KAPITEL ZWEI. Das geheimnisvolle Manuskript

Indiana Jones blieb auf der obersten Stufe der doppelten Steintreppe stehen, die zum Haupteingang des American Museum of Natural History führte. Die hinter der Hochhaussilhouette von New York versinkende Sonne warf lange Schatten über die 77. Straße, und das Laubwerk der Bäume im angrenzenden Central Park glühte rotgolden. Der Feierabendverkehr hatte sich gelegt, und das gehetzte Treiben der Taxis und Fußgänger, die keine Minute ihres kostbaren Feierabends verlieren mochten, war verschwunden. Von der ungewöhnlichen Stille angeregt, fragte Indy sich, ob in ein paar tausend Jahren ein zukünftiger Archäologe an genau dieser Stelle stehen und sich angesichts der Ruinen der Stadt fragen würde, wie die Menschen früher einmal an diesem Ort gelebt hatten.

Quietschende Reifen rissen ihn aus seinen Gedanken. Unten auf der Straße bremsten ein paar Taxis, damit die Fahrgäste aussteigen konnten. Einer der Fahrer drückte auf die Hupe, während der andere mit einer Geste unerschütterlichen Selbstbewußtseins den Arm aus dem Fenster streckte und ein allgemein verständliches Handzeichen der totalen Respektlosigkeit zur Schau stellte.

Kopfschüttelnd betrat Indy das Museum.

Der Reptilienschau in der Mitte des ersten Saales schenkte er keine große Aufmerksamkeit, spürte aber den Blick aus den kalten Glasaugen einer ausgestopften Anakonda, die inmitten einer realistischen Dschungelnachbildung präsentiert wurde. Mit großen Schritten näherte er sich der östlichen Treppe und dem angrenzenden Fahrstuhl und betrat einigermaßen erleichtert die Kabine.

»Welches Stockwerk?« erkundigte sich der Fahrstuhlführer.

»Fünftes.«

»Die Ausstellungen liegen nur in den ersten vier Stockwerken, Mister«, sagte der Mann und strich seine Uniformjacke glatt. »In der fünften Etage sind die Büroräume der Verwaltung, die Labore und die Bibliothek untergebracht. Besucher sind nicht erlaubt.«

»Wer ist ein Besucher? Ich bin Professor - ich meine, Dr. Jones. Ich möchte Marcus Brody sehen.« Er hielt inne und sprach dann in freundlicherem Tonfall weiter. »Ich habe ein paar der Ausstellungsstücke der neuen ZentralamerikaAusstellung zusammengetragen.«

Der Fahrstuhlführer betätigte den Messinghebel. Der Fahrstuhl glitt nach oben, während der Mann den Blick nach vorn richtete und keinerlei weitergehendes Interesse an ihm zeigte.

»Vielleicht haben Sie schon von mir gehört?« fragte Indy hoffnungsvoll nach.

Der Mann warf einen Blick über seine Schulter und inspizierte Indy von Kopf bis Fuß, vom Scheitel bis zur Sohle.

»Nö«, sagte er. »Brody, den kenne ich, aber von Ihnen habe ich noch nie gehört.«

Sich etwas kleiner als zuvor fühlend, verließ Indy den

Fahrstuhl. Ich hätte es wissen müssen, schalt er sich. Es bringt doch nichts, wenn man versucht, das angeschlagene Ego durch einen Fremden aufzupäppeln. Aber seit er seinen Job in Princeton verloren hatte, hatte sein Selbstbewußtsein spürbar Schaden genommen. Wenigstens, versuchte Indy sich zu beruhigen, war der Mann ehrlich gewesen.

Indy und Marcus Brody gingen die Treppe hinunter. Sie hielten nur einmal inne, im Südwestflügel in der zweiten Etage, um einen kurzen Blick auf die Ausstellung mit dem Titel Archäologie in Mexiko und Zentralamerika zu werfen. Die Mitte des Raumes wurde von Reproduktionen beherrscht, die Zeremoniensteine, Stelen und Fresken zeigten. GOLD- UND JADEORNAMENTE UND WERTVOLLE STEINE informierte ein Schildchen an dem Glaskasten in der Raummitte, WURDEN VON DR. HENRY JONES, JR., VON DER PRINCETON UNIVERSITY, IN EINEM KOMPLEX ANTIKER GRÄBER IN COSTA RIGA ENTDECKT. VON BESONDERER BEDEUTUNG SIND DIE RELIGIÖSEN EMBLEME, DIE DARÜBER HINAUS VON BEMERKENSWERTEM DESIGN SIND, ALLEN VORAN DAS KROKODIL, DAS EINE SCHLANGE VERSCHLINGT, DIE VOGELÄHNLICHE FIGUR MIT DER ECHSE UND DER MANN, DER VON EINEM GEIER AUFGEFRESSEN WIRD. In anderen Kästen waren Töpferarbeiten und Geschirr aus verschiedenen Perioden ausgestellt. Auf Ausgrabungsplänen waren Städte, Gräber und Quellen eingezeichnet. Eine ruhende Gestalt - eine Gipskopie einer echten Figur in Chichen Itza - wachte mit undurchsichtigem Lächeln über die Ausstellung.

»Du hast hervorragende Arbeit geleistet, Marcus«, lobte Indy seinen Freund.

»Dir gebührt der Dank«, entgegnete Brody. »Das ist das Ergebnis deiner harten Arbeit. Deine Feldnotizen waren erstklassig, und so hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, die Artefakte in eine logische Folge zu bringen. Natürlich hatte ich gehofft, daß der Kristallschädel quasi das Kernstück bildet.«

»Vielleicht kriegst du sie ja noch«, meinte Indy.

»Sie?« fragte Brody.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Indy und kam sich auf einmal wie ein Idiot vor. »Das ist etwas, was ich von Sarducci übernommen habe - wer immer er gewesen sein mag. Ach ja, ist es dir gelungen, den Namen mit einem glatzköpfigen Mann in Verbindung zu bringen?«

»Nein, leider nicht. Meine Kollegen konnten weder mit dem Namen noch mit der Beschreibung etwas anfangen. Was nicht heißen soll, daß ich meine Nachforschungen deshalb einstellen werde.«

»Du gehst doch hoffentlich diskret vor«, gab Indy zu bedenken. »Wer immer diese Leute sein mögen, sie hatten auf alle Fälle eine Vorliebe für alles, was Kugeln ausspuckt.«

Die beiden Männer kehrten dem Museum den Rücken. Der Abend war angenehm mild, und sie schlenderten in Richtung Süden, vorbei an den großen Hotels, die sich am Central Park West wie Wachtürme ausnahmen. Am Maje-stic, an der Kreuzung 72. Straße, hielt ein Taxi direkt an der Ecke. Ein Mann stieg aus. Mit seinem Bart, Gehstock und seinem dunklen Anzug paßte er nach Indys Einschätzung eher ins viktorianische Zeitalter als in die Gegenwart.

»Brody«, sagte der Mann warmherzig. »Wo haben Sie sich versteckt? Wir haben Sie beim letzten Treffen vermißt. Chapman fing wieder an, seine Kriegserinnerungen über diese verdammte Expedition nach Gobi zum besten zu ge-ben, und ich weiß nicht, warum Ihnen das erspart bleiben soll.«

»Ich fürchte, die Arbeit hat mich aufgehalten«, sagte Brody. »Aber ich freue mich, daß ich Ihnen über den Weg laufe, denn hier ist jemand, den Sie meiner Meinung nach kennenlernen sollten - jemand, der - wie ich finde - unseren Club vervollständigen würde.«

»Nur zu«, erklärte sich der Mann bereit.

»Indy, das hier ist Vilhjalmur Stefansson, Präsident des berühmten Explorers' Club, der sich hier, im Majestic, trifft.«

Stefansson reichte ihm die Hand.

»Präsident Stefansson«, stellte Brody weiter vor, »ich darf Ihnen den bemerkenswerten Wissenschaftler und Abenteurer Indiana Jones vorstellen.«

»Indiana Jones!«

Stefanssons Hand erstarrte.

»Gütiger Gott, Mann, ich habe erst kürzlich von ein paar anderen Mitgliedern von Ihren Abenteuern erfahren«, verkündete er.

»Ich bin sicher, sie übertreiben«, erwiderte Indy bescheiden. Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit machte sich in seiner Brust breit.

»Nein, Sie begreifen nicht«, sagte Stefansson und zog die Hand zurück. »Abenteuer sind das Merkmal der Inkompetenz! Sicherlich nichts, worauf man stolz sein sollte. Und Ihre Methoden - o Schreck! Brody, warum verschwenden Sie Ihre Zeit mit diesem Mann?«

Das Gefühl der Wärme verschwand auf einen Schlag.

»Es tut mir leid«, sagte Brody. »Dr. Jones ist ein hochgeachteter -«

»Papperlapapp!« sagte Stefansson und fuchtelte mit dem

Gehstock vor Indys Nase herum. »Sie, Sir, sind nichts anderes als ein Grabräuber! Ein gewöhnlicher Dieb hat mehr Takt. Machen Sie Platz.«

»Aber hören Sie -«

»Ich will nichts mehr hören, Brody. Wie heißt es noch: Zeig mir deine Freunde, und ich sage dir, wer du bist. Nun, ich möchte Ihnen raten, in Zukunft Ihre Freunde mit mehr Bedacht zu wählen.«

Stefansson zwängte sich zwischen den beiden perplexen Männern hindurch und betrat das Hotelfoyer, ohne nochmals zurückzublicken.

Indy steckte die Hände in die Jackentaschen und seufzte schwer.

»Nun«, meinte Brody und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Denen entgeht was. Was hältst du von einem gemütlichen Abendessen und einem Krug Wein? Durch nichts läßt sich die Stimmung besser aufheitern als durch eine gute Mahlzeit. Ich kenne einen prima Italiener, gar nicht weit von hier.«

»Ich hoffe, du lädst mich ein«, meinte Indy.

Auf dem Gehweg vor Carmine's bedankte Indy sich bei Marcus Brody für das Abendessen und merkte an, daß er sich schon wesentlich besser fühle, obwohl Brody ihn vor dem Knoblauch hätte warnen sollen. Brody lachte. Er fand auch, daß Indy viel besser aussah, sinnierte aber darüber nach, ob das vielleicht nur am roten Neonlicht des Restaurants lag.

»Wo kommst du unter?« fragte Brody nach. »Du bist herzlich eingeladen, deine Zelte bei mir aufzuschlagen, während du dich in der Stadt aufhältst.«

»Danke, aber ich fürchte, ich wäre dir nur eine Last«, meinte Indy. »Du machst dir jetzt schon genug Sorgen um mich. Ich werde einen Spaziergang in Richtung Downtown unternehmen und mir ein ruhiges Zimmer suchen, wo ich ein oder zwei Tage unterkriechen und Bilanz ziehen kann. Werde die Stellenannoncen in der Times studieren, meinen Lebenslauf auffrischen, mich um solche Dinge kümmern. Außerdem habe ich mein Gepäck in einem Schließfach in der Penn Station gelassen, als ich aus New Jersey kam, und das muß ich noch abholen.«

»Natürlich«, sagte Brody. »Aber halte Verbindung. Und falls du was brauchst« - Indy wußte, daß er auf Geld anspielte - »laß es mich auf jeden Fall wissen. Und Indy ... ich weiß, daß sich dein Blatt auch wieder ändern wird. Diese Sache da in Princeton ist doch nichts weiter als ein Miß -verständnis.«

Indy hielt seinem Freund die Hand hin.

Brody drückte sie, und dann umarmten sich die beiden Freunde innig.

»Ich gebe dir mein Wort darauf«, sagte Brody, als Indy ihn losließ. Auf einmal war sein Gesicht viel röter als der Schein der Neonreklame. »Kein Grund, sentimental zu werden.«

»Nein, dazu besteht wirklich kein Grund«, stimmte Indy ihm zu.

Brody trat auf die Kreuzung und winkte ein Taxi heran. Er winkte noch, als das Fahrzeug wegfuhr. Weil die Temperatur gefallen war, machte Indy seine Lederjacke zu, rückte seinen Fedora zurecht und wandte sich in Richtung Süden.

Er hatte kein bestimmtes Ziel, verspürte aber das Bedürfnis, sich zu bewegen. Als die Zahlen der Straßen sich in die Fünfziger und dann in die Vierziger bewegten, ließ er die edlen Hotels und Restaurants hinter sich und drang ins

Arbeiterviertel vor. Von heruntergekommenen Backsteinhäusern gesäumte Straßen mit Familienbetrieben im Erdgeschoß und die Hochbahn bestimmten hier das Stadtbild. Die Stadt nahm einen düsteren Farbton an, einmal abgesehen von den Lichtkegeln der vierundzwanzig Stunden lang geöffneten Missionen und Suppenküchen und den in Flammen stehenden Mülltonnen, um die sich grimmig dreinblickende Männer in schäbigen Klamotten scharten.

»Haben Sie zehn Cent für einen Veteranen übrig?« bettelte ein einbeiniger Mann auf einer Krücke vor dem Eingang zu einer schmalen Gasse. Er hatte einen britischen Akzent, und seine Kleidung verriet Indy, daß er früher einmal in der Armee Ihrer Majestät gedient hatte.

Indy spürte das Verlangen, seinen Schritt zu beschleunigen, ohne den Bettler zur Kenntnis zu nehmen, blieb aber stehen und kramte in seiner Hosentasche nach Kleingeld. Seine finanziellen Mittel waren äußerst dürftig - bei seiner Entlassung war ihm keine Abfindung vergönnt gewesen -, aber er fischte einen Quarter heraus und legte ihn in die schmierige Handfläche.

»Ich wünsche Ihnen bessere Zeiten«, sagte er noch.

»Danke, Sir«, sagte der Mann. Sein Atem roch schwer nach Alkohol.

»Kaufen Sie sich was Ordentliches zu essen«, schlug Indy vor.

»Ich nehme meine Mahlzeiten in Form von Pints ein«, sagte der Einbeinige.

»Sie halten sich also eine Diät, bei der man nur Flüssiges zu sich nehmen darf«, scherzte Indy mit dem Fremden.

»Sie haben Sinn für Humor. Das ist gut«, erwiderte der Mann und betrachtete Indy aus seinen rotgeäderten Augen. »Captain, falls Sie die Frage nicht stört, was bringt Sie in diese Gegend? Hier ist es nicht gerade sicher, wissen Sie.«

»Ich mache nur einen Spaziergang.«

»Ach? Von uns geht nie einer spazieren«, sagte der Mann. »Nicht hier.«

»Da haben Sie recht«, stimmte Indy ihm zu. »Ich suche ein Zimmer für die Nacht. Ich habe gerade meine Arbeit verloren und muß sehen, wie ich mit dem übrigen Geld fürs erste zurechtkomme.«

»Das ist schrecklich«, fand der Mann.

»Sie empfinden Mitleid für jemanden wie mich?« fragte Indy ungläubig.

»Aber sicher«, sagte der Mann und drückte den Rücken durch. »Ich mag ein Penner sein, aber ein Tier bin ich nicht.«

»Tut mir leid«, meinte Indy. »Und übrigens - ich halte Sie nicht für einen Penner.«

»Oh, aber das bin ich - Sie brauchen sich meinetwegen nicht beschissen zu fühlen. Und wenn ich Sie wäre, würde ich auf meine Brie ftasche achten. Sie können es sich nicht leisten, jeden Typen durchzufüttern, der Sie um Geld anmacht. Wie sagte der Herr: Die Armen werden immer unter uns sein. Ich erledige nur meine Aufgabe.«

Indy lächelte.

»Tommy Atkins, stehe zu Diensten«, stellte der Mann sich vor und fiel beinahe um, als er zu einer Verbeugung ansetzte. »Hab' das verdammte Bein in Argonne verloren und es seit damals nicht wiedergefunden.«

»Sie können mich Jones nennen«, sagte Indy und half At-kins, das Gleichgewicht wiederzufinden. »Da Sie sich in dieser Gegend so gut auszukennen scheinen, können Sie mir vielleicht raten, wo ich heute nacht schlafen kann.

Nichts Besonderes - nur ein Bett und einen Stuhl und etwas Licht.«

»Ah, Captain. Das ist schwierig für mich. Hier unten haben wir nicht gerade viel reiselustiges Volk. Aber ich meine, es gibt eine Pension, drüben auf der 36. Straße. Über dem Lebensmittelgeschäft. Die Henne, die sie betreibt, ist so störrisch wie ein Dreitagebart, aber sie wird Sie schon ordentlich behandeln.«

»Welche Richtung muß ich gehen?«

»Sie haben sich verlaufen, hm? Seien Sie froh, daß Sie über Tommy Atkins gestolpert sind, der Ihnen weiterhelfen kann. Nun, Sie gehen zwei Blocks diese Straße hinunter, biegen nach rechts und gehen dann weitere vier Blocks, dann sind Sie dort. Hängt ein Schild im Fenster.«

»Bin Ihnen sehr verbunden«, sagte Indy und machte sich auf den Weg.

»Passen Sie auf sich auf«, rief Atkins ihm hinterher.

Rasch marschierte Indy die beiden Blocks hinunter, bog nach rechts ab und ging vier von Osten nach Westen verlaufende Blocks weiter, bis er sich wieder verlaufen hatte. Nirgendwo ein Zeichen von einem Lebensmittelgeschäft, nur eine Reihe dunkler Gebäude. Er versuchte, den gleichen Weg zurückzugehen, fand die Straße aber nicht mehr, von der aus er gestartet war.

Insgeheim schämte er sich seines mangelnden Orientierungsvermögens .

»Das ist doch lächerlich«, murmelte er. »Ich finde jede Pyramide auf der Welt, finde rein und wieder raus, ob in Afrika oder sonstwo, aber hier verlaufe ich mich schon nach ein paar Straßen.«

Er ging weiter.

In der Mitte des nächsten Blocks stand ein Gebäude, das den Seiten eines Dickens-Romans entsprungen zu sein schien. Und da gab es ein Geschäft mit einem Licht im Fenster. Drinnen beugte sich ein Mann, der einem Mönch ähnelte, über einen Tisch und las aufmerksam in einem Buch, das jeden Moment zu Staub zu zerfallen drohte.

Indy warf einen Blick auf den Namen über der Eingangstür: CADMAN'S SELTENE BÜCHER, 611 W. 34. STRASSE. TELEFON BRYANT 5250. >EIN GUTES BUCH IST WIE EIN GUTER FREUND< - MARTIN TUPFER. Ein handgeschriebenes Schild im Schaufenster verkündete: ZIMMER.

Indy klopfte an die Eingangstür.

Der Mann war entweder so vertieft in sein Buch, daß er keinen Finger rühren konnte, oder er versuchte, Indy zu ignorieren.

Indy klopfte noch mal fest an die Scheibe.

Mit angewidertem Blick markierte der Mann seine Lesestelle im Buch, legte es vorsichtig beiseite und wuchtete sich von seinem Stuhl hoch. Er trank einen Schluck kalten Tee aus der Tasse auf dem Tisch und humpelte dann den Gang zur Tür hoch. Er zeigte auf das GESCHLOSSENSchild und schüttelte den Kopf.

»Ein Zimmer«, sagte Indy und deutete auf das Schild. »Ich möchte ein Zimmer.«

Weil die Hochbahn in diesem Moment vorüberfuhr, konnte der Mann ihn nicht verstehen.

Noch ungehaltener als zuvor drehte der Mann den Hebel des Sicherheitsschlosses auf und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Nun war es eine Kette, die Indy den Zutritt versperrte.

»Ich habe den anderen schon alles gesagt, was ich weiß«, sagte der Mann.

»Nein, Sie verstehen nicht -«

»Wir haben geschlossen. Kommen Sie morgen wieder. Oder am besten gar nicht mehr.«

»Aber -«

»Ich weiß nicht mehr über Voynich«, beklagte sich der Mann lautstark.

Indy steckte den Fuß in den Türspalt.

»Voynich?«

»Ja, Voynich«, sagte der Mann. »Hören Sie, möchten Sie, daß ich die Polizei hole? Bitte lassen Sie mich in Ruhe. Ihr Typen seid echt ermüdend. Sind Sie ein Dummkopf, oder verstehen Sie kein normales Englisch? Wir haben geschlossen. Nehmen Sie Ihren Fuß weg, oder ich knalle Ihnen den ersten Band des Oxford unabridged drauf. Damit kann man Zehen brechen, nur damit Sie' s wissen.«

»Nein, bitte«, flehte Indy. »Entschuldigen Sie meine Umgangsformen. Ich bin eigentlich nur hier, um ein Zimmer zu mieten. Ihr Schild«, erinnerte er sein Gegenüber.

»Oh«, sagte der Mann. »Es ist schon ziemlich spät.«

»Darum bin ich ja so verzweifelt.«

»Wo ist Ihre Tasche? Ich vermiete nicht an Fremde ohne Gepäck.«

»Ich fürchte, ich habe mich verlaufen.«

»Verlaufen?«

»Ja, so ziemlich.«

Der Mann grunzte.

»Womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?«

»Ich bin Archäologe.«

»Und man hat Sie ganz allein losgeschickt?«

»Ich arbeite niemals ohne einen Führer.«

Endlich öffnete der Mann die Tür.

»Zwei Dollars die Nacht«, erklärte er. »Die Zimmer sind

oben, das Bad liegt am Ende des Flurs. Kein Frühstück. Rauchen und Trinken sind in den Zimmern nicht erlaubt. Es gibt eine Treppe, die nach oben führt. Kommen Sie rein, ich werde Ihnen einen Schlüssel geben.«

»Danke«, sagte Indy und meinte es auch so.

Der Mann riegelte hinter ihnen die Tür ab.

Das war der unordentlichste Laden, den Indy je gesehen hatte. Überall standen und lagen Bücher herum, auf dem Boden und auf den Tischen und in Stapeln vor den ohnehin schon überfüllten Regalen. Von der Eingangstür führte ein Trampelpfad zu einem Schreibtisch und zu ein paar Stühlen in der Mitte des Geschäfts und dann weiter zu der Treppe im hinteren Bereich. Alles war von einer dicken Staubschicht überzogen. Der Geruch vergilbter Bücher hing in der Luft. Der Staub und Geruch machten Indy zu schaffen; er hatte das Gefühl, jeden Augenblick niesen zu müssen.

»Mein Name ist Cadman - Roger Cadman«, stellte der Mann sich vor. »Lassen Sie sich nicht von dem Aussehen des Ladens in die Irre führen. Wir erledigen unsere Geschäfte größtenteils per Post. Meistens verkaufen wir an Sammler. Passanten schauen nur selten rein. Hatte letzte Woche diese beiden Parteien, die beide nach diesem verdammten Manuskript fragten. Hat mich fast um den Verstand gebracht. Hab' schon mit dem Gedanken gespielt, die ganze Ladenfront schwarz anzumalen, mit nur einer Nummer darauf.«

»Das Manuskript?« erkundigte sich Indy. »Voynich?«

»Ja«, sagte der Mann. »Sie kennen es?«

Indy nickte.

»Voynich war einer meiner Konkurrenten«, verriet Cad-man. »Damals in der guten alten Zeit, als wir uns alle in

Europa rumtrieben und uns wegen Bücherkisten in die Haare kriegten, die alle anderen wertlos fanden. Für all den Scheiß bin ich inzwischen zu alt.«

»Dem Aussehen nach aber nicht«, fand Indy.

»Vielleicht bin ich auch einfach nicht mehr mit dem Herzen dabei«, stimmte Cadman zu. »Im Krieg wurden so viele wertvolle Dinge vernichtet. Ihr Geld, bitte.«

»Was?«

»Zwei Dollars.«

Indy zückte seine Brieftasche und händigte ihm das Geld aus. Cadman nahm einen Schlüssel aus der Schreibtischschublade und drückte ihn Indy in die Hand.

»Nummer Sieben, am Ende des Korridors.«

»Könnten Sie mir vielleicht noch ein bißchen mehr über Voynich erzählen?« fragte Indy nach. »Ich meine, nur falls es Sie nicht stört. Das FBI ist zu mir gekommen -«

»Die waren auch hier«, sagte Cadman. »Zwei ziemlich brüske Kerle -«

»Bieber und Yartz?«

»Ja! Sie taten gerade so, als ob ich etwas verbergen würde, obwohl ich ihnen alles verriet, was ich wußte. Und dann tauchten hier noch diese Italiener in komischen Uniformen auf.«

Indy schnürte es die Kehle zu.

»Uniformen?«

»Grau und schwarz abgesetzt«, meinte Cadman. »Sahen wirklich ziemlich komisch aus. Kennen Sie sie?«

»Wir sind uns über den Weg gelaufen«, preßte Indy zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Haben bei Ihnen anscheinend denselben Eindruck hinterlassen wie bei mir. Ich sagte ihnen, falls sie wieder einmal den Drang verspürten, Bücher zu verbrennen, dann sollten sie sich an das gräßliche Zeug halten, das dieser Mussolini zu Papier bringt.«

»Die Faschisten haben keinen Sinn für Humor«, sagte Indy. »Haben sie sich vorgestellt, Namen genannt? Oder vielleicht eine Visitenkarte dagelassen? Oder eine Adresse oder Telefonnummer, wo man sie erreichen kann?«

»Nichts«, antwortete Cadman. »Ich konnte mit den Uniformen nichts anfangen. Daß sie Italiener waren, erkannte ich nur an ihrem Akzent. Sie scheinen auf jeden Fall Intellektuelle zu hassen. Nicht, daß ich mich selbst für einen hielte, aber -« Er hob einen Stapel Bücher von einem Stuhl.

»Nehmen Sie Platz«, bot er an. »Möchten Sie Tee? Ich könnte frischen machen.«

»Das wäre aber wirklich sehr liebenswürdig von Ihnen.« Langsam verspürte er wieder so etwas wie eine leise Hoffnung.

Indy setzte sich, während Cadman einen Kessel auf eine Herdplatte stellte. Als das Wasser kochte, brühte er jedem von ihnen eine Tasse auf. Indy bekam einen neuen Teebeutel, für sich verwendete er den alten.

»Lassen Sie mich Ihnen gegenüber ganz ehrlich sein«, sagte Indy zu seinem Hotelier. »Mein Interesse an Voynich ist nicht nur akademischer Natur. Das FBI hat mich gebeten, ihnen bei der Wiederbeschaffung behilflich zu sein, und ich hatte ein ziemlich unerfreuliches Zusammentreffen mit diesen Faschisten in grauen Uniformen. Möglicherweise besteht da ein Zusammenhang.«

»Ich vermutete, daß es gestohlen worden sein mußte«, sagte Cadman, »aber keine der beiden Parteien hat das bestätigt. Wie begründete das FBI noch seine Fragen? Hintergrundinformationen sammeln, denke ich. Nein, es stört mich nicht, mich mit Ihnen über Voynich zu unterhalten, weil Sie die Wichtigkeit dieser Dinge verstehen. Das FBI tat so, als handle es sich bei dem Manuskript um einen gestohlenen Wagen - Farbe, Modell, Marke, Wert - während es den Faschisten darum ging, wie man es entschlüsseln kann.«

»Entschlüsseln kann?«

»Ja. Die besten Köpfe haben Jahre damit zugebracht, das Ding zu entziffern, und diese Typen hatten offenbar den Eindruck, es müßte so etwas wie ein Wörterbuch oder so was geben.«

»Ich fürchte, daß ich wahrscheinlich auch nicht mehr darüber weiß«, gab Indy zu. »Könnten Sie von Anfang an erzählen? Wer hat es gefunden und wo?«

»Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hielt Voynich die Einzelheiten des Fundes geheim«, begann Cadman. »Er verstarb vor drei Jahren. Doch ein paar Monate vor seinem Tod weihte er mich ein, daß er das Manuskript im Jahre 1912 in einer Art geheimen Schublade in der Nähe von Rom in der Villa Mondragone gefunden hat, die ein Jesuitenseminar beherbergt. Dort ist es, ehe mein Freund es entdeckt hat, ungefähr zweihundertfünfzig Jahre lang aufbewahrt worden. Zuerst wußte er nicht richtig, was er damit anfangen sollte. Und die Jesuiten, die es ihm verkauft haben, anscheinend auch nicht.«

»Das Manuskript umfaßt einhundertzwei Seiten, auf Pergamentpapier. Der Text ist in einer Geheimsprache abgefaßt. Darin eingefügt sind ungefähr vierhundert rätselhafte Zeichnungen- astrologischer, botanischer und biologischer Natur. Und zwar in Farbe - blau, grün, rot, alle möglichen Töne. Es gibt Bilder von Sternen und Pflanzen und von ein paar interessanten, nackten Damen in Badezubern, danach sieht es zumindest aus. Eine Zeitlang stellte das Manuskript ein Kuriosum dar, bis 1921 ein Mann mit dem Namen Newbold behauptete, es entschlüsselt zu haben. Seiner Einschätzung nach war es das Werk Roger Ba-cons.«

»Der Alchemist und franziskanische Mönch aus dem 13. Jahrhundert«, sagte Indy.

»Wie Sie sicherlich wissen, hat Newbold ein paar ziemlich wilde Behauptungen aufgestellt. Er war der Ansicht, daß Bacon Mikroskope und Teleskope verwendete - viele hundert Jahre vor ihrer dokumentierten Erfindung - und einen Großteil der Geheimnisse der modernen Wissenschaft geknackt hatte. Newbold behauptete außerdem, daß die Botschaft in einer Art römischen Kurzschrift abgefaßt und im Text versteckt sei, aber niemand sonst schloß sich dieser Theorie an. Damit setzte er schließlich seine Karriere in den Sand, ehe er 1926 starb.«

»Das Manuskript scheint eine Menge Menschen zu Opfern gemacht zu haben«, stellte Indy fest.

»So ist es«, stimmte Cadman ihm zu. »Obwohl ich vermute, daß Newbold eher an gebrochenem Herzen als an einem Fluch gestorben ist. Der Fluch hat eine Menge Karrieren abrupt beendet - diejenigen, die sich zu lange damit beschäftigt haben, scheinen sich in der Hoffnung auf das, was sie zu sehen oder finden wünschten, verloren zu haben. Doch als Wilfrid Voynich starb, hat die Furcht vor drohendem Unheil seine Witwe offenbar auf die Idee gebracht, das Manuskript als Dauerleihgabe nach Yale zu geben - einfach nur, um das Ding nicht mehr im Haus haben zu müssen.«

Indy schlürfte seinen Tee.

»Was halten Sie von dem Manuskript?« wollte Indy wissen.

»Ich halte es für einen alchemistischen Text, meine aber, daß es wahrscheinlich nicht das Werk Roger Bacons ist. Einem erfahrenen Auge dürften die vielen Hinweise darauf auffallen, die der Zeit, aus der es stammen soll, widersprechen. Man kann nur raten, wo und wann es geschrieben wurde.«

»Ihr Lächeln verrät mir, daß Sie eine Theorie aufgestellt haben.«

»Aber wirklich nur eine Theorie«, meinte Cadman. »Es gibt Beweise, daß es sich um dasselbe Manuskript handeln dürfte, welches um das Jahr 1608 in Prag aufgetaucht ist. Rudolf von Habsburg hat es einem englischen Alchemi-sten-Duo abgekauft, John Dee und Edward Kelley. Haben Sie von ihnen gehört?«

Indy schüttelte den Kopf.

»Schade. Sie gehörten zu den eher schillernden Persönlichkeiten jener Zeit - man nannte sie damals abfällig Scharlatane -, was nichts daran änderte, daß Dee als einer der gebildetsten Männer in England angesehen wurde und als Hofastrologe am Hof der Königin Elisabeth fungierte. Kelley behauptete, in einem Sarg in Wales auf ein unentzifferbares Manuskript und auf eine Phiole roten Pulvers gestoßen zu sein, das er das Elixier des Lebens nannte. Hinterher versteifte sich Kelley auf das Vorhersagen der Zukunft, unter Zuhilfenahme von etwas, das der Vorhersagestein genannt wurde.«

»Vorhersagestein?«

»Ja. Dabei handelte es sich um einen Kristall aus der Neuen Welt, den Dee erstanden hatte. Kelley behauptete, mit dessen Hilfe mit Engeln kommunizieren und die Zukunft vorhersagen zu können. Sie bedienten sich einer Sprache namens Enochian, in der sich die Engel anschei-nend unterhielten, und die von den Rosenkreuzern noch gesprochen wird. Dees Sohn John erinnerte sich später, daß sein Vater und Kelley viel Zeit mit dem Stein verbracht haben. Sie versuchten, ein geheimnisvolles Buch zu entziffern, das in Hieroglyphen abgefaßt war.«

»Ich nehme mal an, daß dieser Stein schon seit langer Zeit verschollen ist«, meinte Indy.

»O nein«, entgegnete Cadman. »Man kann ihn sich im British Museum in London ansehen. Dee und Kelley sind als diejenigen zu betrachten, die die Saat gelegt haben. Ihretwegen ist Voynich auf Roger Bacon gekommen. Sie zollten Bacon großen Respekt, und bevor sie das Manuskript für sechshundert Golddukaten an Rudolf von Habsburg in Prag verkauften, kamen Gerüchte in Umlauf, daß er es geschrieben hatte und daß es das Geheimnis enthielt, wie man aus Blei Gold machen kann. Man sagte ihnen damals auch nach, daß sie dazu in der Lage wären, aber das war wahrscheinlich nur Verkaufstaktik.«

»Falls sie in der Lage gewesen wären, Gold zu machen«, sagte Indy, »hätten sie meiner Meinung nach keinen Grund gehabt, das Manuskript zu verkaufen - dann wären sie ja sowieso über alle Maßen reich gewesen, auch ohne darauf verzichten zu müssen.«

»Das, mein Freund, ist mir seit jeher das große Rätsel an der Alchemie«, sagte Cadman. »Ein Sechsjähriger kann diesen Schluß ziehen, aber ein machtbesessener König anscheinend nicht.«

»Egal, was man sonst noch über Dee und Kelley sagen mag«, gab Indy zu bedenken, »ihre kommerzielle Ader muß man bewundern. Heute würden sie mit dem Verkauf von Lebensversicherungspolicen ihr Glück machen. Was ist aus ihnen geworden?«

»Nachdem sie verhaftet und der Zauberei und Ketzerei beschuldigt wurden, wurde Kelley von Rudolf von Habsburg ins Gefängnis geworfen - aber man erlaubte ihm, die geheimnisvollen Bücher zu behalten, weil der König immer noch hoffte, daß er Gold machte. Kelley versuchte aus dem Gefängnis zu fliehen, fiel aber vom Dach und starb.«

»Dee erging es etwas besser. Er kehrte nach England zurück, widmete sich weiterhin der Zauberei und Alchemie, aber ohne seinen alten Freund brachte er leider nichts mehr zustande. In Verruf geraten, starb er schließlich.«

»Und was passierte mit dem Manuskript?«

»Rudolf starb 1612, und zu jener Zeit befand es sich offenbar im Besitz von Jacobus de Tepenecz, dem Leiter des Königlichen Alchemie-Labors. Irgendwann zwischen 1622 und 1656 erbte Joannus Marcus Marci, Rudolfs Hofphysiker, das Manuskript. Marci schickte es nach Rom an seinen alten Lehrer Athanius Kircher. Er war einer der großen Al-chemisten des 17. Jahrhunderts. Als Kircher im Jahre 1660 Jesuit wurde, trennte er sich von all seinen weltlichen Gütern, und das Manuskript landete auf einem Regal in besagtem Seminar in der Nähe von Rom, wo Voynich es entdeckte.«

»Damit hätten wir also die Zeitspanne von 1608 bis 1933 erklärt. Dürfen wir annehmen, daß es im 16. oder 17. Jahrhundert geschrieben wurde?«

Cadman lächelte.

»Oh, das Manuskript ist wahrscheinlich vier- oder fünfhundert Jahre alt, aber es liegt im Bereich des Möglichen, daß es die Abschrift eines wesentlich älteren Schriftstückes ist.«

»Und wie alt ist es nun?«

»Wenigstens aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert, aber vielleicht wurde es sogar vor der Geburt Christi verfaßt«, spekulierte er. »Alchemistische Überlieferungen scheint es seit Anbeginn der überlieferten Geschichte zu geben. Im Westen macht zum Beispiel die Fabel die Runde, daß Alexander der Große den Stein der Weisen in einer Höhle gefunden hat. Arabische Quellen behaupten, daß ihre Helden diesen Fund gemacht haben. Und die Chinesen - nun, auch sie können eine lange Tradition, was die Alchemie anbelangt, vorweisen. Möchten Sie vielleicht noch etwas Tee?«

Cadman ging zu der Herdplatte hinüber, kehrte mit dem Kessel zurück und goß heißes Wasser in die beiden Tassen. Unverhohlen gähnend warf Indy einen Blick auf seine Uhr. Es war Viertel vor drei.

»Wir können auch gern morgen fortfahren«, schlug Cad-man vor.

»Nein«, sagte Indy. »Bitte, falls es Ihnen nichts ausmacht -«

»Selbstverständlich macht es mir nichts aus. Die Nacht ist jung. Und offen gesagt, ich habe zur Zeit nicht gerade viele Gesprächspartner - wie es scheint, schrecke ich die meisten Menschen ab. Die meisten Leute sind solche Dummköpfe, finden Sie nicht? Man trifft nur selten gute Zuhörer.«

»Ich bin neugierig - was haben Sie dem FBI und den anderen erzählt?«

»Praktisch nichts«, sagte Cadman. »Sie haben Fragen gestellt, als erkundigten sie sich nach dem Preis eines Steaks. Die Idioten wußten nicht mal, daß sie die. falschen Fragen stellten - sie fragten nicht nach dem, was ich weiß. Und ich weiß eine ganze Menge über die Vergangenheit, weil ich mein ganzes Leben mit Büchern verbracht habe, die seit Generationen nicht mehr gelesen werden.«

Die Glasscheibe in der Eingangstür bewegte sich. Indy, der mit dem Rücken zur Tür saß, warf einen Blick über die Schulter und glaubte, einen Schatten vorbeihuschen zu sehen.

»Nur der Wind«, meinte Cadman.

»Ja, sicher«, sagte Indy. »Aber falls es Sie nicht stört -könnten wir aus dem Licht rücken? Ich fürchte, daß die Ereignisse der letzten Wochen mich ein bißchen nervös gemacht haben.«

Sie rückten die Stühle vom Tisch und der darüber hängenden Glühbirne weg, nahmen die Teetassen mit und machten es sich hinter einem Bücherregal bequem, das sie vor neugierigen Blicken schützte. Indy schätzte, daß die Reihe Bücher dick genug war, um eventuell Kugeln abzufangen.

»Fällt Ihnen ein Grund ein«, fragte er, »warum jemand das Manuskript stehlen sollte?«

»Ich wüßte nicht, warum es jemand stehlen sollte«, meinte Cadman. »Eine Reihe Kopien stehen jedem Interessierten zur Verfügung, und sein Wert als Sammlerstück beläuft sich höchstens auf ein paar tausend Dollars. Scheint mir kaum gerechtfertigt, daß einem deshalb das FBI im Nacken sitzt.«

»Könnte der Besitz des Originals etwas verraten, was eine Kopie nicht hat?« fragte Indy.

»Nun, möglicherweise ist etwas von Bedeutung im Pergament versteckt, oder es existiert ein Schlüssel, der auf den fotografischen Reproduktionen nicht sichtbar ist«, rätselte Cadman. »Eine wie auch immer geartete chemische Reaktion kann nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden - Sie wissen schon, ich meine diesen alten Trick mit der Tinte, die verschwindet und wieder auftaucht. Über diese Mechanismen verfügte man gewiß vor fünfhundert Jahren, und dann kommt als Dieb zwangsläufig ein Alchemist in die engere Wahl. Oder es handelt sich um einen optischen Trick - man hält das Papier gegen das Licht oder in eine bestimmte Lichtquelle. Vieles ist möglich, und vielleicht steckt auch nichts dahinter. Immerhin besteht ja noch die Möglichkeit, daß Voynich ein fünfhundert Jahre alter Betrüger ist.«

Indy nickte.

»Ich könnte mir denken«, fuhr Cadman fort, »daß -selbst wenn es jemandem gelingt, den Text zu entschlüsseln- die Information, die darin enthalten ist, wahrscheinlich für jedermann nutzlos sein dürfte, der sich mit alchemistischen Überlieferungen und Märchen nicht auskennt. Die Alchemisten liebten es, ihr Wissen in Rätsel zu verpacken, um es vor den Augen der Unreinen zu schützen. Ein allgemein bekanntes Beispiel dafür ist folgendes: >Was oben ist, ist unten.« Und dann ist da noch die Frage der prima materia, dem ursprünglichen Material, das bei der Herstellung des Steins verwendet wurde. Keiner ist bislang in der Lage gewesen, die Materie zu identifizieren, obwohl die Rätsel daraufhindeuteten, daß es sich um etwas handelte, das, wenn es erst mal erkannt war, eigentlich glasklar auf der Hand lag.«

»Dann glauben Sie also, daß die Chancen gut stehen, daß das Voynich-Manuskript das Geheimnis zur Herstellung des Steins der Weisen birgt?«

»Kein anerkannter Text, der sich mit Alchemie befaßt, dürfte darauf verzichten«, meinte Cadman. »Der sagenumwobene Stein der Weisen, dem die Fähigkeit innewohnt, aus Blei Gold zu machen und der Unsterblichkeit gewährt. Das ist ein ganz netter Traum, nicht wahr?«

»Ja«, stimmte Indy zu, »wenn er nur wahr wäre.«

»Um ehrlich zu sein«, sagte Cadman, »wir sollten der Al-chemie eigentlich mehr Respekt zollen, als die moderne Wissenschaft zuläßt. Trotz des ganzen Hokuspokus sind die in Rätseln abgefaßten Geheimnisse und überzogenen Behauptungen doch die Grundlage, auf der die heutige Wissenschaft basiert. All diese Petrischalen und Reagenzgläser in den modernen Laboratorien haben wir doch der Alchemie zu verdanken.« Er hob seine Tasse Tee.

»Da möchte ich doch einen Toast auf die Alchemie aussprechen«, sagte er.

»Ja, und einen auf die Hilfe von Fremden«, meinte Indy und hob ebenfalls seine Tasse.

»Sagen Sie mir«, fragte Cadman, »sind Sie wirklich nur hierher gekommen, um ein Zimmer zu mieten? Oder war das einfach eine willkommene Ausrede?«

»Ich kam wegen des Zimmers«, sagte Indy, »aber ich suchte ... ich weiß nicht. Vielleicht Anleitung.«

»Ach, welch bedeutungsschwangerer Zufall«, sagte Cadman. »Synchronizität, falls man Jung Glauben schenken darf. Zufälle gibt es nicht, mein Freund.«

»Kann sein«, meinte Indy. »Obwohl mir Vorsehung der passendere Begriff zu sein scheint. Wie auch immer, ich werde keine der beiden Thesen in Frage stellen - wo ich doch mitten in der Nacht auf einen Experten einer toten Kunstgattung gestoßen bin.«

»Nicht wirklich tot«, entgegnete Cadman. »Die Alchemie hat eine Art Renaissance erlebt, seit es Lord Rutherford gelungen ist, Nitrogen in Oxygen umzuwandeln, indem er auf Radioaktivität zurückgegriffen hat. Dieses Ergebnis hat die kartesische Wissenschaft für unmöglich gehalten. Ich bin unter anderem mit dieser Materie so vertraut, weil ich ein paar sehr gute Kunden habe, die alles, aber wirklich alles zu diesem Thema kaufen.«

»Wirklich?« staunte Indy.

»Da gibt es einen Mann in London, der wahrscheinlich die führende Autorität ist, wenn es um die tatsächliche Anwendung der Alchemie geht. Sein Name ist Alistair Dunstin, und er bekleidet irgendeine Position am British Museum. Ihm schicke ich regelmäßig Büchersendungen. Es gibt sogar das absurde Gerücht, daß es ihm gelungen sein soll, eine kleine Menge Blei in Gold zu verwandeln.«

»Wäre eventuell sinnvoll, sich mal mit ihm zu unterhalten«, sagte Indy nachdenklich.

»Dieser Ansicht waren auch die Italiener. Sie fragten mich über ihn aus - was für Bücher ich ihm schicke und so weiter und so fort. Aber ich habe ihnen natürlich nichts verraten.«

»Natürlich nicht«, sagte Indy.

Cadman gähnte, stand auf und streckte sich.

»Ich fürchte, wir haben uns die Nacht mit Geplauder um die Ohren geschlagen.«

Indy erhob sich auch und streckte die Hand aus. »Danke. Sie haben mir mehr geholfen, als Sie sich denken können. Ich hoffe, ich kann es Ihnen eines Tages vergelten und Ihnen einen Gefallen tun.«

»Da gibt es eine kleine Sache«, sagte Cadman. »Falls es Ihnen nichts ausmacht.«

»Und was wäre das?«

»Verraten Sie mir Ihren Namen.«

Загрузка...