - und dann brach die Spitze ab, und er rutschte wieder dem Abgrund entgegen.

»Aller guten Dinge sind drei«, kam ihm über die Lippen.

Unter großer Anstrengung gelang es Indy, das Messer in die letzte Ritze zu rammen. Diesmal hielt es. Sein Fall wurde ruckartig beendet, gerade noch rechtzeitig, denn seine Füße baumelten schon über dem Abgrund.

Sich mit der einen Hand festhaltend, trieb und hämmerte er mit dem Pistolenknauf das Messer tiefer in die Ritze. Dann wickelte er das Seil mehrere Male um den Griff des Messers und seilte sich vorsichtig ab, um einen Blick in die Grube werfen zu können. Das Licht der Lampe reichte nicht aus, um bis auf den Grund hinunter sehen zu können. Er hörte Wasser plätschern. Indy spuckte und zählte die Sekunden. Das Loch war mehr als hundert Fuß tief.

Der Tunnel, den Indy genommen hatte, endete hier, aber im Lichtschein der Lampe entdeckte er ein Loch in der linken Wand, etwa zwanzig Fuß weiter unten. Also versicherte er sich, daß er das Seil richtig hielt und begann, nach unten zu klettern. Auf gleicher Höhe mit der Öffnung stieß er sich mit den Füßen von der Wand ab und schwankte wie ein Pendel hin und her. Beim zweiten Versuch fand er Halt und zog sich in das Loch, das - wie sich nun herausstellte - ein kurzer Gang war, der in einen anderen Tunnel mündete, welcher von Osten nach Westen verlief.

Daraus schloß er, daß die fünf Durchgänge einem Labyrinth gleich miteinander verbunden waren. Die Höhe des jeweiligen Wasserstandes bestimmte, welcher Durchgang passierbar war, was ihm einigermaßen makaber vorkam.

Er schaute auf die Uhr. Die Zeit wurde knapp.

Auch in diesem Tunnel fiel der Boden ab, aber nicht so steil wie im ersten - und außerdem war er nicht von Moos überzogen. Indy ließ ein paar Fuß Seil nach, das an einem Ende immer noch am Messer befestigt war, und trennte es dann mit der Flamme durch. Die verbleibenden zwanzig Fuß rollte er auf und warf sie über die Schulter. Er stand immer noch am Rand der Grube, als er etwas oder jemanden fallen hörte. Ein paar Sekunden später schallte das Platschen zu ihm hoch.

»Bernabe?« rief er aus.

Der Name hallte aus der Grube zurück.

Indy war einigermaßen verwirrt. Wäre Bernabe gestürzt, hätte er doch sicherlich um Hilfe gerufen oder laut geschrien. Er zuckte mit den Achseln. Vielleicht war es nur einer von diesen schrecklichen Affen gewesen.

Er ging weiter.

Der Tunnel wurde enger, fiel weiter ab und wurde noch schmaler.

Kurz darauf mußte Indy den Kopf einziehen und konnte sich schließlich nur noch auf Händen und Knien fortbewegen. Die Klammheit nahm zu, und bald kroch er durch fünfzehn Zentimeter hohes, faulig riechendes Wasser. Nun stand ihm das Wasser sprichwörtlich bis zum Hals.

Wenigstens, versuchte Indy sich aufzumuntern, wußte er nun, wie tief er sich befand: Der Wasserstand in der Grube verriet ihm die Höhe des Wasserspiegels in der Heiligen Quelle.

Das Kriechen fiel ihm nicht gerade leicht/weil er nur eine Hand benutzte. Mit der anderen hielt er angestrengt die Lampe aus dem Wasser. Endlich stieg der Tunnel wieder an, was ein Lächeln auf Indys Gesicht zauberte. Als er seine Hände betrachtete, fiel ihm zu seiner Verwunderung auf, daß sie mit schwarzen Tupfen überzogen waren. Er versuchte, sie abzureiben, aber sie schienen an seiner Haut zu kleben.

Blutegel hatten sich an ihm festgesetzt.

Mit grimmiger Miene zupfte er den Großteil der Schmarotzer von den Händen und dem Gesicht ab. Um den Rest wollte er sich später kümmern. Die Zeit war knapp,- ihm blieben gerade noch zwei Minuten. Als der Tunnel hoch und breit genug war, begann er zu rennen. Durch den Aufprall seiner Schritte lösten sich drei schwere Steinblöcke von der Decke und schlugen mit ohrenbetäubendem Knall an der Stelle auf, wo er gerade eben noch gestanden hatte. Bei der Vorstellung, welchem Schicksal er mit knapper Mühe entgangen war, wurde ihm flau im Magen.

Der Tunnel endete. Indy stand am Ufer der Heiligen Quelle - einem Kalksteinloch, das sich vor Urzeiten im Ge-stein herausgebildet hatte. Das Wasser schimmerte blaßblau. Irgendwo mußte Sonnenlicht eindringen, obwohl die Decke der Grotte dunkel war. Im fahlen Lichtschein erkannte Indy, daß am Rand weiße Berge aus Kugeln und Stangen aufgeschichtet worden waren.

Beim Nähertreten stellte sich heraus, daß die Kugeln und Stangen Teile menschlicher Skelette waren. Erschüttert kniete er daneben nieder.

Eines der vergilbten Skelette gehörte einer Frau, zweifellos einer Prinzessin oder Gefährtin eines Königs. Das verrieten ihm die Juwelen, die sie getragen hatte. Ein Obsidian-Halsschmuck, ein Jadearmreif und Knöchelketten lagen inmitten der verstreuten Knochen. Und mindestens ein Dutzend kleiner Glocken aus einer Kupfer-GoldLegierung. Die Klöppel waren entfernt worden - damit hatte man sie >tot< gemacht und hergerichtet, um die Prinzessin auf ihrer Reise in die Unterwelt zu begleiten. Indy hob einen der fragilen Knochen auf.

»Ihr hattet schmale Handgelenke, Prinzessin.«

Anhand der Mineralisierung, die eingetreten war, schätzte Indy, daß das Skelett wenigstens achthundert, wenn nicht gar tausend Jahre alt sein mußte. Indy registrierte, daß alles, was sich hier vor seinen Augen ausbreitete, typisch für die Maya-Opfer der spätklassischen Periode war. Mit Ausnahme von zwei Dingen: Der Schädel war heil, während der Brustkorb eingetreten worden war. In einer traditionellen Zeremonie hätten die Priester der Frau den Schädel einschlagen müssen, bevor sie ihren Leichnam dem Gott der Quelle darboten.

Das andere Skelett war weißer.

Es war das eines Mannes und in Kleider gehüllt, die zur Zeit Königin Victorias modern gewesen waren. Natürlich waren vom mürben Stoff nur noch Fetzen übrig. Indy war sich hundertprozentig sicher, daß man ihn beim Ausrauben der Prinzessin überrascht hatte, weil sich einige ihrer Schmuckstücke in den Taschen seines sich auflösenden Gehrocks befanden. Auch bei ihm war der Brustkorb eingedrückt worden. Ein altmodischer Revolver lag neben den Knochen seiner rechten Hand. Indy hob die Waffe auf und inspizierte den Zylinder. Alle sechs Kammern waren leer.

»Tobias«, sagte Indy laut. »Was ist denn hier nur vorgefallen?«

Am Rand der Quelle und im Wasser lagen weitere Skeletteile verstreut, aber sie verrieten ihm nichts. Die meisten Toten lagen allerdings in der Nähe der Stelle, wo Indy gerade stand, obwohl es anscheinend keinen Altar, keine Opferstelle gab.

Das Schimmern des Wassers wurde von Sekunde zu Sekunde intensiver. Indy sah auf seine Uhr. Jetzt war es soweit. Nun mußte die Schlange den Sockel der Pyramide erreicht haben. Ihn überkam das Gefühl, in Gefahr zu schweben. Den alten, verrosteten Revolver ließ er zu Boden fallen und griff statt dessen nach seiner eigenen Waffe, Kaliber .38, die in einem Gürtelholster verstaut war.

Durch die Grottendecke fiel ein breiter Lichtstrahl und rückte vom anderen Ende der Höhle über das Wasserloch näher. Das Wasser war so klar und das Licht so intensiv, daß die Knochen und Schmuckstücke auf dem sandigen Boden der Quelle zu sehen waren.

Der Lichtstrahl näherte sich Indy.

Immer noch den Revolver haltend, duckte er sich und ließ das Licht über sich hinweggleiten. Es traf auf die Wand hinter ihm, illuminierte einen Schädel aus Kristall, der auf einem Altar in einer Felsnische lag. Ohne das einfallende

Licht wäre Indy dieser Gegenstand niemals aufgefallen. Aus den Augen und dem Mund des Schädels strahlte vielfarbiges Licht und brannte so hell, daß es Indy blendete.

Ehe er sich versah, war das Licht wieder verschwunden.

Nur Indys Karbidlampe warf ihr mattes Licht in die Grotte.

Er verstaute seine Waffe und bewegte sich vorsichtig zwischen den aufgeschichteten Knochenhaufen zum Altar. Vor dem Schädel kniete er sich hin. In Form und Größe glich er dem Kopf eines Menschen. Bei seinem Anblick mußte Indy dem längst toten Künstler Respekt zollen für die detailgetreue Arbeit, die er geleistet hatte. Die Wangenknochen waren perfekt herausgearbeitet, und der fein modellierte Unterkiefer verfügte über eine makellose Zahnreihe. An den Stirnknochen las Indy ab, daß es sich um einen weiblichen Schädel handeln mußte.

Indy ließ seinen Blick über den Altar schweifen, suchte nach Fallen und nahm den Kristallschädel in die Hand, als er keine finden konnte.

Nichts passierte.

»Das ist zu einfach«, sagte er.

»Ja, Dr. Jones, da haben Sie recht.«

Ganz langsam blickte Indy über seine Schulter. Eine Mauser-Automatikpistole war auf seinen Rücken gerichtet. Sie wurde von einem großen, kahlköpfigen Mann gehalten, der einen braunen Anzug und eine Krawatte trug, die von den Faschisten bevorzugt wurden. Eine auffällig rote Narbe zog sich über den Schädel des Mannes. Die Uniform wies Schlammspritzer auf. In der anderen Hand hielt der Fremde eine Kerosinlampe. Seitlich an seinem Kopf hatte sich ein Blutegel festgesaugt. Als er lächelte, blitzten in seinem Mund goldene Schneidezähne auf.

Hinter dem Fremden lauerte ein Schläger in grauer Uniform mit schwarzen Streifen. Mit einem Gewehr hielt er den verstörten Bernabe in Schach. Zu Füßen des Schlägers stand eine zweite Laterne.

Der Kahlköpfige stellte seine Laterne auf den Boden, ehe er Indys Webley aus dem Holster zog und ihm die Peitsche abnahm. Die Waffe warf er ins Wasser, die Peitsche beiseite.

Und dann schnappte er sich den Kristallschädel.

»Ach, sieh an, die namenlose Göttin des Todes - sie ist viel älter, als man sich überhaupt vorstellen kann. Und von solch außergewöhnlichem handwerklichen Geschick. Ist Ihnen aufgefallen, wie anatomisch genau dieser Schädel gefertigt ist, Dr. Jones? Im Vergleich zu anderen Gegenständen, die die Mayas hergestellt haben, fällt dieses Kunstwerk aus dem Rahmen. Normalerweise hatten sie keinerlei Gespür für Mimik.« Melancholisch betrachtete er den Schädel, den er in Händen hielt. »Nein, das hier ist die Arbeit einer älteren und uns unbekannten Zivilisation und zwar von einer, deren Fähigkeiten denen der Mayas bei weitem überlegen waren - und, wie ich sagen möchte, unserer eigenen vergleichbar ist.«

»Wer immer Sie sein mögen«, sagte Indy, »Sie stehen ganz offensichtlich auf Märchen.«

»Verzeihen Sie mir«, erwiderte der Glatzkopf. »Woran denke ich nur? In meiner Aufregung habe ich vergessen, daß wir einander ja nicht offiziell vorgestellt worden sind. Leonardo Sarducci, ich stehe Ihnen zu Diensten.« Ohne die Waffe runterzunehmen, stand er stramm und klackte die Hacken zusammen. »Es wäre unklug, mehr zu verraten.«

»Ich kann nicht sagen, daß ich mich freue, Sie kennenzulernen«, meinte Indy, ohne die Mauser aus den Augen zu lassen.

»Oh, aber ich freue mich, Ihnen zu begegnen«, sagte Sarducci. »Mit großem Interesse habe ich Ihre faszinierende Karriere verfolgt. Im Moment sind Sie an der Princeton University, nicht wahr?«

Indy nickte.

»Ivy League! Wie wunderbar!« rief Sarducci. »Endlich bringt man Ihnen den Respekt entgegen, den Sie sich wirklich verdient haben. Was für eine Schande, daß Sie nicht lange genug am Leben bleiben werden, um ihn zu genießen. Und machen Sie nur Ihre Witze über Märchen, Dr. Jones, denn der Schädel - er birgt das Geheimnis der Ewigkeit. Es wäre nicht zu verantworten gewesen, ihn Ihnen zu überlassen.«

Sarducci verstaute den Kristallkopf in einem Leinensack und zog mit einer Aura der Endgültigkeit die Schnur zu.

»Schwarze Magie, hm? Ich dachte, dieses Thema sei mit Paracelsus zusammen verschwunden«, höhnte Indy. »Sagen Sie, wenn Sie so klug sind und ich so dumm bin, warum konnten Sie dann nur mit meiner Hilfe hierher gelangen? Das wüßte ich zu gern.«

»Das war - wie sagt man noch - zweckmäßig.« Sarducci warf den Kopf nach hinten und lachte schallend. Das Gelächter hallte von den Grottenwänden wider. Dann griff er nach oben und riß den Blutegel von seinem Kopf weg. Eine häßliche rote Wunde blieb zurück. Er ließ den Parasiten auf den Boden fallen und trat mit dem Absatz seines Stiefels darauf. »Ich möchte Ihnen verraten«, verkündete er großherzig, »daß Ihr Tod genauso zweckmäßig ist. Marco, erschieß die beiden, aber warte, bis ich weg bin-Gewehrfeuer in einem so engen Raum dürfte schlecht für die Ohren sein, nicht wahr?«

Die Laterne haltend, den Sack mit dem Schädel über die

Schulter geworfen, hielt Sarducci am Tunneleingang inne und wandte sich um.

»An was glauben Sie, Dr. Jones?« fragte er noch. »Vertrauen Sie auf ein Leben nach dem Tod? Denken Sie, daß der Tod nur ein vorübergehender Zustand ist - oder glauben Sie - wie ich - daß der Tod endgültig ist, daß man dem Tod nur entkommen kann, indem man ewig lebt?«

»Raten Sie«, forderte Indy ihn auf.

Sarducci kicherte.

»Nein, als Amerikaner müssen Sie einfach an ein Leben danach glauben, das hat man Ihnen doch in der Sonntagsschule beigebracht, oder? Stellen Sie sich vor - Sie haben nun die Möglichkeit, Ihren Glauben der einzigen und wahren Prüfung zu unterziehen! Ich werde an Sie denken, im Lauf der Jahrhunderte, die ich noch vor mir habe, und ich werde das Beste genießen, was das Leben und die Macht zu bieten haben, während Sie nur Staub sein werden.«

Mit ausladender Geste salutierte er vor Indy.

»Arrivederci, Dr. Jones!«

Und dann verschwand er.

»Dort rüber«, befahl Marco und zeigte mit dem Gewehrlauf in die entsprechende Richtung. Mit erhobenen Händen setzte Bernabe sich in Bewegung und stellte sich niedergeschlagen neben Indy.

»Können wir nicht noch mal darüber reden?« erkundigte sich Indy.

»Halt die Klappe!« befahl Marco.

»Es besteht keinerlei Grund, wütend zu sein«, fand In-dy, nahm die Hände hoch und ging auf Marco zu.

»Stehenbleiben!« rief Marco aus und feuerte mehrere Schüsse in die Erde vor Indys Füßen. Sand bröselte von der

Grottendecke. »Ihr beide, kniet euch hin. Hände hinter den Kopf. Und zwar schnell.«

Bernabe fiel auf die Knie. Indy wich mit entsetzter Miene zurück.

»Heiliger Bimbam

Am Rand des Laternenlichtkegels, direkt hinter dem Schläger, machte Indy etwas Großes und Grünes aus, das aus dem Wasser gekrochen kam. »... ich könnte mir denken, Sie würden gern erfahren Marco nahm das Gewehr hoch und richtete das Visier auf einen Punkt zwischen Indys Augen aus. Feigling, fuhr es ihm durch den Kopf. Sein Finger drückte langsam den gespannten Hahn hinunter.

»... daß genau hinter Ihnen die verdammt größte Schlange ist, die mir je unter die Augen gekommen ist.«

Der Gewehrlauf zitterte, als Marco nach hinten blickte. Eine achtunddreißig Fuß lange Anakonda starrte ihn mit aufgerissenem Maul an. Die geteilte Zunge zischte heraus, Zahnreihen glitzerten im Laternenlicht. In den milchiggrünen Augen spiegelte sich die Gelassenheit des Reptils. Der Kopf des Tieres wies ein Einschußloch und Messerwunden auf.

Marco schrie. Er versuchte, mit dem Gewehr auf die Schlange zu zielen, aber die Anakonda reagierte schneller als er. In weniger als einer Sekunde hatte sie die zwischen ihnen liegende Entfernung überwunden, und als sie zuschlug, fiel Marco das Gewehr aus der Hand. Ein Schuß löste sich, aber glücklicherweise landete die Kugel im schlammigen Erdreich. Ohne zu zögern, bohrte die Schlange ihre Zähne in den linken Schenkel des Schlägers. Jetzt, da sie ihn fest im Griff hatte, begann sie, Marco hin und her zu drehen und ihren eigenen Körper um ihn zu wickeln.

»Ich kann Schlangen auf den Tod nicht ausstehen«, verriet Indy. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Seine Lippen zitterten, und seine Hände zuckten unkontrolliert.

Marco hatte nicht mehr genug Luft, um zu schreien. Wann immer er ausatmete, drückte die Schlange fester zu. Seine Lungen waren zu schwach, um der stählernen Umklammerung des Reptils standzuhalten. Sein Gesicht lief rot an und verzog sich zu einer stummen, flehenden Grimasse. Aus Marcos Mundwinkel rann ein dünner Blutfaden.

Indy wandte sich ab.

»Chef«, flehte Bernabe. »Können wir nicht was unternehmen?«

»Er ist schon tot«, sagte Indy.

Die Anakonda riß ihr Maul weit auf und verschluckte den Kopf und die Schultern des leblosen Marco. Sein Körper wurde mit Speichel überzogen und rutschte in den Magen des Reptils. Nur noch die beschuhten Füße hingen dem Tier aus dem Maul, als es zurück in die Quelle kroch.

»Sie hat uns das Leben gerettet«, meinte Bernabe. »Und nun ist sie weg.«

»Fürs erste«, sagte Indy. Mit dem Ärmel wischte er sich das Gesicht ab und bemühte sich, langsam und gleichmäßig durchzuatmen. »Aber sie wird zurückkehren, um uns zu holen. Und falls wir sie nicht töten, Amigo, wird sie uns kriegen, ehe wir die Mitte des Tunnels erreicht haben.«

»Aber wie?« fragte Bernabe. »Wir haben schließlich keine Waffe ...«

Indy löschte die Flamme der Karbidlampe und schüttelte sie, um sich zu vergewissern, daß sie genug Benzin hatte. Dann schraubte er den kleinen Benzinbehälter mit einer halben Drehung ab.

»Ich kenne Leute, die auf diese Weise fischen«, sagte Indy. Ihm fiel es nicht leicht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Das Zeugs explodiert, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Ich hoffe, es funktioniert hier auch -«

Bernabe deutete auf die Quelle.

Der grüngelbe Kopf der Anakonda zeichnete sich unter der Wasseroberfläche ab.

»Nimm die Laterne«, sagte Indy. »Laß sie auf keinen Fall ausgehen. Sobald ich dieses Ding werfe, rennst du in den Tunnel.«

Bernabe schnappte sich die Laterne.

Als die Schlange noch etwa drei Meter bis nach oben zu überwinden hatte, schleuderte Indy die Karbidlampe ins Wasser. Das Ding sank schnell. Ein Schwall grauer Blasen stieg aus dem Benzinbehälter auf. Indy rannte zum Tunnel hinüber und schnappte sich auf dem Weg dorthin noch schnell seine Peitsche, die Sarducci beiseite geworfen hatte.

Die Explosion war ohrenbetäubend und tauchte das Innere der Grotte in ein pinkfarbenes Licht. Fleischbrocken und Fetzen grüner, schwarzgetupfter Haut stiegen in einer Wassersäule auf, gefolgt von einem goldenen, geschlitzten Auge von der Größe einer Grapefruit. Durch die Tiefe der Quelle zog sich ein dunkler Streifen.

Am Tunneleingang war Indy in die Hocke gegangen und sprach ein stummes Dankgebet. Hinter ihm bekreuzigte sich Bernabe. Mit geschlossenen Augen drückte Indy das Gesicht an die kühle Grottenwand und sammelte Kraft für den anstehenden Marsch nach oben.

»Bernabe«, sagte er und zückte seine Brieftasche. »Du kannst jetzt deinen Bonus kriegen.«

Der Nebel, der vorhin die untergegangene Stadt Cozan eingehüllt hatte, hatte sich aufgelöst, als Indy und sein Führer aus dem Pyramidensockel geklettert kamen. Das Sonnenlicht reflektierte von den weiß gekalkten Wänden der Stadt und schmerzte ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Indy legte die Hand über die Augen und wartete, bis sich seine Pupillen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Als er wieder richtig sehen konnte, begann er, die Spinnweben und den Staub von seinen Klamotten zu klopfen.

»Hören Sie«, sagte Bernabe.

Indy hielt in der Bewegung inne.

Gedämpftes Donnern drang aus südlicher Richtung zu ihnen herüber.

»Was ist das?« wollte der Führer erfahren.

Das Geräusch schwoll an.

»Motorenlärm«, sagte Indy. »Stammt von einem Flugzeug.«

Das heisere Brummen zweier Motoren mit achthundert PS erfüllte den Himmel. Schließlich entdeckte Indy strahlendes Weiß über den Bäumen, die im Süden standen, direkt über dem Fluß.

»Sieh doch!« rief er aus.

Über der Stadt tauchte ein Flugzeug auf, dessen Schatten den Tempel einhüllte. Das funkelnde Weiß ließ sich mit nichts vergleichen, was Indy bislang gesehen hatte. Die Form erinnerte ihn an eine riesige, einem Boomerang ähnelnde Tragfläche, unter der zwei Rümpfe klebten. Jeder Rumpf wies eine Reihe von runden Schießscharten auf, die nach unten ausgerichtet waren. Aus dem Bug der Kabinen ragte jeweils ein Gewehrlauf. Das breite Flugzeugende wurde von Balken gestützt, die aus den Enden der beiden

Rümpfe hervorsahen. Die Ruder waren mit drei roten Sternen auf einem weißen Feld verziert, eingerahmt von einem grünen Kreis.

Das hier ist kein Wasserflugzeug, fuhr es Indy durch den Kopf, das ist eher ein riesengroßer flugfähiger Katamaran. Die Flügelspannweite, schätzte er, kam an die Länge eines Fußballfeldes heran. Die beiden großen Motoren waren Rücken an Rücken mitten auf der Tragfläche befestigt, auf einer stativähnlichen Stütze, und verfügten je über einen dreiflügeligen Propeller, der anschob, und einen, der zog. Durch die rechteckigen Fenster eines erhöhten Cockpits in der Mitte der Tragfläche konnte Indy einen Piloten und einen Co-Piloten erkennen. Sie trugen die gleichen grauen Uniformen mit schwarzen Streifen, die auch schon Marco getragen hatte. Das Flugzeug war so tief, daß Indy auch Sarducci ausmachen konnte, der zwischen den beiden Piloten stand, sich mit den Händen auf deren Schultern abstützte und lachte.

»Auf den Boden!« rief Indy.

Die Waffen vorn begannen zu knattern.

Indy gab Bernabe einen Schubs und sprang in die andere Richtung. Der guatemaltekische Führer ging in Deckung, als Kugeln auf die Steine zwischen ihm und Indy hagelten. Steinsplitter kratzten über Indys Wange, und ein Querschläger sauste so dicht an ihm vorbei, daß sein ganzer Körper unter dem eigenartigen Jammern zu vibrieren schien. Indy biß die Zähne zusammen und zog sich mit beiden Händen den heißgeliebten Fedora in die Stirn.

Das Gewehrfeuer verebbte.

Das Motorengeräusch wurde leiser.

Indy spähte unter seinem Hutrand hervor. In der Ferne spiegelte sich in den Fenstern auf der Steuerbordseite die

Sonne. Das Flugzeug setzte in weitem Bogen zur Kehrtwende an.

Schnell kam Indy wieder auf die Beine und zog Bernabe am Hemdkragen hoch. »Das ist unsere Chance«, sagte er. »Wir müssen von hier verschwinden, bevor sie zurückkehren und zum zweiten Mal auf uns schießen.«

Die beiden Männer rannten quer über den Hof, suchten Deckung hinter einzelnen größeren Steinen und Unrat, der sich hier im Lauf der Zeit angesammelt hatte. Dann flohen sie die Straße der Toten hinunter, die kürzeste Strecke zu den schützenden Bäumen.

Am Rand des Regenwaldes legte Indy eine Pause ein und drehte den Kopf in Richtung Flugzeug, das seine Kehrtwende vollendet hatte und sich ihnen nun aus dem Osten näherte. Sein Brustkorb hob und senkte sich, Schweißperlen tropften ihm von der Stirn. Seine blut- und schweißüberströmten Wangen brannten. Er fuhr mit dem Handrücken über sein Gesicht.

»Wer sind diese Typen?« fragte er.

»Niemand, den wir kennenlernen möchten, Chef.«

Sie tauchten im Dschungel unter.

Die Maschinengewehrschützen beschossen den Regenwald an der Stelle, wo sie das flüchtende Paar zum letzten Mal gesichtet hatten. Doch Indy und Bernabe versteckten sich hinter einem Mahagonibaum, gute zehn Meter weiter, und hörten, wie die Kugeln wirkungslos durch das Dach aus Blättern über ihre Köpfe zischten.

Am Gründonnerstag gelangten die beiden nach San Pablo, das ein gutes Stück hinter der guatemaltekischen Grenze lag. Indy konnte sich nicht entsinnen, wann er jemals so erschöpft oder so dreckig gewesen war. Er hatte den Eindruck, daß seine Kleider an seinem Körper festklebten. Er sehnte sich nach einer ausgiebigen Dusche, nach einer Rasur und einer warmen Mahlzeit. Als sie sich der Stadt näherten, legte Indy eine Pause ein, veränderte die Position seines Rucksacks und kratzte einen Mückenstich auf seiner rechten Hüfte, ehe er sich auf wackeligen Beinen weiterschleppte.

Bernabe behielt dasselbe Tempo bei, das er eingeschlagen hatte, gleich nachdem sie San Pablo den Rücken gekehrt hatten. Die Indios in dieser Gegend waren überall auf der Welt für ihre Ausdauer berühmt. Das Marschtempo seines Führers hatte Indy in regelmäßigen Abständen dazu veranlaßt, Bernabes Zeit zu nehmen. Der Mann lief barfuß. Nach mehreren Messungen entdeckte er, daß Bernabes Tempo sich nur minimal veränderte. Diese Tatsache war ihm zu Anfang ihrer gemeinsamen Reise bemerkenswert erschie -nen, hatte ihm nach der Hälfte seltsamerweise ein beruhigendes Gefühl vermittelt, war ihm aber während der letzten Tage zusehends zum Ärgernis geworden. Völlig unbegründet verspürte er inzwischen den Wunsch, daß sein Führer rennen, langsamer werden oder humpeln sollte.

»Los«, drängte Indy ihn. »Wir sind fast da. Laß uns laufen.«

Bernabe lächelte und schüttelte den Kopf.

»Warum denn nicht?« fragte Indy.

»Sie erinnern mich an den Hasen in dieser alten Geschichte, Chef. Manchmal ist es ganz gut, der Hase zu sein, aber manchmal ist es gut, sich wie die Schildkröte zu verhalten. Wir beide werden auf jeden Fall unser Ziel erreichen, nicht wahr?«

»Nun, laut dem Märchen gewinnt die Schildkröte das Rennen.«

»Was Sie nicht sagen«, rief Bernabe und gab sich ange-sichts des Ergebnisses überrascht. »Das darf ich in Zukunft nicht vergessen.«

Schließlich erreichten sie den Stadtrand von San Pablo und marschierten durch die dunklen und gewundenen Straßen. Das Dörfchen bestand aus einer Handvoll Stuckhäuser, die sich um eine altersschwache Kirche aus der Kolonialzeit scharten. Elektrizität gab es in dem Städtchen nicht, aber die Plaza wurde von Papierlaternen und Fackeln erleuchtet. Die Luft war voller Musik und dem Gelächter der Betrunkenen.

Als sie den Platz überquerten, behinderte eine Prozession ihr Fortkommen. Ein paar Teilnehmer hatten sich als römische Soldaten verkleidet, die einen Jesus - ebenfalls ein Mann aus dem Dorf - zu einem Holzkäfig in der Mitte des Platzes führten. Andere trugen Fellmützen und dunkle Jakken und schwangen Bullenpeitschen, die sie über die Köpfe der Zuschauer zischen ließen.

»Die mit den Peitschen, das sind die, die Judas Rolle einnehmen«, klärte Bernabe ihn auf. »Sie sind Mitglieder einer Bruderschaft. Die Dorfbewohner geben ihnen Whisky und ein bißchen Geld, in der Hoffnung, daß im kommenden Jahr die Geschäfte gut laufen.«

Die Menge jubelte, als der Jesus in den Käfig geworfen wurde.

»Aber«,protestierteIndy, »Judas ...«

Bernabe zuckte mit den Achseln.

»Hier vermischen sich der christliche Glaube und die alten Traditionen«, sagte er. »Den Priestern gefällt das gar nicht. Aber was können sie dagegen unternehmen? In den Augen meines Volkes ist Judas auch Maximon, der Maya-Gott der Unterwelt, der dafür sorgt, daß sich die Welt auch in Zukunft dreht, weil er alles daransetzt, daß die Menschen sich ineinander verlieben.«

Jemand zupfte an Indys Peitsche, die an seinem Gürtel hing. Als er sich umdrehte und den Blick senkte, schaute er in die Augen eines verängstigten Kindes. Das Mädchen warf ihm eine Münze vor die Füße und rannte auf und davon.

Indy staunte nicht schlecht.

»Sie hielt Sie für einen Judas«, sagte Bernabe.

Indy bückte sich und hob die Münze auf. Er nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und studierte sie. Das war ein Kupfer-Centavo, der nur den Bruchteil eines amerikanischen Cents wert war. Die Münze war im Jahre 1899 geprägt worden, in dem Jahr, in dem Indy auf die Welt gekommen war.

Er steckte die Münze in seine Hemdtasche und richtete sich auf.

»Bernabe«, sagte er. »Sag mir die Wahrheit. Was hat es mit dem Fluch des Kristallschädels auf sich?«

»Ja - wissen Sie das denn nicht, Chef?« staunte Bernabe. »Sie werden töten, was Sie lieben.«

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