Sechstes Buch. Das Urteil des Herrn

Ich bin der Ansicht, Sir, daß unsere Leute des Krieges müde sind, sich geschlagen fühlen und nicht mehr kämpfen wollen. Unser Land ist am Ende.

General Joe Johnston zu Jefferson Davis, nach Appomattox, 1865

118

Mr. Lonzo Perdue, Postangestellter und in dritter Generation Einwohner von Richmond, fühlte sich vom Elend verfolgt. Eine Menge Anzeichen deuteten darauf hin, daß der Todeskampf der Konföderation bereits begonnen hatte, was gleichbedeutend war mit dem Todeskampf der Stadt.

Es war Januar, nach Lonzo Perdues Erinnerung der kälteste Januar seit Menschengedenken. Noch mürrischer als gewöhnlich betrat er an diesem Morgen Goddin Hall, das vierstöckige Backsteingebäude gerade unterhalb vom Capitol Square. Salvarini, sein Kollege, hatte bereits den Inhalt zweier großer Taschen mit eingegangener Post auf den Arbeitstisch gekippt, die in andere Kisten und Taschen sortiert werden mußte.

Sie machten sich über die Briefe her, geschrieben auf Packpapier, Tapetenpapier, Zeitungspapier – auf jedem nur vorstellbaren Papier.

»Die Adressen werden auch jeden Tag vager«, beklagte sich Mr. Perdue. »Schau dir das an.« Er hielt einen Umschlag hoch, der sich dadurch unterschied, daß er genau das war – ein richtiger Briefumschlag, versiegelt und mit kühner Handschrift versehen. Der Absender hatte sich in der oberen Ecke als J. Duncan, Esq. identifiziert. Die Anschrift lautete: Maj. Chas. Main, Hampton’s Cavalry Corps, C.S.A.

Salvarini nickte. »Außerdem ist keine Briefmarke drauf.«

»Ja, das hab’ ich gesehn«, knurrte Mr. Perdue. »Möchte wetten, irgendein verdammter Yankee hat das mit illegalem Kurier geschickt und der Kurier hat sich die Marke geschenkt, als er den Brief hier aufgab. Ich will verflucht sein, wenn ich Feindpost befördere.«

Salvarini war gnädiger. »Vielleicht ist der Absender ein Südstaatler, der sich keine Marke leisten konnte.«

Lonzo Perdue, respektabler Ehemann, besorgter Vater, enttäuschter Patriot, starrte den Brief an, während sich seine Mundwinkel noch weiter nach unten zogen.

»Vorschrift ist Vorschrift«, erklärte Mr. Perdue.

»Aber du weißt nicht, was drin steht, Lonzo. Vielleicht ist es wichtig. Nachricht vom Tod eines Verwandten – was in der Art?«

»Dann wird’s dieser Major Main schon auf andere Weise erfahren«, entgegnete sein Kollege. Mit einem kurzen Rucken des Handgelenks schleuderte Mr. Perdue den Brief in eine Holzkiste, die bereits zur Hälfte mit falsch adressierten Briefen gefüllt war – unzustellbare Sendungen, die gelagert und später vernichtet werden würden.

119

Der Kampf war zweifellos verloren; Charles spielte seine Rolle, aber er fühlte sich zunehmend einsamer. Selbst General Hampton wirkte nicht mehr zuversichtlich, obwohl er schwor, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Der General war mürrisch geworden und steckte, wie manche behaupteten, voller Rachegefühle, seit Preston, sein Sohn und Adjutant, im letzten Oktober bei Hatcher’s Run getötet worden war. Im gleichen Gefecht war sein anderer Sohn Wade verwundet worden.

Charles funktionierte, er ritt und schoß, aber sein wirkliches Ich lebte losgelöst von den täglichen Ereignissen. Nach seiner Beförderung war Hampton zum Stab gegangen; und Charles sah ihn nur noch von fern. Calbraith Butlers Division befand sich auf dem Weg in die Heimat, um South Carolina gegen Shermans Horden zu verteidigen.

Zusammen mit der Januarkälte stürzte das Charles in die tiefste Depression, die er je erlebt hatte. Ein Gedanke ging ihm Tag und Nacht nicht aus dem Sinn. Allmählich war er überzeugt davon, daß er den schlimmsten Fehler seines Lebens begangen hatte, als er Gus verlassen hatte.

Sein Bart hing ihm nun bis auf die Brust. Sein eigener Geruch war eine Beleidigung für seine Nase. Um sich in der Eiseskälte warm zu halten, hatte er sich aus Uniformfetzen einen Poncho genäht, der mit der Zeit immer länger wurde und ihm einen neuen Spitznamen einbrachte.

Er trug diesen Mantel, als er und Jim Pickles in einer schwarzen Januarnacht neben einem kleinen Feuer kauerten. Ein scharfer Wind wehte, während sie ihre Tagesration genossen, eine Handvoll Mais, getrocknet und halb verbrannt.

»Gypsy?« Charles blickte auf. Jim wühlte unter seinem dreckigen Mantel. »Hab’ heute Post bekommen. Sechs Wochen alt. Meine Mama liegt im Sterben, wenn sie«, er räusperte sich, »nicht schon gestorben ist.« Eine Pause. Er beobachtete seinen Freund angespannt, um die Wirkung seiner nächsten Worte abzuschätzen.

»Ich haue ab.«

Die Ankündigung kam nicht überraschend. Aber Charles’ Stimme war so kalt wie das Wetter, als er antwortete:

»Das ist Desertion.«

»Na und? Wenn Mama tot ist, ist niemand da, der sich um die Kleinen kümmern könnte. Niemand außer mir.«

Charles schüttelte den Kopf. »Es ist deine Pflicht zu bleiben.«

»Red mir nicht von Pflicht, wenn sich die halbe Armee bereits nach Süden abgesetzt hat.« Jims Lippen wurden schmal. »Erzähl mir noch so ‘nen Quatsch. Ich erkenne Scheiße, wenn ich sie rieche.«

»Macht keinen Unterschied«, sagte Charles mit fremder, tödlicher Stimme. »Du kannst nicht gehen.«

»Macht auch keinen Unterschied, wenn ich bleibe.« Jim schleuderte den letzten Rest seiner kleinen Ration ins Feuer; das hätte Charles warnen sollen, vorsichtig zu sein. »Wir sind geschlagen, Gypsy. Erledigt! Jeff Davis weiß es, Bob Lee weiß es, General Hampton – alle bis auf dich.«

»Trotzdem«, Charles zuckte die Schultern, »du kannst nicht gehen.« Er starrte ihn an. »Ich werde es nicht zulassen.«

»Sag das noch mal, Gypsy.«

»Einfach genug. Ich lasse nicht zu, daß du desertierst.«

Jim sprang auf die Füße. Sein Körper, einst bullig, wirkte geschrumpft und zerbrechlich. »Du verdammter – «

Er stoppte, schluckte, beherrschte sich. »Halt dich raus, Charlie. Bitte. Du bist mein bester Freund, aber ich schwöre bei Jesus – wenn du mich aufhalten willst, dann tue ich dir weh. Ich werde dir verdammt weh tun.«

Charles, müde und ausgelaugt, starrte weiterhin unter seiner Hutkrempe vor. Jim Pickles meinte, was er sagte. Charles hatte seinen Armee-Colt unter dem Umhang, aber er griff nicht danach. Regungslos blieb er sitzen.

Voller Trauer: »Irgendwas hat dich um den Verstand gebracht, Charlie. Besser, du kurierst dich selbst erst mal aus, bevor du auf andere losgehst.«

Charles starrte vor sich hin.

»Mach’s gut. Paß auf dich auf.«

Jim drehte sich um und schlurfte mit langsamen, entschlossenen Schritten davon. Charles hörte die sich entfernenden Hufschläge von Jims Pferd. Zusammengekrümmt blieb er am sterbenden Feuer sitzen. Irgendwas hat dich um den Verstand gebracht. Die Liste ließ sich mühelos zusammenstellen. Der Krieg. Die Liebe zu Gus. Und sein letzter, unheilvoller Fehler.

Zwei Tage später ritten Charles und fünf weitere Scouts, alle in erbeuteten Yankeeuniformen, erneut los, um die linke Unionsflanke zu beobachten. Im fahlen Licht kurz vor der Morgendämmerung schlugen die Scouts einen weiten Bogen in südöstlicher Richtung, auf die Weldon-Eisenbahnlinie zu. Der leichte Schneefall hörte auf, und der Himmel wurde klar. Sie zogen sich auseinander, jeder außer Sichtweite des anderen, um mehr Grund und Boden abzudecken.

Charles trieb Sport in das weite Schweigen hinein, die Schrotflinte über den Oberschenkeln; es fehlte nicht viel zu der Vorstellung, er betrete irgendeine fantastische weiße Kathedrale.

Schreie zerstörten diese Illusion. Die Schreie eines sterbenden Mannes. Durch den dichten Bodennebel direkt vor ihm drangen sie zu ihm.

Er hielt Sport zurück; der knochige Wallach hatte die Schreie ebenfalls gehört. Charles lauschte. Keine Schüsse. Merkwürdig. Er murmelte ein Kommando. Der Graue strebte vorwärts. Nach vielleicht einer Viertelmeile sah Charles orangefarbene Flecken im Nebel. Wieder hörte er die durchdringenden Schreie und lautes Knacken. Er roch Rauch.

Noch langsamer trieb er Sport voran, begann berittene Männer zu erkennen vor verwaschenem Feuerschein, irgendeinem brennenden Gebäude. Aber warum die Schreie?

Teilweise hinter einem Baum verborgen zählte er zehn Männer. Er sah einen Wagen mit weißer Plane und sechs weitere Männer in blauen Uniformen, die von den anderen mit Pistolen und Schrotflinten bedroht wurden. Einer der zehn drehte sein Pferd. Charles sah einen Offiziersrock mit Goldverschnürung. Und einen Priesterkragen.

Etwas klickte. Er kannte diese Bande lokaler Partisanen.

Hinter ihnen brannte ein teilweise zerstörtes Farmhaus hell und leuchtend. Charles beschloß, sich bemerkbar zu machen. Zuerst aber mußte er die Uniformjacke der Union loswerden. Er kämpfte noch mit dem Ärmel, als er den Reiter mit dem Priesterkragen mit einem Handschuh winken sah. Zwei seiner Männer stiegen ab und zerrten einen der verängstigten Unionssoldaten mit vorgehaltenen Waffen aus der Gruppe. »Marschier da rein, Yank. Genau wie die anderen vor dir.«

Der Gefangene begann zu schreien, noch bevor ihn die Flammen berührten. Einer der Partisanen rammte ihm von hinten ein Bajonett in die Beine, so daß er mit dem Gesicht nach vorn in das Feuer fiel. Sein Haar entzündete sich; dann hüllte ihn der Rauch ein.

Zitternd und fluchend trieb Charles Sport unter den Bäumen hervor, seine Schrotflinte schwenkend. »Major Main, Hamptons Kavallerie. Nicht schießen!«

Die Partisanen hatten sich bereits umgewandt und ihre Waffen auf ihn gerichtet. Er hielt vor den ungewaschenen, gemein wirkenden Männern, deren Verheerungen zum Skandal in der Konföderation geworden waren.

»Was zum Teufel geht hier vor?« fragte Charles, obwohl die Schreie und der üble Gestank nach verbranntem Fleisch eine nur zu deutliche Sprache sprachen.

»Colonel Follywell, Sir«, sagte der Anführer. »Und wer sind Sie, um eine solche Frage zu stellen, noch dazu auf so arrogante Weise?«

»Deacon Follywell«, sagte Charles, der seine Vermutung bestätigt sah. »Ich habe von Ihnen gehört. Ich sagte bereits, wer ich bin. Major Main. Scout für General Hampton.«

»Können Sie das beweisen?« schoß Follywell zurück.

»Mein Wort genügt. Und das hier.« Charles hob seine Schrotflinte. »Wer sind diese Gefangenen?«

»Gruppe von Pionieren, laut ihrem kommandierenden Offizier. Wir überraschten sie, wie sie dieses verlassene Besitztum schändeten.«

»Wir haben Holz geholt, nichts weiter, du mörderischer Bastard«, schrie einer der Gefangenen. Ein Partisan zu Pferd schlug ihn mit dem Gewehrkolben nieder.

»Und so fordern wir, wie es unsere Gewohnheit ist, Vergeltung für die zahlreichen Yankee-Grausamkeiten, während wir gleichzeitig die Verheißung des Apostels Paulus erfüllen: ›Der Himmel mit seinen Allmächtigen Engeln wird uns den Herrn Jesus offenbaren‹«, mit erhobenem Zeigefinger deutete der Diakon auf Charles, »›und mit flammendem Feuer Rache nehmen an jenen, die Gott nicht kennen und dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen.‹«

Charles preßte voller Abscheu die Lippen zusammen. Mit einem leicht drohenden Ausdruck in seinen wäßrigen braunen Augen sagte Deacon Follywell: »Ich nehme an, wir haben eine zufriedenstellende Erklärung abgegeben. Wir werden deshalb mit ihrer freundlichen Erlaubnis unser Werk fortführen.«

Charles schüttelte den Kopf. »Den Teufel haben Sie meine Erlaubnis, Deacon. Bestimmt nicht, um Leute bei lebendigem Leib zu verbrennen. Ich übernehme die Gefangenen.«

Er rechnete damit, daß die Partisanen einem regulären Armeeoffizier gehorchen würden; Follywell hatte sich zweifellos selbst zum Colonel ernannt. Er erkannte seinen Fehler, als Deacon Follywell seinen Säbel zog und die Spitze gegen Charles’ Brust drückte.

»Versuchen Sie’s, Major, und Sie gehen als nächster in die Flammen.«

Nackte Angst durchzuckte Charles. Er konnte diese Bande nicht zum Gehorsam zwingen. Noch konnte er einfach davonreiten, selbst wenn sein Gewissen das zugelassen hätte, was nicht der Fall war. Im gleichen Moment erkannte er die einzige Möglichkeit, die Yanks zu retten und weitere Morde zu verhindern. Er mußte eine vorübergehende Allianz bilden.

Zum erstenmal betrachtete er die Gefangenen. Sein Magen verkrampfte sich. Der untersetzte, bärtige Offizier, der die Gruppe führte, war Billy Hazard.

Billy erkannte ihn; Charles sah es an dem Schock in den Augen seines Freundes. Aber Billy vermied sorgfältig jedes Zeichen.

Würden die restlichen Yankees kämpfen? Wahrscheinlich, angesichts der Alternative, die ihnen blieb. Konnten sie die doppelte Anzahl Feinde überwältigen? Vielleicht – wenn Charles die Chancen etwas umverteilte. Was ihm jetzt durch den Sinn ging, war eine Abkehr vom Weg, den er seit Sharpsburg gegangen war; irgendwann in diesem trostlosen Winter hatte er zu spät begriffen, wohin dieser Weg führte.

Charles senkte den Kopf und begegnete Follywells starrem Blick. »Droh mir nicht, du ignoranter Farmer. Ich bin ein ordentlich ernannter Offizier der Konföderation und werde diese Männer – «

»Zieht ihn aus dem Sattel.« Follywell winkte seinen Kumpanen zu. Der Reiter rechts von Charles griff nach ihm. Charles verpaßte ihm eine volle Schrotladung.

Die Schrotkugeln machten ein Sieb aus dem Gesicht des Mannes. Follywell röhrte los und holte mit dem Säbel zum tödlichen Schlag aus. Er bekam die zweite Schrotladung. Der Schuß riß ihn aus dem Sattel; sein Kopf kippte über den zerfetzten Nacken.

»Billy – ihr alle – rennt!«

Charles hatte die Chancen acht zu fünf eingeschätzt. Ein Partisan drehte sein Pferd Charles zu, der hastig seinen Colt aus dem Holster zerrte. Zwei Yanks sprangen einen weiteren Partisan an, während der andere auf Charles zielte.

Rufe, Flüche, Kampfgetümmel. Charles wäre getroffen worden, hätte ihm nicht ein anderer von Follywells Männer von hinten den Lauf seines Gewehrs über den Schädel gezogen. Charles rutschte nach links aus dem Sattel. Der Partisan mit dem Gewehr hinter ihm hustete rauh; der Schuß, den der andere Mann abgefeuert hatte, war durch seine rechte Schulter gegangen.

Mit Kopf und Schultern schlug Charles hart auf den Boden. Sport spürte das ungewohnte Zerren am linken Steigbügel, stampfte und scheute. Der Rest ging sehr schnell, aber für Charles lief alles in Zeitlupe ab. Ein weiterer Partisan sprang aus dem Sattel und trat auf Charles’ ausgestreckten rechten Arm. Seine Hand öffnete sich. Er verlor seinen Revolver.

Der Partisan warf sich auf Charles, würgte ihn, drückte ihm eine Pistolenmündung gegen die Achselhöhle. Er wappnete sich gegen die Kugel, als ohne Vorwarnung ein wuchtiger Schatten gegen den Partisanen knallte. Die Pistole des Mannes ging los; jemand schrie auf. Erst da begriff Charles, daß Billy im Hechtsprung den Partisanen weggefegt und selbst die Kugel abbekommen hatte.

Der Partisan zu Pferd feuerte. Ein tierisches Bellen folgte dem Schuß. Charles schrie: »Sport!«

Billy, verwundet, kämpfte mit dem anderen Partisanen unter dem Bauch des grauen Wallachs. Billy schaffte es, das Handgelenk des Partisanen zu drehen, dessen eigene Pistole zu wenden. Billys Finger glitten über die Finger des anderen Mannes, zwangen ihn, sich selbst in den Bauch zu schießen.

Charles starrte auf Sports linke Schulter, wo die Kugel eingedrungen war. Der Schußkanal ging nach unten. Nicht tief, dachte er, oh Gott, laß es nicht tief sein.

Er griff nach seinem Colt, rollte nach links weg. Der berittene Partisan versuchte erneut, auf ihn zu schießen, war aber zu langsam. Charles umklammerte mit beiden Händen seinen Revolver. Zwei Kugeln töteten den Gegner.

Schwer atmend kroch Billy unter dem Grauen vor. Die anderen Pioniere befanden sich im Handgemenge mit Follywells Männern, noch längst nicht außer Gefahr. Charles schwankte hoch; Billy ebenfalls.

»Hau ab – solange du noch kannst.« Billys Atem kam in weißen Wolken. Vor Schmerz biß er die Zähne zusammen. »Das ist – eine Schuld weniger.«

Schnell drückte Charles den Ärmel seines Freundes. »Paß auf dich auf.«

Er schwang sich in den Sattel; beinahe wären die Vorderbeine des Grauen weggeknickt. Er mußte verschwinden – die Schüsse würden nahegelegene Unionstruppen anlocken –, zuvor aber mußte er noch das Überleben der Yankees sicherstellen. Er feuerte zweimal; zwei Partisanen kippten aus dem Sattel, einer tot, der andere verwundet. Als die Unionspioniere sich der Waffen bemächtigten, rissen die Partisanen ihre Pferde herum und donnerten davon.

Der Wallach begann zu trotten. »Schaffst du es, Sport?« fragte Charles mit trockener, angespannter Stimme. Sie ritten über weißen Schnee, und hinter sich sah er in regelmäßigen Abständen die Blutflecken. Er wußte, wie das Ende aussehen würde, und begann zu fluchen.

Über seine Schulter hinweg erkannte er zwei von Deacon Follywells Partisanen, die ihn verfolgten. Einer ließ die Zügel fallen und feuerte seinen Karabiner ab. Die Kugel schlug vor Sport ein, der mit der Sicherheit des erfahrenen Streitrosses sich seitlich wegbäumte; ein großer, roter Fleck blieb zurück.

Der fahle Sonnenschein warf die bleichen Schatten der Reiter in das Feld, einer vorn, zwei dahinter. Charles schnaufte fast so schwer wie sein Pferd. Er sehnte sich nach dem Schutz des nahen Waldes direkt vor ihm, wußte aber, daß jede zusätzliche Anstrengung weiteres Blut aus Sports Wunde pumpte.

Ein weiterer Schuß der Verfolger. Charles dachte an seine Schrotflinte, die er irgendwann verloren hatte. Er setzte die Sporen ein, und Sport flog über einen Bach, ließ ein rotes Band hinter sich in der Luft flattern.

Peitschende Äste rissen Charles eine Wange auf. Jetzt hörte er den mühsamen Atem des Wallachs, spürte dessen Kraft schwinden. Nach einem weiteren Augenblick sah Charles die Stellungen der Konföderierten. Er schwenkte seinen Hut, stieß den Erkennungsruf aus und deutete auf seine Verfolger. Die Jungs hinter den Verschanzungen begannen zu feuern. Die Partisanen rissen ihre Pferde herum und zogen sich zurück.

Sport stolperte, wäre fast gestürzt. Charles führte ihn zu einem von kahlen Büschen umstandenen Halbkreis und sah zu, wie der Graue langsam auf die rechte Seite kippte und mit bebenden Flanken liegenblieb.

Ohne sich umzudrehen, sagte Charles: »Besorgt mir eine Decke.«

»Sir, hier gibt es keine Decken.«

»Besorgt mir eine Decke!«

Innerhalb von fünf Minuten wurde ihm ein zusammengenähtes Teppichstück gereicht. Charles breitete es vorsichtig über Sport. Der Graue versuchte den Kopf zu heben, als wollte er seinen Herrn sehen. Charles kniete neben ihm nieder; der nasse Boden durchweichte seine Knie.

»Bestes Pferd der Welt«, flüsterte er. »Bestes Pferd der Welt.« Zwanzig Minuten später starb Sport.

Zwei Tage später erreichte er zu Fuß die umkämpfte Weldon-Eisenbahnlinie südlich von Petersburg. Eine zerlumpte Gestalt mit einem Revolver an der Hüfte, unter dem Arm einen in Wachstuch gewickelten leichten Kavalleriesäbel, eine Zigarre zwischen den Zähnen, so kletterte er auf einen langsam fahrenden Güterzug. Granaten hatten das Land zerrissen. Er interessierte sich nicht für die Landschaft. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätten sie den ganzen Staat Virginia in die Luft jagen können. Was ihnen beinahe auch gelungen wäre.

Scharrende Geräusche weiter vorn machten ihm klar, daß in dem Richtung Süden fahrenden Waggon noch weitere Passagiere saßen. Vielleicht besaßen sie Passierscheine; vielleicht waren es Deserteure. Ihm war es gleichgültig. Er rauchte seine Zigarre bis auf einen Stummel und warf sie weg. Die Nachtluft war so kalt wie sein Inneres. Der Rand seines langen Umhangs flatterte im Wind. Einer der Jungs, die sich in die vordere Ecke drückten, wollte ein paar Worte mit dem neuen Fahrgast wechseln. Nach einem Blick auf das bärtige Gesicht im Schein einer schwankenden Laterne überlegte er es sich anders.

120

Ashton tat alles weh, vom Schlafen in fremden Betten und von der Anstrengung, jede Berührung mit dem Fettleib ihres Mannes zu vermeiden. Wie satt sie dieses Geheuchel hatte, vor James und vor all den Fremden, die sich ständig nach ihrem Akzent erkundigten.

»Jawohl, Sir – ja, doch, Madam – in gewissem Sinne sind wir Südstaatler. Wir sind von Kentucky, aber loyale Unionsanhänger.«

Mit ihren gefälschten Papieren waren sie von Montreal nach Windsor und Detroit gereist, dann weiter nach Chicago und jetzt Anfang Februar nach St. Louis, wo sich ihre Wege trennen würden. Powell und ihr Mann würden mit der Überlandkutsche nach Westen fahren; sie sollte nach Santa Fe.

Am Nachmittag vor ihrer Abreise spürte Powell das Elend, das Ashton völlig ausfüllte, und riskierte einen Spaziergang mit ihr, während Huntoon sein Nickerchen hielt.

»Tut mir leid, daß wir uns für eine Weile trennen müssen«, sagte Powell. »Ich weiß, die Reise war problematisch.«

»Scheußlich.« Ashton schob die Unterlippe vor. »Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie sehr mir dreckige Betten und billiges Essen zum Hals raushängen.«

In der Annahme, daß in dem geschäftigen Treiben am Fluß sie niemand kennen würde, legte Powell einen Arm um ihre Schultern.

»Ich versteh’ dich«, murmelte Powell. »Und vor uns liegen auch noch einige harte Tage.« Er streichelte ihre rechte Hand, und sie fragte sich, weshalb sie sich dabei so unbehaglich fühlte.

»Ich freue mich bestimmt nicht auf die Fahrt«, sagte sie, ohne zu lächeln.

»In der Kutsche wirst du vollkommen sicher sein. Du hast Geld für Notfälle.«

»Darum geht es nicht. Es ist eine weitere elende Reise.«

Er brauste auf. »Glaubst du, ich hab’s leichter? Ganz im Gegenteil. Ich muß zwei Wagen mit geheimer Fracht beladen – ständig auf der Hut vor Dieben. Dann muß ich diese Wagen ein paar hundert Meilen durch die Wildnis auf das Territorium von New Mexico transportieren. Im Vergleich zu dem Risiko könntest du dein Gejammer über eine relativ bequeme Kutschenfahrt ruhig einstellen.«

»Ja, du hast recht – ich entschuldige mich.« Die Erkenntnis, daß auch Powell in letzter Zeit ständig unter großer Anspannung gestanden haben mußte, besänftigte Ashton. Ein bißchen Farbe erschien in ihrem Gesicht, das während des Winters blaß und hager geworden war, weil sie so viel von dem schlechten Essen verweigert hatte. »Ich ertrage James einfach nicht mehr.«

»Vergiß nicht«, sagte er sanft, »daß wir eine sehr lange Reise vor uns haben. Wasserlose Wüste und die Bedrohung durch Indianer, da kann jedem meiner Soldaten, die mich begleiten, was passieren.«

Jetzt lachte sie, fühlte sich erleichtert. Ein kurzer Anfall von Mitleid für James überkam sie. Armer Soldat, kurz vor seinem letzten Feldzug. Aber dieses Gefühl ging schnell vorüber.

Einen halben Block entfernt, versteckt im Schatten einer hohen Mauer, schüttelte Huntoon den Kopf, fuhr mit einem Taschentuch unter seine Brillengläser und wischte sich heftig die Augen. Dann folgte er seiner Frau und Powell weiter am Fluß entlang, bis sie hinter einer Pyramide von Fässern verschwanden.

Wieder flossen die Tränen. Benommen, wütend zwinkerte er sie weg. Seit mehr als einem Jahr schon hegte er diesen Verdacht. Lamar, den er immer noch bewunderte, gab er keine Schuld. Der läufigen Hündin, die er geheiratet hatte, gab er die Schuld. Er hatte vorgegeben zu schlafen und war dann hinter dem Pärchen hergeschlichen, weil er einen einwandfreien Beweis benötigte. Er mußte nun einen zweiten Brief schreiben und ihr von dem ersten erzählen.

Er drehte sich um und ging schnell zu dem billigen Hotel zurück, in dem sie hausten.

Huntoon küßte in dem Tumult vor der Abfahrt Ashtons Wange und drückte ihr einen versiegelten Umschlag in die Hand. Mürrisch fragte sie: »Was ist das?«

»Nur – persönliche Sentimentalitäten.« Sein Lächeln war schlaff; er wich ihrem Blick aus. »Öffne ihn, wenn mir etwas zustoßen sollte. Aber nicht vorher. Schwöre, daß du mir diese Bitte erfüllst, Ashton.«

Sie würde alles tun, um von diesem fetten Narren fortzukommen. »Natürlich. Ich schwöre.«

Sie bot ihm ihre Wange zum Abschiedskuß. Huntoon drückte seinen Kopf gegen ihre Schulter, gab ihr so die Chance, Powell einen letzten, sehnsuchtsvollen Blick zuzuwerfen. Powell, sehr elegant an diesem Morgen, wirbelte seinen Stock herum und betrachtete das Liebespaar aus höflicher Entfernung.

Ungeduldig stieß Ashton Huntoon zurück. »Ich muß los.«

»Glückliche Reise, Liebes«, sagte er und half ihr in die Kutsche. Sie schaffte es, sich auf den letzten bequemen Sitz zu quetschen.

Sie untersuchte den Briefumschlag. Vorn hatte er Ashton draufgeschrieben und den Umschlag mit drei großen Tropfen Wachs verschlossen. Ihm schien viel daran zu liegen, daß seine Bitte erfüllt wurde, wenn er ihn so sorgfältig versiegelt hatte. Nun, bald schon würden es die Umstände erfordern, daß sie diesen Brief öffnete.

Lamar hatte Huntoon untergehakt und winkte mit seinem Stock. Ashton winkte fröhlich zurück. Powells forsches Benehmen und sein zuversichtliches Lächeln sagten ihr, daß sie sich wegen des Briefes keinem Irrtum hingab.

George arbeitete an einer Bahnbrücke der City-Point-Linie, die eine Schlucht überspannte.

»Scow? Ich gehe rüber zu diesem Bach was trinken. Bin gleich zurück.«

»In Ordnung, Major«, sagte der Schwarze.

George hakte die Blechtasse von seinem Gürtel und öffnete mit der anderen Hand seine Revolvertasche. Der Bach, außer Sicht der Bahnlinie, strömte nur wenige hundert Yards von der Front entfernt dahin. Aber es war Sonntag und noch früh, also rechnete er mit keiner Gefahr.

George kauerte sich am Ufer nieder und tauchte seine Tasse ins Wasser. Er führte sie gerade zum Mund, als ein Mann hinter einem Baum auf der anderen Seite hervortrat.

George ließ die Tasse fallen, verschüttete das Wasser. Seine Hand flog zu seinem Revolver. Der Reb hob schnell die rechte Hand, mit der Handfläche nach oben.

»Langsam, Billy. Ich will bloß einen Schluck trinken, genau wie du.«

George hielt den Atem an, blieb geduckt stehen, die Hand am Revolver. Der Reb, um einiges größer als er, mochte in seinem Alter sein, mit einem kränklichen Gesichtsausdruck. Sein Gewehr hielt er achtlos, den Lauf gen Himmel gerichtet.

»Bloß was zu trinken?« Der Reb nickte. »Hier.« George hob seine Tasse auf und warf sie über den Bach. Der Impuls war so plötzlich gekommen, daß er ihn nicht ganz begriff.

»Danke.« Der Reb ging oder hinkte vielmehr zum Wasser hinunter, tauchte die Tasse ein und trank gierig. Dann kam die Tasse, im Sonnenlicht aufblitzend, zurückgesegelt. »Noch mal vielen Dank, Billy.« George fing die Tasse auf, tauchte sie ein und trank ebenfalls. Der Reb erhob sich und wischte sich über die Lippen. »Wo kommst du her?«

»Pennsylvania.«

»Oh. Ich hatte gehofft, es sei Indiana.«

»Warum?«

»Mein Bruder lebt dort. Zog vor acht Jahren von Charlottesville auf eine kleine Farm außerhalb von Indianapolis. Er gehört zu einem Freiwilligen-Infanterieregiment. Dachte, du kennst ihn vielleicht. Hugo Hoffmann, mit zwei f.«

»Ich fürchte nein. Die Unionsarmee ist ganz schön groß.«

Hoffmann erwiderte das Lächeln nicht. »Viel größer als unsere.«

»Muß schlimm sein, einen Bruder auf der anderen Seite zu haben. Kommt aber oft genug vor. Cousins kämpfen gegeneinander – und Freunde. Mein bester Freund ist Colonel in eurer Armee.«

»Wie heißt er?«

»Oh, den kennst du nicht. Er ist in Richmond, in eurem Kriegsministerium.«

»Wie heißt er?«

Sturer Deutscher, dachte George. »Main, wie in Main Street. Vorname Orry.«

»Aber den kenne ich. Das heißt, ich habe von ihm gehört. Ist mir im Gedächtnis geblieben, weil es kein gewöhnlicher Name ist. Im letzten Herbst gab es einen Colonel Orry Main beim Stab von General Pickett.«

George konnte kaum sprechen: »Gab?«

»Ein Verwundeter, dem er helfen wollte, schoß von hinten auf ihn – ein Kavallerist von euch.« Groll schlich sich in seine Stimme; Hoffmanns grüne Augen wurden weniger freundlich. »Wurde viel über den Vorfall geredet, als Beweis für die Barbarei von General Grants Truppen.«

»Du sagtest, er hat auf ihn geschossen. Du meinst doch nicht, er wurde – «

»Getötet? Natürlich wurde er das. Sonst würde doch niemand die Geschichte verbreiten. Okay, Billy, der Trunk war erfrischend. War nett, mit dir zu reden. Tut mir leid, daß ich dir das von deinem Freund sagen mußte. Ich muß jetzt gehen. Ich denke, der Krieg wird nicht mehr lange dauern. Ich hoffe, wir werden’s beide heil überstehen. Tut mir leid, das mit deinem Freund.« Er tippte an seine schmierige Mütze. »Leb wohl!«

George sagte ebenfalls »Leb wohl«, aber so leise, daß es vom Murmeln des Baches übertönt wurde. Langsam wandte er sich der Eisenbahnlinie zu. Sonnenschein überflutete sein Gesicht und blendete ihn.

Schwankend, zweimal stolpernd, ging er auf die hämmernden Geräusche zu. Als die Bockbrücke in Sicht kam, mußte er sich zurück in die Bäume flüchten, wo er sich versteckte und fünf Minuten lang beim Gedanken an seinen Freund und das Feuer im April weinte.

121

Februar. In der Finsternis über Washington tobte ein elektrischer Sturm. Die aufzuckenden Blitze verliehen dem Diamantanhänger, den Jeannie Canary zwischen ihren großen Brüsten mit den rosigen Spitzen trug, einen unheimlichen Glanz. Sie lag nackt in dem verschwitzten Bett und spielte glücklich mit ihrem neuen Schmuck.

Stanley band sich den Morgenmantel aus königsblauem Samt zu, dann schenkte er sich aus der Whiskeykaraffe ein. Es war nur noch ein kleiner Rest übrig. In Plüschslippern holte er sich aus der kleinen Küche der Fünf-Zimmer-Wohnung, in der er seine Geliebte untergebracht hatte, etwas zu essen und kippte den Inhalt seines Glases hinterher.

Miss Canary ließ den großen Stein in ihren Handflächen hüpfen; ein weiterer Blitz ließ ihn auffunkeln. »Du trinkst sehr viel heute abend, Liebling.«

»Schmieröl für die Maschinerie des Geistes.« Und ein Verteidigungsmittel gegen die ständige Furcht, daß man ihm all das – die kleine Tänzerin, die sechs Millionen Dollar, die sich bei Lashbrook’s angesammelt hatten, seine Macht in Republikanerkreisen – wegnehmen könnte, weil er es nicht verdiente. Er nahm einen kräftigen Schluck.

Miss Canary ließ dieses Thema fallen und brachte statt dessen eine Stanley vertraute Klage an.

»Ich wünsche mir so sehr, du würdest mit mir zu Mr. Lincolns Amtseinführung gehen.«

»Ich hab dir schon ein paarmal gesagt, das ist völlig unmöglich.« Isabel kehrte anläßlich dieses Ereignisses von einem langen Aufenthalt in Newport zurück. Sie hatte mit Geld nicht gespart, um Fairlawn in eine Ganzjahresresidenz zu verwandeln, und war dann dort eingezogen, ohne irgendein anderes Familienmitglied um Erlaubnis zu fragen. Der Besitz gehörte den drei Brüdern gemeinsam, aber das hatte Isabel ignoriert, als sie letzten Herbst das Kommando übernahm, kurz nachdem sie ihre unerziehbaren Söhne in einem kleinen Internat in Massachusetts untergebracht hatte.

»Aber ich möchte den Präsidenten so gern aus der Nähe sehen. Ich habe ihn noch nie von nah gesehen.«

»Da hast du nichts versäumt, glaub mir.«

»Du redest oft mit ihm, nicht wahr?« Stanley nickte und trank einen Schluck Whiskey. »Stimmt es, daß er nie badet?«

»Diese Behauptung ist zumindest stark übertrieben.«

Miss Canary kratzte sich. »Aber es heißt, Frauen meiden ihn, weil er riecht.«

»Einige Frauen meiden ihn, weil er gelegentlich mal eine ganz schön gewürzte Geschichte erzählt. Der Westernhumor, ein bißchen bäuerlich«, sagte er mit geringschätzigem Achselzucken. »Aber in erster Linie wird er wegen seiner Frau gemieden. Mary Lincoln ist eine eifersüchtige Harpyie.«

»Gestern abend im Theater«, sagte Miss Canary, »hörte ich eine schreckliche Geschichte über den Präsidenten. Einige Schauspieler planen, ihn zu kidnappen oder zu töten. Sie alle sollen Südstaatensympathisanten sein, aber Namen hörte ich keine.«

Stanley knöpfte sein Hemd zu und rülpste diskret. »Mein Liebes, wenn ich einen Penny für jede dieser Geschichten bekäme, dann hätten wir bald genug Geld für eine Seereise nach Ägypten.«

»Willst du mit mir nach Ägypten fahren?«

Schnell hob Stanley eine Hand. »Bloß ein Beispiel.« Das arme Kind stellte seine Geduld manchmal wirklich auf eine harte Probe. Aber das verzieh er ihr immer schnell, wenn sie ihre sexuellen Talente demonstrierte.

»Mußt du gehen, Liebling?«

»Ich muß. Um halb zehn erwarte ich einen Gast.«

»Weil du gerade von erwarten sprichst – ich warte immer noch auf meinen Monatswechsel für die Miete.«

»Tatsächlich? Ich werde meinem Buchhalter eins auf die Finger geben. Gleich morgen früh bekommst du ihn.«

Seine Kutsche brachte ihn durch regnerische Straßen zu dem großen Haus in der I-Street. Die Dienerschaft hatte das Gas angezündet und Erfrischungen zurechtgestellt. Doch sein Gast traf erst um elf ein.

Ben Wade warf seinen nassen Umhang ab. Der Butler hob ihn vom Boden auf. Stanley machte eine scharfe Geste. Der Mann ging hinaus und schloß die Tür hinter sich.

Wade eilte zum Herd, um sich aufzuwärmen. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe. Ich wartete, bis die River Queen zurückkehrte.« Er rieb sich, offensichtlich erfreut, die Hände. »Mr. Seward und unser geliebter Führer empfingen die Abgesandten der Konföderation in Hampton Roads. Man sagte mir jedoch, daß es zu keinem Waffenstillstand kommen wird.«

»Immer noch der gleiche zähe Punkt?«

Wade nickte. »Die Frage von zwei Nationen oder einer. Der Präsident beharrt weiterhin auf bedingungsloser Anerkennung des letzteren. Davis weigert sich weiterhin. Das bedeutet, daß Sie noch ein paar Monate der Armee Schuhe verkaufen können«, schloß er mit einem listigen Lächeln. Er verließ seinen Platz am Herd, nahm Teller und Gabel und spießte sich ein Stück Truthahnbrust vom Silbertablett. »Ich habe noch eine Neuigkeit.«

»Ich hoffe, es ist die Neuigkeit, auf die ich gewartet habe.«

»Nicht ganz. Ich kann Ihnen die Ernennung zum Chef des Versorgungsamtes für ehemalige Sklaven nicht besorgen.«

»Sie meinen, der Kongreß befürwortet die Einrichtung dieses Amtes nicht?«

»Oh doch. Das wird diesen Monat geschehen – spätestens nächsten.« Über dieses Amt wurde bereits seit dem letzten Jahr diskutiert; es ging dabei um die Regulierung all der Dinge, die die nach Beendigung des Krieges befreiten Sklaven des Südens betrafen. Alles von der Landverteilung bis zur Umsiedlung. Es war ein Weg zu ungeheurer Macht, aber wenn Stanley das Benehmen von Wade richtig deutete – der Senator schien mehr am Essen als am Gespräch interessiert zu sein –, dann war für ihn nicht nur diese Straße gesperrt, sondern das gesamte Thema erledigt.

Für Stanley bedeutete das soviel wie die Amtseinführung des Präsidenten für Miss Canary. »Ben, ich habe der Partei Unmengen Geld gegeben. Ich glaube, das berechtigt mich wenigstens zu einer Antwort. Warum kann ich den Job nicht haben?«

»Sie – äh – « Wade schien von einem Stückchen Truthahn auf seiner Gabel fasziniert.

»Eine offene Antwort, Ben.«

»Also gut. Sie wollen einen Mann mit größerer administrativer Erfahrung. Sie ziehen einen General in Erwägung. Oliver Howard steht ganz oben auf der Liste.«

Stanley wußte, was der Senator ihm in Wirklichkeit sagen wollte. Der radikale Flügel, der jetzt jede wichtige Angelegenheit entschied, hielt ihn für inkompetent.

Wade ging auf seinen reichen Gastgeber zu und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Schauen Sie, Stanley. Ich habe Ihnen nie garantiert, daß ich Ihnen den Posten sichern kann. Aber ich werde dafür sorgen, daß Sie zu einem der ersten Assistenten ernannt werden, wenn Sie mögen. Die wahre Macht wird sowieso auf dieser Ebene liegen – Howard wird lediglich eine Galionsfigur sein. Die in der zweiten Reihe werden es sein, die dafür sorgen, daß die Farbigen am Wahltag nach der republikanischen Pfeife tanzen. In einem Jahr können wir den Sprung von einer Minoritätspartei zur einzigen Partei, die wirklich zählt, schaffen.«

Wades glitzernder Blick, die stille Glut seiner Worte besänftigten und überzeugten Stanley.

»In Ordnung, Ben. Ich nehme den höchsten Posten, der mir angeboten wird.«

»Gut – ausgezeichnet!«

Cuffeys Guerillabande war mittlerweile auf zweiundfünfzig Mann angewachsen; fast ein Drittel davon waren weiße Deserteure. Sie hielten zwei Acres dicht bewaldeten, verhältnismäßig soliden Geländes am Rande des Salzsumpfes nahe des Ashley besetzt. Gewehre und Revolver nahmen sie den Weißen ab, die sie auf den Straßen ermordeten; Nahrungsmittel stahlen sie aus den Häusern, Farmen und Reisplantagen des Bezirks.

Dreimal schon hatte Cuffey Trupps angeführt, die Hühner von Mont Royal stahlen. Die Plantage selbst hob er sich für einen besonderen Tag auf. Er suchte den Himmel nach verräterischen Rauchwolken ab und schickte regelmäßig einen seiner weißen Jungs nach Charleston, um sich von der Situation dort berichten zu lassen.

In den kurzen, kühlen Tagen Anfang Februar suchte er den Himmel mit zunehmender Ungeduld ab. Er wußte, daß Sherman, der General, dessen Stil und dessen Ruf er bewunderte, Beaufort und Pocataligo passiert hatte und nach Norden zu auf Columbia marschierte. Bald schon, so hatte sich Cuffey ausgerechnet, würde der Konföderiertengeneral in Charleston den größten Teil seiner Truppen zur Verteidigung der Hauptstadt einsetzen müssen. Dann würde der ganze Bezirk offen und ungeschützt daliegen – und er, Cuffey, konnte damit tun, was er wollte.

122

Am nächsten Morgen gegen zehn erreichte Charles die Stelle, wo sich die Flußstraße mit dem Weg kreuzte, der zu dem großen Haus führte. Seine Lumpen, heiß und stickig, zogen ihn schwer nach unten. Sein winziger Zigarrenstummel – die letzte Zigarre, die er hatte – ging aus, als er den Weg hoch zu der vertrauten Dachlinie starrte, der oberen und unteren Veranda, zu den dichten Reben, die sich am Kamin hochrankten.

Rauch stieg vom Küchengebäude auf. Ein Negermädchen kam heraus und eilte zum Haupthaus. Eine Krähe segelte krächzend vorbei; wäre er nicht so müde gewesen, er hätte gelacht. Er war zu Hause.

Es war keine gute Zeit für eine Heimkehr. Sherman hatte geschworen, Georgia mit Blut und Tränen zu überziehen, und diesen Schwur hatte er eingehalten; dann war er weiter nach Norden gezogen, unter Umgehung des Ashley-Bezirks. Mit einem erschöpften Staunen in den Augen ging Charles langsam den Weg hoch. Dieser Ort hier schien vom Krieg völlig unberührt. Dann bemerkte er die Veränderungen an den Gebäuden und das Fehlen der Sklaven. Wieviele von ihnen mochten davongerannt sein?

Er ging bis zum Haus, vorbei an dem Kamin, und entdeckte halb verborgen hinter einer Säule eine Frau. Mit vagem Lächeln erhob sie sich von ihrem Stuhl, als er sich näherte. Höflich sagte er: »Hallo, Tante Clarissa.«

Sie betrachtete ihn einige Sekunden lang stirnrunzelnd – vor allem den Revolver und den eingewickelten Degen unter seinem Arm. Dann preßte sie die Handflächen gegen ihre Wangen und kreischte in tödlicher Furcht auf – die Ankündigung seiner Heimkehr.

Jetzt tauchten andere Leute auf. Zwei Hausdiener kamen herausgerannt, um sich um Clarissa zu kümmern. Wie alt und gebeugt sie aussehen, dachte Charles, während er darauf wartete, erkannt zu werden. Es dauerte lange.

»Charles? Charles Main?«

Er schob seinen Hut zurück, brachte aber kein Lächeln zustande; er war fast so erstaunt, wie Clarissa eben gewesen war. »Ja, Judith, ich bin’s. Was um alles in der Welt machst du hier?«

»Ich kann’s nicht erwarten, dich das gleiche zu fragen.«

»Ich habe mein Pferd bei Petersburg verloren. Ich habe den ganzen Weg hier runter gemacht, auf der Suche nach einem Ersatz.«

»Fahren die Züge?«

»Einige. Meistens bin ich gelaufen. Als ich North Carolina verließ, dachte ich, ich würde schon zuvor irgendwo ein Pferd oder wenigstens ein Muli auftreiben. War ein Irrtum«, endete er, als Orrys älterer Bruder auf die Veranda trat. Cooper erkannte Charles und stieß einen Jubelschrei aus. Das Ehepaar geleitete den Neuankömmling in das geliebte, vertraute Haus, aber Charles nahm es kaum zur Kenntnis. Ein Gedanke hämmerte in seinem Kopf: Wußten sie über Orry Bescheid?

Charles badete in einer großen Zinkwanne in Coopers und Judiths Schlafzimmer – das gleiche weiträumige Zimmer, das einst Tillet und Clarissa und später vermutlich Orry und Madeline gehört hatte.

Seine Ankunft hatte viel Aufsehen erregt. Neger wimmelten überall im Haus herum – fast so, als wären sie Cooper und Judith gleichgestellt, dachte er ohne jede Feindseligkeit; er registrierte damit lediglich einen weiteren bemerkenswerten Wandel. Er begegnete einem muskulösen Vorarbeiter namens Andy und einer hübschen Negerin namens Jane, die ihm ernst die Hand schüttelte, während sie sagt: »Ich habe von Ihnen gehört.«

Die Botschaft ihres offenen Blickes, weder feindselig noch freundlich, war eindeutig: Du bist also in der Armee, die dafür kämpft, mein Volk in Fesseln zu halten.

Philemon Meek, der neue Verwalter, kam zum Mittagessen hereingeschlurft – das üppigste Essen, das sie auftischen konnten, sagte Judith verlegen. Jeder bekam einen Teller mit Safranreis, ein paar Erbsen, ein kleines Stückchen Maisbrot und zwei Stückchen Huhn, die zum zweiten oder dritten Mal gekocht worden waren.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Charles. »Im Vergleich zu der Kost weiter oben im Norden ist das hier ein Festmahl.«

Schnell begann er zu essen. Meek beobachtete ihn über seine Brille hinweg und berichtete Charles dann von der Guerillabande, die in der Nachbarschaft ihr Unwesen trieb.

»Die Bande hat sich hier im Tiefland eingenistet«, sagte Meek. »Ich habe gehört, der Anführer ist ein alter Bekannter von Ihnen – ein Nigger namens Cuffey.«

»Cuffey«, wiederholte er. »Nicht zu fassen. Glauben Sie, daß Mont Royal Ärger bekommt?«

»Wir bereiten uns auf diese Möglichkeit vor«, sagte Meek.

»Ich habe den Eindruck, es sind nicht mehr viele Männer auf der Plantage. Vom Vorarbeiter abgesehen hab’ ich nur Leute bemerkt, die so grau wie das Moos vorm Fenster sind.«

»Wir sind bei siebenunddreißig Leuten angekommen«, gab Cooper zu. »Die Freiheit ist ein Magnet für menschliche Wesen. Eine Zeitlang hab’ auch ich das vergessen, wie ich zu meiner Schande eingestehen muß. Ach was, wozu die Vergangenheit aufrühren? Ich möchte die Neuigkeiten aus Virginia hören. Warst du überhaupt in Richmond? Hast du Orry und Madeline gesehn?«

Cooper wartete auf eine Antwort. Langsam legte Charles die Serviette neben seinen Teller.

»Ich hatte nicht damit gerechnet, der Überbringer schlechter Nachrichten sein zu müssen.«

Judith beugte sich vor. »Oh Gott – ist einer von ihnen krank? Madeline?«

Schweigen.

»Charles?« sagte Cooper fast unhörbar.

Er erzählte es ihnen.

123

Billy, als Invalide mit einer Brustwunde zu Hause, schlief sehr viel. Er war auch nicht wach, als Constance mit bleichem Gesicht den Brief zu Brett in die Bibliothek brachte.

»Er ist von George. Komm, setz dich, bevor du ihn liest.«

Die Nachricht über Orry traf Brett wie ein Hammerschlag. Constance ließ sich neben dem Stuhl auf die Knie sinken, während Brett schluckte und merkwürdige kleine, würgende Laute von sich gab. Sie hob die beiden Blätter auf, deutete hilflos auf sie und schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe das nicht. Madeline sagte, er sei noch in Richmond.«

»Das dachten wir alle.«

Jetzt fing Brett an zu weinen, wurde vom Schluchzen geschüttelt. Constance war überrascht, daß dieser Anfall in weniger als einer Minute vorüber war.

Eine halbe Stunde später dachte sie, was für eine bewundernswerte Frau Billy doch geheiratet hatte. Würde sie selbst sich in ähnlicher Lage als ebenso stark erweisen? Nachdem sie sich die verschwollenen Augen getrocknet und den Brief wieder an sich genommen hatte, sagte Brett: »Ich muß hinauf zu Madeline. Ist sie in ihrem Wohnzimmer?«

Constance nickte. »Sie wollte ein bißchen lesen. Soll ich mitkommen?«

»Danke, aber ich glaube, es ist besser, ich gehe alleine.«

Langsam ging Brett am Bibliothekstisch vorbei. Es schien Stunden zu dauern, bis sie die Treppe bewältigt hatte; nie hatte sie einen längeren und schwereren Gang angetreten. Ihre Hand zitterte, als sie an die Tür klopfte.

»Komm rein!« rief Madeline fröhlich.

Geh, dachte Brett. Es wurde ein lautloser Aufschrei. Geh! Sie wollte wegrennen.

»Wer ist denn da?«

Mit raschelnden Unterröcken kam Madeline zur Tür und öffnete sie. Ihren Zeigefinger hielt sie in einem schmalen Goldbändchen. Heute trug sie eines ihrer Lieblingskleider aus so tiefblauer Seide, daß es fast schwarz wirkte.

»Brett! Komm doch herein! Ich habe gerade einige von Poes Gedichten gelesen. Eins davon ist Orrys Lieblings… aber Liebes, was ist denn passiert?« Erst jetzt bemerkte sie, daß Brett geweint hatte. »Geht es Billy wieder schlechter?«

»Es ist nicht Billy. Es ist Orry.«

Madelines dunkle Augen weiteten sich angstvoll. Sie nahm ihren Finger aus dem Buch und hielt es sich wie einen Schild vor die Brust. Sie entdeckte den Brief in Bretts Hand.

»Gibt es in Richmond irgendwelche Schwierigkeiten?«

»Orry ist nicht – war nicht – in Richmond. Der Brief ist von George. Eine sehr schlimme Nachricht.«

Mit gekünstelt skeptischem Blick nahm Madeline den Brief zur sonnenhellen Fensternische. Sie beendete die erste Seite und begann die zweite zu lesen. Als erstes Anzeichen einer Reaktion lief ein Zittern über ihre Schultern.

Ihr Kopf flog herum. Ärgerlich sagte sie: »Die Petersburg-Linien? Wie soll er zu den Petersburg-Linien gekommen sein?«

»Ich wollte, ich wüßte es.«

Madeline zwang ihren Blick zurück auf den Brief. Brett sah ihr Profil, sah das Glitzern einer Träne. Das Buch fiel aus Madelines Hand. Ihre Finger knüllten den Brief zusammen. »Orry!« schrie sie auf und sank in einem Gewühl von Seide und Petticoats zusammen.

»Kathleen!« rief Brett in den Flur. »Kathleen, das Salmiakfläschchen! Schnell!«

Brett wirbelte wieder herum. Madeline lag auf dem Perserteppich, schon wieder aus kurzer Ohnmacht erwacht, traf aber keine Anstalten, sich zu erheben. Sie lag auf der Seite, ungeschickt auf beide Hände gestützt. Sie zitterte, ihr Mund stand halb offen. Sie sah Brett an, ohne jedes Erkennen.

Brett fühlte sich wie gelähmt, konnte nicht mal sprechen. Billy war verschont geblieben, aber ihr Bruder war tot. Der Schmerz war gnadenlos. Um wieviel schlimmer mußte es für Madeline sein. Woher sollte sie die Kraft zum Weiterleben nehmen?

124

Charles erwachte am frühen Sonntagmorgen, dem 19. Februar. Er hatte von Gus geträumt.

Er ging hinunter zum Fluß. Überall herrschte erwartungsvolle Stille, seit gestern schon, als die wildesten Gerüchte im Fluß-Bezirk herumzuschwirren begannen. Gerüchte, daß in der vorletzten Nacht Columbia niedergebrannt worden sei.

Gegen Mittag fuhr eine heruntergekommene Kutsche in den Hof. Der Fahrer war Markham Bull, Nachbar und Mitglied der großen, angesehenen Bull-Familie. Markham, ungefähr fünfundfünfzig, befand sich in heller Aufregung. Er war in Columbia gewesen, als Sherman eintraf. In den Wirren nach dem Großbrand Freitagnacht war er mit knapper Not entkommen.

»Die Stadt ist praktisch verschwunden. Die verfluchten Yankees behaupten, Wade Hampton habe das erste Streichholz entzündet, um die Baumwolle anzustecken, damit sie dem Feind nicht in die Hände fiel. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie Shermans Männer gewütet haben. Im Vergleich dazu waren die Goten und Vandalen von ausgesuchter Höflichkeit. Sie haben sogar Millwood niedergebrannt.«

Charles zog die Augenbrauen hoch. »Hamptons Millwood?«

»Jawohl. All seine Familienporträts, seine herrliche Bibliothek, alles vernichtet.«

»Wo ist der General jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Ich hörte, er habe vor, westlich vom Mississippi weiterzukämpfen, aber das muß nicht stimmen.«

Im Laufe des Tages verringerte sich die Anzahl der Nachzügler auf der Straße. Die Sonne versteckte sich hinter einer leichten Wolkendecke. Charles polierte seinen Degen. Gegen vier Uhr funkelte die Klinge fast wieder wie neu. Eine Krähe krächzte irgendwo am Fluß hinter dem Haus. Jetzt erst fiel ihm auf, daß er während der letzten Stunde eine ganze Menge Krähenschreie gehört hatte.

Gegen fünf tauchte Cooper wieder auf, mit grauem, angespannten Gesicht. »Charles, du kommst besser rein.«

In der Bibliothek traf er Andy und einen aufgeregten, schwitzenden zwölfjährigen Negerjungen. »Das ist Jarvis, Marthas Sohn«, erklärte Cooper seinem Cousin. »Erzähl uns noch mal, was du gesehen hast, Jarvis.«

»Ich sah ‘ne Bande weißer und schwarzer Männer im Sumpf, Meile hinter den Hütten. Kommen die Richtung.«

»Wieviel sind eine Bande?« fragte Charles.

»Vierzig. Vielleicht fünfzig. Haben Gewehre. Aber viel Lachen, ganz sicher keine Eile. Ein Negerkerl, war fett wie Waschbär im Sommer. Reitet altes Muli, singt und macht viel Spaß mit allen.«

Andy machte ein finsteres Gesicht. »Muß dieser verdammte Cuffey sein.«

»Danke«, sagte Charles zu dem Jungen.

Cooper sagte: »Möchte wissen, wann sie kommen.«

»Ich an Cuffeys Stelle«, sagte Charles, »würde bis morgen früh warten, wenn wir alle von der Nachtwache hundemüde sind.«

Andy zögerte. »Wäre vielleicht sinnvoller, zusammenzupacken und zu verschwinden, Mr. Cooper.«

»Nein«, sagte Cooper mit so fester, ruhiger Stimme, daß Charles ganz überrascht war. »Dies ist mein Zuhause. Meine Familie erbaute Mont Royal, und ohne Kampf gebe ich es nicht verloren.«

»Das deckt sich mit meinen Empfindungen«, sagte Charles. Er brachte ein müdes Lächeln zustande. »Nicht sonderlich intelligent, aber nichtsdestoweniger meine Empfindungen.«

Jane, die vor einiger Zeit in die Bibliothek gekommen war, sagte: »Und die anderen sollen ihr Leben riskieren, um einen Ort zu verteidigen, wo ihr sie wie lebenden Besitz gehalten habt?«

»Jane«, begann Andy und trat einen Schritt vor. Sie ignorierte ihn.

Cooper starrte sie finster an, brachte aber seine Gefühle schnell wieder unter Kontrolle. »Niemand wird gezwungen zu bleiben. Weder Sie noch sonst einer der Leute.«

»Aber die meisten werden bleiben«, sagte Andy. »Ich bleibe. Es gibt einige gute Dinge auf Mont Royal.«

»Sie können uns später belehren, Miss Jane«, sagte Charles mit fast zu scharfer Stimme, weil er ihr insgeheim zustimmte. »Jetzt müssen wir erst mal die Männer zusammenrufen.«

»Und die Frauen und Kinder an einen sicheren Ort schaffen«, fügte Cooper hinzu. »Andy, fängst du damit an?«

Andy nickte, nahm Janes Arm und führte sie aus der Bibliothek. Der Griff war etwas zu fest für ihren Geschmack, und sie riß sich los. Charles konnte sie streiten hören, als sie das Haus verließen.

Cooper warf seinem Cousin einen düsteren Blick zu. »Wir sind in einer schlimmen Lage, was?«

»Ich fürchte schon. Die Anzahl spricht gegen uns. Bestenfalls könnten wir einen alten Indianertrick probieren, den ich in Texas gelernt habe.« Stirnrunzelnd betrachtete er den Degen, den er von draußen mitgebracht hatte.

Er merkte, daß Cooper darauf wartete, daß er weitersprach. »Töte den Anführer, dann kehrt manchmal der restliche Kriegstrupp um.«

Cooper zog die Unterlippe hoch. »Ziemlich schwache Hoffnung.«

»Stimmt. Aber haben wir eine andere?«

»Zusammenpacken und verschwinden.«

»Ich dachte, du sagtest – «

»Das hab’ ich auch. Ich möchte diesen Ort hier retten, nicht nur aus sentimentalen Gründen. Ich denke, nach der Kapitulation werden wir ihn zum Überleben dringend nötig haben. Verschwinden wir, dann können wir sicher sein, daß sie nichts verschonen werden.«

»Na gut, damit wäre das erledigt. Wir bleiben.«

»Du mußt nicht.«

»Was?«

»Ich meine es ernst, Charles. Du kamst auf der Suche nach einem Ersatzpferd her, nicht um weiterzukämpfen.«

»Zum Teufel, Cousin, außer Kämpfen habe ich nichts gelernt. Die gegenwärtigen Unannehmlichkeiten haben mich für jede zivilisierte Beschäftigung ungeeignet gemacht.«

Sie starrten einander an; keiner von ihnen lächelte. Charles spürte Ungeduld, so, als ob er es kaum erwarten könnte. Das überschwengliche Gefühl kehrte wieder, intensiver als zuvor. Eine Schlacht stand bevor, jawohl. In der Ferne krächzte eine Krähe, und eine zweite Krähe antwortete.

125

Jedesmal, wenn Virgilia eine Kutsche hörte, eilte sie ans vordere Fenster, nur um wieder enttäuscht zu werden. Warum kam Sam so spät? War daheim etwas schiefgegangen?

Gegen halb acht war die kleine Ente verschmort, und Virgilia befand sich in heller Aufregung. Sie hörte das Geräusch eines Pferdes, wirbelte auf die Tür zu und riß sie auf.

»Sam? Oh, ich habe mir solche Sorgen gemacht!«

Es verwirrte sie, daß er nicht gleich vom Sitz seines Einspänners kletterte. »Ich mußte Emily schnell zur Bahn bringen. Ihr Vater in Muncie ist krank geworden. Sie hat die Kinder mitgenommen. Sie wird mindestens eine Woche fort sein.« Das Licht von der Tür her ließ sein Lächeln sichtbar werden. »Ich kann die Nacht über bleiben, falls ich dazu eingeladen werde.«

»Oh, Darling, das ist ja wunderbar.«

Im Haus legte sie lachend die Arme um seinen Hals und küßte ihn. Er liebte es, ihre Zunge in seinem Mund und anderswo zu spüren. »Sollen wir jetzt oder später essen? Ich fürchte, die Ente ist fast schwarz.«

»Probieren wir sie. Dann können wir mit dem restlichen Abend anfangen, was wir wollen.«

Er ging in den Keller und holte eine der zahlreichen Weinflaschen, mit denen er sie versorgt hatte. Dann prosteten sie sich zu. Es war ein schwerer Bordeaux, ein ausgezeichneter Wein, alles andere als billig. Nachdem er einen Schluck gekostet hatte, sagte er: »Verdammtes Theater mit diesem Inaugurationsball – hast du schon gehört?«

Sie schüttelte den Kopf. »Was soll damit sein? Klingt doch großartig. Im Star stand, bloß zehn Dollar für Essen und Tanz im Patent Office.«

»Aber eine Anzahl unserer dunkleren Brüder äußerten den Wunsch, ebenfalls dabei zu sein. Einige der Kongreßfrauen, meine eingeschlossen, hätte beinahe der Schlag getroffen. Emily regte sich eine Stunde lang über die Vorstellung auf, sie könnte von Fred Douglass oder irgendeinem anderen Pavian zum Tanz aufgefordert werden. Das Ball-Komitee mußte schnell beschwichtigen. Die Formulierung war höflich, aber die Botschaft war klar. Keine Kartenverkäufe an Nigger.«

»Ich finde das schändlich.«

»Verwechsle Freiheit nicht mit Gleichheit, Virgilia. Das erstere ist in Ordnung, ein Werkzeug, um Stimmen zu sammeln. Letzteres würde niemals toleriert werden, jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten.«

Sie wandten sich angenehmeren Themen zu. Der Wein entspannte Virgilia und versetzte sie in eine für sie untypische verspielte Stimmung. »Darf ich mich nach dem Platz bei der Inaugurationszeremonie erkundigen?«

»Ich habe einen für dich besorgt. Reservierte Sektion für Würdenträger nahe der Plattform.«

»Oh, großartig, Sam. Ich danke dir.«

»Aber das ist noch nicht alles. Ich habe es auch geschafft, mittags einen Sitz auf der Senatsgalerie für dich zu bekommen. Lincoln wird unten sitzen und seine Frau ganz in deiner Nähe. Wenn alle zur Ablegung des Eides und zur Ansprache des Präsidenten hinausgehen, werden Emily und ich ganz vorn auf der Plattform sitzen.«

Ihre Beschwingtheit ließ sie sagen: »Vielleicht winke ich, wenn ich dich und deine Frau sehe.«

Unter dem Tisch hatte er ihre Hand gestreichelt. Jetzt ließ er sie los.

»Ich schätze derartige Bemerkungen nicht.« Sein ernster Ton überraschte sie.

»Sam, ich habe doch nur gescherzt.«

»Ich nicht.«

Verängstigt und ernüchtert sagte sie hastig: »Es tut mir leid, Liebling. Ich weiß, daß wir in der Öffentlichkeit nicht zeigen dürfen, daß wir uns kennen. Ich würde nie etwas tun, was deine Karriere gefährden könnte.« Sie drückte seine Hand. »Glaubst du mir das?«

Beängstigendes Schweigen. Dann, als ihm die Strafe für sie ausreichend erschien, verschwand der harte Zug aus seinem Gesicht. »Ja.«

Virgilia wechselte schnell das Thema. »Ich bin nicht begierig, eine Ansprache vom Gorilla zu hören, aber ich möchte ihn gern aus nächster Nähe sehen. Schaut er wirklich so schlimm aus?«

»Der Mann sieht aus wie eine Mumie. Dreißig Pfund Untergewicht, dazu ständiger Schüttelfrost, hab’ ich gehört. Die Leute flüstern sich zu, er sei todkrank. Unglücklicherweise hindern ihn seine Krankheiten nicht daran, mit seiner maultierhaften Sturheit seine Programme durchzudrücken.« Er probierte ein Stückchen Ente. »Sehr gut.«

»Das ist es bestimmt nicht, aber nett von dir, zu lügen.«

Das brachte ihn wieder zum Lächeln. »Mache ich gut, nicht wahr? Ich übe auch jeden Tag. Hast du den Entwurf meiner Rede gelesen?« Sie nickte. »Was hältst du davon?«

Virgilia legte ihre Gabel nieder. »Du sagtest mir, Lincoln würde in seiner Antrittsrede dem Süden gegenüber einen versöhnlichen Ton anschlagen.«

»Soweit ich das feststellen konnte, ja.«

»Ich fürchte, deine Rede klingt ähnlich.«

»Tatsächlich? Zu sanft?«

»Viel zu allgemein und zu höflich. Da erinnert nichts an Shermans Bemerkung, daß er Georgia mit Blut und Tränen überziehen wird. Du mußt für die Öffentlichkeit der Mann sein, der den ganzen Süden auf Jahre mit Blut und Tränen überziehen wird, um ihn für seine Verbrechen zu bestrafen. Deine Rede muß ein ganz einfaches, lebhaftes Konzept enthalten, das du bei jeder Gelegenheit wiederholst. Wenn die Leute dann an Kongreßabgeordnete denken, dann kommt ihnen zuerst dein Name in den Sinn.«

Er gluckste. »Das ist ein ehrgeiziges Ziel.«

»Es ist das, was du willst, oder? Natürlich bekommt man nichts umsonst. Und wenn es nicht funktioniert? Na gut, dann wird dein Name eben an zweiter Stelle stehen. Aber wenn du etwas Geringeres als den ersten Platz anstrebst, dann wirst du ein Nichts sein.«

Wieder ertönte sein leises Lachen. »Du bist eine bemerkenswerte Frau. Ich habe Glück, dich zur Freundin zu haben.«

»So lange du willst, Darling. Sollen wir die Rede durchsehen?«

»Nicht jetzt.«

Beinahe hätte er den Tisch umgeworfen, so eilig hatte er es, hinter sie zu treten und sie zu umarmen. Sie blieb sitzen, preßte sich gegen die Versteifung in seiner Hose. Sie drehte sich halb um, griff danach, stöhnte leise auf. Seine Hand tastete nach ihren Brüsten. Gemeinsam taumelten sie ins Schlafzimmer, zerrten einander hastig die Kleider vom Leib. Er kniete neben dem Bett nieder, küßte ihre nackten Brüste.

Niemals würde sie ihn gehen lassen. Sie würde ihm helfen, ihn trösten, anleiten – ihm in jeder Beziehung eine Ehefrau sein, nur nicht im legalen Sinne.

Er warf sie auf den Rücken; ihre Petticoats bauschten sich noch um die Knöchel. Sie schrie nach ihm, die Arme ausgebreitet. Sein Geschlecht fühlte sich riesig an, als er sich in sie bohrte. Er war ein potenter, ein sehr potenter Mann, und das nicht nur physisch. Mit ihm – durch ihn – würde sie den armen Grady und die Millionen seinesgleichen rächen. Sie würde sich von ihrem tiefsten Haß befreien.

Sie würde den Süden mit Blut und Tränen überziehen.

126

Am nächsten Morgen sprang der Zeiger der Uhr auf Mont Royal auf eine Minute vor sechs, als ein glühendes Licht funkensprühend in weitem Bogen aus der Dunkelheit geflogen kam. »Sie sind da!« rief Philemon Meek.

Gedankenlos nahm er eine der heruntergedrehten Lampen vom Tisch und eilte zu einem der hohen Fenster. Charles stieß seinen Stuhl zurück. Der Solingen-Degen lag in seiner Scheide auf dem Tischtuch. »Weg mit dem Licht!«

Der verängstigte, aufgeregte Verwalter hörte ihn entweder nicht oder ignorierte die Warnung. Er hob den Vorhang, um besser sehen zu können. »Sie haben das Küchengebäude mit einer Fackel angesteckt. Sie kommen jetzt auf – « Ein Gewehrschuß dröhnte auf, die Fensterscheibe zersplitterte, und Meek wurde über einige Stühle zurückgeschleudert. Sofort entzündete sich das Öl aus der zerbrochenen Lampe. Fluchend sprang Charles auf.

Höhnisches Geschrei trieb aus der Dunkelheit herüber. Charles rannte zu dem Verwalter, eine nutzlose Anstrengung. Die ganze Vorderseite von Meeks Hemd war von roten Punkten übersät, aus denen das Blut lief; die Schrotladung hatte ihn sofort getötet.

Charles kroch zum Fenster. Ein zweites Feuer flammte auf. Das Büro.

»Wir postieren uns besser in der Eingangshalle«, sagte er zu Cooper. »Du behältst die Tür zur Flußseite hin im Auge, ich die zur Einfahrt.« Von diesen Positionen aus konnten sie auch die Türen zum Salon beobachten, wo sie alle Frauen und Kinder untergebracht hatten.

Mit angespanntem Gesicht folgte Cooper seinem jüngeren Cousin in die Halle, die das Erdgeschoß von vorn bis hinten durchzog. »Wir bekamen keine Warnung, Charles. Was ist mit all den Burschen passiert, die du auf Wache geschickt hast?«

»Weiß der Teufel. Entweder sie sind tot oder fortgerannt, oder sie haben sich Cuffeys Armee angeschlossen.« Wie jeder fähige Kommandant hatte er den größten Teil der Nacht draußen verbracht, hatte die Wachen kontrolliert und sie aufgemuntert. Vor einer halben Stunde war er hereingekommen, um sich ein bißchen auszuruhen, und das war nun die Folge davon. Keine Warnung.

»Die Seite drüben«, flüsterte er plötzlich, sich wieder zusammenkauernd. Ein Schatten schob sich an dem schmalen Fenster links neben der Tür zur Einfahrt vorbei. Er zog seinen Armee-Colt und drückte ab. In das Klirren von Glas hinein sackte die Gestalt zusammen.

»Das wäre einer.«

Hinter ihm klapperte ein Riegel. Er hörte ein Kind weinen, als sich die Salontür öffnete. Judith rief: »Cooper? Wie viele sind – «

»Zu viele«, brüllte Charles. »Bleib drin, verdammt noch mal.«

Die Tür knallte zu, der Riegel wurde wieder vorgeschoben.

Mit flacher, emotionsloser Stimme sagte Cooper: »Ich glaube nicht, daß wir das überleben werden.«

»Schluß mit diesem Gerede.« Charles rannte zu der Tür auf seiner Seite; an dem schmalen Fenster hatte er eine berittene Gestalt vorüberhuschen sehen. Rauch trieb ins Haus. Eine herausfordernde Stimme schreckte ihn auf.

»He, Charles Main, bist du da drin? Hier iss’ einer von deinen Niggers, holt dich jetzt. Werd’ dich ausräuchern, Mist’ Charles Main. Röst’ dich bei lebendig Leib und fick’ deine Weiber.«

»Cuffey, du Hundesohn!« Charles rammte seinen rechten Arm durch das zerbrochene Fenster und feuerte. »Komm rein und probier’s.«

Jemand schrie auf. Charles hörte die Hufe des Maultiers klappern.

Dann Cuffeys Stimme: »Komm schon bald. Komm bald – «

Die für ihn bestimmte Kugel hatte einen anderen getroffen. Verflucht. Solche Verschwendung konnte sich Charles nicht leisten.

»Hier rüber«, schrie Cooper, einen Augenblick, bevor die verriegelte Tür auf der Flußseite splitterte; von außen wurde mit schwerem Gartengerät dagegengehämmert.

Die Tür brach ein. Charles wirbelte zu schnell herum und stürzte zu Boden – was ihm das Leben rettete. Schüsse jaulten durch den Raum, etwas riß an seinem Oberschenkel, seiner Hand. Er feuerte seinen Revolver leer. Die Angreifer wichen zurück.

Sein Gesicht oberhalb des Bartes war schweißüberströmt. Er taumelte auf die Füße, bemerkte den glänzenden Blutfleck, den sein Bein auf dem Holzboden zurückgelassen hatte. »Wir müssen die Frauen rausbringen«, sagte Cooper.

»Gut. Aber von nun an bleibst du bei ihnen.«

»Wir sind erledigt, was?«

»Nicht, wenn – « Charles schluckte. Er versuchte nachzuladen, aber seine Finger waren taub und unbeholfen. Er konnte die Patronen nicht richtig fassen. Zwei ließ er fallen. Er kniete nieder, um sie zu suchen. »– nicht, wenn ich Cuffey finden kann.«

»Hast ihn gefunden, weißer Mann. Er dich auch.«

Charles blickte zum Treppenabsatz hoch und glaubte für eine Sekunde, den Verstand verloren zu haben. Wie ein aufgeblasener Ballon stand dort Cuffey in einem Ballkleid aus leuchtend gelber Seide.

Charles erinnerte sich, gehört zu haben, daß Shermans Landstreicher und einige der befreiten Sklaven Frauenkleider angezogen hatten, die sie in Georgia erbeutet hatten. Cuffey mußte das ebenfalls gehört haben. Er machte einen trunkenen Eindruck; das Messer mit der breiten Klinge zum Schneiden von Unterholz in seiner rechten Hand ließ ihn noch bizarrer erscheinen. Die Klinge war zwei Fuß lang.

Charles starrte und starrte, suchte nach dem Jungen, der in diesem Mann verborgen sein mußte. Der Junge, mit dem er gerungen, gefischt, über Frauen geredet und all die anderen Dinge getan hatte, die Jungen so taten. Er konnte diesen verlorenen Freund nirgendwo mehr entdecken.

»Hast ihn gefunden, und er muß dich töten«, sagte Cuffey und kam langsam die Treppe herabgestiegen, während Cooper und Charles ihn anstarrten, die leergeschossenen Waffen in den Händen, und die Flammen aus dem zweiten Stock des großen Hauses schlugen. Charles spürte die Hitze durch die Decke dringen.

»Bring die Frauen raus«, flüsterte Charles.

»Ich kann dich nicht allein lassen – «

»Geh, Cooper.«

»Geh, geh«, sagte Cuffey undeutlich. »Ist Mist’ Charles, den ich jetzt will.« Die Männer auf der Veranda zur Einfahrt kreischte er an: »Ihr alle bleibt draußen, bis ich fertig bin, hört ihr? Bleibt weg!«

Langsam ließ Charles den Revolver ins Halfter zurückgleiten. Er wischte seine rote Hand an seiner Hemdbrust ab, griff dann nach der Scheide, die er auf den kleinen Tisch gelegt hatte. Der Paradedegen war zu fein und zierlich, um von großem Nutzen zu sein, aber er war immer noch besser als gar nichts.

Cuffey watschelte die Stufen hinunter; die gelbe Seide raschelte. Das lange Messer preßte er grinsend gegen seine Seite.

»War’n mal Freunde, nich’?«

Er rannte auf Charles zu, beide Hände um das Buschmesser geklammert. Er schlug damit von oben nach unten zu; die pfeifende Klinge hätte Charles den Kopf abgetrennt, wenn er ihn nicht zurückgerissen hätte.

Der kleine Tisch, auf dem der Degen gelegen hatte, brach in der Mitte auseinander. Charles mühte sich, den Degen aus der Scheide zu ziehen, aber irgendwie hatte er sich verklemmt. Cuffeys Klinge kam horizontal angezischt, geradewegs auf seinen Hals zu. Charles wich taumelnd aus. Das Messer knallte in einen Zierspiegel, der in Hunderte reflektierender Glasfragmente zerschellte.

Charles, dessen rechte Beinmuskeln wegen der Wunde spastisch zu zucken begannen, schaffte es endlich, den Zierdegen freizubekommen. Wieder hob Cuffey beide Arme über den Kopf; gewaltige Schweißflecke verfärbten sein Kleid unter den Achseln. Das Buschmesser klirrte gegen den Kronleuchterbehang.

In sinnloser Wut schlug Cuffey nach dem Kronleuchter. Der Behang zerbrach, und ein kurzer Prismenregen ging nieder. Mit nur einem Gedanken im Kopf – beim Fechtunterricht auf der Akademie hatte er es nie zu Eleganz gebracht – stürzte Charles mit ausgestrecktem Degen vor.

Sein Stiefel rutschte auf einem Glasstück des Kronleuchters aus. Cuffey trat ihn in die Leisten, hart genug, daß er aufstöhnte und nach vorn abknickte. Sein rechtes Bein gab nach. Er stürzte auf das Knie; der Aufprall schmerzte mehr als der Tritt. Das Buschmesser flirrte auf seinen entblößten Nacken nieder.

Charles brachte die Solingen-Klinge hoch und traf Cuffey an der Innenseite des rechten Handgelenks. Blut spritzte. Cuffey ließ das Messer los, das so dicht an Charles’ Ohr vorbeizischte, daß er das Metall an seinem Ohrläppchen spürte.

Charles kniete immer noch. Cuffey trat gegen seinen linken Arm. Er kippte weg, rollte herum. Cuffey stampfte mit seinem schweren Stiefel auf Charles’ ausgestreckten rechten Arm. Seine Hand öffnete sich. Er verlor den Degengriff.

Mit einer Grimasse – ein Lächeln konnte man es nicht nennen – ließ sich Cuffey mit beiden Knien auf Charles’ Brustkorb fallen. Charles bekam ihn zu fassen, und sie rollten auf dem mit Scherben übersäten Boden herum. Charles hielt die schwarze Hand fest, die wie eine Klaue nach seinen Augen schlug, aber er spürte, wie seine Kräfte schnell schwanden.

»Werd-dich-töten-weißer-Mann.« Keuchend riß Cuffey seinen Arm aus Charles’ blutenden, glitschigen Fingern los. Seine beiden Hände krallten sich um Charles’ Hals.

»Bist erledigt. Wie – alles hier – «

Und so schien es tatsächlich zu sein. Schmerz und Schock betäubten Charles. Die Hände drückten zu, schlossen sich unbarmherzig fester und fester. Charles’ blutrote Finger berührten und schlossen sich um etwas, was er nicht sofort identifizieren konnte –

Der geriffelte Degengriff.

Aus den Augenwinkeln sah Cuffey ihn kommen. Charles rammte den leichten Degen in Cuffeys linke Seite, gerade unter seinen Arm. Gleichzeitig ließ Cuffey die blutbeschmierte Kehle von Charles los und wich vor dem Degen zurück. Die Spitze war bereits durch die gelbe Seide gedrungen und glitt nun tiefer. Fünf Zentimeter. Zehn. Fünfzehn –

Charles spürte, wie die Klinge an einem Knochen abrutschte und weiterglitt. Fünfundzwanzig Zentimeter. Dreißig –

Jetzt kreischte Cuffey, sprang auf und krümmte sich, den tödlichen Stahl tief in seinem Leib. Charles hielt fest. Die Klinge brach direkt vor dem Griff, einige Zentimeter von dem Kleid entfernt. Cuffey zerrte wie verrückt an dem Stahl, schwankte und kreiselte in das brennende Wohnzimmer. Das bauschige Kleid fing Feuer. Flammen liefen den Saum entlang, sprangen nach oben. Drehend und rudernd tanzte Cuffey seinen Todeswalzer, ehe er in das Feuer stürzte.

Die Flammen fanden neue Nahrung, stiegen höher. Charles bekam von Cuffey nichts mehr zu sehen.

Die rauchende Decke krachte und sackte durch. Charles kämpfte sich auf die Füße. Sein rechtes Hosenbein war blutgetränkt. Er erspähte seinen Colt und nahm ihn wieder an sich. Die Fenster im Salon waren herausgeschlagen worden; vermutlich waren Cooper und die anderen auf diesem Weg geflüchtet. Er mußte sie finden. Das große Haus war verloren.

Das Tageslicht dämmerte herauf. Cuffeys Gefolgsleute hatten fast alles Wertvolle an sich gerafft, bevor das Feuer das Haus zerstörte. Sie hatten die Wein- und Schnapsregale geleert, die Garderoben, die Küchenschränke. Er sah dreckige, bärtige Männer, Schwarze und Weiße, die beutebeladen durch die Rauchschwaden glitten.

Es wurde kaum noch geschossen. Aber eine Kugel genügte, und so hielt sich Charles vorsichtig hinter einer der weißen Säulen, als er rief: »Cooper?«

Schweigen.

»Cooper!«

»Charles?«

Die ferne Stimme wies ihm die Richtung. Sie hatten sich in dem Pflanzengewirr des ehemaligen Gartens am Fluß versteckt. Er kroch am Haus entlang, um die Ecke, vorbei am Kamin, spähte über den Rasen.

Niemand. Er wollte schon losrennen, dann fiel ihm ein, daß er noch etwas anderes verkünden mußte.

»Cuffey ist tot, Cooper. Cuffey – ist – tot. Ich habe ihn getötet.«

Die Geräusche des brennenden Mont Royal füllten die Stille. Aber die Stimmen schwiegen. Er wußte, daß sie ihn gehört hatten. Tief sog er die Luft in seine schmerzenden Lungen und rannte los, auf den Ashley zu.

Jemand schoß auf ihn. Die Kugel schlug in das feuchte Gras rechts von ihm, aber weitere Schüsse blieben aus. Im Garten sah er sich von vertrauten Gesichtern umringt. Ohne ein Wort fiel er ohnmächtig nach vorn.

Den ganzen Tag über versteckten sie sich in einem der Reisfelder. Die Gruppe der Überlebenden bestand aus Cooper, seiner Frau und seiner Tochter, Clarissa, Jane, Andy, einer jungen Küchenmagd namens Sue, ihren beiden kleinen Jungen und Cicero, dem alten, arthritischen Sklaven mit dem weißen Kraushaar. Charles lehnte unerbittlich jeden Vorschlag ab, zum Haus zurückzugehen.

»Nicht vor Anbruch der Dunkelheit. Dann gehe ich zuerst, allein. Sinnlos, noch weitere Menschenleben zu riskieren.«

Der Verband, den er sich noch im Haus angelegt hatte, war seiner Beinwunde gut bekommen. Sie hatte sich geschlossen. Er fühlte sich alles andere als gut, aber er konnte wach bleiben.

Gegen Sonnenuntergang verkündete Charles, daß er jetzt das Haus und die Umgebung inspizieren würde.

»Glaub nicht, daß einer allein gehen sollte«, sagte Andy. »Ich gehe mit.«

»Ich würde vorschlagen, wir gehen zu dritt«, sagte Cooper. Charles war mittlerweile zu müde, um zu streiten. Achselzuckend gab er nach.

Coopers ganze Aufmerksamkeit war auf das Haus gerichtet. Er flüsterte: »Oh, Gott im Himmel.« Selbst Andy schien erschüttert zu sein. Charles wollte nicht hinschauen, tat es dann aber doch.

Mont Royal war bis auf die Fundamente niedergebrannt; nur noch Schutt und Asche und der große, rauchgeschwärzte Kamin waren zu sehen.

»Wie konnten sie?« sagte Cooper mit zornbebender Stimme. »Wie konnten sie, diese verfluchten, ignoranten Barbaren.«

Sanft sagte Charles: »Wir haben nur bekommen, was du immer vorausgesagt hast.«

Er ging voraus und verschwand hinter dem Kamin. Plötzlich hörten Cooper und Andy ihn wie einen Verrückten lachen.

»Los, schnell«, sagte Cooper und rannte los.

Charles stand neben einer Leiche und brüllte wie ein Irrer. Die Ursache seines Heiterkeitsanfalls stand ein Stück weiter zur Einfahrt hin: ein großohriges Maultier mit Zügel und Haltestrick.

»Cuffeys Maultier!« japste Charles. »Mont Royal ist dem Erdboden gleichgemacht, aber ich habe ein Ersatztier. Gedankt sei Gott und Jeff Davis! Jetzt kann der Krieg weitergehen und weiter und weiter – «

Die irre Stimme brach. Er warf ihnen einen beschämten Blick zu und humpelte zur nächsten noch stehenden Eiche. Er lehnte sich mit dem Arm dagegen und verbarg sein Gesicht.

127

An diesem Sonntagmorgen, dem 2. April, verrichteten Mr. Lonzo Perdue und seine Frau und seine Töchter kniend ihr Gebet, als ein Bote durch die St. Pauls-Kirche eilte und dem Präsidenten etwas zuflüsterte. Mr. Perdue beobachtete, wie der weißhaarige Präsident unsicheren Schrittes die Kirche verließ. Mr. Perdue beugte sich zum Ohr seiner Frau.

»Die Verteidigungslinien sind durchbrochen. Hast du sein Gesicht gesehen? Wir müssen packen und einen Zug erwischen.«

Am Bahnhof wurden ohne offizielle Erklärung alle Züge zurückgehalten. Gegen Nachmittag wuchs die Menschenmenge immer stärker an und wurde immer unruhiger. Mr. Perdue und seine Familie wurden bis vor den Bahnhofseingang zurückgedrängt.

Bei Einbruch der Dunkelheit schwirrten wilde Gerüchte durch die riesige Menschenmenge. Es kam zu Gewalttätigkeiten; Soldaten mußten gegen den Mob vorgehen. Dann kam die erste Explosion.

»Oh, Papa!« rief Mr. Perdues Tochter und drängte sich gegen ihren genauso entsetzten Vater. »Was tun sie nur?«

»Gebäude zerstören.«

Gegen elf Uhr war die Stadt ein Nachtasyl, erleuchtet von sich ausbreitenden Feuern. Davis erschien in einer von schwer bewaffneten Soldaten umringten Kutsche. Ein Zug nach Danville warte auf ihn, sagte jemand.

Mr. Perdue begann Verrat zu wittern, als er gewisse andere Personen den Bahnhof betreten sah. Er entdeckte den Halunken Mallory, der so viele wertvolle Dollars mit seinen sinnlosen Marineplänen verschwendet hatte. Trenholm, der Memminger im Schatzamt abgelöst hatte, kam in einer Ambulanz an. Denn erschien Benjamin, glatt und fröhlich wie stets. Die Privilegierten wurden in Sicherheit gebracht.

»Die Frachtwaggons des Sonderzuges werden geöffnet«, verkündete ein Bahnbeamter. »Ich wiederhole, die Frachtwaggons werden geöffnet, aber kein Gepäck wird zugelassen. Keins!«

Kreischend und schiebend drängte die Menge vorwärts. Nicht alle konnten sich gleichzeitig durch die Bahnhofstüren quetschen. Wie feindliche Soldaten begannen die Leute aufeinander einzuschlagen.

»Oh, Lonzo – kein Gepäck? Ich kann nicht auch noch die wenigen wertvollen Sachen zurücklassen!«

»Dann bleibst du eben hier, ohne mich. Los, Mädchen, tretet die Frauen beiseite, wenn sie sich nicht bewegen.« Auf die Weise sicherte sich die Familie einen Platz in dem Zug, der um elf Uhr Richmond verließ.

Die sich anklammernden Menschentrauben fielen ab, als der Zug Tempo aufnahm. Mr. Perdues Mantel und seine Krawatte hingen in Fetzen. Er war erschöpft, aber glücklich – sehr zufrieden mit seinem ungewohnt heldenhaften Verhalten angesichts einer gefährlichen Situation.

Flußaufwärts brannten weitere Brücken. Vielleicht hätte ich doch zur Armee gehen sollen, dachte Mr. Perdue, als der Zug ihn in die Nacht trug.

128

Mrs. Burdetta Halloran war vorbereitet, als die Eroberer an diesem Tag in Richmond einmarschierten. Sie hatte fast ihr ganzes restliches Geld für eine der alten Fahnen ausgegeben, die durch die starke Nachfrage ungemein teuer geworden waren. Die Nationalfahne der Konföderierten verbrannte sie in ihrem Kamin.

An diesem Morgen zog die Parade der Yankees an ihrem Haus vorbei, angeführt von den schwarzen Kavalleristen der Fifth Massachusetts Colored Cavalry – ein unglaublicher Anblick. Sie verbarg ihren Zorn und ihre Verachtung und winkte mit ihrem Taschentuch unter dem Sternenbanner, das sie auf ihrer Frontveranda aufgehängt hatte.

Hunderte von Eroberern zogen pfeifend, trommelnd, grinsend vorbei, feierten unter einem Himmel, der von den immer noch brennenden Feuern gefärbt war. An den Flanken der vorüberziehenden Kolonnen sprangen und tanzten Schwarze herum und verhöhnten die Weißen.

Sie bemerkte einen weißen Offizier und jubelte um so lauter. Vielleicht würde ein solcher Mann von ihrer Erscheinung angetan sein. Irgendwie mußte sie überleben. Sie würde überleben.

»Oh, gedankt sei Gott, gedankt sei Gott!« schrie sie unter der alten Fahne und wedelte so heftig mit ihrem Tüchlein, daß ihr ganzer Arm schmerzte. Sie schauspielerte so großartig, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Ein rotbackiger Colonel zügelte sein Pferd durch, scherte aus der Kolonne aus und näherte sich langsam ihrem Gartenzaun; sie eilte ihm entgegen und wartete darauf, daß er sie ansprechen würde, während er lächelnd seinen Hut zog.

»Keine Sklaverei mehr – und bald auch kein Krieg mehr, nicht wahr, Captain?«

»Ja, schaut wirklich so aus, als wäre Lee auf der Flucht«, stimmte Billy zu. Pinckney Herberts kleine, helle Augen glänzten freudig, als er mit einem Stück Schnur den zusammengerollten Abziehriemen fürs Rasiermesser zusammenband. Billy stutzte seinen langen Bart an den oberen Rändern, und der alte Riemen war abgenutzt.

Er dankte Herbert, nahm sein Wechselgeld und den Riemen und verließ den Laden. Seine Brust begann zwar wieder zu schmerzen, aber mit neuerwachter Lebensfreude spürte er, daß die Dinge bald wieder ihren normalen Gang gehen würden. Zum Zeichen dafür trug er keine Waffe mehr.

Er kam an einem Rekrutierungsbüro vorbei. Drei lärmende Männer lümmelten an einem Geländer, zwischen einem breitschultrigen Negerjungen auf der Straße und dem Büroeingang. Einer der Weißen trug eine dreckige Armeeuniform. Billy erkannte Fessenden, den Mann, der einst Brett belästigt hatte.

»Verschwinde, Nigger«, sagte einer der Männer.

»Ja, geh zurück in die Fabrik, und mach dich an die Arbeit«, sagte Fessenden, gleichermaßen erheitert. »Bob Lee ist am Rennen. Der Krieg ist fast vorbei. Wir brauchen keine farbigen Jungs, die für uns kämpfen.«

Der Junge hatte eindeutig Angst, aber er schluckte krampfhaft und sagte: »Ich will keinen Ärger. Ich will bloß zur Armee, solange noch Zeit ist.« Er trat einen Schritt vor.

Der junge, pickelige Weiße links neben Fessenden riß etwas aus der Tasche. Ein Schnappen, ein Blitzen und der Junge blieb beim Anblick der langen Klinge des Schnappmessers vollkommen still stehen.

»Boy? Hörst du nicht? Du hast hier nicht rumzustehen, wenn ein weißer Mann – «

»Laßt ihn vorbei!«

Die Stimme aus dem dunklen Schatten ließ alle drei herumwirbeln. Billy trat auf den sonnenbeschienenen Gehsteig hinaus. Verdammter Narr, sagte er zu sich selbst; Schweiß lief ihm über das Gesicht.

Nur Fessenden erkannte ihn. »Das geht dich nichts an, Hazard.«

»Er hat ein Recht darauf, in die Armee einzutreten.«

»Ein Recht?« Der Messerheld kicherte. »Seit wann hat ein Nigger irgendwelche – «

Billy übertönte ihn. »Also, laßt ihn durch!«

»Sag ihm, er soll zum Teufel gehen, Lute«, sagte der dritte Mann.

Fessenden kratzte sein stoppeliges Kinn. »Scheiße, weiß nicht recht, Jungs. Er ist’n verwundeter Veteran wie ich.«

»Habe gehört, deine Verwundung sei hinten erfolgt«, sagte Billy. »Beim Wegrennen.«

»Du Hundesohn«, schrie Fessenden, aber es war der Pickelige mit dem Messer, der Billy angriff. Hastig wich Billy gegen die Wand zurück, zerriß die Schnur, rollte den Abziehriemen auf und zog ihn dem Angreifer mit voller Wucht übers Gesicht.

»Oh, mein Gott!« Kreischend ließ er das Messer fallen. Unter dem schweren Verband pochte Billys Wunde. Benommenheit überkam ihn plötzlich. Zusammengekauert tastete der pickelige junge Mann nach seinem Messer. Billy trat es vom hölzernen Gehsteig in den Staub. Fessenden warf ihm einen empörten Blick zu.

»Scheiße«, sagte er. »Als nächstes erzählst du uns, daß Nigger wählen dürfen – wie Weiße.«

»Wenn es ihnen erlaubt ist, für die Regierung zu sterben, dann sollten sie sie auch wählen dürfen, oder, Lute?«

»Jesus«, sagte Fessenden kopfschüttelnd. »Was haben sie in der Armee mit dir gemacht? Hast dich in einen dieser verfluchten Radikalen verwandelt.«

Für Billy kam es fast genauso überraschend. Er hatte aus Überzeugung gesprochen, eine Überzeugung, die in ihm gewachsen war, ohne daß es ihm richtig zu Bewußtsein gekommen wäre.

Billy blickte den Negerjungen an. »Du kannst reingehen.«

Bevor der Junge das Büro betrat, schenkte er Billy ein Lächeln. Er sagte: »Danke, Sir«, und war im Inneren verschwunden.

»Guten Tag, Gentlemen«, bellte Billy im besten Kommandoton.

Pinckney Herbert kam über den Gehsteig gelaufen, um ihm die Hand zu schütteln. Die schmerzhafte Wunde hatte Billy fast vergessen. Er fühlte sich großartig: boshaft erheitert, unerwartet stolz, herrlich lebendig.

129

Regen fiel auf das flache Land an diesem Nachmittag. Charles saß am Fuße einer großen Eiche, vor dem Regen einigermaßen geschützt, während er in einer alten Baltimore-Zeitung las, die irgendwie nach Summerville gelangt war, dem Dorf, in dem er und Andy Nahrung aufzutreiben versucht hatten.

Charles war viel länger als geplant auf Mont Royal geblieben. Jede Hand wurde benötigt, um ein neues Haus – nicht viel mehr als eine große Hütte – aufzubauen. Sämtliche Bretter waren entweder zerbrochen oder verkohlt oder beides. Die Folge davon war eine verrückte Konstruktion, aber zumindest bot sie den Überlebenden Schutz.

Die Nahrungssituation war verzweifelt. Ihr Nachbar Markham Bull hatte etwas Mehl und Hefe mit ihnen geteilt. So hatten sie Brot und ihren eigenen Reis, aber kaum etwas anderes. Gelegentliche Besucher berichteten, der ganze Staat sei am Verhungern.

Der Besuch in Summerville bestätigte das. Selbst Säcke mit Gold hätten ihnen nichts genutzt. Es gab nichts zu kaufen.

Charles knüllte die Zeitung zusammen und warf sie weg. Er saß da, starrte in den Regen und bildete sich ein, Gus stehe vor ihm und lächle ihm zu.

Er hielt sich die Hand vor die Augen, fast eine halbe Minute lang, nahm sie wieder weg.

Gus war verschwunden.

Er raffte sich hoch, mit einem Gefühl, als wiege er siebenhundert Pfund. Wegen der Beinwunde noch leicht hinkend machte er sich auf die Suche nach seinem Muli. Er nahm seinen alten Armee-Colt mit, für den er keine Munition besaß, dann das kreuzförmige Degenfragment, das im Notfall als Dolch dienen konnte, und seinen Umhang mit Kleinkram. Er sagte allen auf Wiedersehen und ritt vor Einbruch der Dunkelheit in Richtung Norden davon.

130

Am Palmsonntag unternahmen Brett und Billy einen Spaziergang oberhalb von Belvedere. Immer wieder war Brett die beiden Sachen durchgegangen, die sie ihrem Mann sagen wollte. Das eine hatte direkt mit dem bevorstehenden Ende des Krieges zu tun, das andere weniger.

Sie wußte genau, was sie sagen wollte, aber sie brauchte dazu auch die richtige Umgebung. Deshalb hatte sie den Spaziergang vorgeschlagen.

»Was glaubst du, wann Madeline in der Lage sein wird, nach South Carolina zu reisen?«

Madeline hatte diesen Wunsch geäußert; sie fühlte sich Orrys wegen verpflichtet, sich um Mont Royal zu kümmern.

Er überlegte einen Moment. »Es heißt, von Lees Armee ist so gut wie nichts mehr übrig, ebensowenig von Joe Johnstons. Ich kann mir nicht vorstellen, daß einer von ihnen länger als ein paar Wochen durchhält. Vermutlich kann Madeline im Mai Richtung Heimat aufbrechen, wenn nicht eher.«

Sie griff nach seiner Hand, stand ihm im verblassenden Abendlicht gegenüber.

»Ich möchte mit ihr gehen.«

Ein Lächeln. »Ich dachte mir schon sowas.«

»Ganz so, wie du denkst, ist es nicht. Natürlich möchte ich sehen, wie es um Mont Royal steht, aber ich habe noch ein anderes Motiv. Wobei ich mir«, sie blickte ihn offen an, »nicht sicher bin, ob du es billigen wirst. Ich möchte eine Weile auf Mont Royal bleiben. Die befreiten Neger werden Hilfe brauchen, um sich der veränderten Situation anzupassen.«

»Das hört sich entfernt nach der gütigen Plantagenherrin an.«

»Ich gebe zu, ich habe auch Heimweh. Aber die Neger brauchen wirklich Schutz. Sie sind in Gefahr, aus der einen Art der Sklaverei in die nächste überzugehen. Es war dein eigener Bruder, Stanley, der mich gewarnt hat.«

»Stanley? Wie meinst du das?«

So genau wie möglich wiederholte sie Stanleys Bemerkung über den republikanischen Plan, sich mit den befreiten Negern anzufreunden, um ihre Wahlstimmen besser manipulieren zu können.

»Das hat Stanley gesagt?«

»Ja. Er war betrunken, sonst hätte er nicht so offen gesprochen. Ich glaube ihm. Deshalb möchte ich auch heim. Die Sklaverei der Unwissenheit ist so bösartig wie jede andere.«

Sie wartete auf seine Reaktion. Sein Schweigen ließ sich nur als Ablehnung deuten.

Sehr sanft sagte sie: »Wie kann Liebe im Besitz einiger weniger Bevorzugter sein? Oder Freiheit? Ich wurde in diesem Glauben erzogen. Dann kam ich in diesen Staat, in diese Stadt, eine Fremde – und ich lernte.«

»Du hast dich verändert, würde ich sagen.«

»Nenn es, wie du willst. Ich nehme an, du bist dagegen, daß ich –?«

Seine Hand berührte ihre Wange. »Ich bin gegen gar nichts. Ich liebe dich. Ich bin stolz auf dich. Ich glaube dir jedes deiner Worte.« Sein Lächeln wurde noch wärmer. Unter dem Sternenschein beugte er sich über sie, küßte ihren Mund.

»Ich liebe dich, Brett. Und da ich bald schon wieder meinen Dienst antreten muß, gibt es keinen Grund, weshalb du nicht so lange in Mont Royal bleiben solltest, wie du magst.«

»Doch, es gibt einen Grund.«

Die sanften Worte ließen ihn aufhorchen. War das Röte, die in ihre Wangen stieg?

»Liebling«, sagte sie, »trotz deiner Wunde warst du so feurig – nun ja, ich bin mir noch nicht ganz sicher, ich war noch bei keinem Arzt, aber ich glaube, wir werden ein Kind haben.«

An diesem Sonntagabend, dem 9. April, befand sich George in Petersburg, nachdem er den Nachmittag damit zugebracht hatte, Baumaterial auf Frachtwaggons zu verladen. Die Petersburg & Lynchburg-Linie, die westlich der Stadt verlief, wurde repariert, um die Armee zu versorgen, die Lee verfolgte. Noch vor Tagesanbruch mußte George nach Burkeville aufbrechen.

Erschöpft marschierte er auf die Zelte zu, die für zu Besuch weilende Offiziere bestimmt waren. Ganz plötzlich galoppierte laut brüllend ein Reiter vorbei: »Kapitulation! Kapitulation!«

Ein verschlafener Offizier stolperte mit baumelnden Hosenträgern und nackter Brust aus dem nächsten Zelt. »Kapitulation! Mein Gott, ich wußte nicht mal, daß wir angegriffen werden.«

Grinsend sagte George: »Ich glaube, jemand anderer hat kapituliert. Hörst du die Musik? Gehen wir uns erkundigen.«

Massenhaft drängten die Männer aus den Zelten. George konnte aus dem allgemeinen Lärm kaum etwas heraushören.

»– irgendwann heute – «

»– der alte Graufuchs fragte Ulysses nach den Bedingungen – «

»– irgendwo draußen bei Appomattox Court House – «

Innerhalb einer Stunde verwandelte sich Petersburg in ein Tollhaus. Es stimmte offensichtlich; die Armee von Northern Virginia legte die Waffen nieder, um weiteres Blutvergießen in einem Krieg, der nicht mehr gewonnen werden konnte, zu vermeiden.

Salven von Revolver- und Gewehrschüssen zerrissen die Dunkelheit. Kleinere und größere Gruppen stimmten patriotische Melodien an. George stemmte die Fäuste in die Hüften und tanzte mit den anderen mit. Er sang aus vollem Herzen und sprang wie verrückt herum, ohne den Graben in der Finsternis richtig wahrzunehmen, obwohl er ihn eindeutig gerochen hatte. Zum Glück sank er nur bis zu den Knien ein, was allerdings auch schon schlimm genug war.

Er säuberte sich am Ufer des friedlichen Appomattox River. Es war eine Nacht, die ewig Stoff für Erzählungen abgeben würde, Geschichten für Kameraden, Ehefrauen, Schätzchen, Kinder und Enkelkinder, wo man gewesen war und was man gerade getan hatte, als die Nachricht bekannt wurde. George konnte sich nicht vorstellen, daß er ganz bei der Wahrheit bleiben würde:

»Ich war in Petersburg, mit der Reparatur der Militäreisenbahn beschäftigt.«

»Warst du glücklich, als du die Nachricht hörtest, Großvater?«

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich.«

»Wie hast du gefeiert?«

»Ich fing an zu tanzen und fiel in einen Graben voller Scheiße.«

131

Auch der Friede brachte ganz spezielle Belastungen mit sich, erkannte Stanley Ende der Woche. Der betrunkene Mob tobte durch die Straßen, in den Nächten knallte Feuerwerk, läuteten Glocken, und pausenlos zogen Musiktrupps durch die Straßen. Dazu kam noch Stantons Furcht vor einem Anschlag auf Grant oder den Präsidenten – all das zusammen ergab eine miserable Woche für Stanley.

Vor seinem Abschied vom Kriegsministerium und bevor er den neuen Posten, den Wade ihm verschafft hatte, antrat, wollte Stanton noch einmal alles mit ihm durchgehen. Freitagmorgen hatte Stanley seine Akten vorbereitet, aber Stanton mußte zu einer Kabinettsitzung, die mehrere Stunden dauerte. Stanley war ausgehungert, als er endlich in Stantons Büro gerufen wurde.

Schnell gingen sie die Sachen durch, die Stanley vorbereitet hatte. Stanton machte sich Notizen – diese Akten mußten dahin transferiert werden, jene Verantwortlichkeiten dorthin. Stanley war dankbar, daß der Minister überlastet war und sich ständig um die Sicherheit des Präsidenten sorgte. So konnte er das Büro zwei Stunden früher als erwartet verlassen und noch Jeannie Canary einen Besuch abstatten.

Bald schon bedauerte er diesen Entschluß. Für amouröse Abenteuer hatte er den falschen Tag erwischt, und sie befand sich in launischer Stimmung.

»Willst du mich heute abend nicht ausführen, Liebling? Ich möchte das Stück im Ford-Theater sehen. Es heißt, der Präsident und seine Frau besuchen die Vorstellung. Du weißt, daß ich Mrs. Lincoln noch nie gesehen habe. Kannst du keine Karten besorgen?«

»Jetzt nicht mehr. Außerdem wären wir die meiste Zeit in der Menschenmenge eingequetscht. Dazu kommt noch, daß Tom Taylors Stück furchtbar altmodisch ist. Es würde ein äußerst unangenehmer Abend werden – und entsetzlich langweilig.«

Es war, als hätte eine pervertierte Natur einen schwarzen Frühling geboren. Überall an diesem Wochenende erblühte schwarzer Krepp: an Mantelärmeln, am Stuhl des Präsidenten in der Presbyterianischen Kirche, an den Marmorfassaden der öffentlichen Gebäude.

Booth war entkommen. Stanton verkündete, daß der ganze Süden bestraft werden müsse. Selbst Grant sprach von extremen Vergeltungsmaßnahmen. Die Geschäfte bereiteten sich auf das Staatsbegräbnis am Mittwoch vor, Porträts des ermordeten Präsidenten tauchten in den Schaufenstern auf.

Der Präsident lag im East Room aufgebahrt. Die sich langsam voranschiebenden Schlangen waren ungemein lang. Die meisten würden abends unverrichteter Dinge abziehen müssen. Der Präsident blieb nur diesen einen Tag aufgebahrt.

Der Katafalk war mit schwarzer Seide bedeckt. Auf einer Silberplatte stand:

Abraham Lincoln

Sechzehnter Präsident der Vereinigten Staaten

Geboren 12. Februar 1809

Gestorben 15. April 1865

Fast jeder Farbtupfer im Raum war schwarz abgedeckt. Virgilia wartete auf den schwarz gestrichenen Stufen, die zur rechten Seite des Sarges führten, bis sie an der Reihe war. Sie trat an dem strammstehenden Armeeoffizier vorbei und blickte auf Abraham Lincoln herab. Selbst der Leichenbestatter mit all seinen kosmetischen Fähigkeiten hatte nicht viel ausrichten können. Lincoln sah verbraucht aus. Unter halb geschlossenen Lidern hervor studierte sie die Leiche. Er war zu weich und nachgiebig gewesen. Er hatte eine Bedrohung der hohen Ziele von Männern wie Sam und Thad Stevens dargestellt.

Virgilia fühlte sich gut. Der Anblick des toten Präsidenten deprimierte sie kein bißchen. Sam hatte recht. Im Tode diente der häßliche Prärie-Anwalt seinem Lande besser, als er es je im Leben getan hatte. Seine Ermordung war ein Segen.

132

Huntoon wollte sterben. Zumindest einmal täglich war er überzeugt davon, daß dies innerhalb der nächsten Stunde passieren würde. Er hatte ungefähr fünfundzwanzig Pfund an Gewicht verloren und all seine Energie. Würde er nie wieder in einem richtigen Bett schlafen? Richtig gekochte Speisen essen? Ungestört seiner Toilette nachgehen können?

Jeder Abschnitt des langen Weges von St. Louis war beschwerlich gewesen. Virginia City mit seinen aufragenden Bergen, qualmenden Schornsteinen und rauhen Bergarbeitern wirkte so fremd und bedrohlich wie China. Nachts mußten er und Powell die Goldbarren in die Wagen verladen, entsprechend einem Plan, den Powell in groben Zügen umrissen hatte. Jedes Wagenbett nahm neunzig Barren auf, was auf ein Gesamtgewicht von ungefähr vierhundertsechzig Pfund hinauslief. Bei einem Unzenpreis von zwanzig Dollar sechsundsiebzig Cent ergab das einen Wert von knapp hundertfünfzigtausend Dollar. Dasselbe beim zweiten Wagen.

»Das ist lediglich die erste Ladung«, erinnerte Powell. »Es wird noch mehr kommen, aber nicht sofort. Ich habe über ein Jahr gebraucht, um diese Ladung zusammenzustellen. Ich mußte aus der Ferne unter größter Geheimhaltung arbeiten, per Kurier. Von nun an wird es schneller gehen.«

Die Wagen waren verstärkt worden; die beiden Männer hatten falsche Böden in jeden Wagen genagelt und sie mit dreckigen Decken bedeckt. Auf die Decken kamen Proviantschachteln und am nächsten Tag noch einige Kisten mit Spencergewehren. Für jeden Wagen wurden sechs Pferde benötigt.

Dann heuerte Powell die Fahrer an – zwei reguläre Fahrer, einen dritten Mann als Ersatz. Der Führer, noch rauher und brutaler als die anderen, war ein ungefähr vierzigjähriger Schotte namens Banquo Collins mit einem Schnurrbart, den er sich wie ein Chinese hatte wachsen lassen.

Huntoon haßte jeden einzelnen Tag der Reise, er haßte das ständige Gerede, mit dem sie ihn auf den Arm nahmen, aber es erschreckte ihn noch mehr, als eines Tages plötzlich Schluß damit war. Die Fahrer fixierten wortlos den zerklüfteten Horizont. Collins begann Huntoon mit Warnungen vor Indianern zu bombardieren, und das geschah nicht nur zum Scherz.

»Wir sind jetzt im Apachenland. Die wildesten Krieger, die Gott je geschaffen hat – obwohl manche behaupten, Satan habe ihm dabei geholfen.«

Collins wußte nicht genau, wieviel Gold sich in den Wagen befand. Aber es mußte eine ganze Menge sein. Vermutlich Barren. Natürlich hatte ihm Powell nichts davon gesagt; er hatte es selbst nach und nach herausfinden müssen. Die geheime Fracht brachte ihn dazu, sich auf verschiedene Eventualitäten vorzubereiten, denn er befürchtete, daß sie verfolgt wurden, schon seit drei Tagen. Er schätzte die Bande der Jicarilla-Indianer auf zehn bis zwanzig Mann. Sollte es zu einem Zusammenstoß mit ihnen kommen, dann war Collins entschlossen, nicht nur seine Haut und seinen Skalp zu retten, sondern auch mit einem Teil des Goldes abzuhauen.

An diesem Abend lagerten sie zwischen hoch aufragenden Felsblöcken in einem tiefen Einschnitt oberhalb eines Flusses, den sie überqueren mußten. Collins versicherte Powell, daß es drei Meilen weiter südlich einen leichten Abstieg gebe, aber dieser Lagerplatz hier sei einfacher zu verteidigen.

»Besser hier als auf offener Fläche.«

»Glauben Sie, daß die Apachen so nahe sind?«

»Da bin ich mir sicher.«

»Wie lange brauchen wir noch bis Santa Fe? Drei Tage?«

»Vielleicht ein bißchen länger.« Collins riskierte bei Powell keine Lüge. Die Augen des Mannes und seine unverhüllte Anspannung warnten ihn davor. »Ich würde vorschlagen, Sir, daß wir jetzt Feuer machen und dicht zusammenbleiben. Falls Sie einen Spaziergang machen, dann nicht weit.«

»In Ordnung.«

Powell fuhr sich mit schmaler Hand über das Haar. Es fühlte sich trocken an. Vor Wochen schon war ihm die Pomade ausgegangen. Er haßte Hüte. Als Folge davon tauchten immer mehr graue Haare auf. Er mußte wie eine Vogelscheuche aussehen. Wie eine alte Vogelscheuche. Er fragte sich, ob Ashton wohl darüber lachen würde. Während er sich gegen das Wagenrad lehnte, stellte er sie sich nackt vor.

Huntoon erhob sich mit entschuldigendem Gesichtsausdruck und verschwand hinter einem Felsen. Zwei Fahrer kicherten bei dem plätschernden Geräusch.

Noch drei Tage bis Santa Fe. Apachen in der Nähe. Powell beschloß, nicht länger zu warten. Huntoon war nützlich gewesen, hatte untergeordnete Arbeiten verrichtet, aber jetzt hatte er seinen Zweck erfüllt.

Powell verließ das Feuer und ging zwischen den Felsbrocken hindurch zum Rand der Schlucht. Der Grund lag jetzt bereits in pechschwarzem Schatten verborgen.

Er blickte nach Osten, wo Ashton auf ihn wartete. Die Erkenntnis, wie sehr er sie vermißte, verblüffte und schockierte ihn. Auf seine Weise liebte er sie. Für seinen neuen Staat würde sie eine ideale First Lady abgeben.

Ungefähr eine Stunde später, als sich die Nacht herabsenkte, überprüfte er seine vierläufige Sharps. Er steckte die Waffe unter seinen staubigen Gehrock und ging an das rauchende Feuer zu Huntoon.

»James, mein Freund?« sagte er, ihn an der Schulter berührend. Huntoons Brillengläser blitzten im Schein des Feuers, als er sich umdrehte.

»Was ist?«

»Begleitest du mich auf einen kleinen Spaziergang? Ich habe was mit dir zu besprechen.«

Mürrisch sagte Huntoon: »Ist es wichtig?«

Ein charmantes Lächeln. »Sonst hätte ich nicht gefragt.«

»Ich bin entsetzlich müde.«

»Nur fünf Minuten. Dann kannst du lange schlafen.«

»Also gut.«

Das Feuer knackte unter dem schwarzen Himmel, als sie auf die Felsen zugingen. Aus ziemlicher Nähe ertönte ein Tierschrei, halb Japsen, halb Knurren. Banquo Collins richtete sich auf und schob seine Hutkrempe hoch. Einer der Fahrer warf dem Scout einen Blick zu.

»Berglöwe?«

»Nein, mein Junge. Dieses Tier hat zwei Beine.«

133

Am gleichen Tag, um einiges früher, ritt Charles weiter nach Norden in den Frühling von Carolina hinein; ein grünes, wogendes, blühendes Land. Er bemerkte kaum etwas davon, sah nur Gus vor sich.

Er ritt in dem heißen Sonnenschein dahin, als er einen Reiter auf sich zukommen sah. Sofort war er auf der Hut, bis ihm klar wurde, daß er sich immer noch in North Carolina befand. Der Reiter trug eine graue Uniform.

»Colonel Courtney Talcott, First Light Artillery Regiment von North Carolina, zu Ihren Diensten, Sir. An Ihrem Hemd und Revolver sehe ich, daß Sie vermutlich Soldat sind?« Ein gewisser Verdacht schwang in der Frage des Colonels mit.

Charles murmelte: »Jawohl, Sir. Major Main, Hamptons Kavallerie-Scouts. Wo ist die Armee?«

»Die Armee von Northern Virginia?« Charles nickte. »Dann haben Sie es noch gar nicht gehört?«

»Was gehört? Ich war unten am Ashley, auf der Suche nach einem Ersatzpferd.«

»Vor mehr als drei Wochen hat General Lee von General Grant die Übergabebedingungen verlangt. In Appomattox, in Virginia.«

Charles schüttelte den Kopf. »Das wußte ich nicht. Ich habe mir beim Zurückreiten Zeit gelassen.«

»Das kann man wohl sagen.« Talcotts Stimme klang mißbilligend. »Sie müssen nicht weiter. Die Armee hat sich aufgelöst. General Johnston und seine Männer befanden sich noch im Feld, aber möglicherweise haben auch sie mittlerweile kapituliert. Der Krieg ist vorbei.«

Schweigen. Der Artillerieoffizier warf Charles einen schrägen Blick zu und wiederholte mit mehr Betonung: »Vorbei.«

Charles zwinkerte und nickte: »Ich wußte, daß es so kommen würde. Ich wußte nur nicht wann.« Der Offizier machte ein finsteres Gesicht. »Danke für die Information.«

Frostig: »Nichts zu danken. Ich an Ihrer Stelle würde umkehren und heimreiten, Major. In Virginia gibt es nichts mehr zu tun.«

Oh doch, es gab.

Der Artillerist ritt weiter. Charles blieb in sich zusammengesunken mitten auf der Straße auf seinem Maultier sitzen. Jetzt war es offiziell. Sie hatten verloren. Für einen Augenblick haßte er jeden verdammten Yankee, aber das ging schnell vorüber. Eine Mischung aus Erleichterung und Verzweiflung überwältigte ihn.

Er wußte, daß es für ihn nur einen Weg gab, wenn er nicht den Verstand verlieren wollte: nach Virginia zu reiten und zu versuchen, den Schaden wieder gutzumachen, den er in seiner Dummheit angerichtet hatte. Zuerst aber kam die Pflicht. Immer kam die Pflicht zuerst. Er mußte sich um Mont Royal kümmern, mußte es vor Gefahren schützen, die er jetzt noch gar nicht erahnen konnte. In dem Moment, wo er zu Hause alles erledigt hatte – Virginia.

Er hob die Zügel, drehte den Kopf des Mulis und ritt schnell den Weg zurück, den er gekommen war.

134

Ein strahlender Vollmond stand am Himmel; Huntoon und Powell erreichten den Rand der Schlucht. Huntoon war froh, stehenbleiben zu können. Seine Füße schmerzten. Powells rechte Hand glitt in seine Jackentasche.

Huntoon nahm seine Brille ab, polierte die Gläser und sagte schließlich: »Was möchtest du mit mir besprechen?«

Mit einem rätselhaften: »Schau da runter!« nickte Powell in Richtung Schlucht. Huntoon beugte sich vor, spähte in den Abgrund. Powell zog die vierläufige Sharps und schoß ihm in den Rücken.

Der Anwalt stieß einen kleinen, japsenden Schrei aus. Er drehte sich um und griff nach Powells Jackenaufschlag. Powell schlug mit der freien Hand nach ihm. Huntoons Brille verschwand in der Finsternis unter ihm.

Huntoon blinzelte wie ein neugeborenes Tier, versuchte, den Blick auf den Mann zu richten, der auf ihn geschossen hatte. Während der Schmerz durch seinen Körper fuhr, verstand er den ganzen Verrat. Von Anfang an war alles so geplant gewesen.

Wie naiv er doch gewesen war! Natürlich hatte er vermutet, daß Ashton und Powell ein Liebespaar waren. Deshalb hatte er ja auch den Brief an seinen Anwaltskollegen in Charleston geschrieben. Später dann, in der neuerwachten Hoffnung, Ashtons Zuneigung durch eine Mutprobe seinerseits zurückzugewinnen, hatte er die Instruktionen in diesem Brief bedauert, war aber nie dazugekommen, sie zurückzunehmen. Und was er in St. Louis gesehen hatte, war der Anlaß für den zweiten Brief gewesen; den Brief, den er ihr gegeben hatte.

»Laß mich los«, sagte Powell angeekelt und jagte Huntoon eine zweite Kugel direkt in den Bauch. Huntoon taumelte zurück und machte einen Schritt in den leeren Raum. Dann war nur noch das dumpfe Aufschlagen von Huntoons Körper zu hören.

Lächelnd betrachtete Powell den vollen Mond. Er stellte sich Ashtons Brüste mit den dunklen Warzen vor, die nun ihm allein gehörten. Er fühlte sich jugendlich. Zufrieden. Erfrischt.

Hinter einem Felsblock tauchte für einen kurzen Augenblick ein kleiner, dünner Mann im Mondlicht auf. Powell sah den Mann nicht, auch nicht den zweiten, der auftauchte, als der erste sprang. Er hörte den Aufprall und wirbelte erschrocken herum. Er packte die Sharps, aber irgendwie verfing sie sich im Jackenfutter. Der Tomahawk knallte auf seinen Kopf, ein mächtiger, genau gezielter Schlag, der seine linke Schläfe zerschmetterte. Er war bereits tot, als er auf die Knie stürzte und vornüber sank.

Der kleine Apache grinste und hielt die bluttriefende Keule triumphierend in die Höhe. Sein Gefährte sprang und landete neben ihm. Ein halbes Dutzend weitere Indianer glitten hinter den Felsen hervor, barfuß und leicht wie Tänzer. Sie schlichen auf das Stimmengewirr und den Schein des Feuers zu.

Als die beiden Schüsse aufbellten und die Fahrer losbrüllten, begann Banquo Collins seine Ausrüstung zusammenzuraffen. Einer der Fahrer fragte: »Wer hat geschossen? Apachen?«

»Bezweifle ich. Die nehmen lieber eine Keule oder schlitzen dir mit einem Messer die Kehle auf. Außerdem riskieren sie’s nicht, bei einem Kampf nachts zu sterben. Sie glauben, im Jenseits hätten sie dann die gleichen Bedingungen wie in der Todesstunde, und sie möchten lieber im ewigen Sonnenschein leben. Also nichts zu befürchten, klar?«

Jetzt hatte Collins seine Ausrüstung beieinander. Er zog den Hut in die Stirn und marschierte los, weg vom Feuer. Jetzt wurde der Fahrer munter. »Wohin zum Teufel gehst du?«

Mit gesenktem Kopf marschierte der Scout weiter. Noch ein paar Schritte, und er konnte zwischen den großen –

»Collins, du feiger Hund, komm zurück!«

Er warf sich zur Seite und griff zum Revolver. Der Schuß, den der Fahrer abgefeuert hatte, ging zwei Meter daneben und prallte vom Felsen ab. Collins verschwendete keine Kugel. Nach einigen weiteren Schritten drehte er sich um. Er sah die Jicarillas aus der Dunkelheit jenseits des Feuers hervorstürmen und die drei Männer umzingeln. In wilder Angst stürzte Collins davon, hörte hinter sich das scharfe Bellen, mit dem sie Kojoten imitierten. Das Bellen war nicht laut genug, um die Schreie zu übertönen.

Stolpernd und taumelnd durchquerte Collins den Fluß. Die Männer waren ihm egal; was zählte, war seine eigene Haut und dann, in zweiter Linie, die Wagen mit ihrer wertvollen Fracht. Im Flachwasser auf der anderen Seite eilte er flußaufwärts, bis er einen guten Beobachtungspunkt erreichte. Er befand sich fast gegenüber der Schluchtmündung, über der das Camp lag. Die Apachen hatten Holz auf das Feuer gelegt. Gelegentlich sah er Flammen über die hohen Felsen schlagen.

Bald merkte er, daß er die Ursache des Feuers falsch eingeschätzt hatte. Die Flammen stammten von einem der Wagen, der zwischen den Felsen auftauchte, geschoben von fünfzehn oder zwanzig tobenden Indianern. Das ganze vordere Drittel des Wagens brannte hellauf.

Grunzend und schreiend stießen die Apachen den Wagen über den Schluchtrand. Holz splitterte, das Feuer teilte sich, schlug an verschiedenen Stellen auf. Die Apachen verschwanden, tauchten bald mit dem zweiten brennenden Wagen auf, den sie ebenfalls in den Abgrund schickten. Dann standen sie da, jaulten und brüllten und schüttelten ihre Keulen und Lanzen.

Collins würde die Überreste genau untersuchen, das stand fest, aber bestimmt würde er das nicht in dieser Nacht tun. Er mußte nur die Nacht überleben. Bei Tagesanbruch war die Apachenbande bestimmt verschwunden. Die Trümmer der Wagen lagen für eine Weile sicher in der Schlucht; hier kam nicht oft jemand vorbei. Er konnte Wochen, sogar Monate später zurückkommen, er würde bestimmt das vorfinden, was in den Wagen verborgen gewesen war – vor allem, wenn es sich wirklich um Gold gehandelt hatte.

Banquo Collins wußte nicht viel über Metalle, nur eines wußte er: Gold konnte seine Form verändern, aber es konnte nicht zerstört werden.

In bester Stimmung machte er sich auf den Weg. Gelegentlich leckte er sich die Lippen, wenn er sich selbst als reichen Tourist sah, Austern schlürfend und auf jedem Knie eine Hure.

135

Heimkehrende Soldaten legten ab und zu eine Rast auf Mont Royal ein und berichteten den Mains in lebhaften Bildern vom Ruin des ganzen Staates. Dafür erhielten sie Wasser aus der Quelle. Nahrungsmittel hatte Cooper keine anzubieten.

Columbia war verbrannte Erde. Negerbanden verstopften die Straßen, befreit, aber von ihrem Status verwirrt und hungernd. Es gab weder für Weiße noch für Schwarze was zu essen. In den meisten Dörfern hatten die Besitzer ihre Läden mit Brettern zugenagelt.

Cooper versuchte es mit einer Juni-Ernte. Zur Bearbeitung des Bodens mit den wenigen rostigen Geräten hatte er nur Andy, Cicero, der für diese Arbeit zu alt war, Jane und seine Tochter zur Verfügung. Judith half aus, wenn sie nicht gerade kochte oder sonst mit dem Haushalt beschäftigt war.

Tausend Fragen hämmerten in seinem Kopf, bis er so sehr schmerzte wie sein Körper. Würden sie genügend Reis ernten, um ein bißchen davon verkaufen zu können? Um den Winter überleben zu können? Würde der Süden auf Jahre hinaus von feindlichen Truppen besetzt werden? Würde –

Er hob den Kopf von seiner Arbeit, als Andy scharf seinen Namen rief, und wischte sich den Schweiß aus den Augen. Judith kam über die Dämme gerannt, die die Reisfelder voneinander trennten.

»Cooper, deine Mutter. Wie gewöhnlich ging ich zu ihr, während sie ihr Nickerchen hielt. Nach ihrem Gesichtsaudruck zu schließen ist sie in Frieden gestorben. Vielleicht ohne jeden Schmerz. Es tut mir so leid, Liebling.«

Er legte einen schmerzenden Arm um sie; seine Augen füllten sich mit Tränen. Für den Rest des Tages kehrten sie zu dem Holzhaus zurück.

Cooper hatte schon vor langem entdeckt, daß das Leben eine perverse Art hatte, einen mit dem Unerwarteten zu überraschen. In der Dämmerung hämmerte er mit Andy einen Sarg für Clarissa zusammen, als Jane auftauchte.

»Wir haben drei Besucher.«

Cooper fuhr sich mit dem Unterarm über die nasse Stirn. »Noch mehr Soldaten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie kamen mit der Eisenbahn, soweit es ging. Dann schafften sie es, ein altes Maultier und einen Wagen zu kaufen und – «

Gereizt sagte er: »Wer immer sie auch sind, du weißt, was du ihnen zu sagen hast. Sie können lagern und die Quelle benutzen. Aber Nahrungsmittel haben wir keine.«

»Sie werden diese Leute schon ernähren müssen«, sagte Jane. »Es sind Ihre Schwester mit ihrem Mann und Miss Madeline.«

Als es ihm einigermaßen sicher erschien, fuhr Jasper Dills in das besetzte Richmond. Er war entsetzt von der allgemeinen Zerstörung nach dem Zusammenbruch und der Flucht der Regierung der Konföderation. Einige halbwegs stabile Gebäude standen noch, aber ganze Häuserreihen waren zerstört. Es war die schönste Frühlingszeit, und die Luft hätte nach Blumen und erwachendem Grün riechen sollen. In Richmond roch die Luft nur nach Rauch.

Dills war hochgradig nervös, als er die Marketenderzelte erreichte, wo er mit seinem Kontaktmann zusammentraf, einem ehemaligen Agenten von Lafayette Baker, den Dills zu einem hohen Preis angeheuert und nach Virginia geschickt hatte, um eine möglicherweise nicht existierende Spur zu suchen.

Der Agent, ein untersetzter Bursche mit einem Schielauge, trank Lagerbier, während Dills eine jämmerliche Limonade zu sich nahm.

»Also, was haben Sie zu berichten?«

»Bis vor sechs Tagen hatte ich gar nichts. Bin fast drei Wochen den James rauf und runter, bevor ich auf was stieß. Ist aber immer noch nicht viel.«

Der Agent bestellte sich noch ein Bier. »Anfang Juni letzten Jahres sah ein Farmer eine Leiche im James treiben. Zivilkleidung. Der Körper war zu weit vom Ufer weg, um herausgeholt werden zu können, aber die Beschreibung – ein fetter, dunkelhaariger Mann – paßt in groben Zügen auf Captain Dayton.«

»Letzten Juni, sagten Sie?« Dills leckte sich die Lippen. Die Zahlungen waren während der ganzen Zeit erfolgt. »Wo war das?«

»Der Farmer war am Ostufer, ungefähr eine halbe Meile oberhalb der Pontonbrücke, die von der Armee im Herbst gebaut wurde. Ich trieb mich noch weitere drei Tage in der Gegend herum und stellte Fragen, aber es kam nichts dabei raus. Jetzt will ich mein Geld.«

»Ihr Bericht ist unbefriedigend.«

Der Agent packte das dünne Handgelenk des Anwalts. »Ich habe meine Arbeit getan. Ich will mein Geld.«

Dills holte die Bankgutschrift aus seiner Jacke. Der Agent betrachtete sie mißtrauisch, steckte sie ein, stürzte den Rest seines Bieres hinunter und verschwand.

Nach längerem Nachdenken kam der Anwalt zum Schluß, daß auch ein Bericht ohne konkretes Ergebnis seinen Wert hatte. Er konnte weiterhin Memoranden schreiben und versichern, daß Bent am Leben war. Das brachte ihm ein zeitlich unbegrenztes, festes Monatseinkommen – eine gewaltige Summe im Vergleich zu der kleinen Investition.

Er entspannte sich, ignorierte den Geruch von Rauch und billigem Parfüm und bestellte sich ein zweites Glas Limonade.

136

Dem gemurmelten Amen folgte ein Augenblick des Schweigens. Die Beerdigung von Clarissa Gault Main war vorüber. Andy sagte: »Ich erledige den Rest. Sie müssen nicht alle bleiben.«

Billy legte den Arm um Brett und führte sie durch das Tor in dem vollkommen verrosteten Zaun. Schmiedeeisen, bemerkte er. Eisen von Hazard hätte länger gehalten. Für einen Moment beunruhigte ihn der Gedanke.

Cooper und die anderen folgten dem jungen Paar. Plötzlich hielt Brett an und blickte durch die Eichen hinüber zu den schwarzen Aschehaufen, wo das Haus gestanden hatte. Wieder kamen ihr die Tränen, aber es ging schnell vorüber. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich Billy zu.

»Mutters Tod gerade jetzt – es ist eine Art Wasserscheide, nicht wahr? Das Ende von Etwas. Dieses Haus, diese Plantage – nie war es ganz das, was es zu sein schien. Doch was immer es gewesen sein mag, es ist nun für immer dahin.«

Madeline hörte ihre Worte und nickte melancholisch. Cooper antwortete ruhig, jedoch mit einer Glut, die seine jüngere Schwester überraschte.

»Das Schlimmste haben wir ziehen lassen, aber das Beste werden wir wieder aufbauen. Und dafür mit jedem Atemzug kämpfen.«

Wer ist er? fragte sich Brett staunend. Ich kenne ihn kaum. Der alte Cooper hätte so etwas nie gesagt. Ich bin nicht die einzige, die der Krieg verändert hat.

Drei Tage später tauchte Charles auf seinem Muli auf. Brett eilte ihm entgegen und umarmte ihn. Er preßte seine bärtige Wange gegen die ihre, aber es war nur eine mechanische Bewegung. Er war mürrisch und in sich gekehrt. Als Brett ihn über seine Erlebnisse bei Hamptons Kavallerie auszufragen versuchte, wischte er ihre Fragen mit gereizten, nichtssagenden Antworten vom Tisch.

Noch vor dem Abendbrot fand Madeline Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. »Wie geht’s Augusta Barclay?«

»Keine Ahnung. Habe sie lange nicht mehr gesehen.«

»Ist sie noch in Fredericksburg?«

»Ich hoffe es. In ein paar Tagen werde ich hinreiten und sie suchen.«

Es schien so, als wäre Hochsaison für Besucher. Am folgenden Montag, als Charles sich gerade zum Aufbruch anschickte, erschien Wade Hampton zu Pferd. Er war auf dem Weg nach Charleston, hatte aber vorbeigeschaut, weil er von Clarissas Tod und dem Großbrand auf Mont Royal gehört hatte. Außerdem hoffte er, einige Informationen über einen seiner besten Scouts zu bekommen. Er war mehr als überrascht, Charles persönlich anzutreffen, und war über dessen schlechte Verfassung sichtlich erschrocken.

Hampton, grauer, als Charles ihn in Erinnerung hatte, trug keine Uniform mehr, aber immer noch einen Revolver. Seinen Lieblingsrevolver mit dem Elfenbeingriff.

Aufgrund seines hohen militärischen Ranges hatte man Hampton die Amnestie verweigert, die der Mehrzahl der konföderierten Soldaten nach der Kapitulation gewährt worden war. Der General trug seine Bürde frei und offen. Seine Bitterkeit wurde besonders deutlich, als er um den Schutt herumging, der einst das Herrenhaus gewesen war.

»So schlimm wie Millwood«, sagte er kopfschüttelnd. »Wir sollten ein Foto davon machen und es Grant schicken. Vielleicht begreift er dann die wirkliche Bedeutung von dem, was er fortschrittlichen Krieg nennt.«

Hampton erkundigte sich nach Charles’ letzten Tagen bei der Kavallerie. Charles hatte wenig zu sagen. Hampton umriß kurz seine eigenen Erlebnisse. Er hatte tatsächlich westlich des Mississippi weiterkämpfen wollen. »Durch das, was sie meinem Sohn und meinem Bruder und meinem Zuhause angetan hatten, fühlte ich mich moralisch nicht an die Kapitulation gebunden.« Und so war er hinter dem fliehenden Präsidenten und dessen Leuten hergeritten.

»Ich hätte Mr. Davis bis Texas eskortiert. Sogar bis Mexiko. Ich hatte einen kleinen Trupp loyaler Männer bei mir, zumindest glaubte ich das, aber plötzlich stand ich ganz alleine da.«

Cooper fragte: »Wissen Sie, wo Davis jetzt ist?«

»Nein. Vermutlich in irgendeinem Gefängnis – vielleicht haben sie ihn sogar aufgehängt. Booth hat uns riesigen Schaden zugefügt.«

»Hat man irgendwas von ihm gehört?« frage Billy.

»Oh ja. Vor einigen Wochen wurde er auf einer Farm in der Nähe von Rappahannock gestellt und erschossen.«

»Nun, Gentlemen«, Charles erhob sich, »ich bitte, mich zu entschuldigen. Ich habe einiges in Virginia zu erledigen und möchte bei Tagesanbruch aufbrechen. Ich überlasse Euch Euren hohen Idealen sowie den Wiederaufbau unseres glorreichen Staates.«

Diese Bitterkeit verblüffte Billy. Er hatte seinen Freund als leichtherzig in Erinnerung, schnell zu einem Lachen bereit. Dieses heruntergekommene, bärtige Skelett hatte nichts mit Bison Main zu tun.

»Jemand muß für den Süden kämpfen«, erklärte Cooper. »Wir müssen ihn mit allen friedlichen Mitteln verteidigen, sonst wird auf Generationen hinaus nichts weiter bleiben als verbrannte Erde und Verzweiflung.«

Charles starrte ihn an. »Früher hast du ganz anders gesprochen, Cousin.«

»Nichtsdestoweniger hat er recht«, sagte Hampton mit einem Hauch der alten Autorität in der Stimme. »Der Staat wird gute Männer sehr nötig brauchen. Sie eingeschlossen, Charles.«

Charles deutete eine kleine Verbeugung an und lächelte. »Nein, besten Dank, General. Ich habe meine Schuldigkeit getan. Ich habe Gott weiß wie viele menschliche Wesen getötet, Amerikaner wie ich, aufgrund der hochgestochenen Prinzipien des hochgestochenen Mr. Davis und seiner Kollegen. Verlangen Sie nicht von mir, noch etwas für den Süden oder dessen verfehlte Sache zu tun.«

Hampton sprang auf die Füße, seine untersetzte Gestalt eine Silhouette gegen das verblassende Licht im Westen. »Es ist auch Ihr Land, Sir. Ihre Sache.«

»Falsch, Sir. Es war meine Sache. Bis zur Kapitulation hab’ ich Befehlen gehorcht, aber keinen Augenblick länger. Guten Abend, Gentlemen.«

Es war Samstag, der 13. Mai; Davis und seine kleine Gruppe waren in einem Biwak in der Nähe von Irwinville, Georgia, ergriffen worden. George war zusammen mit Constance auf einem Küstendampfer von Philadelphia nach Charleston gekommen. Die allgemeine Zerstörung entsetzte ihn. Die vielen niedergebrannten Häuser und Gebäude bekümmerten ihn; noch trauriger stimmten ihn die überall herumlungernden Neger. Sie schienen alles andere als glücklich zu sein.

»Es ist nur recht, daß sie endlich ihre Freiheit haben«, sagte er zu Constance, als sie an Bord der uralten Schaluppe Osprey gingen, die sie den Ashley hochbringen sollte. George trug einen dunklen Anzug; er war noch nicht ausgemustert, weigerte sich jedoch, Uniform zu tragen. Auch so zog er genügend feindselige Blicke an.

»Aber es gibt praktische Probleme«, fuhr er fort. »Wie soll die Freiheit sie ernähren? Sie kleiden? Ausbilden?« Selbst wenn praktische Antworten gefunden werden konnten – würden die Nordstaatler sich damit abfinden, jetzt, wo der militärische Sieg errungen war? Menschen wie seine Schwester Virgilia sicherlich, aber sie waren bestimmt in der Minderzahl. Die Einstellung der Mehrheit zeigte sich in dem Telegramm, das er noch in der Tasche hatte.

Die Nachricht kam von Wotherspoon und hatte ihn kurz vor Auslaufen erreicht: SECHS MÄNNER GEKÜNDIGT AUS PROTEST GEGEN EINSTELLUNG VON ZWEI FARBIGEN.

Sofort hatte er zurücktelegraphiert: DIE SECHS SOLLEN GEHEN. HAZARD. Aber das Gesamtbild wurde dadurch nicht geändert.

Als Antwort auf seine Fragen sagte Constance: »Das ist die Aufgabe des Amtes für befreite Sklaven, nicht wahr? General Howard soll ein anständiger, fähiger Mann sein.«

»Schau dir bloß an, wer sich als einer seiner Assistenten in das Amt geschlichen hat. Glaubst du wirklich, Stanley ist aus humanitären Gründen dort? Uns stehen schlimme Zeiten bevor, einige Jahre, fürchte ich, wenn die Wunden nicht heilen. Wenn man nicht zuläßt, daß sie heilen.«

Ihre Fahrt den Ashley hinauf verlief ereignislos – bis die Plantage sichtbar wurde. George stieß einen leisen Ruf aus. Constance umklammerte die Reling.

»Mein Gott«, sagte er. »Selbst der Pier ist verschwunden.«

»Sie müssen über eine Planke an Land gehen«, sagte der Kapitän. Sein Blick deutete an, daß er alles andere als traurig gewesen wäre, wenn die beiden dabei in das schlammige Wasser gefallen wären.

Während Constance wartete, marschierte George den Rasen hoch. Ein Neger kam ihm entgegengeeilt. Er stellte sich als Andy vor.

»George Hazard.« Sie schüttelten einander die Hände. Andy erkannte den Namen und rannte los, um Cooper und den anderen, die auf den Reisfeldern arbeiteten, die Nachricht zu überbringen.

Cooper und Judith zeigten sich erstaunt über die Ankunft der Besucher. Sie taten erfreut, aber ihre Müdigkeit und Erschöpfung schimmerte durch, ebenso wie eine unmißverständliche Zurückhaltung. Beim Anblick der verarmten Mains stieg leise Verzweiflung in George auf. Er hoffte, das Heilmittel in seinem Gepäck würde zumindest leichte Linderung bringen.

Madeline und Judith führten die Besucher zu der notdürftig errichteten Veranda – Bretter und Kisten, vor dem neuen Holzhaus aufgebaut – und gingen dann hinein, um einige Erfrischungen zuzubereiten.

Eine halbe Stunde lang tauschten sie zögernd Informationen über die beiden Familien aus. George brachte Madeline gegenüber sein Mitgefühl zum Ausdruck, dann fragte er Cooper: »Wo ist Orrys Grab? Ich möchte ihm gerne die letzte Ehre erweisen.«

»Ich zeige dir das Kreuz, das wir errichtet haben. Das Grab selbst ist leer.«

»Sie haben seine Leiche nicht heimgeschickt?«

»Oh doch, sie haben ihn in einen Zug gesteckt. Irgendwo in North Carolina versagte wieder mal unser großartiges Transportsystem, der Zug entgleiste, und es kam zu einem furchtbaren Unfall. Vierzig Piniensärge verbrannten, George Pickett schrieb, daß nichts übriggeblieben sei.«

Selten in seinem Leben hatte George einen solchen Schmerz empfunden. »Ich möchte trotzdem … trotzdem gern das Kreuz sehen und dort ein bißchen allein bleiben.«

Cooper beschrieb ihm den Weg zum Friedhof. Bei dem Kreuz zog George den Brief aus der Tasche, den er vier Jahre lang in seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte. Den Brief an Orry. Er kniete nieder und grub vor dem Kreuz ein Loch in den sandigen Boden. Er legte den Brief hinein und glättete den Sand wieder. Obwohl er kein sehr religiöser Mensch war, faltete er die Hände und senkte den Kopf. So verharrte er dreißig Minuten und sagte seinem Freund auf Wiedersehen.

Der Nachmittag war eine Last. Die Mains schienen Fremde geworden zu sein. Oder verzerrte lediglich ihre Notlage die Perspektive?

Nein, vieles hatte sich geändert; bedeutete das, daß sich alles geändert hatte?

Das Abendessen hob die Stimmung ein bißchen, und die Unterhaltung wurde etwas lebhafter. Cooper bildete eine Ausnahme. Er sagte kaum etwas. Georges Befürchtungen verstärkten sich. Cooper anzusehen, das war so, als versuche man eine Seite in einer orientalischen Sprache zu lesen. Nichts ließ sich entziffern.

George räusperte sich. »Lange vor dieser schrecklichen Zeit waren unsere Familien eng miteinander befreundet.« Brett drückte sich gegen Billy, der hinter ihr stand. »In einigen Fällen sogar mehr als nur befreundet«, fügte er mit mildem Lächeln hinzu.

Der liebevolle Blick von Constance ermutigte ihn, und er fuhr zuversichtlicher fort: »Das muß auch so bleiben. Vor vier Jahren glaubte ich, daß wir einer schweren Prüfung entgegengehen würden. Orry und ich, wir versprachen uns, daß wir trotz des Krieges die Bande der Freundschaft zwischen uns und unseren Familien erhalten würden.«

Dann kam das Feuer, und ich befürchtete, das sei nicht möglich.

»Wir schafften es«, er wandte sich zu Cooper, »zumindest meiner Einschätzung nach.«

Orrys Bruder schwieg weiterhin. Mühsam fuhr George fort: »Jetzt fürchte ich etwas anderes. Ich glaube, uns steht eine zweite Zeitspanne der Feindseligkeit und des Kampfes bevor, die auf ihre Weise noch schlimmer als der Krieg werden könnte. Bei all dem Kummer und den Verlusten auf beiden Seiten, wie ließe sich das vermeiden? Wir müssen bereit sein, all dem zu trotzen. Wir müssen wieder – «

Er hob einfach nur die rechte Hand; sein Gesicht schweifte langsam von Gesicht zu Gesicht. Dann, ganz ruhig: »Wir müssen die Bande stark halten.«

Niemand bewegte sich. Niemand sprach. Gott im Himmel, er hatte versagt. Er persönlich hatte versagt, aber, schlimmer noch, er hatte auch Orry im Stich gelassen. Wenn er nur die richtigen Worte finden könnte.

Brett reagierte als erste, griff nach Billys Hand. Madeline, die Augen voller Tränen, nickte einmal kräftig und zustimmend. Doch es war Cooper, der ernst für sie alle sprach.

»Ja.«

Die plötzliche Erleichterung machte George ganz benommen; er sah die Mains lächeln, sich erheben und hielt hastig beide Hände in die Höhe. »Einen Moment noch. Es gibt einen besonderen Grund für unseren Besuch auf Mont Royal. Ich wollte Euch ein Zeichen für meinen Glauben an unsere Freundschaft überbringen.«

Er ging zu dem Holzklotz zurück, der ihm als Hocker diente, und schob mit dem Fuß eine kleine Mappe vor. »Erkennt das jemand?«

Mit einem leicht verwirrten Lächeln kratzte sich Cooper am Kinn. »Hat sie nicht meinem Bruder gehört?«

»Ja. In dieser Mappe brachte Orry das Geld, um das Darlehen zurückzuzahlen, das ich zur Finanzierung der Star of Carolina gegeben hatte. Orry machte im Frühjahr 1861 die gefährliche Reise nach Lehigh Station mit über sechshunderttausend Dollar in bar – alles, was er zusammenkratzen konnte. Das werde ich ihm nie vergessen, auch nicht«, wieder räusperte er sich, »wieviel mir Orry bedeutete. Ich kam her, um ebenso wie er eine Ehrenschuld zurückzuzahlen. Ich möchte einige meiner Mittel in eure Hände legen, um euch beim Wiederaufbau zu helfen.«

Er nahm die Mappe und überreichte sie Cooper. »Ich konnte keine zuverlässigen Informationen über die Banksituation in diesem Staat bekommen. Vermutlich ist sie immer noch chaotisch.«

Cooper nickte.

»Nun, ich bin Hauptaktionär der Bank von Lehigh Station, die ich bei Kriegsbeginn gründete. In dieser Mappe befindet sich ein auf meine Bank gezogener Kreditbrief. Der ursprüngliche Betrag beläuft sich auf vierzigtausend Dollar«, Madeline schnappte nach Luft, »aber es steht mehr zur Verfügung. Soviel Ihr braucht. Jetzt – « er errötete überraschenderweise. »Ich frage mich, ob ich noch ein bißchen von dem köstlichen Beerenpunsch haben könnte, den es heute nachmittag gegeben hat? Meine Kehle ist plötzlich ganz ausgetrocknet.«

137

Santa Fe war fliegenverseucht und scheußlich. Ashton war überzeugt davon, daß die Hölle, falls sie existierte, nicht heißer sein konnte.

Nach drei Wochen Wartezeit in ihrem zwar sauberen, aber vollgestopften Zimmer kam sie sich wie ein altes Weib vor. Die staubtrockene Luft machte Falten, vor allem um die Augen herum. Würde Lamar ihre trockene, sonnengerötete Haut mißfallen?

Als sie nach dieser entsetzlich langen Kutschenfahrt Santa Fe erreicht hatte, fand sie Powells Brief vor und rechnete mit dem Eintreffen der beiden Wagen innerhalb einer Woche. Die Woche verging, dann die nächste, dann die dritte. Ihr Optimismus begann ebenso zu schwinden wie ihre Geldmittel. Jetzt waren ihr nur noch ein paar Dollar geblieben.

An einem Samstag gegen Ende der dritten Woche erregte ein kleiner Aufruhr auf der sonnenüberfluteten Plaza ihre Aufmerksamkeit. Eine Kavalleriepatrouille war mit der Leiche eines jungen Mannes aufgetaucht.

»Haben ihn bei Winslows Handelsstation aufgegabelt, westlich von hier am Rio Puerco«, erklärte der Yankee-Lieutenant. »So weit – drei, vier Meilen – ist er mit seinen drei Stichwunden gekrochen, nachdem die Jicarillas den Rest seines Trupps massakriert hatten.«

Ashton überlief es eiskalt. Über das Rauschen in ihren Ohren hinweg hörte sie schwach die Stimme des Lieutenants.

»Winslow verband seine Wunden, aber länger als zwölf Stunden lebte der Junge nicht mehr.« Nein, dachte Ashton, Powells Trupp war es bestimmt nicht.

Sie fürchtete sich, die Aufmerksamkeit dieser wüst aussehenden Soldaten zu erregen, aber schließlich konnte sie ihre Neugier nicht länger unterdrücken und näherte sich dem Sergeant, der von allen noch den saubersten Eindruck machte.

»Können Sie mir sagen, ob dieser Trupp Wagen mit sich führte?«

Der Sergeant stammte aus Indiana, war aber trotzdem höflich und hilfreich. »Ja, Ma’am, der Händler sagte, der tote Junge habe Wagen erwähnt. Zwei wurden verbrannt und in die Schlucht gestoßen, wo das Massaker passiert war.«

Sie schwankte benommen. Die Augen des Sergeants wurden schmal. Was spielte es schon für eine Rolle, wenn er mißtrauisch wurde? Sie brauchte Gewißheit.

»Hieß der Anführer des Trupps Powell?«

»Richtig. Irgendein Reb.«

»Und er ist –?«

Ein Nicken. Erst dann dachte Ashton an ihren Mann.

»Der Rest auch?«

»Alle. Kannten Sie jemanden davon?«

»Mr. Powell – nur dem Namen nach, nicht persönlich.«

Das Mißtrauen des Sergeants wuchs. Wenn sie in keiner Verbindung zu den Opfern stand, weshalb hatte sie sich nach den Wagen erkundigt? Hochmütig wandte sich Ashton von dem Sergeant ab und lauschte den Worten des Lieutenants, der mit anderen über die Wagen sprach.

»Nach dem Tod des jungen Mannes ritten Winslow und seine beiden Söhne zu der Stelle. Die Apachen waren längst verschwunden. Winslow entdeckte Teile eines Wagenrads und eine Menge Asche auf dem Grund der Schlucht, aber das war schon alles. Die Geier und die großen Katzen hatten sich die Leichen geholt.«

In ihrem Zimmer setzte sich Ashton zitternd aufs Bett. Zwei Wagen enthielten dreihunderttausend in Gold – dahin. Ebenso wie Powell. Sie hatte Lamar Powell mehr geliebt als jeden anderen Mann.

Nein. Das war vorbei, und sie mußte sich dieser Tatsache stellen. Sie saß allein in dieser gottverlassenen Wildnis, ohne irgendwelche finanziellen Mittel bis auf das Konto in Nassau, das jetzt ihr allein gehörte.

Während der nächsten zwei oder drei Monate würde sie zwar kaum an das Geld auf den Bahamas herankommen, aber eines wußte sie mit Sicherheit: Sie würde von diesem Geld so lange leben, bis sie die Schlucht entdeckt hatte, in der die Überreste der Wagen lagen. Der Händler und seine Söhne hatten nicht weiter nachgeforscht, wahrscheinlich, weil ihnen nie in den Sinn gekommen wäre, daß unter der Asche Goldbarren versteckt sein könnten. Je mehr sie an den Schatz dachte, desto schneller schwand ihr Kummer um Powell dahin.

James’ Tod löste keinerlei Trauergefühle bei ihr aus. Er war schon immer ein Schwächling gewesen. Der Gedanke an ihn brachte die Erinnerung an den versiegelten Brief, den er ihr in St. Louis übergeben hatte. In der Annahme, daß es sich ohnehin nur um sentimentales Geschwätz handeln würde, hatte sie ihn in ihre Tasche gestopft und vergessen.

Der Brief war alles andere als sentimental. Nach brüsker Anrede stand da:

Ich habe mich Mr. Powells Abenteuer nicht nur aus Gründen der Loyalität angeschlossen. Ich bewundere Mr. Powells Ansichten bezüglich der Rechte und Ideale des Südens, muß aber hier eingestehen, daß ich ihn persönlich verabscheue aufgrund meines Verdachts in bezug auf ihn und Dich. Mir fehlt zwar ein echter Beweis, aber ich bin überzeugt davon, daß Du schon seit einiger Zeit seine Geliebte bist.

Im Falle eines vorzeitigen Ablebens meinerseits kann ich wenigstens dafür sorgen, daß Deine Hurerei nicht auch noch belohnt wird. Bevor ich Richmond verließ, schrieb ich einen von Zeugen bestätigten Brief an meinen alten Partner der Kanzlei Thomas & Huntoon, Charleston. In Detroit bekam ich seinen Eingang als Testament bestätigt, das nun anstatt meines alten Testaments in Kraft tritt. Das unselige Geld von der Water Witch, das laut Ehegesetz mir gehört, wird nun im Falle meines Todes an meine Verwandten verteilt werden. Der Rest wird mildtätigen Zwecken zugeführt. Du wirst keinen Penny davon bekommen.

Das ist nur eine kleine Vergeltung für das viele Unrecht, das Du mir angetan hast.

James

Ashton taumelte hoch, zerknüllte den Brief. »Das ist nicht wahr«, flüsterte sie.

Sie packte ihr Täschchen und schleuderte es gegen die Jalousie. »Nicht wahr.« Sie kippte das Bett um, knallte den Stuhl gegen die Wand. Die Vermieterin hämmerte gegen die Tür.

»Señora, qué pasa aqui adentro?«

Der Stuhl zerbrach. Kreischend zerschmetterte sie die Waschschüssel.

»Nicht wahr – nicht wahr – nicht wahr!«

»Señora, está enferma?«

Die letzten Worte fielen in eine sturmgepeitschte Leere, als Ashton die Augen verdrehte und in Ohnmacht fiel.

Die Vermieterin drückte, bis der Haken an der Tür brach. Keuchend erklärte Ashton, sie habe einen Anfall gehabt, und versprach, alles zu bezahlen, was sie zerstört hatte.

Den ganzen Nachmittag und Abend lag Ashton stocksteif im Bett, ihr Gehirn ein einziges Chaos. Endlich, gegen Morgen, begann die Luft abzukühlen. Sie schlief ein und erwachte kurz vor Mittag.

Sie richtete sich auf und hielt sich den Kopf. Von Nassau würde sie keinen Dollar bekommen. Aber da draußen lag Gold. Sie war noch nicht geschlagen. Sie zog ihr bestes und leichtestes Kleid an. Nach den langen Reisen befand es sich in bedauernswertem Zustand, aber immerhin brachte das Korsett ihren Busen großartig zur Geltung. Und nur darauf kam es an.

Sie verließ ihr Zimmer und stieg die Stufen hinab. Man hatte ihr gesagt, der Hausherr sei ein Yankee. Als sie die Bar betrat, klappten den Männern buchstäblich die Unterkiefer herab. Sie kümmerte sich nicht darum, sondern ging auf den kräftigen Mann hinter der Bar zu, in dessem blonden Haar sich schon eine Menge Weiß zeigte.

Ashton lächelte ihn an. »Sie sind Amerikaner, ja?«

»Richtig.«

»Ich ebenfalls. Durch unerwartete Umstände hier gestrandet.«

»Ich habe Sie schon auf der Straße bemerkt. Fragte mich, in was für einer Lage – «

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Vertraulich?«

»Sicher.« Es entging ihr nicht, wie sein Blick über ihre Brüste wanderte.

»Ich möchte gern die Namen der zwei oder drei reichsten Männer in dieser Gegend wissen.«

»Der zwei oder drei –?«

»Reichsten.«

»Hab’ ich tatsächlich richtig gehört.« Amüsiert fügte er hinzu: »Verheiratet oder unverheiratet?«

Zum Teufel mit ihm. Er hielt sie für ein dämliches Weibchen, über das man sich lustig machen konnte. Sie würde ihn eines besseren belehren. Ich werde auch das durchstehen, ich überlebe das, so wie ich alles andere überlebt habe. Und wenn ich soweit bin, dann wird jeder Mann in dieser Gegend des Landes um zwei Minuten meiner Zeit betteln.

»Ma’am? Verheiratet oder unverheiratet?«

Ashtons Lächeln war betörend.

»Das spielt wirklich keine Rolle.«

138

Unter dem stillen Sternenhimmel, kurz nach Sonnenuntergang, schlenderten Andy und Jane am Ashley entlang; sie unterhielten sich leise, suchten nach Antwort auf eine Frage, die Madeline gestellt hatte.

Ciceros Zukunft war klar. Er war zu alt, um neu zu beginnen. Er beschwerte sich sogar über die unerwünschte Freiheit, die Vater Abraham ihm aufgedrängt hatte, weil sie sein Leben durcheinanderbrachte. Jane wollte ihn zurechtweisen, überlegte es sich dann aber anders. Cicero war über siebzig; sie begriff, daß für ihn jede Veränderung eine Bedrohung darstellte.

Bei ihr und bei Andy war das anders. Und so spazierten sie eng umschlungen dahin, unterbrachen ihr Gespräch nur für einen gelegentlichen Kuß. Nach einer Stunde kehrten sie Hand in Hand zum Holzhaus zurück.

Alle waren noch auf, weil George und Constance morgen mit der flußabwärtsfahrenden Osprey abreisten. Madeline lächelte dem schwarzen Paar zu. »Hallo, Andy – Jane! Kommt herein!«

Jane fing an: »Wenn der Zeitpunkt schlecht ist, um mit euch zu reden – «

»Ganz und gar nicht. Kommt nur.«

Andy räusperte sich. »Wir wollten nur die Frage nach unseren weiteren Plänen beantworten.«

Es wurde still; die gesamte Aufmerksamkeit richtete sich auf sie. Jane sprach für sie beide.

»Wir dachten, wir bleiben noch ein bißchen in South Carolina.«

»Als freie Menschen«, fügte Andy hinzu.

»Es ist jetzt auch unser Staat«, sagte Jane. »Unser Land, ebenso wie das des weißen Mannes.«

Ihre Worte klangen leicht herausfordernd. Vielleicht zögerte Cooper deswegen einen Moment, bevor er sagte: »Natürlich ist es das. Ich begrüße eure Entscheidung. Ich würde mich freuen, euch hier zu behalten, wenn ihr nichts anderes im Sinn habt.«

Jane schüttelte den Kopf, blickte dann zu dem starken, stolzen Mann an ihrer Seite. »Mont Royal war gut zu mir. Besser, als ich erwartet hatte.«

»Aber wir können nicht ohne Lohn arbeiten«, sagte Andy. »Jetzt nicht mehr.«

Cooper und Madeline tauschten zustimmende Blicke. »Einverstanden«, sagte Cooper. »Dank George ist das jetzt möglich.«

Jane lächelte. Erleichterung zeigte sich auf den Gesichtern der anderen. Andy trat vor.

»Noch eins – «

»Ja?« sagte Judith.

»Wir möchten heiraten.«

Glückwünsche kamen von allen Seiten, bis Andy unterbrach. »Aber nicht auf die alte Weise. Nicht, indem wir über Besen springen. Und wir werden beide unsere Namen ändern. Jane und Andy sind Sklavennamen. Sie wurden uns gegeben. Wir möchten uns unsere eigenen Namen aussuchen.«

Angespanntes Schweigen. Dann hob Cooper einfach nur die Hand.

»Gut.«

George sagte: »Ich wünsche euch beiden das Beste. Es wird nicht leicht sein für euch hier unten, zumindest nicht in der nächsten Zukunft. Aber ich bin mir gar nicht sicher, ob es im Norden viel besser wäre.«

Mit einem Hauch von Traurigkeit sagte Jane: »Ich weiß. Die Leute fühlen sich von schwarzen Gesichtern irgendwie bedroht. Das macht ihnen Angst. Nun, ich kann es nicht ändern. Sie haben für unsere Freiheit gekämpft, Major Hazard, jetzt müssen wir den Kampf weiterführen. Ich rechne mit vielen weiteren Kämpfen, bevor die Weißen auch nur beginnen, uns zu akzeptieren.«

In dem folgenden unbehaglichen Schweigen runzelte Cooper die Stirn, und Billy mußte sich eingestehen, daß Jane recht hatte. Er brauchte sich nur seine eigene Einstellung, die er noch vor ein paar Jahren gehabt hatte, vor Augen zu führen. Er teilte die Auffassung seines Bruders: Ein Krieg war zwar vorbei, aber der nächste begann gerade.

139

Unkraut und wilde Gräser, die seinem Maultier bis über die Knie reichten, wehten im warmen Wind. Charles’ Umhang bauschte sich, als er in den Hof einbog; ein unheilvolles Gefühl beschlich ihn. Die Felder waren nicht bearbeitet worden. Es war ein herrlicher Tag. Die frische Luft hätte das Haus gesäubert, aber alle Fensterläden waren verschlossen. Die offene Stalltür bildete ein finsteres Rechteck.

»Washington? Boz?«

Der Wind pfiff.

»Irgend jemand hier?«

Sonnenblumen wiegten sich dort, wo der Garten gewesen war. Weshalb wartete er auf eine Antwort? Hatte er die nicht schon erhalten, als er auf der vernarbten Straße über den letzten Hügel geritten war und das Haus so still hatte liegen sehen, die Felder leer und unbestellt im Sonnenschein?

Sie hatte das Haus abgesperrt, bevor sie – wohin auch immer – weggegangen war. Mit einem Ellbogen zerbrach er das Fenster an der Küchentür, griff hindurch und sperrte auf. Möbel und Küchengeschirr befanden sich noch an Ort und Stelle.

Er rannte in ihr Schlafzimmer; seine Stiefel polterten über den Boden. Das Bett war ordentlich gemacht, und auf dem Tischchen daneben entdeckte er ein Buch von Pope, mit einem blauen Band als Lesezeichen. Bestimmt hätte sie das nicht zurückgelassen, wenn sie für längere Zeit fortbleiben wollte. In ein oder zwei Tagen würde sie zurück sein.

Zur Bestätigung riß er ihren Schrank auf, in Erwartung, ihre Kleidung vorzufinden.

Leer.

Er zersägte einige Bretter, nagelte sie innen vor das zerbrochene Fenster, nahm das Buch und zurrte die Tür mit einem Stück Seil zu.

Er wollte gerade sein Muli besteigen, als er das Buch beim Lesezeichen aufschlug. Er schluckte. Das Gedicht hieß ›Ode an die Einsamkeit‹. Mit zierlicher Feder hatte Gus vier Zeilen unterstrichen.

So laß mich leben, ungesehen, unbekannt,

So laß mich sterben unbeklagt;

Aus der Welt mich stehlen, und kein Stein

Verrät den Ort, an dem ich liege.

Er fluchte und klappte das Buch zu. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Den ganzen Weg bis Fredericksburg trieb er das Maultier mit den Stiefeln an.

In zwei Läden forschte er ohne Erfolg nach. Der Besitzer des dritten Ladens, ein stämmiger Metzger, gab ihm einige Informationen.

»Sie hat ihre beiden freien Neger gehen lassen. Der jüngere, Boz, kam hier durch und erzählte es mir. Paar Nächte später verschwand sie ohne ein Wort.«

»Wie lange ist das her?«

»Einige Monate.«

»Und seitdem haben Sie sie nicht mehr gesehen?«

»So ist es.«

»Aber wohin zum Teufel ist sie verschwunden?«

»Was glaubst du, wen du vor dir hast, Soldat? Ich bin ein Mann der Union.« Seine Hand glitt über den feuchten, roten Holzblock zum Hackmesser. »An deiner Stelle wäre ich höflicher zu Leuten, die euch geschlagen haben, sonst tun sie’s vielleicht noch mal.«

Charles lief rot an, zügelte aber seinen Ärger. »Tut mir leid. Ich bin weit geritten, um sie zu finden.«

Der Metzger grinste. »Vielleicht wollte sie gar nicht von dir gefunden werden? Je daran gedacht? Mrs. Barclay hat ihre Farm verlassen, ohne einer Seele in Fredericksburg oder Umgebung zu sagen, wohin sie geht.«

Charles ging hinaus, betroffen von der Wahrheit in den bösartigen Worten des Metzgers. Sie hatte seine Rückkehr nicht gewünscht, sonst hätte sie auf ihn gewartet. Oder zumindest ihr Reiseziel verraten. Statt dessen hatte sie ein Gedicht über den Tod zurückgelassen. Das Ende von allem.

Der Schmerz, die Ungewißheit des Verlustes trafen Charles von Sekunde zu Sekunde schwerer. Er versuchte seine Gefühle nicht zu unterdrücken. Und selbst wenn er es gewollt hätte, er hätte es gar nicht gekonnt.

140

Der Corporal, der den Zwei-Mann-Trupp befehligte, stammte aus Illinois. Seine Ausbildung hatte er an einem winzigen College im Nachbarstaat erhalten und war dann nach Danville zurückgekehrt, wo er an einer Schule, die aus einem einzigen Zimmer bestand, unterrichtete, ehe er sich freiwillig meldete. Er war vierundzwanzig Jahre alt. Sein kleiner Trupp war einer von den vielen, die im Schutt von Richmond nach unverbrannten Regierungsdokumenten suchen sollten.

»Hier ist eine kaum beschädigte Kiste, Sid«, sagte einer der Soldaten. In diesem Teil des Lagerhauses hatten sie gestern einige Pakete noch nicht zugestellter Briefe entdeckt, die meisten davon zumindest angesengt. Als sie die Kiste aufbrachen, fanden sie anscheinend unversehrte Bündel, wurden aber gleich darauf enttäuscht. Der Soldat zeigte Sid den obersten Brief eines Bündels, das er in der Hand hielt.

»Müssen einen kräftigen Regen abgekriegt haben. Schätze, die Kiste war nicht dicht. Adressen sind unleserlich.«

Der Corporal studierte den Brief.

»Sind die anderen auch so?«

Der Soldat blätterte den Stoß durch. »Alle gleich.«

Erfreut sagte Sid: »Ich denke, dann sollten wir die Briefe öffnen. Vielleicht steht drinnen noch mal die Adresse.« Das war ein Vorwand; er langweilte sich und wollte eine Weile sitzen.

Sie rissen einen Brief nach dem anderen auf. Nach zwanzig Minuten langweilte Sid sich schon wieder. Aber Befehl war nun mal Befehl.

Nach einer Stunde richtete er sich plötzlich auf. »Hör mal, der hier klingt interessant. Unterschrieben von J.B. Duncan – einem unserer eigenen Offiziere.«

Er zeigte dem Soldaten die Abkürzungen und Initialen, die auf den Namen folgten. »Brigadier General, Freiwilligenarmee der Vereinigten Staaten. Aber adressiert ist er an jemanden, den er ›Mein lieber Major Main‹ nennt. Meinst du, das ist ein Reb, Chauncey?«

»Ziemlich wahrscheinlich, sonst wäre der Brief kaum hier, oder?«

Sid nickte. »Scheint um irgendeine Frau namens Augusta zu gehen – oh Gott, hör dir das an: Sie wurde von Ihnen schwanger, und obwohl sie zur Zeit Ihres letzten Besuches um ihren Zustand wußte, sagte sie nichts, um keinen moralischen Druck auf Sie auszuüben – « Mit neu erwachter Begeisterung sagte Sid: »Das ist wenigstens mal ein gebildeter Mann. Tolle Geschichte.«

»Ziemlich heiße Sache«, bemerkte Chauncey.

Sid las weiter. »Die Schwangerschaft war genauso schwierig, um nicht zu sagen gefährlich, wie jene zur Zeit ihrer Ehe mit Mr. Barclay. Den unglücklichen Ausgang kennen Sie, glaube ich. Da sie während der schlimmsten Kämpfe närrischerweise auf ihrer einsamen Farm blieb, veranlaßte ich, daß meine Nichte über den Potomac geschmuggelt wurde und in mein gegenwärtiges Haus in Washington kam. Hier brachte sie am 23. Dezember Ihren Sohn zur Welt, einen hübschen, gesunden Jungen, dem sie den Namen Charles gab. Bedauerlicherweise muß ich sagen – «

Der Corporal brach ab. Er warf dem Soldaten einen melancholischen Blick zu.

»Was ist los, Sid?«

»… muß ich sagen, daß die Geburt tragisch endete. Eine Stunde danach starb die arme Augusta. Sie schied dahin mit Ihrem Namen auf den Lippen. Ich weiß, sie liebte Sie mehr als das Leben selbst, denn sie hat es mir gesagt.«

Sid wischte sich die Nase. »Mein Gott!« Er fuhr fort: »Ich habe Ihnen bereits zwei Briefe geschrieben und mit privatem Boten nach Richmond geschickt. Wenn diese unseligen Zeiten vorüber sind, dann haben Sie Anspruch auf Ihren Sohn. Ich werde so lange für ihn sorgen, bis Sie ihn holen; sollte das nicht der Fall sein, dann werde ich mich so lange um ihn kümmern, wie das einem alten Junggesellen möglich ist. Ich bringe Ihnen keine feindseligen Gefühle entgegen. Ich bete, daß dieser Brief Sie bei guter Gesundheit erreicht. Mögen Sie sich über den guten Teil meiner Nachrichten freuen. Hochachtungsvoll – «

»Der Brief sollte auf jeden Fall zugestellt werden«, sagte Chauncey.

Sid faltete den Brief zusammen, steckte ihn wieder in den Umschlag. »Ich bring ihn selber zum Lieutenant.«

»Gut«, sagte Chauncey und starrte Sid an. Sid starrte zurück. Beide wußten, daß es nicht einfach, daß es fast hoffnungslos sein würde. Die Regierung von diesem verdammten Davis hatte so viele Aufzeichnungen verbrannt – wie sollten sie da einen Rebellenmajor unter den Hunderttausenden Richtung Süden ziehenden Soldaten finden?

141

Nachdem er Fredericksburg verlassen hatte, zog Charles drei Tage lang ziellos umher. Jede Nacht lag er wach. Verlor ohne jede Provokation die Beherrschung und hätte dafür in einer Kneipe beinahe ein Messer zwischen die Rippen bekommen. Er wollte weinen und konnte nicht.

Er lagerte am Straßenrand und schreckte mit einem Ruck hoch. Etwas hatte ihn im Gesicht gekitzelt; der halbe Zügel, immer noch an einen Ast gebunden. Er war mitten durchgebissen worden. Das Maultier war verschwunden, mit Sattel und allem Drum und Dran. Zum Glück hatte er noch seinen Colt.

Er ging mitten auf die Straßenkreuzung und betrachtete das tote, leere Land um sich herum. Einen seltsamen Augenblick lang fühlte er sich, als hätte sich die gesamte Macht der Union gegen ihn persönlich verschworen. Er wollte nichts weiter als sich niederlegen. Aufhören. Für immer.

Erinnerungen drängten sich auf. Gus. Für eine Weile genoß er die Gedanken an sie. Dabei fiel ihm ein Detail ein, das er ganz vergessen hatte. Ein Name.

Brigadier Duncan.

Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund. Gus hatte ihm unmißverständlich signalisiert, daß ihre Liebesaffäre vorüber war, aber er konnte sich zumindest erkundigen, wo sie sich aufhielt und wie es ihr ging. Duncan war vielleicht in der Lage, ihm dabei behilflich zu sein – falls er ihn finden konnte.

Es gab nur einen Ort, wo er mit der Suche beginnen konnte. Er nahm seinen Umhang und machte sich von der Kreuzung in nördlicher Richtung auf. Nach einer halben Stunde hatte er eine Negerfamilie eingeholt, die vorhin an ihm vorbeigegangen war und nun am Wegrand lagerte. Die beiden Erwachsenen schauten alarmiert drein. Charles versuchte ein Lächeln. Es fiel ihm sehr schwer.

»Abend.«

»Abend«, sagte der Vater.

Die Frau, weniger mißtrauisch als ihr Mann, sagte: »Gehen Sie nach Norden?«

»Washington.«

»Wir auch. Möchten Sie sich setzen und ausruhen?«

»Ja, danke.« Eines der beiden Mädchen kicherte und lächelte ihn an. »Ich habe mein Maultier verloren. Ich bin ziemlich müde.«

Endlich lächelte auch der Vater. »Ich wurde müde geboren, aber in letzter Zeit fühle ich mich besser.«

Charles wünschte, er könnte das auch von sich sagen. »Wenn ihr wollt, dann helfe ich euch, den Karren zu ziehen.«

»Sie sind ein Soldat.« Er meinte damit nicht Unionssoldat.

»War«, sagte Charles. »War.«

142

Brigadier Jack Duncan, ein untersetzter Offizier mit grauem Kraushaar, marschierte mit gestrafften Schultern ins Kriegsministerium. Eine halbe Stunde später verließ er es wieder mit strahlendem Gesicht.

Er hatte eine kurze, aber äußerst befriedigende Unterredung mit Mr. Stanton gehabt, der ihm lediglich die ersehnte Abkommandierung zur kämpfenden Truppe genehmigt hatte. Sie war ihm während des Krieges verweigert worden, da General Halleck nicht auf seine administrativen Fähigkeiten verzichten wollte. Jetzt hatte Duncan seine Marschbefehle in der Tasche.

Er war zu der West-Kavallerie abkommandiert worden, wo erfahrene Männer zur Bekämpfung der Indianer benötigt wurden. Seine Abreise stand unmittelbar bevor.

Beim Überqueren der überfüllten, lärmenden Pennsylvania Avenue bemerkte der Brigadier einen schlanken, zäh wirkenden Burschen mit langem Bart, grauem Hemd und Armee-Colt. Offensichtlich nervös kaute der Mann auf einer Zigarre herum und studierte das Gebäude, das Duncan eben verlassen hatte. Ein Reb, aus seiner gesamten Erscheinung zu schließen. Hunderte von Ex-Konföderierten schienen die Stadt zu überschwemmen, aber im Grunde gab es nur einen Reb, für den sich Duncan interessierte: ein Major namens Main.

Würde er je von dem Burschen hören? Er begann es zu bezweifeln. Auf seine drei Briefe hatte er keine Antwort erhalten. Höchstwahrscheinlich war Main tot. Duncan fühlte sich leicht schuldig, daß er für das Schweigen dankbar war. Er genoß es, sich um den kleinen Charles kümmern zu können. Zusätzlich zu seiner Haushälterin hatte er ein nettes irisches Mädchen eingestellt.

Bald erreichte er das kleine Haus, das er einige Blocks von der Avenue entfernt gemietet hatte. Überschwenglich wie ein Junge sprang er die Treppe hoch.

»Maureen? Wo ist mein Großneffe? Bringen Sie ihn her. Ich habe großartige Neuigkeiten. Wir verlassen noch heute abend die Stadt.«

Wenige Dinge im Leben hatten Charles eingeschüchtert. Washington schüchterte ihn jetzt ein. So viele verdammte Yankees. Er kam sich vor wie ein Tier aus den Wäldern, von Jägern umzingelt.

Mit vorgetäuscht zuversichtlicher Miene marschierte er die Stufen zum Kriegsministerium hoch und ging durch die erste offene Tür. In einem großen Raum wühlten Soldaten und Zivilangestellte hinter einem Schalter in den Papierstößen auf ihren Schreibtischen herum. Einer der Angestellten in Blau, vollkommen kahl, obwohl er kaum dreißig sein konnte, näherte sich dem Schalter, nachdem er Charles drei Minuten hatte warten lassen.

»Ja?«

»Ich versuche, einen Armeeoffizier zu finden. Bin ich hier richtig?«

»Haben Sie nicht die falsche Stadt erwischt?« unterbrach ihn der Angestellte. »Das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten führt keine Rebellenakten. Und falls es Ihnen noch niemand gesagt hat, falls Sie amnestiert wurden: Sie dürfen diese Waffe nicht tragen.« Er wandte sich ab.

»Entschuldigen Sie«, sagte Charles. »Der Offizier gehört zu Ihrer Armee.« Kaum hatte er es ausgesprochen, da wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Damit hatte er seine frühere Zugehörigkeit bestätigt. »Sein Name ist – «

»Ich fürchte, wir können Ihnen nicht helfen. Wir haben anderes zu tun, als jedem amnestierten Verräter Auskünfte zu geben, der hier reinmarschiert kommt.«

»Soldat«, sagte Charles, vor Wut kochend. »Ich frage Sie so höflich, wie es mir möglich ist. Ich muß diesen Mann finden. Wenn Sie mir sagen, in welchem Büro – «

»Niemand in diesem Gebäude kann Ihnen helfen«, sagte der Angestellte sehr laut. Andere wurden aufmerksam. »Warum fragen Sie nicht Jeff Davis? Heute morgen haben sie ihn in Fort Monroe eingesperrt.«

»Mich interessiert nicht, wo Jeff – « Wieder wandte sich der Angestellte ab.

Charles ließ seine Zigarre fallen, seine Hand schoß über den Schalter und packte den Angestellten am Kragen. »Hör mir zu, verdammt noch mal.«

Allgemeine Verwirrung. Rennende Männer, Rufe, Charles schrie am lautesten. »Sie können zumindest so höflich sein und – «

Stimmen:

»Er hat einen Revolver.«

»Nehmt ihm die Waffe weg.«

»Paßt auf, vielleicht – «

Hände packten ihn von hinten. Der andere Soldat, ein riesengroßer Kerl, war um den Schalter herumgerannt. »Komm, Reb, sei vernünftig«, sagte der große Mann gar nicht unfreundlich. »Verschwinde von hier, bevor – «

»Was zum Teufel ist hier los?«

Bei den gebellten Worten nahmen die Soldaten Haltung an. Charles drehte sich um und sah einen strengen, weißhaarigen Offizier in mittleren Jahren vor sich, an dessen rechter Hand drei Finger fehlten.

»Colonel«, fing der Angestellte an, »dieser Reb hier kam reinmarschiert und stellte beleidigende Forderungen. Eine höfliche Ablehnung akzeptierte er nicht. Statt dessen versuchte er – «

Die Worte wirbelten durch Charles’ Kopf; er starrte den Unionsoffizier an und sah eine Farm in Virginia vor sich, in einem anderen Jahr, in einem anderen Leben.

Mit heiserer Stimme sagte er: »Prevo?«

»Richtig. Ich erinnere mich an Sie. Hamptons Kavallerie. Davor West Point.«

Jemand im Büro murmelte: »Oh, ein Akademie-Treffen.«

Prevos Blick brachte den Sprecher zum Schweigen. Dann sagte er zu Charles: »Was gibt es hier für Schwierigkeiten?«

»Ich kam her, weil ich Hilfe brauche. Ich muß unbedingt einen Brigadier Duncan in der Unionsarmee finden.«

»Sollte nicht schwer sein«, sagte Prevo; seine Gereiztheit richtete sich gegen den errötenden Angestellten. »Sie sollten aber nicht mit diesem Revolver herumspazieren. Vor allem nicht in diesem Gebäude. Geben Sie ihn mir, und wir werden sehen, was wir tun können.«

Charles beruhigte sich und schnallte seinen Revolvergurt ab. Prevo hing ihn sich über die Schulter und sagte zu dem glatzköpfigen Angestellten: »Ihren Namen, Soldat! Warum haben Sie den Mann nicht ins Personalbüro geschickt?« Zu Charles: »Dort hat man die gegenwärtige Adresse des Brigadiers. Ich kenne ihn nicht.«

»Sir«, stammelte der Angestellte. »Dieser Mann ist ein Reb. Schauen Sie ihn an. Arrogant, dreckig – «

»Halten Sie den Mund«, sagte Prevo. »Der Krieg ist vorbei. Zumindest haben das die Generäle Grant und Lee erklärt, auch wenn Sie dazu anscheinend nicht in der Lage sind.«

Der gedemütigte Mann starrte zu Boden. Zu dem großen Soldaten sagte Prevo: »In einer Stunde möchte ich seinen Namen auf meinem Schreibtisch haben.«

»Jawohl, Sir.«

»Kommen Sie, Main. Ihr Name ist mir jetzt auch wieder eingefallen. Ich zeige Ihnen das richtige Büro.«

»Danke, Prevo«, sagte Charles. »Ich habe Sie gleich erkannt. Georgetown Mounted Dragoons.«

»Und einige andere Einheiten seitdem. Jede einzelne wurde in Virginia so stark dezimiert, daß ich schließlich hier landete. In ein paar Monaten werde ich wieder draußen sein. Hier entlang – nach rechts. Gleich werden wir wissen, wo dieser General Duncan steckt.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Prevo. Ich muß ihn unbedingt sprechen.«

»Beruflich?«

»Persönlich.«

Prevo hielt vor einer geschlossenen Tür. »Hier ist das Büro.« Alle Falten in seinem erschöpften Gesicht bewegten sich, als er sich ein Lächeln abmühte. »Ich war zwar nur das erste Jahr dort, aber ich denke gern an die Akademiezeit. Übrigens – haben Sie es eilig?«

»Nein. Ich muß Duncan finden, aber es eilt nicht.«

»Ausgezeichnet. Dann lade ich Sie hinterher zu einem Drink ein. Und«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, »gebe Ihnen Ihren Revolver zurück.« Mit einem Finger und dem Daumen öffnete er die Tür so mühelos, als hätte er noch seine sämtlichen Finger.

143

Auf Duncans Ruf hin brachte Maureen, eine rundliche junge Frau, das Baby aus der Küche. Der Junge hatte dunkle Haare und ein fröhliches, rundes Gesichtchen.

»Sagten Sie heute abend, Sir? Wohin gehen wir?«

Das Kind erkannte seinen Großonkel und krähte vergnügt, als der Brigadier es in die Beuge seines linken Armes bettete. »Ins Grenzgebiet – uns die Rothäute anschauen.« Besorgt: »Kommen Sie mit?«

»Aber ja, General. Ich habe einiges über den Westen gelesen. Da gibt es großartige Möglichkeiten – und es ist nicht so überfüllt wie hier im Osten.«

Mit listigem Lächeln ergänzte er: »Außerdem gibt es in der Kavallerie der Vereinigten Staaten viele anständige Männer, alleinstehende Männer, die sich nichts mehr wünschen, als eine attraktive, junge Frau zum Heiraten zu finden.«

Maureens Augen glänzten. »Ja, Sir. Das habe ich auch gelesen.«

Mrs. Caldwell, die vollbusige Haushälterin in mittleren Jahren, kam die Treppe hinunter. »Ah, Sir, Sie sind es. Ich war oben, aber ich hörte Sie kommen.«

»Nur, um unsere Abreise zu verkünden. Noch heute abend.« Er erklärte seiner Haushälterin den Stand der Dinge, während der Kleine zufrieden an einem seiner Finger nuckelte.

»Dann ist das also eine Beförderung, Sir?«

»Ja, Mrs. Caldwell.«

»Meinen aufrichtigen Glückwunsch.« Sie wischte sich die Augen. »Es tut mir so leid, daß Sie gehen. Die letzten fünf Jahre sind so schnell vergangen. Und sehr angenehm.«

»Danke. Jetzt müssen wir uns über Ihre Zukunft unterhalten.«

Mrs. Caldwell zeigte sich über die großzügige Regelung erfreut und fand an der plötzlichen Abreise sogar eine positive Seite. »Meine verwitwete Schwester in Alexandria hat mich gebeten, sie zu besuchen. Vielleicht bleibe ich einige Wochen. Wann geht Ihr Zug, General?«

»Punkt sechs.«

»Dann fahre ich noch heute zu meiner Schwester. Ich nehme mir eine Mietkutsche.«

»Nehmen Sie das Pferd und den Einspänner. Ich schenke sie Ihnen. Ich brauche sie nicht mehr.«

»Oh, Sir, das ist ungemein großzügig von Ihnen.«

»Nicht großzügiger, als Sie es gewesen sind«, sagte er in Erinnerung an gewisse Nächte, in denen sie beide einsam gewesen waren, in denen sie mehr als nur eine gute Haushälterin gewesen war. Ihre Blicke trafen sich, dann schaute sie errötend zur Seite.

»Wenn Sie mich entschuldigen, mache ich mich jetzt ans Packen, Sir.« In den nächsten paar Stunden mußte noch vieles getan werden.

Selbst der kleine Charles schien den abrupten Wandel in ihrem Leben zu begrüßen. Er kaute kräftiger denn je am Finger seines Großonkel.

In Willards Saloonbar zog Charles ebenfalls die Blicke auf sich, aber Prevos Gegenwart verhinderte Ärger.

Sie fingen mit einem Whiskey an. Das führte, während die Stunden in angenehmem Erinnerungsaustausch verrannen, zu drei weiteren Whiskeys. Charles spürte eine Art von Hochstimmung, wie er sie seit Sharpsburg nicht mehr empfunden hatte. Nicht nur, daß ein Zettel mit Duncans Adresse in seiner Tasche steckte, der Brigadier befand sich auch hier in Washington.

Leicht beschwipst hielt sich Prevo seine Taschenuhr dicht vor die Nase. »Um Viertel nach fünf hab ich eine Verabredung im Ministerium. Da bleiben uns noch zwanzig Minuten für einen Abschiedsschluck. In Ordnung?«

»In Ordnung. Dann mache ich einen Spaziergang zu Duncan.« Prevo winkte dem Kellner. Charles fuhr fort: »Das gibt mir die Chance, etwas zur Sprache zu bringen, das mich schon seit langem beunruhigt.«

Prevo lächelte leicht verwirrt und wartete.

»Erinnern Sie sich noch an den Tag, an dem wir uns trafen? Ich gab Ihnen mein Wort, daß sich die Schmugglerin nicht im Haus befindet.«

Prevo nickte. »Ihr Wort als Offizier und West Pointler. Ich akzeptierte das.«

»Aber es war ein Trick. Oh, ich sagte die nackte Wahrheit. Sie war nicht im Haus.« Der Kellner kam mit zwei frischen Drinks. Charles wartete, bis er wieder weg war. »Sie versteckte sich im Wald.«

»Ich weiß.«

Charles, der gerade sein Glas zum Mund führte, versprühte einen kleinen Whiskeyregen.

»Ich hatte den Buggy entdeckt. Meine Männer zum Glück nicht.«

Charles stellte kopfschüttelnd das Glas ab. »Ich verstehe nicht. Warum –?«

»Ich sollte sie verfolgen; von Fangen hatte niemand was gesagt. Es gefiel mir nicht, Krieg gegen Frauen zu führen, und es gefällt mir heute noch nicht.«

»Verdammte Schande, daß einige eurer Jungs nicht auch so dachten. Was Sherman und seine stinkenden Landstreicher in South Carolina angerichtet haben – «

Abrupt schwieg er. Prevos Augen waren kalt geworden.

»Ich entschuldige mich. Was Sie zu diesem Angestellten sagten, gilt auch für mich. Der Krieg ist vorbei. Manchmal vergesse ich das.«

Prevo blickte auf seine verstümmelte rechte Hand. »Ich auch, Charles. Wir alle haben dafür gezahlt. Wir alle werden auf Jahre hinaus daran denken.«

Zehn nach fünf schieden sie draußen auf der Straße mit einem festen Händedruck als Freunde.

Am Baltimore & Ohio-Bahnhof bestiegen Brigadier Duncan und Maureen, die das Baby trug, ihren Zug. Die Bahnsteiguhr zeigte 5:35.

144

Noch leicht schwankend ging Charles den Häuserblock entlang und studierte die Hausnummern. Es schnürte ihm die Kehle zu, als er die richtige Nummer entdeckte, und er wurde sehr schnell nüchtern.

Das Haus lag dunkel und verlassen da. Nirgendwo war ein Licht zu sehen. Panik überfiel ihn; er sprang die Stufen hoch und klopfte hart gegen die Tür.

»Hallo? Irgendjemand da?« Wenn er nun umgezogen war? Wenn er ihn nicht finden konnte? »Hallo?«

Hinter dem Haus hörte er Geräusche. Räder, ein Pferd.

Er rannte zum Ende der Veranda, gerade als ein von einer kräftigen Frau gefahrener Einspänner vorbeirollte.

»Ma’am? Darf ich Sie etwas fragen?«

Sie wandte den Kopf, sah die bärtige, bedrohliche Gestalt. Mrs. Caldwells instinktive Reaktion war Furcht. Sie peitschte auf das Pferd ein.

»Warten Sie! Ich muß Sie fragen – «

Sie bog in die Straße ein. Charles sprang über das Geländer, rannte hinter dem Einspänner her. Keuchend warf er sich davor. »Bitte halten Sie. Es ist sehr wichtig, daß ich – «

»Verschwinden Sie!« Mrs. Caldwell schlug mit der Peitsche nach ihm. Charles’ Hand schoß vor und umklammerte ihr Handgelenk.

»Verdammt noch mal, hören Sie mich an«, sagte Charles schwer atmend. »Ich muß unbedingt General Duncan finden.«

Er ließ sie los und trat zurück. Die Peitsche in ihrer Hand zitterte, aber sie sah nun weniger verängstigt aus. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, aber es ist ungemein wichtig, daß ich den Brigadier spreche. Das hier ist doch sein Haus, oder?«

Widerstrebend: »War sein Haus.«

»War?«

»Der General ist versetzt worden.«

Charles’ Magen klumpte sich zusammen. »Wann?«

»Jetzt in diesem Augenblick ist er am Bahnhof. Sein Zug fährt um sechs. Und jetzt, Sir, bestehe ich darauf, Ihren Namen zu erfahren.«

»Sechs«, wiederholte Charles. »Das muß es jetzt gleich sein – «

»Ihren Namen, Sir, oder ich fahre auf der Stelle los.«

»Charles Main.«

Sie reagierte, als hätte er sie geschlagen. »Zuletzt in der konföderierten Armee?« Er nickte. »Dann sind Sie der – «

»Rücken Sie rüber«, sagte er plötzlich und schob sie praktisch auf die andere Seite des Sitzes. »Halten Sie sich fest. Ich werde diesen Zug erwischen. Hü!«

Er ließ die Zügel klatschen. Mrs. Caldwell kreischte auf, als der Einspänner wie ein von der Sehne schnellender Pfeil losschoß.

Nach einer Fahrt, bei der Mrs. Caldwell ein Dutzend Tode gestorben war, kam der Einspänner direkt vor dem Bahnhof knirschend zum Stehen. Die Uhr zeigte auf eine Minute nach sechs.

»Der Zug nach Baltimore?« brüllte Charles einen Uniformierten an, der gerade ein Eisentor zurollte.

»Gerade abgefahren«, sagte der Mann und deutete auf die Dampfwolken am Bahnsteig. Charles quetschte sich seitlich durch die Öffnung. »He, Sie können nicht – «

Sofort waren drei Bahnbeamte hinter ihm her. Sie waren älter und in schlechter Verfassung; er war mager und verzweifelt. Doch seine Lungen begannen bald vor Anstrengung zu schmerzen. Und er verlor das Rennen. Der Zug hatte bereits die überdachte Halle verlassen.

Er sah das Ende des Bahnsteigs vor sich auftauchen. Zu spät, um sein Tempo noch zu bremsen. Er sprang auf die Schienen.

Er landete schief. Sein verwundetes Bein knickte weg, er stürzte auf die Schwellen. »Haltet den Mann!« brüllte einer seiner Verfolger.

Keuchend stemmte sich Charles hoch, rannte weiter, rannte schneller als je zuvor in seinem Leben. Bis auf eine Handbreit kam er an den letzten Waggon heran, legte seine ganze Kraft in einen letzten, langen Schritt.

Mit beiden Händen erwischte er die hinterste Querstange. Der Zug zerrte ihn weiter. Er warf beide Beine hoch; ein Stiefel glitt auf der eisernen Stufe ab. Aber er zog sich hoch –

Zog –

Nach Luft ringend taumelte er mit weichen Knien auf die hintere Plattform. Die Waggontür ging auf, und ein breitschultriger Schaffner versperrte ihm den Weg. Der Bahnbeamte sah die Verfolger über die Schwellen stolpern, verstand ihre Rufe und Gesten.

»Bitte«, sagte Charles, »lassen Sie mich rein.«

»Runter vom Zug.«

»Sie begreifen nicht. Es handelt sich um einen Notfall. Einer Ihrer Passagiere – «

»Runter, oder ich werfe Sie runter«, sagte der Schaffner und gab ihm einen Stoß. Charles taumelte zurück, trat ins Leere und erwischte gerade noch das Geländer.

»Runter!« brüllte der Schaffner, die Hände zum zweiten, entscheidenden Stoß erhoben. Etwas Hartes rammte sich in seine Magengegend. Beim Anblick von Charles’ Armee-Colt blieb er stocksteif stehen.

»Sie haben zehn Sekunden, um den Zug anzuhalten.«

»Ich kann unmöglich – «

Charles spannte den Hahn.

»Zehn Sekunden.«

In einem Durcheinander von Signalflaggen und Alarmpfeifen stoppte der Zug.

145

Nur Brigadier Duncans Einfluß hatte Charles es zu verdanken, daß er nicht auf der Stelle eingesperrt wurde. Am gleichen Abend noch gegen halb elf saßen sich die beiden Männer im Wohnzimmer von Duncans altem Haus gegenüber, ihre Gesichter grimmig wie die von Gegnern, die sich noch im Krieg befinden. Die irische Kinderschwester war mit dem Kind nach oben gegangen, das Charles voller Verwirrung, ja sogar Abneigung angeblickt hatte. Nach der Rückkehr vom Bahnhof hatte Duncan ihm die ganze Geschichte erzählt.

Von Nordwesten her zog ein Sturm herauf. Charles saß in einem Plüschsessel, ein unberührtes Glas Whiskey vor sich. Seine von der Lampe erhellten Augen wirkten tot – so tot, wie er sich innerlich fühlte.

Plötzlich beugte er sich zornig vor. »Warum hat sie mir nichts gesagt?«

»Major Main«, erwiderte der Brigadier eisig korrekt, »das ist das dritte, möglicherweise das vierte Mal, daß Sie mir diese Frage stellen. Sie liebte Sie sehr. Sie war voller Trauer, weil der Krieg Sie – beschädigt hatte, um ihren Ausdruck zu verwenden. Beschädigt bis zu dem Punkt, wo Sie irrtümlich glaubten, Sie könnten die Beziehung nicht länger aufrechterhalten. Meine Nichte war eine anständige, ehrbare junge Frau.« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, daß Charles über diese Eigenschaften nicht verfügte. »Sie weigerte sich, ihren – Zustand als Druckmittel gegen Sie einzusetzen. Ich werde Ihnen das alles nicht noch mal erklären. Tatsächlich beginne ich zu bedauern, daß Sie mich gefunden haben. Ich begreife Ihre Kälte Ihrem eigen Fleisch und Blut gegenüber nicht.«

»Das Baby hat sie umgebracht.«

»In Ihrem Kopf stimmt tatsächlich etwas nicht, Main. Die Umstände haben sie umgebracht. Ihre Zartheit hat sie umgebracht. Sie wollte das Kind. Sie wollte Ihren Sohn zur Welt bringen sie gab ihm Ihren Namen. Wollen Sie ernsthaft nichts mit ihm zu tun haben?«

Gequält sagte Charles: »Ich weiß es nicht.«

»Nun, ich werde den morgigen Abendzug um sechs Uhr nach Baltimore und dem Westen nehmen. Wenn Sie Ihren Sohn nicht wollen, ich will ihn.«

Ein benommenes Zwinkern. »Westen?«

»Dienst bei der Grenz-Kavallerie, falls Sie das was angeht. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, ich möchte mich zurückziehen.« Angestrengte Höflichkeit ließ ihn an der Tür innehalten. »Im zweiten Stock gibt es ein leeres Schlafzimmer. Sie können dort die Nacht verbringen, wenn Sie mögen.« Duncans Blick geißelte ihn. »Sollte Ihr Sohn weinen, bemühen Sie sich nicht. Maureen und ich werden nach ihm sehen.«

»Verdammt noch mal, reden Sie nicht so mit mir«, schrie Charles aufspringend. »Ich habe sie geliebt! Nie habe ich jemanden so geliebt! Ihr zuliebe wollte ich die Beziehung abbrechen, damit sie sich nicht ständig sorgen mußte. Wenn das Ihrer Meinung nach ein Verbrechen ist, dann zum Teufel mit Ihnen. Als ich den Zug stoppte, wußte ich nichts von einem Sohn. Ich wollte nur wissen, wo sie – sie – «

»Sie ist auf dem Privatfriedhof in Georgetown beerdigt. Ein Kreuz steht dort. Ich werde mich morgen vor meiner Abreise nach Ihrer Entscheidung über den kleinen Charles erkundigen.«

»Ich kann nicht. Ich weiß nicht, was es ist.«

»Möge Gott Erbarmen haben mit einem Mann, der solche Worte sprechen muß.«

Der Brigadier marschierte die Stufen hoch. Am oberen Treppenabsatz hörte er die Haustür knallen, dann ein Donnergrollen, dann Stille. Mit einem Kopfschütteln und plötzlich absackenden Schultern ging er zu seinem Zimmer, ein bekümmerter, bestürzter Mann.

Charles marschierte den ganzen Weg nach Georgetown, bei Blitz und Donner und Regen. Er schreckte die Bewohner einer Hütte aus dem Schlaf und erkundigte sich nach dem Weg zum Friedhof.

In pechschwarzer Finsternis trat er das Tor auf und schwankte auf den Friedhof. Nach langer Suche im Lichtschein der Blitze fand er das Grab. Der Grabstein war klein und rechteckig; Duncan hatte nur ihren Namen und das Jahr ihrer Geburt und ihres Todes eingravieren lassen.

Charles, vom Regen völlig durchweicht, sank auf die Knie. Er spürte weder die Nässe noch die Kälte. Nur das Elend, dieses schreckliche, zerstörende Elend. Er kniete neben dem Grab, ballte die Hände und begann auf seine Schenkel zu hämmern.

Was sollte er tun, nun, da er diese Schuld auf sich geladen hatte? Was sollte er mit dem Kind tun, für das er verantwortlich war, so wie er für diesen Grabstein verantwortlich war? Was sollte er tun?

Ein kleiner, fremder Laut drang aus seiner Kehle; der Kummer eines Tieres. Dann, tief in seinem Inneren, begann sich etwas aufzubauen, eine Macht, die sich unmöglich unterdrücken ließ. Er öffnete seine schmerzenden Fäuste. Hob seine rechte Hand an das nasse Gesicht, an die Augen. Das war kein Regen.

Er warf sich vornüber auf das Grab, nasse Körper gegen nasse Erde gepreßt, und weinte zum erstenmal seit Sharpsburg wieder.

Bis nach Tagesanbruch, als der Sturm nachließ, hielt Charles Totenwache an Augusta Barclays Grab. Zitternd und mit klappernden Zähnen marschierte er den langen Weg zurück. Gegen zehn Uhr erreichte er das Haus des Brigadiers.

Die physischen und psychischen Anstrengungen der vergangenen Nacht hatten Duncan lange schlafen lassen, und er saß gerade beim Frühstück, als Charles Main in der Tür auftauchte. Er bot einen unglaublichen Anblick.

Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte Duncan um seine Selbstbeherrschung. Mit rotem Gesicht sagte er: »Jesus! Was haben Sie getan, gesoffen und die restliche Nacht in der Gosse verbracht?«

»Ich habe die Nacht an ihrem Grab verbracht. Ich habe über meinen Sohn nachgedacht, habe versucht, eine Entscheidung zu treffen.«

Langsam richtete sich Duncan auf, bis sein Rücken die Stuhllehne nicht mehr berührte. Seine Augen waren voller feindseliger Herausforderung.

»Und?«

146

»Nächste Station ist Lehigh Station. Der Zug hält jetzt in – «

Die Stimme des Schaffners verhallte, als er den Waggon verließ. In weniger als einer Stunde sollten sie in Belvedere sein. George war dankbar; er war erledigt. Constance ebenfalls, der Art und Weise nach zu schließen, wie sie mit geschlossenen Augen an ihm lehnte.

Eine gewaltige Woge der Liebe für die rundliche Frau an seiner Seite überschwemmte ihn. Liebe für sie und für seine Kinder, deren Leben er wieder in die Hand nehmen mußte, für die er sich vom Soldaten wieder in den Vater verwandeln mußte. Liebe war es gewesen, die ihn die vergangenen vier Jahre hatte überstehen lassen, sinnierte er. Und nichts anderes würde sie durch die vor ihnen liegenden Jahre bringen.

George dachte an den ermordeten Präsidenten. Zumindest für fünf Tage hatte Abraham Lincoln die Gewißheit gehabt, daß sein Nordstern noch hell und rein leuchtete, über der abkühlenden Glut der Feuer, die zuerst in jenem längst vergangenen Frühling aufgeflammt waren, an den sich George noch so lebhaft erinnerte. Die Union stand – stark verändert, aber im Fundament unberührt.

Er schloß die Augen, ruhte sich für einen Moment aus. Dann zog er den Kreis seiner Gedanken enger, dachte an die Veränderungen in seiner unmittelbareren Umgebung.

Orry tot – und seine Witwe machte kein Geheimnis daraus, daß sie zumindest nach strengster Südstaatenauffassung eine Negerin war. Zuerst hatte er es von Billy erfahren, aber Madeline hatte ganz offen darüber gesprochen, bevor die Hazards Mont Royal verließen.

Und Charles. Der Krieg hatte ihn ausgebrannt, ihn zu einem mürrischen, zornigen Mann gemacht. Im Gegensatz dazu bereitete sich Brett voller Freude auf ihre Mutterrolle vor und hörte sich oft genug mehr wie Virgilia als wie eine Südstaatlerin an.

Cooper zeigte gelegentlich neue, fast reaktionäre Einstellungen, als hätte er schließlich das Südstaatenerbe akzeptiert, das er so lange verachtet hatte. Aber Cooper hatte seinen Sohn verloren, und er wurde langsam alt. Das Alter brachte konservative Gedanken und Meinungen mit sich, wie George nur zu gut wußte.

Billys Einstellung den Schwarzen gegenüber hatte sich geändert, nicht jedoch seine Pläne für sein zukünftiges Leben. Seine restlichen zwei Wochen Urlaub wollte er noch bei den Mains verbringen, dann aber wieder zu den Pionieren zurückkehren.

Wie tief hatte doch dieser durch den Krieg beschleunigte Wandlungsprozeß sie alle, das ganze Land berührt. Und warum leugneten so viele die universelle Kontinuität dieses Prozesses, fragte sich George. Sie gaben Gott die Schuld, ihren Frauen, der Regierung, Büchern, unzähligen Kombinationen von Ereignissen – manchmal sogar den Stimmen in ihren Köpfen. Sie lebten gequälte, unglückliche Leben, versuchten, den Niagara mit einer Teetasse einzudämmen.

Er bezweifelte, daß irgend jemand diese Leute ändern konnte. Sie waren der Fluch und die Bürde einer Rasse, die sich in halber Finsternis einen Berg hochquälte. Sie waren – er lächelte müde – so beständig und dauerhaft wie der Wandel, den sie so haßten. Was ihn an eine kleine, aber wichtige Veränderung erinnerte, die er auf Belvedere vorzunehmen wünschte. Als sie auf Belvedere angekommen waren, überraschte er Constance damit, daß er – nachdem er eine halbe Stunde lang seinen Sohn und seine Tochter begrüßt hatte – durch die Küche hinaus und den Hügel hoch ging und mit einem grünen Lorbeerzweig zurückkehrte. Er legte ihn neben das Meteoriteneisen auf den Tisch in der Bibliothek.

»Ich möchte, daß hier stets ein frischer Zweig liegt«, sagte George. »Wo wir ihn alle sehen können.«

Am gleichen Abend saßen sich Brigadier Duncan und Charles in einem Erste-Klasse-Abteil des Sechs-Uhr-Zuges nach Baltimore gegenüber. Charles machte in seiner zerlumpten Kleidung kaum den Eindruck, als gehörte er hierhin. Duncan bestand darauf, daß sie auf der Reise nach Westen einen anständigen Anzug kauften.

Seit seiner Rückkehr vom Friedhof hatte Duncan mehrfach versucht, Charles auszufragen, wie er zu seiner Entscheidung gelangt war, aber Charles konnte unmöglich all die unterschiedlichen Gefühle beschreiben, die ihn durchströmt hatten.

Es gab so viele Möglichkeiten, er konnte in die Berge gehen und den Guerillakrieg gegen die Yankees fortsetzen. Er konnte heimgehen und sich dem Trunk und dem Müßiggang hingeben. Er konnte Selbstmord begehen. Und dann war da noch der Westen, Duncans Reiseziel. Er hatte den Westen schon immer geliebt, und Duncan wiederholte eindringlich, wie sehr da draußen Kavalleristen benötigt wurden. Charles hatte nichts anderes gelernt.

Aber all das spielte nur am Rande eine Rolle, verglichen mit dem, was ihm bei seiner Totenwache bewußt geworden war: der Tod von Gus und das Leben seines Sohnes. Das waren keine voneinander getrennten Dinge, sie waren unlösbar miteinander verbunden. Noch immer liebte er Augusta Barclay mehr als das Leben selbst. Also mußte er auch den Jungen lieben. Er mußte für den Jungen ebenso leben wie für sie, weil die beiden eine Einheit bildeten.

Duncan runzelte die Stirn, als er Charles’ düsteren Gesichtsausdruck sah. Er fragte sich, ob Charles die Folgen seiner Entscheidung ganz erfaßt hatte. Duncan räusperte sich.

»Wissen Sie, mein Junge, den Dienst, den Sie antreten wollen – wieder in der regulären Armee –, das wird nicht einfach sein für einen Mann Ihrer Herkunft.«

Charles reagierte sofort gereizt. Hart biß er auf seine kalte Zigarre.

»Ich habe genau wie Sie die Akademie absolviert, General. Ich bin kein Dilettant. Ich habe die Uniform einmal getauscht. Ich kann es auch ein zweitesmal tun. Es ist wieder ein Land, nicht wahr?«

»Das stimmt. Aber ich möchte Sie nur vor dem Unvermeidlichen warnen. Unhöflichkeiten. Beleidigungen – «

Mit harter Stimme sagte Charles: »Damit werde ich fertig.« Ein Sonnenstrahl blitzte zwischen den Hügeln auf und erhellte sein verwüstetes Gesicht.

Dankbar blickte Duncan auf. »Ah – Maureen – «

Das Kindermädchen kam mit dem Baby aus der Zweiten Klasse. »Er ist wach, General. Ich dachte, vielleicht möchten Sie – « Sie wußte nicht, an wen sie sich wenden sollte.

»Geben Sie ihn mir!« Dann, sich beherrschend, sagte Charles mit sanfterer Stimme: »Danke, Maureen.«

Mit unendlicher Vorsicht nahm er das Bündel in den Arm, während sich Duncan vorbeugte und den Deckenzipfel vom Gesicht des Kindes hob. Duncan strahlte, der Prototyp eines stolzen Großonkels.

Das rosige Kind betrachtete seinen Vater mit weit geöffneten Augen. Voller Furcht, ihm weh zu tun, versuchte Charles ein zögerndes Lächeln. Der kleine Charles verzog das Gesicht und brüllte los. »Wiegen Sie ihn, um Gottes willen.«

Das half, Charles hatte nie zuvor ein Kind geschaukelt, aber er lernte schnell.

»Ganz ehrlich, mein Junge«, sagte Duncan. »Ich freue mich zwar sehr, daß wir hier gemeinsam unterwegs sind, aber erstaunt bin ich trotzdem. Ich war fest davon überzeugt, daß Sie mit Ihrem Sohn nach South Carolina zurückkehren und ihn als Südstaatler erziehen.«

Der junge Vater starrte den älteren Mann an. »Charles ist Amerikaner. Genau so werde ich ihn erziehen.«

Duncan räusperte sich, um sein Einverständnis anzudeuten. »Übrigens, er hat noch einen zweiten Vornamen.«

»Das haben Sie mir nicht gesagt.«

»Hatte ich vergessen. Der Tag war wohl etwas außergewöhnlich. Sein voller Name lautet Charles Augustus. Meine Nichte wählte ihn vor – «

Er preßte eine Hand gegen die Lippen. Auch ihm fiel die Erinnerung schwer, erkannte Charles.

»Vor ihrer Entbindung. Sie sagte, sie habe den Spitznamen Gus immer geliebt.«

Charles spürte Tränen aufsteigen und zwinkerte schnell. Er blickte auf seinen Sohn herab, dessen Gesicht sich geheimnisvoll gerötet hatte, so, als müßte er sich sehr anstrengen. Duncan sagte: »Oh, ich glaube, wir brauchen Maureens Hilfe. Ich hole sie.«

Er trat auf den Gang hinaus. Vorsichtig berührte Charles das Kinn seines Sohnes. Das Baby packte seinen Zeigefinger, steckte ihn sich in den Mund und begann heftig daran zu nagen.

Duncan hatte Charles bereits klargemacht, daß Sauberkeit unerläßlich war. Heute hatte er sich schon dreimal die Hände geschrubbt – ein Rekord in seinem Erwachsenenleben. Er wackelte mit dem Finger. Charles Augustus gurgelte. Charles lächelte. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf seinen Sohn gerichtet; er sah weder den Zaun, der plötzlich neben den Schienen auftauchte, noch die aufflatternden, vom Zug erschreckten Bussarde, die sich an den verwesenden Überresten eines schwarzen Pferdes gütlich getan hatten.




Der Krieg hat eine tiefe Kluft aufgerissen zwischen dem, was zuvor in unserem Jahrhundert geschehen war, und dem, was seitdem geschehen ist … Ich habe nicht das Gefühl, in dem Land zu leben, in dem ich geboren wurde.

George Ticknor,Harvard, 1869

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