Zwei

Man konnte leicht vergessen, wie sehr man eigentlich darauf angewiesen war, dass man schnell an Informationen gelangte. Bewusst wurde es einem spätestens, wenn man sich im Inneren eines Sicherheitsperimeters befand, das alle Signale störte, um sicherzustellen, dass keine Informationen nach draußen gelangen konnten, und das einen zudem von allen Datenbanken und Displays abschnitt. Ausgerechnet jetzt, da in der Flotte Unruhe aufgekommen sein musste, hatte er keine Ahnung, was da draußen los war und ob Tanya die Situation unter Kontrolle hatte. Nicht, dass er an ihren Fähigkeiten gezweifelt hätte, aber jedem, der auch nur über einen Funken gesunden Menschenverstands verfügte, musste klar sein, dass es stets Faktoren gab, die sich dem Einfluss der Menschen entzogen.

Er wollte sofort dieses Treffen in Angriff nehmen und die Situation unter Kontrolle bekommen, aber diese Station war einfach zu groß, jeder Korridor war zu lang und an jedem Kontrollpunkt wurde zu langsam gearbeitet, bis man ihn passieren ließ. Bei jedem Schritt rechnete Geary insgeheim damit, dass sich von Explosionen verursachte Erschütterungen über die Struktur der Station ausbreiteten, wenn da draußen ein Gefecht ausgebrochen sein sollte. Er war mit dem Gefühl vertraut, wenn ein Schiff beschossen und getroffen wurde – die Hammerschläge von Raketen, die ihr Ziel erreichten, das Zittern, wenn die Partikelstrahlen der Höllenspeere sich durch Metall und jedes andere Material schnitten, der brutale Hagel der Kartätschen, die in einem Stakkatorhythmus auf die Schiffshülle einschlugen. Würde sich das auf einer so massiven Konstruktion wie dieser Raumstation anders anfühlen? Wie tief würden sich die Höllenspeere bohren können, wenn sie aus nächster Nähe abgefeuert wurden?

Seltsamerweise hatten diese Fragen sowie seine Bemühungen, darauf Antworten zu finden, eine beruhigende Wirkung auf ihn. Die Auswirkungen von im Gefecht erlittenen Schäden einzuschätzen, hatte etwas angenehm Vertrautes an sich, während Geary die Begegnung mit Politikern, deren wahre Absichten ihm nicht bekannt waren, als etwas Ungewohntes und Befremdliches wahrnahm. Lieber lasse ich auf mich schießen, anstatt mich mit Politikern abgeben zu müssen. Und das Kuriose daran ist, jeder Matrose in der Flotte würde das nachvollziehen können und mir zustimmen.

Die Soldaten, denen er an den verschiedenen Kontrollpunkten begegnete, waren aus diversen Einheiten und Organisationen abgezogen und zu diesem Dienst abgestellt worden. Seit dem Erwachen aus seinem Kälteschlaf hatte er mit Bodenstreitkräften nur selten zu tun gehabt, und dieser geringe Kontakt beschränkte sich lediglich auf die letzten Wochen. Als er jetzt die Männer und Frauen musterte, versuchte er ihre Fähigkeiten, ihre Gefühle und auch ihre Effizienz einzuschätzen. Die Flotte und sogar die für ihre Traditionsverbundenheit berüchtigten Marines hatten sich unter dem Eindruck des sehr langen und sehr blutigen Kriegs verändert. Er stellte sich die Frage, ob die Bodentruppen es sich ebenso zur Angewohnheit gemacht hatten, auf den Feind loszustürmen, ohne sich um Taktiken, Manöver oder die mögliche Überlegenheit des Gegners zu kümmern. Hatten die Bodentruppen auch die Ehre über alles gestellt, und war blinder Mut der Verzweiflung an die Stelle der Fähigkeiten von Anführern getreten, heutzutage, wo diese Anführer nur in seltenen Fällen lange genug überlebten, um als Veteranen bezeichnet zu werden?

Alle Soldaten behandelten ihn mit steifer Förmlichkeit, da sie zweifellos fürchteten, von mehr als nur einem vorgesetzten Offizier beobachtet zu werden. Dennoch sahen die meisten von ihnen Geary auf eine Weise an, die ihre Gefühle erkennen ließ – und die unterschieden sich nicht von den in Scharen herbeigeeilten Zivilisten, auch wenn sie sich natürlich deutlich disziplinierter und verschlossener gaben.

Geary passierte einen Kontrollpunkt nach dem anderen, und soweit er das beurteilen konnte, war bislang alles ruhig geblieben. Allerdings befand er sich inzwischen so tief im Inneren der Station, dass er nicht wusste, ob er hier überhaupt irgendetwas wahrnehmen würde. Die Tatsache, dass er auf dem Weg von einem Kontrollpunkt zum nächsten keiner Menschenseele begegnete, hatte etwas Unheimliches an sich, so als würde er sich auf einer Station in einem unbedeutenden Sternensystem befinden, das vom Hypernet übergangen und von seinen wenigen Bewohnern verlassen worden war. Nachdem er wochenlang versucht hatte, Menschenansammlungen aller Art aus dem Weg zu gehen, wünschte er sich jetzt, wenigstens den einen oder anderen Menschen zu sehen.

Nach insgesamt sieben Kontrollpunkten wurde Geary dann endlich zu einem Konferenzraum geführt, der nur in der Hinsicht auffiel, dass die Symbole auf der geöffneten Tür ihn als extrem sicheres, versiegeltes Abteil kennzeichneten, das gegen jeden Ausspähversuch von außen garantiert so gut geschützt war, wie es nur irgend ging. »Wie dicht ist dieser Konferenzraum?«, fragte er die Angehörigen des Spezialkommandos, das die letzte, innerste Sicherheitsebene bildete. Ihn interessierte, welche Fortschritte die Sicherheitstechnologie in den letzten hundert Jahren gemacht hatte, doch dann fiel ihm ein, wie viele Male Victoria Rione ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt hatte, dass sich mit der richtigen Ausrüstung und Software so ziemlich jede Sicherheitsbarriere überwinden ließ.

Der Major, der die Einheit befehligte, schien einen Moment verblüfft darüber zu sein, von Geary persönlich angesprochen zu werden, dann aber bekam er sich wieder in den Griff. »Absolut dicht, Admiral Geary. Laut den Spezifikationen dieser Systeme sind sogar die Lebenserhaltungssysteme in sich selbst geschlossen. Sobald die Luke versiegelt ist, sind Sie so vollkommen vom Universum ringsum abgeschlossen, wie es menschliche Technologie bewerkstelligen kann. Nichts gelangt hinein oder hinaus. Es sind sogar erst vor Kurzem Störsender auf Quantenebene installiert worden, obwohl bislang noch niemand auf dieser Ebene Spionage betreiben kann.«

Zumindest kein Mensch, ergänzte Geary im Geiste. Immerhin hatten die Politiker demnach bislang geheim gehalten, dass die Aliens in der Lage waren, Quantenwürmer in die Betriebssysteme der Allianz-Schiffe einzuschleusen. »Beeindruckend«, sagte Geary. »Und wie verfährt der Raum mit der Wärme, die von den Menschen und von der Ausrüstung abgestrahlt wird, wenn er so perfekt versiegelt ist?«

Der Major sah einen Lieutenant an, der sich wiederum an einen Sergeant wandte. Der antwortete im knappen Tonfall eines Senior-Unteroffiziers, der Offizieren etwas erklärte, was sie eigentlich längst wissen sollten: »Die Wärme, die sich im Raum ansammelt, kann nicht nach außen geleitet werden, Sir. Sie sammelt sich an und kann etwas umgewälzt werden, wird aber nach spätestens zwei Stunden zu einem ernst zu nehmenden Problem, wenn drei oder mehr darin befindliche Personen persönliche elektronische Geräte bedienen.«

»Wird das ein Problem darstellen, Admiral?«, erkundigte sich der Major.

»Keineswegs«, sagte Geary. »Augenblicklich muss ich einige Dinge so schnell wie möglich erledigen, und davon abgesehen gefällt mir der Gedanke, dass ein Konferenzraum nicht endlos lang genutzt werden kann.«

Der Major zögerte, als sei er sich nicht sicher, was er sagen durfte und was nicht, aber schließlich grinste er: »So einen Konferenzraum habe ich mir schon mehr als einmal gewünscht, Admiral.«

Die Soldaten gingen in Wachhaltung, während Geary an der Luke anklopfte, sie öffnete und eintrat.

Sein Blick erfasste als Erstes das vertraute Gesicht von Senator Navarro, der sich von seinem Platz erhob, um Geary zu begrüßen. Neben ihm befand sich ein anderer Politiker des Großen Rats, jener rätselhafte Senator Sakai, der die Flotte auf ihrem Feldzug begleitet hatte, mit dem dem Krieg das Ende bereitet worden war. Dabei hatte er jene Ratsmitglieder repräsentiert, die Geary das geringste Vertrauen von allen entgegenbrachten. Wie sehr hatte diese Erfahrung den Senator davon überzeugen können, dass Geary keine Bedrohung für die Allianz darstellte? Auf der anderen Seite von Navarro saß Senatorin Suva, eine schmale, zierliche Frau, von der er wusste, dass sie ebenfalls dem Rat angehörte. Sie misstraute dem Militär im gleichen Ausmaß, mit dem das Militär den Politikern begegnete.

Drei Senatoren, kein Militär. Der Raum war sogar noch kleiner als der Konferenzraum an Bord der Dauntless, und angesichts der strengen Sicherheitsvorkehrungen konnte er nicht einmal über die virtuelle Konferenztechnologie verfügen, die es einer Vielzahl von weiteren Personen ermöglicht hätte, an der Besprechung teilzunehmen, ohne dabei körperlich anwesend sein zu müssen. An einer Seite zeigte ein Display das Sternensystem und die Verteilung der militärischen Einheiten, aber das Bild war statisch und erhielt deutlich erkennbar keine aktualisierten Daten von draußen. Geary salutierte und musste sich dabei zwingen, seine Ungeduld zu bändigen. »Senator Navarro, ich …«

Mit einem höflichen Lächeln auf den Lippen unterbrach Navarro ihn: »Willkommen zurück, Admiral. Es gibt …«

»Senator«, unterbrach Geary ihn. »Etwas Wichtiges hat sich ereignet.« Ihm entging weder der Argwohn nicht, der sich plötzlich in Navarros Augen abzeichnete, noch die abrupt versteifte Körperhaltung. Er konnte fast die Gedanken des Mannes hören: Jetzt ist es soweit, jetzt reißt er die Kontrolle an sich! »Ich möchte nicht unhöflich sein, Sir, aber etwas von extremer Dringlichkeit ist vorgefallen, und ich muss Sie bitten, diese Angelegenheit vor allem anderen zu behandeln.«

»Was ist denn so dringlich, Admiral?«, wollte Sakai wissen, dessen Miene und Tonfall nichts über seine Gefühle verrieten.

»Als ich auf dem Weg zu diesem Treffen war, hat die Flotte eine Nachricht erhalten, wonach mehr als hundert befehlshabende Offiziere sich vor einem Kriegsgericht verantworten müssen. Sie sollen sofort ihr Kommando abgeben, bis über die Vorwürfe entschieden ist.«

So wie zuvor Timbale machten auch die drei Senatoren einen verdutzten Eindruck, dennoch ließ sich nicht erkennen, inwieweit sie ihm nur etwas vorspielten. Navarro schüttelte den Kopf, aber sein Tonfall blieb verhalten: »Wie lauten die Anklagen? Was wirft man diesen Offizieren vor?«

»Werden diese Offiziere angeklagt, weil sie versucht oder geplant haben, gegen rechtmäßige Autoritäten vorzugehen?«, wollte Suva wissen, die keinen Hehl aus ihrem Misstrauen machte.

»Nein, Madam Senatorin«, antwortete Geary. »Ihnen wird nicht vorgeworfen, sich gegen die Regierung verschworen zu haben. Die Anklage lautet, dass sie die Brennstoffvorräte ihrer Schiffe zu weit haben absinken lassen.« Es kostete ihn Mühe, bei diesen Worten die Beherrschung zu wahren.

»Zu geringe Brennstoffvorräte?«, wiederholte Navarro nach einer langen Denkpause, als habe er sich gefragt, ob Geary sie auf den Arm nehmen wollte. »Ist das Ihr Ernst? Ich erinnere mich, wie mir gesagt wurde, dass die Vorräte der Flotte bei ihrer Ankunft im Varandal-System extrem gering waren und dass einige Schiffe während der Schlacht diese restlichen Vorräte vollständig aufbrauchten.«

»Richtig, Sir. Aufgrund der langwierigen Reise und der zahlreichen Gefechte auf dem Weg vom Syndik-Heimatsystem bis nach Hause waren die Brennstoffbestände tatsächlich extrem niedrig.«

»Ja, natürlich«, sagte Navarro, auch wenn es nicht so schien, dass er die Zusammenhänge verstanden hatte. »Aber Sie haben den Krieg gewonnen und so viele Schiffe heil heimkehren lassen. Worin liegt da das Verbrechen?«

»Wenn man die Bestände der Brennstoffzellen zu stark absinken lässt, verstößt der Kommandant eines Schiffs gegen die Vorschriften«, erklärte er. »Ein Schiff mit zu geringen Brennstoffvorräten kann unter Umständen nicht ordentlich kämpfen oder ist nicht in der Lage, den Befehl zu befolgen in ein Gefecht zu ziehen. Befehlshabende Offiziere sind dazu verpflichtet, die Reserven nicht zu sehr absinken zu lassen. Je geringer der Bestand, umso schwerwiegender der Verstoß.«

»Aber … wenn Sie trotzdem diese Strecke zurückgelegt und all diese Gefechte ausgetragen haben … siegreich, sonst wären Sie heute nicht hier … und wenn Sie sogar noch rechtzeitig hier eintreffen konnten, um den Angriff der Syndikatwelten auf Varandal abzuwehren …«

»Sir, diese Anklagen beziehen sich auf eine rein technische Verletzung von Vorschriften, ohne dabei die tatsächlichen Umstände zu berücksichtigen.«

Senator Sakai nickte und ließ sich nicht anmerken, was er dachte. »Dann wurden diese Vorschriften aber tatsächlich verletzt, wie Sie sagen.«

»Ja, Sir.«

Navarro schaute nachdenklich auf den Tisch vor ihm. »Es erscheint zwar lächerlich, aber es bedeutet, dass das Militär nach Abschluss der Verfahren die gleiche Folgerung daraus ziehen wird. Das ist unerfreulich, aber kein Vorgang, in den wir uns einmischen sollten.«

Geary hatte erwartet, dass Zivilisten erkennen würden, wie geistlos diese Anklagen waren und welche gravierenden Konsequenzen sie nach sich ziehen konnten. Er hielt kurz inne, um seine Gedanken neu zu ordnen, dann erklärte er behutsam: »Senator, jeder dieser Offiziere hat bei der Verteidigung der Allianz seine Tapferkeit und Loyalität unter Beweis gestellt. Jetzt nimmt man ihnen ihr Kommando ab und stellt sie vor ein Kriegsgericht, weil sie technisch gesehen eine Vorschrift verletzt haben, auf die sie aufgrund der tatsächlichen Umstände gar keinen Einfluss hatten. Das ist eine extreme und grundlose Beleidigung der Ehre eines jeden einzelnen Offiziers.«

»Wer hat diese Anklagen in die Wege geleitet, Admiral?«, fragte Senatorin Suva und sprach dabei genauso bedächtig wie Geary.

»Das Flottenhauptquartier, Madam Senatorin.«

»Dann waren es also die Vorgesetzten innerhalb der Flotte, die dafür verantwortlich zeichnen. Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann fühlen sich diese Vorgesetzten offenbar zu diesem Schritt verpflichtet. Das heißt, ihnen ist klar, wie wichtig es ist, sich an Gesetze, Regeln und Vorschriften zu halten.«

Ihre Worte waren ein unmissverständlicher Seitenhieb auf Geary, als stelle sie damit sein eigenes Verständnis für eine solche Maßnahme infrage. »Ein guter Führer weiß aber auch, wann eine buchstabengetreue Auslegung von Gesetzen, Regeln und Vorschriften zu ungerechten und unangemessenen Resultaten führt. Wir könnten uns von einem vollautomatischen Rechtssystem regieren lassen, wenn es keinen Ermessensspielraum mehr geben darf.«

Sakai musterte Geary eindringlich. »Ist das eine Kritik an den Entscheidungen Ihrer Vorgesetzten?«

Geary erwiderte den forschenden Blick und überlegte einen Moment lang. Das war die Art von Frage, bei der man üblicherweise nur die Wahl hatte, in sein Verderben zu laufen oder in aller Eile zurückzurudern. Aber was sollen sie schon mit mir machen, wenn ich ehrlich antworte? Im schlimmsten Fall können sie mich zum Dienst auf einem Schiff weit weg von zu Hause verdonnern, mir lausiges Essen hinstellen und mich zwanzig Stunden am Tag arbeiten lassen, sofern ich nicht vorher von den Leuten erschossen werde, die mir nach dem Leben trachten. »Ja, Sir, das soll eine Kritik sein. Wer immer diese Anklagen vorgebracht hat, hat sich damit eine gravierende Fehlentscheidung geleistet.«

Die drei Senatoren sahen sich kurz an, dann entgegnete Navarro seufzend: »Admiral, mir ist bewusst, dass diese Angelegenheit Ihr Gerechtigkeitsempfinden berührt. Aber wir können nicht in diesen Prozess eingreifen, zumal Sie selbst ja davon überzeugt sind, dass es nur eine Formalie ist und man die angeklagten Offiziere letztlich freisprechen wird.«

»Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, was diese Angelegenheit nach sich ziehen wird.« Es erstaunte ihn selbst, wie ruhig er sich anhörte. »Die mindeste Konsequenz ist eine ernsthafte Störung des Flottenbetriebs, wenn so viele befehlshabende Offiziere gleichzeitig ihren Platz räumen sollen. Aber dazu wird es nicht kommen, weil die Flotte diesen Vorgang als eine gegen sie gerichtete Maßnahme vonseiten der Regierung auslegen wird, als Maßnahme gegen Offiziere, die große Opfer gebracht haben und loyal zur Allianz stehen. Ich und einige andere Offiziere sind der Meinung, dass wir diese Anklagen als einen schweren Vertrauensbruch ansehen werden, als eine Attacke der Regierung gegen die Flotte.«

Suva starrte ihn an. »Wollen Sie damit sagen, dass die Flotte meutern wird?«

»Das halte ich für sehr wahrscheinlich«, bekräftigte Geary sehr ernst.

»Auf Ihren Befehl hin? Sie versuchen gar nicht erst, das aufzuhalten?«

Nun konnte Geary die Senatorin nur ungläubig anstarren. »Ich habe noch nie irgendwem den Befehl erteilt, sich gegen die gewählte Regierung der Allianz zu stellen, und das werde ich auch nicht machen. Was die Frage angeht, ob ich es nicht versuche – was glauben Sie, was ich hier gerade tue? Bevor ich in diese Besprechung gegangen bin, habe ich zwei anderen Offizieren den Befehl erteilt, die Flotte aufzufordern, dass sie keine Maßnahmen ergreifen soll.«

»Dann wäre das Problem doch bereits gelöst«, wandte Navarro ein.

»Ich bin nicht davon überzeugt, dass die Flotte diesen Befehl akzeptieren wird, Senator!« Warum wollten diese Leute eigentlich nichts begreifen? »Ich weiß, dass Ihnen die Stimmung in der Flotte bekannt ist. Dann sollten Sie eigentlich auch in der Lage sein zu verstehen, dass eine solche Anklage den Bogen überspannt. Zu viele Offiziere werden der Ansicht sein, dass es an der Zeit ist, etwas zu unternehmen. Natürlich dürfte jeder Einzelne dieser Offiziere von den Vorwürfen freigesprochen werden, aber es wird nur wenige Männer und Frauen in dieser Flotte geben, die in diesem Moment davon überzeugt sind, dass es auch genauso kommen wird. Sie werden die Anklage als einen Versuch werten, ihre Ehre zu besudeln und sie dann einen Schauprozess durchlaufen zu lassen.«

»Aber Sie wollen, dass wir uns über die Militärautorität und über das militärische Rechtssystem hinwegsetzen. Wie soll so etwas Respekt vor Autoritäten und vor dem Gesetz schaffen?«

Wieder mischte sich Suva mit unterkühlter Stimme ein. »Wie soll verhindert werden, dass das Militär die Regierung kontrolliert, wenn der einzige Weg der ist, dass sich die Regierung den Forderungen des Militärs beugt? Wollen Sie etwa sagen, dass wir gewinnen, indem wir kapitulieren?«

Sakai schüttelte den Kopf. »Die Frage ist berechtigt, aber Admiral Gearys Ehre sollte nicht infrage gestellt werden.«

»Das sehe ich auch so«, stimmte Navarro ihm zu. »Mit Blick auf das, was Admiral Geary getan und was er nicht getan hat, wäre es nicht angebracht, an seinen Worten zu zweifeln. Aber … in dieser Angelegenheit können wir nicht intervenieren. Ihre militärischen Vorgesetzten haben ihre Entscheidungen gefällt, und wenn wir an diesem Punkt in den militärjuristischen Prozess eingreifen würden, wäre das völlig unangemessen. Sie werden also Ihre Befehle befolgen, wie es die Ehre von Ihnen verlangt.« Auch wenn die Stimme des Senators nicht zitterte, glaubte Geary dennoch, eine unterschwellige Anspannung und vielleicht sogar Angst heraushören zu können. »Sie, Admiral, werden die Offiziere Ihrer Flotte auffordern, ihre Befehle zu befolgen und auf die Integrität des Systems zu vertrauen. Auf lange Sicht kann nur diese Vorgehensweise die Allianz retten.«

Navarro hatte zwar grundsätzlich recht, aber diese Leute übersahen die kurzfristigen Gefahren. Geary wusste, dass diese Entscheidung verkehrt war. Er wusste, wenn die Senatoren nicht handelten, dann war eine Katastrophe so gut wie unvermeidlich. Aber auf eigene Faust würden die drei nicht handeln.

Seit Rione ihn vor Monaten davon überzeugt hatte, dass er die Macht besaß, um sich über die zivile Führung der Allianz hinwegzusetzen, hatte er sich davor gefürchtet, einmal an diesem Punkt anzugelangen. Warum sollte er das überhaupt in Erwägung ziehen? Vor hundert Jahren wäre so etwas für ihn noch völlig undenkbar gewesen, aber nun sah er, wie ihm jede Alternative entrissen wurde, wie sich der Abgrund des Widerstands Stück für Stück näherte. Er wusste nicht, was ihn in dessen Tiefen erwartete, doch er konnte seinen Kurs so wenig ändern wie ein Raumschiff, das zu tief in das Schwerkraftfeld eines toten Sterns geraten war.

Wo stand seine Ehre? Was wäre das Beste für die Menschen, die ihm vertrauten, und für die Allianz? »Sir, ich muss noch einmal mit Nachdruck darauf hinweisen, dass die Flotte eine solche Vorgehensweise nicht tatenlos hinnehmen wird.«

»Das wird sie, wenn Admiral Geary es so fordert.«

»Weder bin ich davon überzeugt, dass das geschehen wird, Sir, noch gefällt es mir, ein solches Handeln gutzuheißen.«

»Das ist egal«, beharrte Navarro. »Sie haben Ihre Befehle, und die werden Sie ausführen.« Nach außen hin schien ihn Gearys Sturheit zu ärgern, aber je entschlossener sich der Senator gab, umso offensichtlicher wurde seine wachsende Unruhe. »Wir können uns nicht im Namen der Gerechtigkeit über Ihre Flottenvorschriften oder über das Gesetz hinwegsetzen.«

Es hörte sich richtig und nachvollziehbar an, aber die reale Situation wurde dabei völlig außer Acht gelassen. Allerdings war das rein rechtlich gesehen für ihn kein Grund, seine Befehle zu missachten.

Geary zählte im Geiste bis zehn, um sich zu sammeln. »Können wir uns über die aktuelle Situation außerhalb dieses Raums informieren, Sir? Sind Einspeisungen von Informationen erlaubt?« Er wusste, wie die Antwort darauf lauten sollte, aber inzwischen hatte er auch feststellen müssen, dass vieles nicht so war, wie man es erwartete.

Navarro legte die Stirn in Falten und sah nacheinander Sakai und Suva an. »Wir haben kein … Können wir einen kurzen Datenstrom in eine Richtung handhaben?«

»Selbst ein Mikroimpuls an eingehenden Informationen wird noch immer viel zu gefährlich sein«, entgegnete Suva, die Geary auf eine immer unnachgiebigere Art anschaute. »Ich wüsste auch nicht, welchem Zweck das dienen sollte.«

»Ich halte es für wichtig, dass wir wissen, was die Flotte in diesem Moment unternimmt«, betonte Geary. »Auch wenn ich den Befehl erteilt habe, dass jeder auf seiner Position bleiben soll.«

»Ich halte das für ratsam«, äußerte sich Sakai. »Aus meiner Erfahrung mit Admiral Geary weiß ich, dass wir zuhören sollten, wenn er meint, etwas sei wichtig für uns.«

»Black Jack …«, begann Suva.

»… ist kein Gott, und das weiß er auch«, fiel Sakai ihr ins Wort. »Er weiß, dass seine Fähigkeiten begrenzt sind, und wir sollten nicht davon ausgehen, dass alles unweigerlich so kommt, wie er es will.«

Navarro sah Geary lange an, dann wandte er sich an Sakai und tauschte mit ihm eine wortlose Nachricht aus. »Also gut. Laden Sie einen aktuellen Status und eine Zusammenstellung der letzten Übermittlungen herunter«, forderte er Suva auf, die mit finsterer Miene auf ihre Dateneinheit schaute und in rascher Folge Befehle eintippte.

Das Display flackerte, als die Daten auf den neuesten Stand gebracht wurden. Daneben wurde eine Liste mit den aktuellsten Übertragungen angezeigt, bis Augenblicke später das Bild wieder erstarrte, da die Sicherheitsbarrieren abermals aktiviert wurden. Alle Blicke richteten sich auf die Darstellung auf dem Display. Wo eben noch alle Kriegsschiffe ordentlich ihrem festen Orbit gefolgt waren, herrschte nun Durcheinander, da Dutzende von Schiffen ihre Position verlassen hatten und ihre Vektoren erkennen ließen, dass ihr Ziel die Station Ambaru war. Nicht nur Kreuzer und Zerstörer hatten diesen Kurs eingeschlagen, sondern auch Schlachtkreuzer sowie ein bedrohlicher Pulk aus Schlachtschiffen.

Geary konnte die Namen der Schiffe erkennen, die in Richtung der Station beschleunigt hatten. Die Illustrious. Es war klar gewesen, dass Captain Badaya in dieser Situation als Erster vorpreschen würde. Allerdings hatte Geary nicht damit gerechnet, dass Captain Parr mit der Incredible dicht dahinter sein würde. Auch die Implacable und die Intemperate folgten auf dem gleichen Kurs. Die neue Invincible hatte zwar ihre Position aufgegeben, beschleunigte dabei aber kaum, was aussah, als wollte sie den Eindruck erwecken, dass sie der Illustrious und der Incredible folgte, ohne dabei ihren Platz zu verlassen.

Ein echter Schock war aber der Anblick des Schlachtschiffs Dreadnaught, das ebenfalls nicht mehr auf der vorherigen Position zu finden war. Wieso hatte seine eigene Großnichte den Befehl ignoriert, sich nicht von der Stelle zu rühren und stattdessen zu warten? Jane Geary hatte sich als bodenständig und erfindungsreich zugleich erwiesen, um ihm wie eine zuverlässige Kommandantin vorzukommen. Aber auch die Dependable und die Conqueror hatten sich in Bewegung gesetzt. Das wiederum musste die Gallant, die Indomitable, die Glorious und die Magnificent dazu veranlasst haben, Kurs auf die Station Ambaru zu nehmen. Sieben gewaltige Schlachtschiffe, von denen jedes Einzelne genügend Feuerkraft besaß, um die Station in Trümmer zu schießen.

Überall in der Flotte hatten sich Schwere und Leichte Kreuzer sowie Zerstörer aufgemacht, um einzeln oder in Divisions- und Geschwaderstärke gegen die Raumstation vorzurücken.

Den Kontrast dazu bildeten die Schiffe, die ihre alte Position beibehalten hatten, an vorderster Front die Dauntless, dazu die Daring und die Victorious. Dann natürlich Captain Tulevs Schlachtkreuzerdivision, bestehend aus der Leviathan, der Dragon, der Steadfast und der Valiant. Auch Captain Duellos behielt mit der Inspire, der Brilliant und der Formidable die Position bei. Es überraschte Geary nicht, dass sich Captain Armus mit seiner Colossus nicht von der Stelle gerührt hatte. Armus war schlicht zu schwerfällig, um in einer plötzlich veränderten Situation zügig zu reagieren. Das konnte zwar unter bestimmten Umständen ein Problem darstellen, aber in diesem Fall war es ein Segen, schien doch das Verharren der Colossus und der restlichen Formation anderen Schlachtschiffen und Eskortschiffen als Vorbild für deren eigenes Verhalten zu dienen.

Die wohl größte Überraschung stellte die scheinbar verfluchte Orion dar, bei der man sich in der Vergangenheit immer darauf hatte verlassen können, dass sie genau das Gegenteil von dem tat, was ihr aufgetragen worden war: Dieses Mal hatte sie Gearys Befehl befolgt und sich nicht von der Stelle bewegt.

Überall auf den Planeten, Monden und Orbitaleinrichtungen im System wurde für die Verteidigungsstreitkräfte eine höhere Alarmstufe ausgerufen, außerdem wurden Schilde aktiviert und Waffensysteme hochgefahren. Bislang war aber noch keine Zielerfassungsautomatik auf die Schiffe der Flotte ausgerichtet worden.

Es war nicht so schlimm, wie es hätte sein können, aber die Situation war auch so schon erschreckend genug. Es musste nur auf irgendeiner Seite ein Schuss abgefeuert werden, dann konnte ein Bürgerkrieg seinen Lauf nehmen.

Navarro stand sekundenlang wie erstarrt da, während er das Display betrachtete. Dann erwachte er wie aus einer Trance und tippte auf eine der Übertragungen.

Tanyas Gesicht tauchte auf der Anzeige auf. »An alle Einheiten: Behalten Sie Ihre Position wie von Admiral Geary befohlen bei. Alle Schiffe, die sich in Bewegung gesetzt haben, werden hiermit aufgefordert, auf ihren ursprünglichen Orbitalplatz zurückzukehren. Sie alle haben Admiral Gearys Befehle erhalten. Stellen Sie sofort alle nichtautorisierten Handlungen ein und kehren Sie auf Ihre Ausgangspositionen zurück.« Desjani strahlte alle Befehlsgewalt aus, die sie besaß, was in ihrem Fall eine beträchtliche Ausstrahlung bedeutete. Aber selbst die genügte ganz offensichtlich nicht.

Navarro machte eine finstere Miene und tippte auf eine später gesendete Nachricht, diesmal von Admiral Timbale, der hastig drauflos redete. »Zurückziehen! Alle militärischen Streitkräfte im Varandal-Sternensystem werden hiermit aufgefordert, sich sofort zurückzuziehen! Stellen Sie augenblicklich alle nichtautorisierten Handlungen ein. Niemand eröffnet das Feuer! Ich wiederhole: Sofort zurückziehen! Alle Waffen sind Code Rot Status Null. Der Einsatz von Waffen ist nicht autorisiert!«

»Wieso sehen wir keine Reaktionen von den Kriegsschiffen?«, wollte Suva wissen.

»Weil die sehr wahrscheinlich ihre Nachrichten über heimliche Wege durch das Kommando- und Kontrollsystem schicken. Solche Übermittlungen tauchen dann in den offiziellen Aufzeichnungen nicht auf. Richtig, Admiral?«, erwiderte Sakai. Er hatte die Flotte auf ihrer letzten Reise begleitet und diese Tatsache zweifellos aus erster Hand miterlebt.

Geary nickte und machte keinen Hehl aus seiner Sorge. »Wie Sie sehen können, versuchen wir bereits, die Lage unter Kontrolle zu bringen …«

»Unter Kontrolle?« Suva warf ihm einen aufgebrachten Blick zu. »Dieser andere Admiral hat den Verteidigungsstreitkräften befohlen, nicht das Feuer zu eröffnen!«

»Ja, weil etliche Leute kurz davor stehen, genau das zu tun«, erklärte Geary. »Sobald ein Schuss fällt, werden alle gezwungen, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Unter diesem Druck, der im Moment auf allen lastet, werden sich zu viele von ihnen reflexartig für die Kameraden entscheiden, mit denen sie Seite an Seite gekämpft haben. Wir konnten das im Syndik-Heimatsystem beobachten, als es dort zur Rebellion kam. Verstehen Sie denn nicht? Die Situation gerät immer schneller außer Kontrolle. Nicht zu handeln, ist jetzt keine Option mehr.« Er zeigte auf das Display. »Das da kann ich nicht mehr in den Griff bekommen.«

»Wir können nicht vor einem Putsch kapitulieren, noch bevor er überhaupt richtig begonnen hat!«, brüllte ihn Suva nahezu an.

»Führen Sie Ihre Befehle aus, Admiral«, drängte Navarro ihn, dem seine Verzweiflung deutlich anzuhören war. »Senatorin Suva hat recht. Wenn wir diesem Druck nachgeben, dann kommt das in jeder Hinsicht einem Putsch gleich. Niemand in der Flotte wird sich über die Anweisungen von Black Jack Geary hinwegsetzen. Sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören und alle Befehle befolgen.«

Allen Bemühungen zum Trotz war er nun an dem Abgrund angelangt. So wie derjenige, der sich die Anklagen gegen seine Offiziere hatte einfallen lassen, befanden sich jetzt auch diese Politiker im Recht. Rein rechtlich gesehen konnte er nichts anderes tun, als zu salutieren, »Jawohl, Sir« zu sagen und sein Bestes zu geben, um das Desaster abzuwenden, von dem er sich sicher war, dass er es nicht würde aufhalten können. Alles andere wäre ein Verrat an seinem Eid, und er war schließlich auch der Einzige, der eine winzige Erfolgschance besaß. Doch wenn er jetzt stur seinen Befehl ausführte, würde er denen in den Rücken fallen, die ihm ins Gefecht gefolgt waren. Zu viele Offiziere würden glauben, dass man ihn zu dieser Reaktion gezwungen hatte oder dass sie alle von ihm verraten worden waren. Angesichts der zu erwartenden Konsequenzen in der Flotte konnte gerade der Befehl, sich an die erteilten Befehle zu halten, der letzte Sargnagel für die Allianz sein.

Ihm blieb nur noch eine Waffe, ein letztes Mittel, um eine Lage in den Griff zu bekommen, die fast schon zu weit ausgeufert war. Geary zögerte, da Angst und Ungewissheit sich in ihm regten. Im nächsten Moment jedoch legte sich eine ungewöhnliche Ruhe über ihn. Es war, als würde etwas zu ihm sprechen, dessen Autorität die eines jeden Lebewesens überstieg. Das ist der einzige Weg, der eine Chance bietet. Er atmete tief durch, dann sagte er entschieden und nicht zu laut: »Nein, Sir.«

Die drei Senatoren hielten in ihren Bewegungen inne. »Was verstehen Sie nicht an Ihrem Befehl, Admiral?«, fragte Navarro ruhig.

»Ich habe meine Befehle verstanden, Sir. Ich werde sie bloß nicht ausführen, weil ich hiermit meinen Dienst in der Flotte quittiere.«

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