Sieben

»Wie bitte?« Er wollte seinen Ohren nicht trauen. Das war nicht nur die Hälfte seiner Hilfsschiff-Flotte, das waren auch noch die vier großen Hilfsschiffe, die von der Kapazität her zwei Drittel ausmachten. »Wieso?« Hatte tatsächlich schon jemand Captain Smythes Tricks durchschaut? Aber die ersten Lieferungen aufgrund dieser Anforderungen waren erst vor Tagen weitergeleitet worden. Das war zu wenig Zeit, als dass davon schon etwas beim Hauptquartier angekommen sein konnte, von einer Analyse dieser Anforderungen ganz zu schweigen. Diese Befehle mussten vor etwa einer Woche ausgegeben worden sein.

»Einen Grund kenne ich nicht«, sagte Timbale. Seine Stimme klang ruhig, aber er war sichtlich aufgebracht.

»Die anderen Flotten sollen innerhalb des Allianz-Gebiets eingesetzt werden, also gibt es keinen Grund für sie, auch nur ein einziges Hilfsschiff anzufordern.«

»Ich weiß. Zuerst dachte ich, man will Kosten sparen, was in dem Fall eine sehr unüberlegte Maßnahme gewesen wäre. Aber die Befehle besagen eindeutig, dass die Hilfsschiffe auf neue Missionen geschickt werden. Sie sollen nicht außer Dienst gestellt werden.«

»Ich werde …« Was? Was wollte er denn tun? Der Befehl war an Timbale ergangen, nicht an ihn. »Diese Schiffe unterstehen nicht einmal Ihrem Kommando, Admiral. Warum wurde der Befehl an Sie geschickt, aber nicht an mich?« Es sei denn, das Hauptquartier hat begriffen, dass ich tatsächlich alle potenziellen Faktoren in Erwägung ziehe, wenn ich entscheide, wie ich meine Befehle ausführe. Wenn das der Fall ist, will man mich auf diesem Weg ausbooten, weil sie wissen, dass ich tausend Gründe anführen werde, wieso ich diese Schiffe benötige.

Timbale überlegte kurz, dann nickte er. »Sie haben recht, Admiral Geary. Nach meiner professionellen Einschätzung wurde dieser Befehl irrtümlich an mich geschickt. Er kann also nicht korrekt sein. Die fraglichen Schiffe sind Ihrem Kommando unterstellt, folglich hätte der Befehl an Sie gerichtet werden müssen. Zumindest hätte man Sie in Kenntnis setzen müssen, wie es die gegenwärtige Befehlskette vorschreibt. Ganz sicher würde das Hauptquartier es nicht vorsätzlich versäumen, Sie zu informieren, schließlich wäre das ein Verstoß gegen die Vorschriften.« Admiral Timbale sprach betont langsam und deutlich, um auf diese Weise sicherzustellen, dass die Aufzeichnung dieser Unterhaltung seine Argumentationskette vollständig und gut verständlich wiedergab, damit er sein Handeln rechtfertigen konnte. »Da ich mir auch keinen Grund vorstellen kann, warum die Schiffe zu diesem Zeitpunkt Ihrem Kommando entzogen werden sollten, lässt sich daraus nur folgern, dass mich dieser Befehl irrtümlich erreicht hat. Womöglich handelt es sich um eine Übungsmitteilung, die versehentlich gesendet wurde.«

»Bestimmt ist es etwas in dieser Art«, pflichtete Geary ihm bei. Er wusste so gut wie Timbale, dass das Hauptquartier den Befehl sehr wahrscheinlich ganz gezielt an ihm vorbeigeschleust hatte. Aber sie mussten beide so tun, als seien sie völlig ahnungslos, um nicht erkennen zu lassen, dass sie sich über einen rechtmäßigen Befehl hinwegsetzten. »Meine höherrangige Zuständigkeit in dieser Sache hätte in diesem Befehl ausdrücklich genannt werden müssen.«

»Folglich kann ich diesen Befehl nicht ausführen«, folgerte Timbale. »Von der Zuständigkeit her bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt dazu autorisiert bin, Ihnen diese Schiffe abzunehmen, und logistisch gesehen ergibt diese Anweisung keinen Sinn. Ich werde dem Hauptquartier darauf antworten und mitteilen, dass mich der Befehl irrtümlich erreicht hat, und ich werde um Klärung bitten. Angesichts der Tatsache, dass die Gültigkeit des Befehls ungewiss ist, rate ich Ihnen, dass Sie Ihre Vorbereitungen nicht unterbrechen, um Befehle auszuführen, die Ihnen nicht mal übermittelt worden sind. Ich werde auf die Bestätigung der Gültigkeit dieses Befehls warten, bevor ich ihn ausführe.«

Selbst wenn Timbale diese Anfrage sofort losschickte – und Geary hatte den Verdacht, dass er damit noch eine Weile warten wollte –, würden Wochen vergehen, bis ein Kurierschiff mit dieser Nachricht das Hauptquartier erreicht hatte und von dort mit der Antwort zurückgekehrt war. Bis dahin war Gearys Flotte längst unterwegs. Allerdings konnte sich das Hauptquartier dann noch immer Timbale vorknöpfen. »Admiral Timbale, ich weiß Ihre Bereitschaft zu schätzen, das Richtige zu tun, aber ich mache mir Sorgen, dass man Ihre Bereitschaft fälschlich als Befehlsverweigerung auslegen könnte.«

»Vielen Dank, Admiral Geary, aber ich habe keine Alternative. Meine Pflicht gegenüber der Allianz verlangt von mir, dass ich mich vergewissere, ob ein Befehl tatsächlich gültig ist, bevor ich ihn ausführe.« Timbale machte bei diesen Worten einen sehr ruhigen Eindruck. »Wissen Sie, Admiral, wie wir uns einmal über die Katze in der Kiste unterhalten haben? Diese Geschichte, dass man nicht weiß, ob man das Richtige tun wird, wenn der Moment gekommen ist? Ich freue mich, Ihnen mitzuteilen, dass die Katze lebt.«

»Das höre ich gern. Ich kann Ihnen versichern, ich werde in dieser Angelegenheit auch eigene Schritte unternehmen, wo es mir möglich ist.«

»Wollen die Sie sabotieren?«, fragte Desjani ungläubig, nachdem sich Timbales Bild in Luft aufgelöst hatte.

»Ich kann nicht glauben, dass irgendjemand so etwas tun würde«, entgegnete er nachdenklich. »Es muss eine andere Erklärung dafür geben.«

»Die würde ich zu gern hören.«

»Vielleicht hat jemand durchschaut, was Smythe vorhat …«

»Dafür ist noch nicht genug Zeit verstrichen, Admiral. Nächster Versuch.«

Sie würde dafür sorgen, dass er weder sich noch sonst jemandem etwas vormachen konnte, auch wenn er noch so sehr vermeiden wollte, einige bestimmte Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. »Vielleicht hat sich jemand hingesetzt und die Zahlen addiert«, meinte Geary. »Und dabei hat er erkannt, wie viel Kosten die vier großen Hilfsschiffe verursachen. Dann hat er sich gesagt, wenn sie mir diese Schiffe abnehmen, sparen sie viel Geld. Der Befehl sagt nichts darüber aus, dass das die tatsächliche Absicht ist, aber das könnte wiederum vorsätzlich geschehen sein. Vielleicht sollen wir nicht durchschauen, dass sie uns diese Schiffe auf Dauer und nicht nur vorübergehend wegnehmen.«

»Hmpf«, gab Desjani skeptisch von sich. »Das würde zwar an ein oder zwei Stellen Kosten einsparen, dafür kämen an anderer Stelle viel höhere Kosten dazu. Wen würden sie bezahlen müssen, damit die Arbeit erledigt wird, für die jetzt die Hilfsschiffe zuständig sind? Private Unternehmer? Haben wir nicht davon gehört, dass die Syndiks ein solches System anwenden?«

»Stimmt, und ihre mobilen Streitkräfte hassen es wie die Pest.« Geary überprüfte sein Display. »Alle Schiffe melden Bereitschaft zum Abflug. Was halten Sie davon, wenn wir sofort aufbrechen anstatt noch eine halbe Stunde rumzusitzen und zu warten?«

»Ich halte das für eine exzellente Idee, Admiral.«

Er schickte den Befehl an die Flotte, dann sah er mit an, wie fast dreihundert Kriegsschiffe, Hilfsschiffe und Sturmtransporter ihren Hauptantrieb zündeten und die Formation für den Sprung nach Atalia einnahmen. Auch wenn der Krieg gegen die Syndiks beendet war und obwohl sich Atalia von den immer rascher in sich zusammenfallenden Syndikatwelten losgesagt hatte, war Geary zu dem Entschluss gelangt, vorsichtshalber in einer Formation zum Sprung anzusetzen, der es der Flotte erlaubte, im Fall überraschender Bedrohung sofort gefechtsbereit zu sein.

Die wachsende Erfahrung und die verbesserten Fertigkeiten seiner Besatzungen hatten ihn eine Formation wählen lassen, die aus sechs Unterformationen bestand. Fünf davon waren um einen Kern aus Schlachtschiffen oder Schlachtkreuzern herum angeordnet und setzten sich zusammen aus Schweren und Leichten Kreuzern sowie Zerstörern. Zur sechsten Formation gehörten die acht Hilfsschiffe, aufgeteilt in zwei Divisionen, sowie eine einzelne Division aus vier Sturmtransportern. Diesmal wurde er von weit mehr Marines begleitet als zuvor, da niemand einzuschätzen vermochte, was sie erwartete, wenn sie versuchten, mit den Aliens Kontakt aufzunehmen. Diese von General Carabali befehligte Truppe benötigte aber nur zwei Transporter, um die Marines zu befördern, die nicht auf die anderen Schiffe der Flotte verteilt waren. Als Folge davon waren die Tsunami, die Typhoon, die Mistral und die Haboob je nur zur Hälfte mit Marines und deren Ausrüstung ausgelastet. Außerdem beherbergten sie das recht kleine Kontingent aus Experten für intelligente nichtmenschliche Spezies. Der noch zur Verfügung stehende Raum an Bord dieser Transporter würde dann von Nutzen sein, wenn sie die Kriegsgefangenen bei Dunai aus ihrem Lager holten. Der darüber hinaus noch verbleibende Platz konnte genutzt werden, falls sie im Gebiet der Aliens auf menschliche Gefangene stießen.

Die Unterformationen waren so angeordnet, dass die schwersten Schiffe die Führung übernahmen, gefolgt von den Hilfsschiffen und den Transportern, während die vier übrigen Unterformationen gleichmäßig um sie herum verteilt waren. Es sah fast so aus, als würden die Kriegsschiffe einen riesigen Becher bilden, dessen Öffnung nach vorn zeigte. Vorn im Zentrum der größten Formation befand sich als Flaggschiff die Dauntless, die buchstäblich den Dreh- und Angelpunkt der gesamten Flotte bildete, da alle anderen Schiffe ihre Position nach ihr ausrichteten.

Auf einmal bekam Geary das Gefühl, beobachtet zu werden, und als er sich zur Seite drehte, bemerkte er Desjani, die ihn anschaute und anlächelte. »Was habe ich jetzt schon wieder getan?«

»Es ist nur sehr offensichtlich, wie stolz Sie auf sie alle sind«, sagte sie. »Wenn ich früher Admiral Bloch oder einen anderen Admiral in dieser Situation beobachten konnte, dann hatte ich immer das Gefühl, dass diese vielen Schiffe, die alle auf seinen Befehl hörten, für ihn nur den Beweis lieferten, wie viel Macht er besaß und dass er etwas Besonderes war. Wenn ich dagegen sehe, wie Sie diese Schiffe betrachten, dann kommt es mir so vor, als ob Sie es als ein Privileg betrachten, ihr Kommandant zu sein.«

»Das ist auch ein Privileg«, murmelte er. »Wissen Sie, was morgen ist, Tanya? Morgen jährt sich zum hundertundersten Mal der Tag, an dem ich das Kommando über den Schweren Kreuzer Merlon übernahm. Die Verantwortung, dieses Schiff befehligen zu dürfen, löste bei mir Ehrfurcht aus. Und nun unterstehen all diese Schiffe meinem Kommando.«

»Das werden sie aber nur, wenn wir schnell genug dieses System verlassen, bevor das Hauptquartier weitere unerfreuliche Nachrichten schickt.«

Bei 0,1 Licht dauerte es fast drei Tage, ehe der Sprungpunkt nach Atalia erreicht wurde, aber eine Überraschung ereignete sich nur am zweiten Tag, als zwei zivile Schiffe ins System gesprungen kamen und Botschaften zu senden begannen, die Stunden später die Flotte erreichten.

»Kein Export von menschlichen Aggressionen!«

»Erforschung statt Eroberung!«

»Lasst unsere Steuergelder und unsere Soldaten zu Hause!«

»Ich will diesen Aussagen ja gar nicht widersprechen«, merkte Geary an. »Bloß übersehen diese Leute die Tatsache, dass wir nicht diejenigen sind, die sich mit den Aliens anlegen wollen.«

Es war für Desjani völlig untypisch, dass sie nicht sofort etwas darauf erwiderte, sondern erst nach einer Weile mit den Schultern zuckte. »Es war ein langer Krieg. Sie wissen, wie wir alle empfunden haben. Die meisten von uns haben nur weiterhin gekämpft, weil wir keine brauchbaren Alternativen erkennen konnten. Ich habe viele Freunde verloren. Ich kann verstehen, warum manche Leute andere Wege gehen wollten. Aber nur weil sie das wollten, haben sich ihnen nicht automatisch auch andere Wege geöffnet. Und das ist auch jetzt noch nicht der Fall.«

Er nickte bedächtig. »Stimmt. Im Moment hätte ich nichts gegen eine gute Alternative einzuwenden, wenn wir uns damit ersparen könnten, ans andere Ende des uns bekannten Weltalls zu springen und dann bis an die Zähne bewaffnet ins Gebiet der Aliens vorzudringen. Aber nach allem, was uns derzeit bekannt ist, hat keine Alternative bessere Aussichten zu bieten als das, was wir hier machen.«

Mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen meinte Desjani: »Ich wüsste gern, was die machen würden, wenn sie plötzlich den Aliens begegneten, die wir nach Meinung dieser Demonstranten angreifen wollen.«

»Unser Job ist es sicherzustellen, dass es genau dazu nicht kommt. Oder wenn es dazu kommt, dass die Aliens sich dann bereits von uns zu einer friedlichen Koexistenz haben überreden lassen.«

Jetzt musste sie kurz lachen. »Das heißt, wenn uns genau das gelingt, was wir wollen, dann werden diese Demonstranten vermutlich niemals begreifen, was wir in Wahrheit bewerkstelligt haben.«

»Jemand hat mich gefragt, wieso ich immer noch daran glaube, irgendetwas könnte ›gerecht‹ sein«, ließ Geary sie wissen. »Wenn ich mir so etwas vor Augen halte wie das, was Sie gerade gesagt haben, dann muss ich zugeben, dass das eine gute Frage ist. Genau genommen bin ich mir längst nicht mehr sicher, ob ich überhaupt jemals irgendetwas gesehen habe, das ich als ›gerecht‹ bezeichnen könnte.«

»Nur weil Sie das noch nicht gesehen haben, kann es aber trotzdem irgendwo da draußen existieren.«

Er dachte immer noch über diesen Kommentar nach, als der Komm-Wachhabende Bericht erstattete: »Die senden diesen Müll auf allen Frequenzen, Captain, auf den offiziellen und den inoffiziellen. Offenbar ist das jetzt der Standard für Protesttaktiken.«

Desjani schüttelte den Kopf. »Diese Idioten. Damit blockieren sie auch die Frequenzen, die für die Notfallkoordination notwendig sind. Die Leute hier im Sternensystem werden sowieso kein Verständnis für deren Haltung aufbringen, aber mit einer solchen Aktion verscherzen sie sich auch noch die letzten Sympathien. Ich hoffe, die Verteidigungsstreitkräfte von Varandal bekommen diese Truppe zu fassen.«

Einer der Wachhabenden grinste breit. »Deren Schiffe könnten unseren Phantomen nicht entkommen, Captain.«

Anstatt mit einem Lächeln zu reagieren, warf Desjani ihm einen ausdruckslosen Blick zu. »Wir eröffnen nicht das Feuer auf friedliche Demonstranten, Lieutenant. Wenn diese Leute sich auf die autorisierten Frequenzen beschränkten, könnten sie so lange senden, wie sie wollten. Wir sind die Allianz, nicht die Syndiks.«

»Ja, Ma’am«, sagte der Lieutenant hastig und bekam einen knallroten Kopf. »Das war auch nicht ernst gemeint.«

»Verstehe. Aber wer eine Feuerkraft kontrolliert wie wir, der muss aufpassen, welche Art von Witzen er macht.«

Geary nickte Desjani zu, dann überprüfte er sein eigenes Komm. »Der größte Teil meiner Kanäle ist noch frei.«

»Admiral, das liegt daran, dass unsere Transmitter leistungsfähig genug sind, um die Interferenzen von weit entfernten Schiffen zu durchdringen«, erklärte der Komm-Wachhabende.

»Gut. Dann schlage ich vor, wir ignorieren diese Typen. Sie sind nicht unser Problem, und sie erzählen uns auch nichts Neues.«

Ein paar von Varandal auf den Weg geschickte Zerstörer scheuchten noch am nächsten Tag die Demonstranten durch das System, während die Flotte den Sprungpunkt nach Atalia erreichte. Geary hielt unwillkürlich die Luft an und fragte sich, ob diese Sprünge sich für ihn wohl irgendwann einmal nach Routine anfühlen würden oder ob er für alle Zeit von der Sorge darüber heimgesucht würde, was sie am Zielpunkt in einem anderen System erwarten könnte. »Alle Schiffe, Sprung bei Zeit eins null.«

Der Blick auf die endlosen Sterne und die schwarze Nacht zwischen ihnen verschwand, an seine Stelle rückte das graue Nichts des Sprungraums. Als wollte es die Ankunft der Flotte feiern, kam ihnen eines der seltsamen Lichter entgegen, die durch den Sprungraum zuckten und huschten. Es befand sich irgendwo vor ihnen und wurde heller und heller, doch wie weit es entfernt sein mochte, das ließ sich nicht sagen, da es hier keine Anhaltspunkte gab, um Entfernungen zu bestimmen. Dennoch schien es recht nah zu sein. Plötzlich erlosch das Licht und verlor sich im trostlosen Grau.

Geary benötigte einen Moment, ehe ihm auffiel, dass jeder auf der Brücke ihn beobachtet hatte, während er auf das Licht konzentriert gewesen war. Als den anderen bewusst wurde, dass er das bemerkt hatte, widmeten sie sich schnell wieder ihren Konsolen – alle außer Desjani, die einen finsteren Blick über die Brücke wandern ließ, ehe sie sich mit betretener Miene an Geary wandte. »Jeder fragt sich nach wie vor, ob Sie sich während Ihrer hundert Jahre im Kälteschlaf wohl in einem von diesen Lichtern aufgehalten haben.«

»Wenn das der Fall gewesen wäre, sollte ich das dann nicht eigentlich wissen?«, gab er gereizt zurück. »Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nicht dort gewesen bin.«

»Sie haben mir gesagt, dass Sie sich nicht daran erinnern können.«

Er konnte sich weiter ärgern, weil es weder für die eine noch für die andere Version einen Beweis gab und auch nie geben würde, oder er konnte es akzeptieren, dass ihn diese Frage wahrscheinlich für den Rest seines Lebens verfolgen würde. »Ich schätze, vor einigen Dingen werde ich einfach nicht davonlaufen können.«

Sie nickte zustimmend. »Jedenfalls nicht völlig. Aber wenn wir erst mal das Syndik-Territorium erreicht haben, werden alle mit anderen Dingen beschäftigt sein.«

Atalia hatte sich in den wenigen Monaten, seit sie das letzte Mal in diesem System unterwegs gewesen waren, nicht allzu sehr verändert. Obwohl wichtige Neubauten nach ihrer Fertigstellung nicht gleich wieder durch Allianz-Bomben in Trümmerhaufen verwandelt wurden und obwohl die Allianz und die Syndikatwelten sich in diesem System keine regelmäßigen Gefechte mehr lieferten, gab es dort noch viel aufzuräumen. Hinzu kam, dass es sich bei Atalia nicht um ein wohlhabendes Sternensystem handelte. Selbst wenn es früher einmal wohlhabend gewesen sein sollte, war es im Verlauf von einhundert Jahren Krieg nach und nach in Armut gebombt worden.

Ein Unterschied zum letzten Besuch bestand allerdings darin, dass sich ein Kurierschiff der Allianz nahe dem Sprungpunkt aufhielt, um die Allianz sofort davon in Kenntnis zu setzen, sollte irgendjemand Atalia angreifen. Bislang war dieses Schiff alles, was die Allianz als Unterstützung zur Verteidigung des Systems bereitgestellt hatte.

Desjani saß da, das Kinn auf eine Hand gestützt, und betrachtete das Display. »Irgendwie kommt es mir so verkehrt vor, in dieses System zu kommen und nichts in die Luft zu jagen.«

»Hier gibt es nicht mehr viel in die Luft zu jagen«, meinte Geary kopfschüttelnd, während er sein Display betrachtete. »Der Krieg hat diesem System ziemlich zugesetzt.«

»Eigentlich ist es noch recht gut davongekommen.« Mit einem Mal klang ihre Stimme angespannt. »Jedenfalls im Vergleich zu anderen.«

»Ja, ich weiß.« Was er angesprochen hatte, war ein Reizthema. Zu viele Sternensysteme waren viel stärker in Mitleidenschaft gezogen worden, und zu viele von diesen waren Sternensysteme der Allianz. Bislang war es ihm gelungen, einen Bogen um die Zahl der Opfer zu machen, die der Krieg auf beiden Seiten gefordert hatte. Er wollte sich einfach nicht eine in die Milliarden gehende Zahl vor Augen führen. Tanya dagegen war wie alle anderen Angehörigen der Flotte mit solch schrecklichen Statistiken aufgewachsen; sie hatte miterleben müssen, wie diese Zahl von Jahr zu Jahr angewachsen war. Es war besser, das Thema zu wechseln. »Sie haben jetzt einen Jäger.«

»Ja, hab’ ich gesehen.« Ein Syndik-Jäger, ein Kriegsschiff, das etwas kleiner war als ein Allianz-Zerstörer, zog seine Bahnen durch das innere System. Auch wenn es keine sechs Lichtstunden entfernt gewesen wäre, stellte das kleine Schiff keine Bedrohung für die Allianz-Flotte dar. »Ich frage mich, ob es auf Befehl der Syndik-Regierung hier ist oder ob seine Crew sich mit Atalia verbündet erklärt hat.«

»Sollen sich unsere Gesandten darüber Gedanken machen«, meinte Geary.

»Gute Idee! Vielleicht können wir ja einen unserer Gesandten hier zurücklassen«, überlegte Desjani und warf einen Blick über die Schulter zu dem leeren Beobachterplatz. »Vermutlich sollte ich dankbar dafür sein, dass die beiden nicht ständig auf der Brücke sitzen und alles beobachten. Dieser General spaziert gern durchs Schiff und versucht, sich bei der Crew beliebt zu machen …«

»Er übt für seinen Politikerjob.«

»… aber die andere habe ich bislang noch gar nicht gesehen.«

Geary nickte und überlegte, dass dies noch ein Punkt war, in dem sich Riones jetziges von ihrem früheren Verhalten unterschied. »Sie war zuvor immer sehr umsichtig und berechnend, und sie hat versucht, in allen Dingen auf dem neuesten Stand zu sein. Jetzt sitzt sie die ganze Zeit über in ihrem Quartier.«

»Ich habe mich nicht beklagt«, stellte Desjani fest. »Ich hoffe, Sie machen sich keine Sorgen um sie.«

»Tanya, sie hat neue Befehle für uns mitgebracht. Wie Sie selbst gesagt haben, wissen wir nicht, welche Befehle sie ihrerseits bekommen hat.« Er beugte sich vor und verschränkte fest die Hände, als er an seine Unterhaltung mit Rione dachte. »Als ich mit ihr sprach, kurz nachdem sie an Bord gekommen war, da hatte ich das Gefühl, als versuche sie herauszufinden, wie weit sie sich am Rand einer Klippe vorbeugen kann, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Sie hatte etwas Unbekümmertes an sich, so als würde sie am liebsten von dieser Klippe springen, nur um zu wissen, wie sich das anfühlt.«

»Normalerweise«, murmelte Desjani, »würde ich ihr zurufen, dass sie es doch ruhig versuchen soll. Aber wenn die Regierung ihr noch andere Befehle gegeben hat, von denen wir nichts wissen …«

»Befehle, die die Veränderungen in ihrem Verhalten erklären würden …«

»Irgendetwas, das sie weiß?«, fragte sie. »Sie konnten ihr noch nie vertrauen. Ich hoffe, Sie sehen das jetzt ein. Vielleicht hat sie ja irgendwas verbrochen. Ich wette, sie hat ein paar tausend Leichen im Keller. Und es hat etwas damit zu tun, was man ihr aufgetragen hat. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass sie so was wie ein schlechtes Gewissen haben könnte.«

Geary machte eine unbeherrschte Geste. »Wenn es etwas rein Persönliches ist, dann ist das für sie unerfreulich, aber es dürfte auf uns keine Auswirkungen haben. Aber sie ist eine Gesandte der Regierung.«

»Müsste nicht dieser General … wie heißt er noch?«

»Charban.«

»Ja, genau. Müsste der nicht etwas dazu sagen können, ob es einen Zusammenhang zu den Befehlen für die Gesandten gibt?« Desjani verstummte, ihr Gesichtsausdruck nahm einen härteren Zug an. »Es sei denn, der Mann ist bloß eine Dreingabe. Ein Alibi für die andere Gesandte. Er ist ein General im Ruhestand. Was, wenn er nur benutzt wird?«

Wie immer gab es zu viele Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste.

Auch wenn Atalia von Varandal aus ein leicht zu erreichendes Ziel war, gab es nur wenige nützliche Optionen, um von dort in andere Systeme zu gelangen. Ein mögliches Ziel war Padronis, ein weißer Zwerg, in dessen Umgebung sich nie viele Menschen aufgehalten hatten. Sogar die kleine Orbitalstation, die früher von den Syndiks unterhalten worden war, hatte man vor Jahrzehnten aufgegeben. Ein anderer Weg führte nach Kalixa, vor noch nicht allzu langer Zeit einmal ein brauchbares Ziel, ein gutes Sternensystem mit einer zahlenmäßig großen Bevölkerung und einem Portal zum Hypernet-System der Syndikatwelten. Aber dieses Portal war kollabiert und hatte die Menschen dort ausgelöscht, allem Anschein nach auf Betreiben jener fremden Spezies, mit der Gearys Flotte nun wieder Kontakt aufnehmen sollte. Der einzige Beweis für die vormalige Existenz von Menschen in diesem System waren die Ruinen auf den Überresten der einst besiedelten Welt.

Doch von Kalixa aus konnte die Flotte nach Indras springen, wo sich noch ein intaktes Hypernet-Portal befinden sollte. Die Allianz hatte dieses Portal schon einmal benutzt, um den entscheidenden Feldzug gegen die Syndiks zu führen.

Geary stand vor dem Konferenztisch und betrachtete einmal mehr die Bilder der Captains seiner Flotte, die für eine weitere Besprechung virtuell zusammengekommen waren. Diesmal war die Flotte in einer viel kompakteren Formation unterwegs, und nur den am weitesten entfernten Schiffen würde man die Zeitverzögerung anmerken. Geary deutete auf das Sternendisplay. »Wir werden wieder über Kalixa gehen müssen.«

Die meisten Offiziere ließen Missfallen oder Unzufriedenheit angesichts der Tatsache erkennen, noch einmal diesen Stern passieren zu müssen, wo die tote Leere auf eine ganz eigenartige Weise unterstrich, dass hier Millionen Menschen ums Leben gekommen waren. Andererseits war ihnen allen klar, dass der Weg über Kalixa die einzig sinnvolle Strecke für die Flotte war.

»Von da zurück nach Indras«, fuhr er fort. »Mein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, von Indras direkt nach Midway zu springen, um unsere Reisezeit auf das absolute Minimum zu reduzieren. Allerdings führt uns unser Weg jetzt über Dunai, was für uns bedeutet, das Syndik-Hypernet bis Hasadan zu nutzen, einen kurzen Sprung nach Dunai zu unternehmen, dann nach Hasadan zurückzukehren und von da wieder ins Hypernet überzuwechseln, um den Transit nach Midway abzuschließen.« Wenn er die Vorgehensweise so erklärte wie in diesem Augenblick, wurde besonders deutlich, was für einen ärgerlichen Umweg dieser Befehl für sie alle bedeutete. »In Dunai gibt es ein Kriegsgefangenenlager der Syndiks, in dem noch schätzungsweise sechshundert von unseren Leuten sitzen. Die werden wir da rausholen.«

»Auf dem Hinweg?«, fragte Captain Vitali, aber dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Aber natürlich. Würden wir es auf dem Rückweg machen, dann müssten unsere Leute noch einige Monate mehr in Syndik-Gefangenschaft zubringen, nicht wahr?«

»Ganz genau«, stimmte Geary ihm zu. Wäre Vitalis Überlegung nicht so willkommen gewesen, hätte Geary allen Grund gehabt, verärgert zu reagieren, hatte er selbst doch Stunden darüber gebrütet, wie er diesen Umweg über Dunai erklären sollte. Immerhin war ein Teil der Flotte davon überzeugt, dass die Regierung ihm einen solchen Befehl gar nicht erteilen konnte, wenn er das nicht wollte. »Wenn wir auf dem Rückweg noch Platz für weitere Passagiere haben, werden wir einiges mehr an Gefangenen aus einem anderen System mitnehmen.« So lautete sein Befehl zwar nicht, aber es war ihm auch nicht ausdrücklich untersagt worden. »Wir rechnen nicht damit, dass uns in Dunai irgendwelcher Ärger erwartet.«

Tulev presste einen Moment lang die Lippen zusammen, dann sagte er: »Wenn die Syndiks vorhaben, irgendeinen Aspekt des Friedensvertrags hinauszuzögern, dann werden wir das ja in Dunai merken.«

»Erlaubt der Vertrag es uns, dass wir uns ohne die Zustimmung der Syndiks in deren Gebiet nach Belieben bewegen dürfen?«, fragte der Kommandant eines Schweren Kreuzers. Beim Anblick der Gesichter der anderen Offiziere ergänzte er hastig: »Nicht dass es mich kümmert, ob sie damit einverstanden sind oder nicht.«

»Ja, der Vertrag erlaubt uns das«, antwortete Geary. »Als der in aller Eile ausgehandelt wurde, hatten die CEOs der neuen Syndik-Regierung verzweifelt vor, die Allianz-Flotte nach Midway zu locken, um sie vor den Aliens zu beschützen. Also wurde uns auch das Recht eingeräumt, uns im Syndik-Territorium zu bewegen. Ich bin mir sicher, dass die Syndiks das als einmalige Sache ansahen, aber unsere Unterhändler formulierten diesen Paragraphen so, dass wir das jederzeit wiederholen dürfen.«

»Manchmal sind unsere Politiker ja doch zu etwas gut«, merkte Duellos an.

»Ich schätze, hin und wieder müssen sie auch mal irgendwas richtig machen«, ergänzte Badaya.

»Zu beachten ist«, sagte Geary, »dass der Vertrag uns erlaubt, in Syndik-Gebiet vorzudringen, solange wir das Midway-Sternensystem anfliegen oder von dort zurückkehren. Auch wenn wir einen Umweg über Dunai einlegen, sind wir auf dem Weg nach Midway. Ich betone das, weil zukünftige Missionen auch Reisen nach Midway notwendig machen – nicht etwa, weil wir dorthin wollen, sondern weil es die Vertragsformulierungen verlangen.«

Commander Neeson lachte leise. »Das wird für die Syndiks in Midway aber eine Überraschung werden.«

»Das sehe ich auch so.«

Nachdem die anderen sich aus der Konferenz zurückgezogen hatten, blieb Duellos noch sitzen und hielt den Blick auf Geary gerichtet. »Wie fühlen Sie sich?«

»Mir ging’s schon schlechter«, erwiderte er und setzte sich. »Und Sie?«

Duellos grinste ihn an. »In letzter Zeit macht mir nur eines zu schaffen: Neugier. Ich würde zu gern wissen, wie Ihr Kurzbesuch auf Kosatka verlaufen ist.«

»Meinen Sie meine Flitterwochen?«

»Ja. Wenn ich Tanya darauf anspreche, murmelt sie nur etwas vor sich hin.«

Geary hielt kurz inne und dachte an diese Zeit zurück. »Wir glaubten beide, dass sich die anderen Passagiere und die Crew prügeln würden, sobald unser Schiff das Hypernet-Portal bei Kosatka verlässt, weil jeder als Erster den Medien mitteilen wollte, dass wir an Bord sind. Oder besser gesagt: dass ich an Bord bin. Wohl aus Sorge, es könnte niemand auf diese Idee kommen, tauchte ein paar Stunden nach unserer Ankunft ein Schneller Kurier der Flotte auf und begann lautstark Befehle für mich zu senden, dass ich sofort nach Varandal zurückkehren solle. Damit musste auch dem Dümmsten klar geworden sein, dass ich mich auf Kosatka aufhielt.«

»Ich nehme an, der Kurier hat auch Ihre erneute Beförderung zum Admiral ausgeplaudert, wie?«

»Ja, das auch noch. Allerdings kam das zu spät, um noch unsere Heirat zu verhindern. Tanya hatte die Admiralsabzeichen bei sich und steckte sie mir sofort an, während sie die ganze Zeit über grummelte, dass nur ein Vollidiot den Rang eines Flottenadmirals aufgeben würde. Die lokale Regierung, die Streitkräfte und die Medien reagierten so, wie man sich das vorstellen kann: Sie waren völlig aus dem Häuschen. Tanya war fest entschlossen, ihren Eltern von unserer Heirat zu erzählen, bevor sie das aus den Medien erfuhren. Sie kennt zahlreiche Leute auf Kosatka, von denen einer auf ein Shuttle zugreifen konnte. Also kam das Shuttle uns entgegen und holte uns von Bord, während das Passagierschiff noch gut eine halbe Stunde vom orbitalen Raumhafen entfernt war, wo bereits alle auf uns warteten. Dann tauchte das Shuttle in einem schweißtreibenden Steilflug in die Atmosphäre ein, wobei wir von diversen anderen Shuttles der Regierung, des Militärs und der Medien verfolgt wurden.«

»Bestimmt haben Sie in dem Moment die vergleichsweise ruhigen Verhältnisse vermisst, die mitten in einer Schlacht herrschen«, meinte Duellos grinsend.

»Das war ja bis dahin noch harmlos. Wir erreichten eine sekundäre Landebahn, ohne eingeholt zu werden. Es war eine Landebahn, die von den Medien nicht ausspioniert wurde. Da wartete ein anderer von Tanyas alten Freunden mit einem Privatfahrzeug auf uns. Wir stiegen ein, und er raste mit uns in die Stadt, wo er seine Gefechtstauglichkeit unter Beweis stellte, als er sich durch den herrschenden Verkehr schlängelte. Wir schafften es zu dem Hochhaus, in dem Tanyas Eltern leben – eines von diesen Hochsicherheitsgebäuden – sprangen aus dem Wagen und rannten zur Tür. Tanya tippte auf ein Tastenfeld neben der Tür und rief aufgeregt: ›Sie haben den Zugangscode geändert! Mom, Dad, lasst uns rein!‹«

»So was kenne ich nur aus Filmen«, warf Duellos ein.

»Wir stehen da und hören schon, wie sich von allen Seiten Sirenen nähern. Tanya überlegt schon, ob ihre Eltern vielleicht eine Extraschicht arbeiten und noch gar nicht zu Hause sind, aber dann endlich meldet sich ihre Mutter und fragt: ›Was machst du auf Kosatka? Und wer ist ›uns‹? Wer ist das da bei dir?‹ Und Tanya sagt: ›Mein Ehemann.‹« Geary erwiderte Duellos’ breites Grinsen. »Eine Ewigkeit kommt von ihrer Mutter keine Reaktion, dann sieht sie wieder Tanya an und sagt: ›Ich dachte, du bist mit diesem Schiff verheiratet.‹ Sofort wird Tanya wütend und entgegnet: ›Es heißt Dauntless, Mutter, nicht dieses Schiff. Und jetzt lass uns endlich rein!‹ Wir werden reingelassen und fahren hinauf zu dem Stockwerk, in dem ihre Eltern wohnen. Ihre Mutter öffnet die Tür, sieht mich an und erstarrt, als sie mich erkennt. Schließlich schaut sie wieder Tanya an und fragt ganz ruhig: ›Du willst wohl, dass ich tot umfalle, wie?‹ Tanya verneint, und ihre Mutter legt nach: ›Worauf hast du dann gehofft? Auf einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt?‹«

Duellos nickte nachdenklich. »Jetzt wird mir klar, nach wem in der Familie Tanya kommt.«

»Natürlich ist ihre Mutter außer sich, dass wir auf dem Schiff geheiratet haben. Sie meint, der ganze Planet hätte die Zeremonie sehen wollen, weil es das größte Ereignis auf Kosatka seit der königlichen Hochzeit vor hundertzehn Jahren gewesen wäre. Daraufhin fragt Tanya, ob ihre Mutter will, dass sie einen Schlaganfall bekommt. Ich versuche, die Gemüter zu beruhigen, indem ich beiläufig erwähne, dass ich bei der Hochzeit damals teilgenommen habe. Aber das trägt natürlich nicht dazu bei, mich als einen ganz normalen Matrosen darzustellen, den ihre Tochter geehelicht hat.

Zu dem Zeitpunkt haben alle dank der Überwachungskameras überall in der Stadt herausgefunden, wohin wir uns abgesetzt haben, und wir werden in dem Hochhaus mehr oder weniger belagert. Tanyas Vater wird von einer Eskorte ins Haus gebracht, ohne eine Ahnung davon, was eigentlich los ist. Als wir kurz darauf in der Wohnung zusammensitzen und uns unterhalten, um uns gegenseitig besser kennenzulernen, findet sich draußen so gut wie jeder Würdenträger ein. Das lokale Militär muss mit tragbaren Elementen eine befestigte Absperrung errichten, weil sich inzwischen immer weiter herumgesprochen hat, wer da auf Kosatka eingetroffen ist. Die Menschenmenge …« Geary wurde ernst. »Die Vorfahren mögen mir beistehen, Roberto. Diese Massen! Egal wo ich aufgetaucht bin, überall waren die Medien und die Menschenmengen!«

»Die zweifellos ›Black Jack, Black Jack‹ skandiert haben.«

»O ja. Ich glaube, da ist mir erst so richtig bewusst geworden, welche Gefahr ich tatsächlich für die Regierung und für die ganze Allianz darstelle. Kein Mensch sollte so beliebt sein und so verehrt werden. Schon gar nicht ich.«

Duellos nickte nach wie vor amüsiert. »Sie können von Glück reden, dass Sie nicht miterlebt haben, was sich auf meiner Heimatwelt abgespielt hat. Die Leute wollten mich sehen und mich anfassen, weil ich an Ihrer Seite gedient habe. Die lebenden Sterne allein wissen, womit sich Jane Geary konfrontiert gesehen hat, als sie Ihrer Heimatwelt Glenlyon einen kurzen Besuch abgestattet hat.«

»Das hat sie getan?« War das der Grund für ihr verändertes Verhalten? »Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Nein.« Duellos bedachte ihn mit einem fragenden Blick. »Dann hat sie Ihnen auch nichts davon gesagt? Hm, aber ihr Verhalten als Schiffskommandantin seit ihrer Rückkehr scheint mir etwas ungewöhnlich zu sein.«

»Ja.« Nachdem er das nun wusste, konnte er Jane vielleicht dazu bringen, ihm den Grund für ihr verändertes Auftreten zu nennen. »Tja … die Menschenmengen. Überall nur Menschen. Tanya merkte mir an, wie sehr mich das störte, und sie war auch nicht allzu begeistert davon, dass man sie bei den wenigen Malen, bei denen sie erwähnt wurde, ›Black Jacks neue Ehefrau‹ nannte, aber nicht Captain Tanya Desjani. Damit sich die lokalen Behörden nicht vor den Kopf gestoßen fühlten, mussten wir an einigen offiziellen Empfängen teilnehmen. Aber nach ein paar Tagen war ich froh, meine Befehle vorschieben zu können, um den Planeten hinter mir zu lassen.«

»Man sollte meinen«, überlegte Duellos, »dass Ihr offensichtliches Unbehagen angesichts dieser Bewunderung beruhigend auf die Regierung hätte wirken müssen.«

Geary zuckte mit den Schultern. »Vielleicht fürchtet die Regierung ja, ich könnte mich daran gewöhnen.«

Die Entfernung zwischen dem Sprungpunkt von Varandal und dem nach Kalixa betrug vier Lichtstunden, was einen vierzigstündigen Durchflug des Systems bedeutete, wenn die Flotte ihre Geschwindigkeit beibehielt. Da die primäre bewohnte Welt sich bei der Ankunft auf der vom Stern abgewandten Seite befand, würden die Behörden erst in mehr als fünf Stunden das Eintreffen der Allianz-Flotte feststellen. Aus Höflichkeit hatte Geary eine kurze Nachricht übermittelt, um mitzuteilen, dass die Flotte das System lediglich durchquerte, aber anderswo zu tun hatte. Ehe eine Antwort auf diese Mitteilung eingehen konnte, mussten erst noch einmal fünf Stunden vergehen.

Geary hörte zu und verspürte ein wachsendes Unbehagen, als die neuen Herrscher von Atalia sich regelrecht überschlugen, um die Flotte insgesamt und Admiral Geary im Besonderen zu begrüßen. Es war nicht zu überhören, dass sie Angst vor ihm hatten, dass sie ihn brauchten und dass sie von der Flotte vor ihren ehemaligen Herren der Syndikatwelten beschützt werden wollten. Es war dieses kaum verhüllte Flehen, das Geary so unglücklich machte. Ich bin nicht Herr über diese Flotte. Die oberste Autorität liegt bei meiner Regierung. Verstehen sie das nicht? Ich kann nicht einfach tun, was sie wollen und brauchen. Die Allianz hat hier ein Kurierschiff stationiert, und auch wenn das nicht unmittelbar etwas zur Verteidigung des Systems beitragen kann, ist es doch ein Symbol für das Interesse der Allianz am Schicksal der Menschen hier. Oder zumindest für das Interesse der Allianz zu erfahren, was sich hier tut. Das mag einen entschlossenen Angreifer nicht aufhalten, aber es ist zumindest etwas.

Nachdem er eine Erwiderung mehrere Stunden vor sich hergeschoben hatte, schickte er eine weitere Nachricht und ließ die Herrscher von Atalia wissen, dass seine Flotte zu einer Mission in einem anderen System unterwegs war, er aber die Bitte um weitere Unterstützung an die Allianz-Regierung weiterleiten werde. Nächstes Mal sollte ich vielleicht die Gesandten mit den Syndiks beziehungsweise ehemaligen Syndiks reden lassen.

Von einer weiteren Nachricht an Geary abgesehen, mit der ihm eine gute und sichere Reise sowie eine baldige Rückkehr gewünscht wurde, ereignete sich während des Flugs durch das System nichts mehr. Mit dem Sprung in Richtung Kalixa erwachte eine andere Art von Angst, ein eindringliches Unbehagen vor dem Wiedersehen mit dem verwüsteten Sternensystem. Er fragte sich, ob der Anblick diesmal nicht ganz so entsetzlich sein würde.

Aber er war genauso entsetzlich.

Das Verlassen des Sprungraums bei Kalixa kam ihm sonderbar abrupt vor, als hätte unter dem Zusammenbruch des Hypernet-Portals sogar die Struktur des Raums gelitten. Nach einer kurzen Betrachtung der Situation wurde erkennbar, dass die Intensität des Sterns weiter extrem schnell fluktuierte. Die Stürme hatten in der dünnen Atmosphäre ein wenig nachgelassen, die alles war, was der vormals bewohnten Welt noch geblieben war. Dadurch war es auch leichter, die leblose und fast völlig ausgetrocknete Landschaft zu sehen. Männer und Frauen auf der Brücke der Dauntless murmelten Gebete vor sich hin, während ihre Blicke auf der vollständigen Zerstörung ruhten. Geary ging davon aus, dass sich in diesem Moment auf allen Schiffen der Flotte die gleichen Szenen abspielten.

Er ließ die Flotte auf 0,2 Licht beschleunigen, damit sie nur die Hälfte der Zeit für die Durchquerung des Systems benötigten. Das erhöhte zwar den Verbrauch der Brennstoffzellen, aber es half, die Moral seiner Leute nicht zu tief sinken zu lassen.

Als sie das letzte Mal in Indras gewesen waren, hatte es dort keine Probleme gegeben. Und sofern das Hypernet-Portal noch existierte, würde sich die Flotte bei diesem Stern nicht lange aufhalten müssen. »Meinen Sie«, wandte Geary sich an Desjani, »wir sollen eine der Kopien des Hypernet-Schlüssels der Syndiks ausprobieren?« Das Original an Bord der Dauntless war mit der größten Sorgfalt kopiert und vervielfältigt worden, aber als die Flotte aufbrach, waren nur noch wenige Exemplare verfügbar gewesen. Einer war auf der Warspite installiert worden, der andere auf der Leviathan.

Desjani hob kurz die Schultern. »Wenn Sie wollen. Die Kopien sollten einwandfrei arbeiten. Aber ich rate davon ab.«

»Wieso?«

»Die Syndiks dürften in der Lage sein festzustellen, welches Schiff an einem Portal einen Schlüssel benutzt hat. Sie wissen, dass die Dauntless über einen Schlüssel verfügt, deshalb wäre es vielleicht gut, ihnen nicht anzuzeigen, welche Schiffe noch im Besitz eines Schlüssels sind.«

Er nickte zustimmend. Es herrschte zwar Frieden, aber es würde noch sehr lange dauern, bis eine Seite der anderen vertraute.

Indras und Hasadan waren früher einmal militärische Ziele gewesen, feindliche Sternensysteme, die einen Angriff wert waren. Inzwischen handelte es sich nur noch um Zwischenstationen, um Systeme des ehemaligen Gegners, der nur zusehen konnte, wie die Allianz-Flotte ihre Kriegsschiffe an ihm vorbeiziehen ließ. Der Hypernet-Transit von Indras nach Hasadan war … langweilig, entschied Geary. Der Sprungraum fühlte sich wenigstens noch wie ein Raum an, wenn es auch ein Raum war, in dem es außer mysteriösen Lichtern nichts zu sehen gab. Die vermittelten aber immerhin noch den Eindruck, dass dort etwas Unbekanntes existierte, dem die Menschheit womöglich niemals auf den Grund würde gehen können. Der Sprungraum war ein Ort, an dem die Menschen nichts verloren hatten, und je länger man sich dort aufhielt, umso unbehaglicher fühlte man sich.

Aber den Hypernet-Transit eines Raumschiffes empfand er als Flug im Nirgendwo, ein Gefühl, das ihm Captain Cresida einmal zu erklären versucht hatte, bevor ihm selbst die Erfahrung zuteil wurde. Unsere überzeugendste Theorie geht dahin, dass das Schiff mit Blick auf das umgebende Universum im Hypernet selbst in eine Wahrscheinlichkeitswelle umgewandelt wird, die tatsächlich keinen Raum belegt. Sie waren buchstäblich im Nichts.

Ein Nichts, das keinerlei Verlockungen zu bieten hatte, wenn man von der Tatsache absah, dass man im Hypernet erheblich schneller von einem Punkt zum anderen gelangen konnte als im Sprungraum. »Möchte wissen, wie sich der Sprungraum für die Aliens anfühlt«, überlegte Geary laut. »Haben die auch den Eindruck, sich im Nichts zu befinden?«

Desjani, die neben ihm durch einen der Korridore der Dauntless ging, setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Interessante Frage. Wie fühlt sich das Nichts überhaupt an? Vielleicht sollten Sie das an unsere Experten weiterleiten, damit die auch mal was zu tun haben.«

Zum Glück war es von Hasadan, wo die Flotte durch das dortige Hypernet-Portal in den Normalraum zurückkehrte, bis nach Dunai nur noch ein kurzer Sprung.

Dunai war vom menschlichen Blickwinkel aus betrachtet ein durchaus brauchbares Sternensystem, aber es hatte nur wenig Besonderes zu bieten, was wohl auch der Grund dafür war, dass es kein Hypernet-Portal erhalten hatte. Drei innere Planeten, von denen der zweite in einer Entfernung von gut neun Lichtminuten um die Sonne kreiste, also auf einem Orbit, der Welten für Menschen üblicherweise bewohnbar machte. Weit draußen zogen drei Gasriesen ihre Bahnen, und ganz am Rand fanden sich zwei gefrorene Zwergplaneten, die umeinander rotierten, während sie in einem Abstand von über viereinhalb Lichtstunden ihren Stern umkreisten.

Die bewohnbare Welt machte einen guten Eindruck, Ressourcen waren im System genügend vorhanden, und zwischen den Planeten und ihren Orbitaleinrichtungen herrschte reger ziviler Flugverkehr, der Rohstoffe, fertige Produkte, Lebensmittel und Passagiere beförderte. Die Gesamtbevölkerung belief sich auf einige hundert Millionen Menschen. Aus menschlicher Sicht ein gutes, aber eben kein herausragendes Sternensystem.

»Von hier aus betrachtet sieht es gar nicht so übel aus«, urteilte Desjani, als die Flottensensoren den zweiten Planeten des Sterns Dunai analysierten. »Üblicherweise scheinen die Syndiks ihre Kriegsgefangenen auf weniger angenehmen Welten untergebracht zu haben.«

»Das ist die Erfahrung, die wir gemacht haben«, stimmte Geary ihr zu und betrachtete dabei sein eigenes Display. Diverse Klimazonen, einige davon angenehm gemäßigt, genügend Wasser, eine Atmosphäre dicht an Standardwerten für eine bewohnbare Welt, zahlreiche gepflegte größere und kleinere Städte, umgeben von großzügigen unberührten Regionen. »Es ist schön da unten.«

»Zu schön«, murmelte sie.

»Sir?« Vor Geary hatte sich ein virtuelles Fenster geöffnet, aus dem ihn sein Geheimdienstoffizier Lieutenant Iger ansah. »Wir haben die Existenz des Gefangenenlagers bestätigen können und seine Position bestimmt.« Ein Leuchtpunkt tauchte auf der Karte auf, die auf der anderen Seite in der Luft stand.

Geary merkte, dass er eine finstere Miene ziehen musste, da er sah, wie sich bei Iger Unsicherheit regte, als überlege er, ob er etwas Verkehrtes gesagt haben mochte. »Gute Arbeit, aber ist dieser Standort nicht ein wenig überraschend? Diese Welt macht einen sehr lebenswerten Eindruck, und dieses Lager befindet sich mitten in einem angenehmen Gebiet, während andere Lager die Gefangenen mit rauen und unwirtlichen Lebensbedingungen konfrontieren.«

»Ja, Sir, aber ich glaube, die Bilder, die wir vom Lager bekommen, dürften das erklären.« Ein weiteres Fenster öffnete sich, das die Draufsicht auf eine Ansammlung von Gebäuden zeigte – allerdings aus sehr großer Höhe, schließlich lagen zwischen ihnen und den optischen Sensoren der Flotte etliche Millionen Kilometer.

Er zog die Augenbrauen noch weiter zusammen, als er die gut erhaltenen Bauwerke sah, die, nach ihrer Anordnung zu urteilen, Kasernen sein mussten. Drei Zäune umgaben die gesamte Anlage auf einer Breite von gerade mal zehn Metern, verfügten aber nur über ein paar Wachtürme. Der Großteil des Geländes innerhalb dieser Umzäunung war begrünt, während sie von anderen Lagern gewöhnt waren, dass das Areal komplett asphaltiert oder gar nicht befestigt und mit schroffen Steinen übersät war. Zudem konnte er ein paar Bäume erkennen. Gut erhaltene Straßen führten ins Lager hinein und zu mehreren großen Parkplätzen. »Sieht so aus, als würde man die Gefangenen recht häufig aus dem Lager bringen.«

»Wir vermuten, dass das auf einer täglichen Basis geschieht«, erläuterte Iger. »Wie Sie sehen, ist das Lager nicht weit von der Stadt entfernt. Nach dem Grundriss der Anlage zu urteilen und anhand einiger Syndik-Nachrichten, die wir belauschen konnten, werden unsere Leute als Arbeiter eingesetzt. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, allerdings haben die Syndiks ihre Kriegsgefangenen üblicherweise als Zwangsarbeiter im Bergbau oder im Ackerbau benutzt, weit entfernt von allen Städten.«

Geary lehnte sich zurück und trommelte mit den Fingern auf seine Armlehne. »Dann meinen Sie nicht, dass man sie zu schwerer Zwangsarbeit verpflichtet hat?«

»Das ist trotzdem möglich, Sir. Beim Straßenbau zum Beispiel. Aber denkbar ist auch, dass sie Gebäude reinigen oder ähnliche Arbeiten verrichten mussten. Wenn wir die ehemaligen Gefangenen an Bord geholt und befragt haben, werden wir Genaueres darüber wissen, ob und wie sie misshandelt wurden.«

Der Begriff »misshandelt« kam Iger wie selbstverständlich über die Lippen. Geary wusste wegen der Arbeitslager, die sie bislang gesehen hatten, dass es durchaus der richtige Begriff sein konnte. Dennoch sah dieses Arbeitslager viel angenehmer aus als alles, was sie gewöhnt waren. Es war zwar eindeutig ein Lager für Kriegsgefangene, aber es schien nicht als die Hölle auf Erden angelegt worden zu sein. »Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie noch irgendetwas herausfinden.«

Während sich Igers Fenster schloss, lehnte sich Desjani seufzend nach hinten. »Hier gibt es nicht viel, was Grund zur Sorge bieten sollte. Kein Kriegsschiff weit und breit, nur Billigkorvetten in dieser Werft, die um den zweiten Planeten kreist.«

Geary tippte auf das Symbol für die Korvetten und las, was die Sensoren der Flotte über diese kleinen Schiffe herausgefunden hatten. »Unsere Systeme vermuten, dass man die Korvetten ausgeschlachtet hat, allerdings nicht um sie zu verschrotten, sondern um sie mit neuen Systemen auszustatten.«

»Vielleicht haben sie hier ja auch einen Captain Smythe.«

»Teilweise fertiggestellte Hüllen für Kriegsschiffe«, stellte Geary fest und zeigte auf andere Orbitalwerften. »Drei Schiffe von Jäger-Größe dort, ein Leichter Kreuzer da. Alle weit davon entfernt, eingesetzt zu werden.«

»Da scheint sich jemand seine eigene kleine Flotte zusammenzubauen«, merkte Desjani an. »Die Hüllen dieser Jäger weichen von den Syndik-Standards ab. Vielleicht werden sie nicht im Auftrag der Zentralregierung gefertigt.«

Das war eine interessante Feststellung. »Macht sich der lokale CEO darauf gefasst, dieses Sternensystem verteidigen zu müssen, oder bereitet er sich darauf vor, andere Sternensysteme unter Druck zu setzen? Vielleicht durch Erpressung, die er durch Feuerkraft untermauert, vielleicht auch durch eine offene Ausweitung seiner Kontrolle.«

»Kümmert es uns, was sich Syndiks untereinander antun?«, fragte Desjani.

»Nein. Jedenfalls nicht bei solchen Dingen. Wenn wir Augenzeuge eines Angriffs werden, dann könnten wir eingreifen, auch wenn ich nicht weiß, ob wir das überhaupt wollen würden. Immerhin sind unsere Befehle für solche Angelegenheiten äußerst vage formuliert.«

»Diese im Bau befindlichen Schiffe wären leichte Ziele«, überlegte sie. »Vermutlich würden wir den umliegenden Sternensystemen einen Gefallen tun, wenn wir die Dinger in kleine Stücke schießen.«

Er grinste sie schief an. »So sehr mich Ihre neuentdeckte humanitäre Seite auch beeindruckt, herrscht jetzt zwischen uns und den Syndiks Frieden. Das bedeutet, wir müssten schon gewichtige Gründe anführen, um irgendetwas in die Luft zu jagen, das den Syndiks gehört.«

»Na, wenn Sie mit gewichtigen Gründen ankommen«, gab Desjani zurück, »dann frage ich Sie, ob so etwas nicht zu einem echten Problem werden könnte. Je länger wir durch das Gebiet der Syndiks reisen, was meines Wissens noch recht lange und recht häufig der Fall sein wird, und je stärker die Syndik-Regierung die Kontrolle über die Syndikatwelten verliert, was meines Wissens weiter anhalten oder sich sogar verschlimmern wird, umso wahrscheinlicher wird es, dass wir in einem Sternensystem einmal mit einem sich abspielenden Gefecht konfrontiert werden. Was machen wir, wenn da ein Syndik-System ein anderes angreift? Angenommen, die Angegriffenen bitten uns um Hilfe, was sagen wir dann? Und was ist, wenn die Angreifer von der Syndik-Regierung geschickt worden sind und sie ihre eigenen Leute bombardieren, um die Kontrolle über das betreffende System zurückzuerlangen? Sollen wir dann einfach vorbeifliegen und so tun, als ob gar nichts los ist?«

Er ließ sich nach hinten sinken und trommelte wieder mit den Fingern auf die Armlehne, während er nachdachte. »Unsere Befehle machen um diese Frage einen großen Bogen. Man kann sie so auslegen, dass wir die Erlaubnis oder sogar die Pflicht haben einzugreifen. Sie lassen sich aber auch so deuten, dass wir wahlweise besser nicht eingreifen sollten oder es überhaupt nicht dürfen.«

»Mit anderen Worten: Weder die Regierung noch das Hauptquartier hatte eine Ahnung, wie man sich verhalten sollte, also hat man Ihnen die Entscheidung überlassen. Ich bin schockiert! Wirklich schockiert!«

Geary nickte. »Weil sich alles auf die Aliens konzentriert und weil ich das Syndik-Territorium so schnell wie möglich durchqueren will, um solche Situationen hoffentlich zu vermeiden, habe ich bislang noch gar nicht versucht, dieses Problem ernsthaft zu analysieren. Unser Handeln wird ganz entscheidend von den jeweiligen Umständen bestimmt. Vielleicht kennen ja unsere Gesandten eine Antwort auf diese spezielle Frage, die sie uns nur noch nicht mitgeteilt haben.«

»Wollten sie uns diese Antwort liefern, bevor wir das Feuer eröffnen, oder erst wenn es bereits passiert ist?«, überlegte Desjani.

»Ich werde sie fragen. Aber erst, nachdem wir das hier erledigt haben.« Geary tippte auf die Komm-Kontrolle, um eine schiffsinterne Verbindung herzustellen. Dabei öffneten sich zwei Fenster, die Rione und Charban zeigten. »Madam Gesandte, General Charban, nehmen Sie bitte mit dem Senior-CEO der Syndiks in diesem System Kontakt auf und treffen Sie alle erforderlichen Vorkehrungen, damit wir unsere Leute aus dem Gefangenenlager holen können. Wir benötigen keine Unterstützung vonseiten der Syndiks, außer dass sie uns Zugang zu ihnen verschaffen und alle wichtigen Aufzeichnungen aushändigen.«

»Wir sind dabei, Admiral«, verkündete Charban in einem Tonfall, als wäre er noch im aktiven Dienst und würde mit Geary an einer militärischen Operation zusammenarbeiten. »Der Friedensvertrag verpflichtet sie dazu, ihre Gefangenen zu entlassen, ohne irgendwelche Bedingungen daran zu knüpfen. Von daher sollte es keinerlei Probleme geben.«

Rione nickte nur wortlos, um zu bestätigen, dass sie verstanden hatte. Ihr Blick war gesenkt.

»Danke«, sagte Geary. »Sollten sich Probleme ergeben, lassen Sie es mich umgehend wissen.«

»Admiral«, rief der Steuerwachhabende ihm zu. »Wenn Sie beabsichtigen, 0,1 Licht beizubehalten, dann empfehlen die Systeme für einen Abfangkurs zum zweiten Planeten eine Kurskorrektur nach Steuerbord um eins fünf Grad und nach unten um null vier Grad.«

Geary überprüfte die Systemempfehlung und betrachtete die lang gestreckte Kurve, die die Flotte auf ihrem Weg durch das Sternensystem beschreiben würde. Ihr Ziel war ein in Bewegung befindliches Objekt, weshalb die eigentlich zurückzulegende Strecke deutlich länger war als die momentane Entfernung zwischen Flotte und Planet. »Etwas weniger als sechs Lichtstunden, bis wir in einen Orbit um diese Welt einschwenken können.«

»Jawohl, Sir. Zwei Tage und elf Stunden Reisezeit bei 0,1 Licht.«

»Also gut.« Er wandte sich an die Flotte. »An alle Einheiten: Bei Zeit zwei null drehen Sie eins fünf Grad nach Steuerbord und null Grad nach unten. Behalten Sie die gegenwärtige Formation und Geschwindigkeit bei.«

Zweieinhalb Tage Reisezeit bis zum Planeten, vielleicht ein halber Tag in dessen Orbit, um die Kriegsgefangenen an Bord zu holen, dann weitere zweieinhalb Tage, um zum Sprungpunkt zurückzukehren. Dazu noch ein wenig Reserve für Unvorhergesehenes. Also sechs Tage. Die Regierung und das Hauptquartier wollte nicht, dass ich noch vierzehn Tage länger im Varandal-System bleibe, aber diese kleine Rettungsaktion darf unsere Mission ins Gebiet der Aliens gern um eine Woche verzögern. Dazu die Transitzeit durch Hasadan und die Zeit im Sprungraum, um Dunai zu erreichen und wieder zu verlassen, und wir kommen bei mehr als zwei Wochen Verzögerung raus. Aber wenigstens tun wir etwas Gutes, indem wir diese Gefangenen mitnehmen, um sie nach Hause zu bringen.

Die beiden Gesandten hatten ihr Pokerface aufgesetzt, als sie sich bei Geary meldeten. Zehn Stunden waren inzwischen vergangen, seit die Flotte Dunai erreicht hatte, gut vierzig Stunden lagen noch vor ihnen, ehe sie diese primäre Welt erreichen würden. »Sie hatten uns doch gebeten, dass wir uns bei Ihnen melden, wenn sich Probleme ergeben sollten«, sagte Rione und ließ dabei ein wenig von ihrem früheren Feuer erkennen.

»Und welche Probleme haben sich ergeben?«

»Vielleicht«, schlug Charban vor, »sollten Sie sich die Antwort ansehen, die wir vom zuständigen Syndik-CEO erhalten haben. Dunai ist übrigens offiziell immer noch den Syndikatwelten gegenüber loyal.«

Ein weiteres Fenster öffnete sich vor Geary, einen Moment später tauchte das Bild des Syndik-CEO auf, der auf irgendwie erschreckende Weise fast genauso aussah wie jeder andere Syndik-CEO, den er je zu Gesicht bekommen hatte. CEOs wurden nicht geklont, und bei genauem Hinsehen konnte man durchaus Unterschiede ausmachen, aber sie alle trugen identisch geschnittene Anzüge aus dem immer gleichen Stoff, der Haarschnitt war zum Verwechseln ähnlich, und jeder von ihnen stellte diesen eingeübten, nichtssagenden Gesichtsausdruck zur Schau. Es wirkte, als habe man eine große Bandbreite von unterschiedlichsten Menschen in eine Form gepresst, die ihnen fast alles Individuelle raubte.

Der Syndik-CEO präsentierte das standardmäßige und erkennbar unsichere Lächeln, das zu beherrschen sehr viel Übung erfordern musste. »Wir freuen uns, mit den Allianz-Streitkräften in Kontakt zu treten, die entsprechend dem von den Syndikatwelten unterzeichneten Vertrag agieren. Da die Gefangenen eine beträchtliche Belastung für unsere Welt darstellten, die wir gern auf uns genommen haben, um zu gewährleisten, dass diese Gefangenen ein Dach über dem Kopf und genug zu essen bekamen und darüber hinaus medizinisch angemessen versorgt waren, gehen wir davon aus, dass die Allianz bereit ist, uns für die Kosten zu entschädigen, die uns entstanden sind. Wir sind davon überzeugt, dass die Allianz nicht vor ihren eigenen Verpflichtungen zurückschrecken wird. Sobald wir uns auf eine Entschädigungssumme geeinigt haben, werden wir die Einzelheiten für die Überstellung der Gefangenen besprechen. Ich habe dieser Nachricht die entsprechenden Buchhaltungsunterlagen angefügt und eine vorläufige Summe genannt, damit wir einen Ansatzpunkt für unsere Verhandlungen haben.«

Das Fenster verschwand, Geary sah wieder zu Rione. »Und wie viel?«

Sie nannte ihm eine Summe, die ihn nur ungläubig auf das Fenster starren ließ. »Es ist eine übliche Verhandlungstaktik der Syndiks, mit einer Forderung zu beginnen, die die andere Seite niemals akzeptieren wird. Dann gehen sie mit ihren Bedingungen runter«, erklärte Rione, während Charban ihr zuhörte. »Er geht nicht davon aus, dass wir damit einverstanden sind, aber er rechnet damit, dass wir uns mit einer niedrigeren Summe anfreunden können.«

»Dann irrt er sich aber. Selbst wenn die Flotte auf solch einen Betrag zugreifen könnte, würde ich mich damit niemals einverstanden erklären.«

»Dann werden wir den Syndik-CEO darüber informieren«, entgegnete Rione, »und ihm sagen, dass wir über Geld nicht verhandeln. Allerdings wird er sehr wahrscheinlich darauf beharren, weil sich die Gefangenen auf seiner Welt befinden.«

»Obwohl der Vertrag etwas anderes sagt?«

»Ja.«

»In dem Fall«, folgerte Geary, »sollten Sie ihn vielleicht daran erinnern, dass ich mit einer ganzen Flotte von Kriegsschiffen in sein System gekommen bin.«

Charban legte skeptisch die Stirn in Falten. »Wir müssen vorsichtig sein, was eine Gewaltandrohung von unserer Seite angeht.«

»Ich bin davon überzeugt, dass zwei Gesandte, die im Auftrag des Großen Rats der Allianz handeln, in der Lage und willens sind, die richtige Formulierung zu finden.«

Charban stutzte bei diesen Worten, als sei er sich nicht sicher, ob ihn Gearys Aussage verärgern sollte oder nicht. Rione dagegen lächelte ironisch und erwiderte: »Wir werden sehen, was wir tun können, Admiral.«

Desjani wartete mit einer Bemerkung, bis die Bilder von Charban und Rione verschwunden waren, dann stöhnte sie leise auf. »Dieser arrogante kleine CEO erwartet doch tatsächlich, dass wir auch noch dafür bezahlen, dass er unsere Leute durchgefüttert hat!« Sie warf Geary einen bittenden Blick zu. »Können wir jetzt was in die Luft jagen? Nur um ihm zu zeigen, dass wir nicht mit uns spaßen lassen?«

»Tut mir leid«, gab er zurück »Noch nicht.«

»Frieden ist Mist«, grummelte sie.

Aber ihre Frage hatte ihn auf eine Idee gebracht. »Das heißt ja nicht, dass wir ihm nicht demonstrieren können, auf welche Weise wir etwas in die Luft jagen werden, wenn er uns weiter davon abhält, unsere Leute an Bord zu holen.«

Sie zog fragend eine Braue hoch. »Vielleicht ein Warnschuss?«

Geary hielt kurz inne. »Mehr ein Demonstrationsschuss, der irgendein wertloses Grundstück trifft.«

»Wir müssen schon etwas treffen, das ihnen was bedeutet.«

»Das geht nicht«, beharrte er. »Nicht solange es keine weitere Provokation von seiner Seite gibt. Ich lasse dem CEO durch unsere Gesandten mitteilen, dass wir einen Waffentest durchführen werden. Dann werden wir ja sehen, ob er begreift.«

»Ein Waffentest, der auf nichts von Wert zielt. Aber wenigstens werden diese beiden Gesandten etwas tun, um ihr Gehalt zu rechtfertigen«, meinte Desjani gerade laut genug, dass er sie noch verstehen konnte. Sichtlich verärgert starrte sie stur auf ihr Display.

Sie musste irgendwie besänftigt werden, und es gab eine Sache, mit der man Tanya Desjanis Laune immer heben konnte. »Wie wär’s, wenn Sie ein Ziel auswählen? Ich lasse Sie dann wissen, wann Sie den Stein abfeuern können.«

»Den Stein? Nur einen einzigen?«

»Also gut, zwei Steine«, lenkte er mit einem Seufzer ein.

»Drei.«

»Meinetwegen auch drei. Aber sorgen Sie dafür, dass sich in der Nähe Ihrer Ziele keine Syndiks aufhalten.«

»Jawohl, Sir.«

»Tanya …«

»Schon gut. Aber ich suche Ziele aus, die genügend Syndiks gut sehen können, damit sie sich Sorgen darüber machen, wo die nächste Salve einschlagen wird.«

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